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Full text of "Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis : Beiträge zur allgemeinen Psychiatrie"

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DAS  WESEN  DER 
PSYCHIATRISCHEN  ERKENNTNIS 

BEITRÄGE  ZUR  ALLGEMEINEN  PSYCHIATRIE 

I 

VON 
DR.  ARTHUR  KRONFELD 


BERLIN 

VERLAG  VON  JULIUS  SPRINGER 

1920 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung  in  fremde  Sprachen,  vorbehalten. 


Copyright  1920  by  Julius  Springer  in  Berlin. 


MEINEM  LEHEER 


HUGO  LIEPMANN 

GEH.  MED.RAT,  ORD.  HON.-PROFESSOR  DER  PSYCHIATRIE 
AN  DER  UNIVERSITÄT  BERLIN,  DR.  MED.  ET  PHIL. 


IN  HERZLICHER  VEREHRUNG 

UND  DANKBARKEIT 

GEWIDMET 


Inhaltsverzeichnis. 

S«iU 
Einleitung 1 

Vorbereiteude  Einführung  in  die  allgemeinen  erkenntnis- 
kritischen  (Grundlagen. 

Metaphysikfreie  Naturforschung? 13 

Krkenuistheorie  oder  Vernunftkritik? 21 

Geleitworte    zum    zehnjährigen    Bestehen    der    neuen    Fries- 

schen  Schule    1913) 46 

Windelbande  Kritik  am  Philuomenalismus   und  die  Aufgaben 

der  Psychologie  im  Ganzen  der  Erkenntnis    .       66 

Hauptteil. 

Ein  Rundblick  über  Gegeuwartsstrümungen  der  deutschen 
psychiatri>(t'hen  und  psychologischen  Forschnng. 

1.  Der    Sieg    der    heterolo frischen    Forschungntendenzen    in 

der  Psychiatrie 89 

2.  Das  autol  ogischc  Chaos  in  der  gegenwärtigen  Psychiatrie 

undderAut'weg \fl 

3    Die  Problematik  in  don  I'undamenten  d er  gegenwärtigen 

Psychologie  102 

t^bor  die  wissenschaftstlieorctischen  (»rnndhigon  der  Psychologie, 
insbesondere  die  Probleme  der  psychischen  KansalitMt. 

1.   Einführung   in    die   psy  chiatrisch-prak  t  iorhe  Not  wendig- 
keit psychologischer  Theorie.    .    .    .        113 

Die  klinische  Praxis  der  Psychiatrie  ist  psychologisch  fundiert  ...  113 
Ist  die   psychologische  Diagnostik    heuristisch   oder   theoretisch  bd- 

grüudet? 114 

Das  Kriterium  des  Symptomatischen  ist  nicht  zufällig 115 

Es  ist  nur  aus  psychologischer  Theorie  zu  entwickeln  . 116 

Das  Problem  des  Wissens  von  fremdem  Psychischen 116 

Psychologisches  Gesetz  und  symptomatische  Analyse 117 

Praktische  Grenzen    der  Tragweite   theoretischer  Psychologie    .    .  118 
Die  Zer.-^plitterung  der  psychologischen  Thooretik  ist  kein  Argument 

gegen  deren  Notwendigkeit 118 

Philosophischer  Ausgangspunkt   der   psychologischen  Theorie   .        .  120 


VI  Inhaltsverzeichnis. 

Seit« 

2.  Allgemeine    Grundlegung  der  Wissenschaftstheorie   des 
Psychischen.   Beginn  der  Kategorienlehre  für  die  Psycho- 
logie   121 

Wissenschaftstheorie  und  Kritik  der  Erkenntnis  von  Psychischem .  121 

Theorie  und  Phänomenologie.    Arten  der  Theorie 123 

Die  Kategorienlehre  als  Inhalt  der  Wissenschaftstheorie 127 

Die  Anwendung  der  Kategorien  in  der  Psychologie 128 

Die  Temporalität  als  kategoriales  Schema 130 

Hieraus  ableitbare  Kriterien  des  Psychischen 131 

Das  reine  Selbstbewußtsein  als  kategoriales  Schema 132 

Ableitungen  aus  dem  Moment  der  Qualität 133 

Ableitungen  aus  dem  Moment  der  Quantität 134 

3.  Das  Problem  der  Substantialität  des  Seelischen 136 

Sonderstellung  der  Relationskategorien 136 

Die  Kategorie  der  Substanz  und  der  Begriff  Seele 136 

Tätigkeit  als  Wesensmerkmal  des  Seelischen 138 

Spontaneität  und  Rezeptivität  des  Seelischen 139 

Parallele  Merkmale  des  Organismenbegriffs 140 

4.  Einführung  in   die  Probleme   der  psychischen  Kausalität. 

Der  Begriff  der  psychischen  Funktion 142 

Präzisierung  des  Standpunktes  zum  Kausalproblem 142 

Ursache  und  Kraft 144 

Modifikation  des  Kraftbegriff'es  im  Psychischen 144 

Der  Funktionsbegriff  im  Psychischen 145 

Das  Prinzip  der  Unterscheidung  von  psychischen  Funktionen  .   .    .  147 

Erörterung  von  Einwänden 149 

Gegen  die  Konzeption  des  Begriffes  der  Funktion 150 

Gegen  die  Vielzahl  psychischer  Funktionen 150 

Über  die  Annahme  einer  einzigen  psychischen  Kraft 152 

Das  Wundt-Hetbartsche  Argument:  den  Funktionsklassen  entspricht 

keine  konkrete  Wirklichkeit 153 

a)  Die  Unvermeidlichkeit  von  Abstraktion  in  der  Wissenschaft  .    .  153 

b)  Verwechselung  von  Abstraktion    und   Induktion   beim  Wundt- 
Herbartschen  Einwand löö 

c)  Das  Kriterium  der  Realität  von  psychischen  Klassen  liegt  in 

der  leitenden  Maxime  ihrer  Bildung 156 

d)  Die  Möglichkeit  einer  natürlichen  Systematik  von  Funktionen  157 
Vorläufiges  Ergebnis 159 

6.  Weiteres   über  die  Probleme   der  psychischen  Kausalität. 

Der  seelische  Zusammenhang  und  das  Unbewußte    .    .    .  160 

Kausalität  und  seelischer  Zusammenhang 160 

Der  Begriff  des  Reizes 161 

Potentielle  Bereitschaft  und  auslösende  Bedingung 161 

Die  Kategorie  der  Wechselwirkung  im  Psychischen 162 

Die  weiteren  theoretischen  Probleme  des  seelischen  Zusammenhanges  164 

Bewußtsein  und  seelischer  Zusammenhang  bei  Lipps 164 


Inhaltsverzeichnis.  VII 

Seitt 

Der  reale  pgychische  ZuKiiinin«»nliiing  im  UnbewuGten  bei  Lipps  .    .  165 

Kritik  dor  Lippsschen  Theorie 166 

Der  Begriö'  de«   Uubewußten 169 

Purste  Abgrenzungen  des  Begriff« 170 

Das  Problem  der  Reproduktion  und  ihrer  theoretischen  Möglichkeit  171 
Widerlegung  von  BcdcnkLu  gigen   die  Zulässigkeit  der  Konzeption 

des  unbewußten 173 

Über  die  Möglichkeit  positiver  Bestimmung  des  Unbewußten    .    .    .  175 

Nochmals  Unbewußtes  und  psychische  Realitilt 176 

Freud 177 

Pirgebnis  der  Untersuchungen  über  das  Unbewußte 177 

6.  Die  Reize  und  die  allgemeinen  Bedingungen  psychischer 

Dynamik 180 

Der  Reizbegriff  und  seine  Merkmale 180 

Reiz  und  Disposition 181 

Arten  der  Reize 182 

Die  dynamische  Verknüpfung  des  psychischen  Geschehens 184 

Die  Rolle  der  Assoziation 187 

Der  psychische  Ablauf 188 

7.  Die  Erkenntnis  der  Individualität  und  ihre  wissenschafts- 

theoretis  chen  Grundlagen.     Erster  Teil 190 

Übersicht  über  die  Problemlage 190 

Persönliclikeitsbegrift'und  Naturwissenschaft.  Individuelle  Kausalität?  191 

Die  Erkennbarkeit  des  Individuellen  als  Problem 192 

Der  Lösungsversuch  der  Geisteswissenschaft  bei  Rickert 194 

Rickerts  Analyse  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis 19ö 

Rickerts  Analyse  der  psychologischen  P>kenntniß 202 

Rickerts   Analyse    der   historischen   P>kenntnis.     Seine   Lösung    der 

Eikenntnis  des  Individuellen      213 

8.  Die  Erkenntnis  der  Individualität  und  ihre  wissonschafts- 

theoretischen  Grundlagen.     Zweiter  Teil 222 

Individualität  und  Typus;  die  idealtypische  Begriffsbildung  ...  222 

Individuelle  Kausalität  und  Gesetz 225 

Individualität  als  kategoriale  Erkenntnisform 227 

Die  Lösung  des  Individualitätsproblems :i20 

9.  Bemerkungen  zum  Problem  der  Wil  lensf  rei  hei  t  und  ihrer 

Vereinbarkeit  mit  der  Naturbestimmtbeit  psychischen 

Geschehens 231 

Psychologische  und  transzendentale  Freiheit 231 

Die  Antinomie  von  Freiheit  und  Gesetz 232 

Logische  Zergliederung  der  Voiaussetzungen  der  Antinomie.    .    .    .  2!^ 
Schließt  die  Naturgcsetzlichkeit  des  Geschehens  dessen  vollständige 

Bestimmtheit  ein? 234 

Die  Auflösung  der  Antinomie 236 


VIII  Inhaltsverzeichnis, 

Seite 

Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger 
Wissenschaft. 

Die  allgemeiue  Psychiatrie  und  die  psychiatrische  Gesamtforschung  237 

Der  theoretische  Charakter  der  allgemeinen  Psychiatrie 242 

Argumente  für  den  praktischen  Nutzen  theoretischer  Untersuchungen 

in  der  allgemeinen  Psychiatrie 246 

Abwehr  der  Ausschließlichkeit  somatologischer  Einstellungen  in  der 

allgemeinen  Psychiatrie 247 

a)  Vom  Standpunkte  der  Psychologie  aus 247 

b)  Vom  Standpunkte  der  Klinik  aus 249 

Die  allgemeine  Psychiatrie   als  Logik  und  Wissenschafts-Lehre  der 

Psychiatrie 255 

Die  praktischen  Aufgaben  der  Psychiatrie  und   der  Nachweis    der 

immanenten  Notwendigkeit  ihres  Wissenschaftscharakters  ....  260 

Über  die  Rede  von  der  Psychiatrie  als  Kunst 261 

Einführung  in  die  Problematik  des  Wissenschaftsbegriffes 265 

Zum  Begriff  des  Wissens 267 

Wissen  und  Wissenschaft 270 

Der  Wissenschaftsbegriff  der  Psychiatrie 273 

Einige  Schwierigkeiten  der  Anwendung  des  Wissenschaftsbegriffes 

auf  die  psychiatrische  Materie 274 

Probleme  des  Wissens  vom  Seelischen 277 

Psychiatrie  als  Geisteswissenschaft  —  eine  mögliche  Fragestellung?  282 

Allgemeiner  Rahmen  für  die  vorliegenden  Untersuchungen     ....  284 

Anhang:  Bemerkungen  über  immanente  theoretische  Kritik 

an  konstruktiven  Hypothesen  in  der  Psychologie 289 

Grundlinien   der  Phänomenologie   und   deskriptiven   Theorie    des 

Psychischen. 

Zur  Einführung 303 

l.  Erlebnis  und  seelische  Funktionen  (heu ristische  Entwick- 
lung der  phänomenologischen  Grundbegriffe) 308 

Vorbegriffliche  Umschreibung  der  phänomenologischen  Einstellungs- 
weise    308 

Die  Konzeption  des  Erlebnisbegriffes  bei  Dilthey 315 

Die  Entwicklung  des  Erlebnisbegriffes  bei  Lipps    . 318 

Einige  Korrekturen  am  Erlebnisbegriff 325 

Allgemeines  über  assoziative  Strukturen 330 

Psychische  Erscheinungen,  Funktionen  und  Akte 337 

Akte  und  „Bewußtsein" 341 

Akte  und  „Ich" 343 

Akte  und  Nichtakte 343 

Zur  Systematik  der  Aktklassen 344 

Akt  und  Gegenstand 346 

Ichvorstellung  und  Intention 346 


lubaltsTerzeichnis.  IX 

Seit« 

Qualität  und  Materie  der  Intentionen 346 

Die  Erlebbarkeit  von  Akten 349 

2.  Zum  Problem  des  Wissens  von  Fremdpsychischem   ....    350 

3.  Erlebnis  und  Erkenntnis    ;Entwicklung  des  Verhältnisses 

der  Phänomenologie  zur  psychologischen  Theorie) .    .    .    364 

Zwei  Grundprobleme  im  Begriff  der  Phänomenologie    .    .  364 

aj  Der  Begriff  der  Tatsache  im  Psychischen 366 

Die  Einmaligkeit  des  Psychischen 366 

Die  zeitliche  Kontinuität  des  Psychischen 365 

Erlebnis  als  Geschehen  und  als  Bewußtseinsform 368 

Der  Bewußtseinscharakter  psychischer  Tatsachen.     Der  „innere 

Sinn'- 369 

Die  Anschaulichkeit  psychischer  Tatsachen 374 

Noch  einmal  der  Erlebnisbegriff 375 

b)  Phänomenologie  als  i)8ychologische  Wissenschaft  .    .  378 

Die  Phänomenalität  der  Erlebnisse 378 

Beschreibung  und  Abstraktion 381 

Anwendung  auf  die  Erkenntnis  des  fremden  ich 384 

Abstraktion  und  induktive  Theorie  im  Psychischen 386 

Die  Stellung  der  Phänomenologie  in  der  Psychologie 394 

4.  Die  phänomenologischen  Aufgaben  in  der  Psychiatrie 
nebst  Bemerkungen  über  die  Krankheits-  und  Synaptom- 
begriffe  derselben 396 

a)  Die  psy  chologisch-klinis  chen  Fragestellungen   und 

ihre  phänomenologische  Zuspitzung 396 

b)  Die  pathologische  Intentionalität 412 

Zur  Theorie   und  Logik  psycliupiitliologischer  Typenbildung   und 
ihres  Verhältnisses  zur  Soziologie,  inshosdndere  Kriminologie. 

Vorbemerkung '*21 

1.  Einige  Bemerkungen  über  den   Begriff  des  Krankhaften 

im  Seelischen  und  die  logische  Struktur  psychopatho- 
logischer  Typenbildung 423 

2.  Paradigmatische  Erörterung  d»!r  theoretischen  Probleme 

des  sog.  moralischen  Schwachsinns 431 

3.  Das  soziale  Moment  als  Kriterium  psychischer  Typik   .       .     454 

Über  den  Begriff  der  Reaktivität ^-^ 

Über  den  Begriff  der  Milieuabhängi^keit 467 

Jakob  Friedrich  Fries  und  die  psychiatrische  Forschung 473 


Kront'eUl,  Psychiatrische  K.rkeiiiitnis. 


Einleitung. 

„Das  nOchstc  wäre,  zu  begreifen,  daB  «Um 
Faktische  schon  Theorie  lat."  Goethe. 

,,Au(  die  Möglichkeit  «'iner  Synthese  kommt 
es  an,  dann  wird  jede  Fülle  spielend  bewältigt. 
Ein  entleerter,  «ewaltaam  vereinfachter  Begriff 
iHt  um  nichts  anziehender  als  ein  analytisches 
CiiAos,  dem  das  finik'ende  Band  fehlt.  Aber  wir 
iuben  die  KInheit  in  der  Hand,  and  so  kann  uns 
die  Komplexität  des  Inhaltes  nicht  schrecken. 
Karl  C'amillo  Schneider. 

Die  im  folgenden  niedergelegten  Gedanken  sollten  ursprünglich  iu 
der  Homogeneität  eines  geschlossenen  systematischen  Werkes  auf- 
gehen. Seit  langen  Jahren  wissen  mich  meine  Freunde  mit  einer 
systematischen  Darstellung  beschäftigt,  welche  allgemeine  Psy- 
chiatrie als  Wissenschaft,  im  Sinne  einer  logisch,  theoretisch 
und  methodologisch  durchgebildeten  Disziplin  an  die  Stelle  der  bis- 
herigen bloßen  heuristischen  Materialanhäufungen  mit  ihrem  klinisch- 
konventionellen Charakter  setzen  sollte.  Der  Krieg,  welcher  mich 
an  die  Front  führte,  unterbrach  die  Arbeit  an  diesem  Werke  für  fast 
5  Jahre.  Und  für  den  Zurückgekehrten  ergäbe  sich  nun  die  kaum  zu 
erfüllende  Notwendigkeit,  aufs  neue  von  Grund  auf  anzufangen  und 
wieder  aufzubauen,  was  so  lange  verschüttet  und  brach  gelegen  war. 
Dennoch  erschiene  es  mir  als  ein  Verlust,  wenn  es  dem  Zufall  diese-s 
persönlichen  Geschicks  anheimgestellt  bleiben  soll,  ob  wenigstens  die 
leitenden  Ideen  und  Gesichtspunkte  jener  streng  wissenschaftlichen 
allgemeinen  Psychiatrie  in  die  zeitgenössische  Forschung  zu  gelangen 
vermögen  oder  nicht.  Deshalb  habe  ich  mich  entschlossen,  die  Ganz- 
heit jenes  geplanten  größeren  Werkes  aufzulösen,  um  seinen  Grund- 
gehalt wenigstens  in  vorläufiger  Form  zu  retten.  So  ist  das  vor- 
liegende Buch,  wenn  es  auch  sachlich  in  sich  abgeschlossen  ist,  in 
seiner  äußeren  Form  eine  Sammlung  von  einzelnen  Abhandlungen 
geworden,  welche  die  durchgehende  und  einheitliche  Struktur  des 
gedanklichen  Aufbaues,  in  den  sie  als  einzelne  Teile  eingefügt  sind, 
zwar  erkennen  lassen,  aber  nicht  zur  Schau  tragen.  Ich  hoffe  jedoch, 
daß  auch  diese  vorläufige  Form  der  Darstellung  ihre  Absicht  voll 
erreicht. 

Was  alle  die  einzelnen  Arbeilen  dieses  Buches  innerlich  verbindet, 
ist,  abgesehen  von  ihrem  Gegenstandsbereich,  dem  Problem  der 
Erkenntnis  in  der  Psychologie  und  Psychiatrie,  das  innere 
Zentrum,  von  welchem  aus  dieses  Problem  angefaßt  und  bearbeitet 
worden  ist.     Dieses  innere  Zentrum  in  seiner  ganzen  Bedeutsamkeit 

Kronfeld,  Psychiatrische  Erkenntnis.  1 


2  Einleitung. 

für  die  psychiatrische  Forschung  zu  beleuchten,  ist  der  wesentliche 
Zweck  dieses  Buches. 

Es  leitete  mich  bei  seiner  Zusammenstellung  der  Gedanke,  nicht 
so  sehr  materiale  und  faktische  Einzeluntersuchungen  zur  Darstellung 
zu  bringen,  als  vielmehr  alle  diejenigen  methodologischen,  logisch- 
und  theoretisch-fundierenden  und  kritischen  Gedankengänge  und 
Entwicklungen  mit  präziser  Begründung  zu  versehen,  durch  welche 
psychiatrisch-psychologisches  Denken  ermöglicht,  gesichert 
und  zum  Range  wirklicher  Wissenschaft  erhoben  zu  werden  vermag. 
Es  schwebte  mir  als  Leitidee  vor,  die  Logik  der  Psychiatrie  und 
ihre  Wissenschafts-  und  Erkenntnislehre,  wenn  auch  noch 
nicht  mit  systematischer  Geschlossenheit  und  Strenge,  so  doch  im- 
plizit an  der  Hand  ihrer  grundlegenden  Anwendungsweisen  zu  ent- 
wickeln. 

Dies  Buch  erfordert  also  vom  Verfasser  wie  vom  Leser,  sich 
intensiv  innerhalb  desjenigen  Forschungsinstitutes  für  Psychiatrie 
und  verwandte  Gebiete  zu  betätigen,  welches  ein  jeder  von  uns  mit 
sich  herumträgt:  des  denkenden  Geistes.  Dieser  Geist  wahr- 
haften psychologischen  Denkens  und  Erfassens  in  seiner  Tragweite 
und  Bedeutung  für  die  psychiatrische  Gesamtforschung  soll  zu  inten- 
siverer, strengerer,  schulmäßigerer  und  verantwortlicherer  Arbeit 
hingeleitet  werden,  als  unser  Fachgebiet  sie  bisher  kannte  und  zu- 
ließ, wo  gerade  die  psychologischen  und  psychopathologischen  Be- 
griffsbildungen und  Konzeptionen  nur  zu  oft  so  beschaffen  waren, 
daß  sie  einem  Vertreter  exakter  Wissenschaften  mit  Recht  den  Ein- 
druck befremdlicher  Oberflächlichkeit,  subjektiver  Willkür,  kon- 
ventioneller Schematik,  unpräzisen  und  verantwortungslosen  Ge- 
redes machen  mußten.  Dieses  Streben  nach  größtmöglicher  Ein- 
deutigkeit und  Präzision  in  allen  Ableitungen  und  Begründungen, 
Begriffen  und  Terminis  belastet  naturgemäß  die  Geduld  des  Lesers 
erheblich.  Es  ist  aber  nicht  Selbstzweck,  sondern  seinerseits  nur 
wieder  ein  Ausdruck  jenes  inneren  Zentrums,  jener  verborgenen  und 
doch  deutlichen  Einheit,  welche  auch  sachlich  die  Materien  dieses 
Buches  umfängt.  Diese  Einheit  ist  —  in  ihrer  erkenntniskritischen 
Zuspitzung  —  letzten  Endes  eine  »philosophische  «,  eine  weltanschau- 
liche: die  des  kritischen  Idealismus  der  Kantisch-Friesschen  Lehre. 
Sie  präjudiziert  natürlich  in  absolut  keiner  Weise  den  Gehalt  aller 
empirischen  Forschung;  das  würde  ihrem  Wesen  widersprechen; 
wohl  aber  ist  sie  eine  Einheit  der  Prinzipien  und  der  regulativen 
Maximen,  der  Methoden  und  kritischen  Stellungnahmen  denkender 
und  forschender  Empirie  auch  auf  unserem  Gebiete.  Vor  allem  aber 
ist  sie  eine  Norm  der  Gesinnung,  mit  welcher  an  die  Erfassung 
psychologischer  und  psychiatrischer  Probleme  herangegangen  werden 
sollte. 

Wenn  ich  das  Ziel  Und  gleichsam  die  Idee  dessen  bezeichnen  darf, 
was  mir  bei  der  Abfassung  des  vorliegenden  Buches  vorgeschwebt 
hat,  und  den  Geist  und  die  Gesinnung,  aus  der  heraus  diese  Unter- 


Einleitung.  3 

suchungeii  entstanden  sind,  so  möchte  ich  mich  dazu  der  Worte 
eines  unserer  unsterblichen  Führer  bedienen.  Rudolph  Hermann 
Lotze  schrieb  im  ersten  Buche  seiner  medizinischen  Psychologie 
(Leipzig  1852)  die  folgenden  Sätze:  »Die  Erkenntnis  des  Seelen- 
lebens hat  in  größerem  Maße  als  andere  Wissenschaften,  und  in 
eigentümlicher  Weise  gelitten.  In  der  Tat  dürfen  wir  uns  auf  diesem 
Gebiete  das  innigste  und  eindringendste  Verständnis  fast  mit  dem- 
selben Recht  zuschreiben,  mit  welchem  wir  die  Unmöglichkeit 
beklagen,  gerade  diesen  Besitz  in  wissenschaftlichen  Formen 
festzuhalten.  Von  frühester  Kindheit  an  führt  uns  die  Umgebung 
unzählige  Wahrnehmungen  geistigen  Lebens  zu;  aber  mancherlei 
Wünsche  des  Gemüts  und  die  Triebe  der  Selbsterhaltung  zeitigen 
aus  ihnen  mit  allzu  großer  Beschleunigung  jenen  Instinkt  unmittel- 
barer Menschenkenntnis,  der  sogleich  den  nutzbaren  Gewinn  seiner 
Wahrnehmungen  zu  verfolgen  eilt.  Mit  dem  schnellen  Anwuchs 
dieser  praktischen  Klugheit  vermag  die  wissenschaftlichere  Neigung 
des  Verstandes,  das  Beobachtete  auf  seine  ersten  Quellen  zurück- 
zuführen, niemals  gleichen  Schritt  zu  halten.  Und  so  erneuert  sich 
zwar  in  dem  Lebenslaufe  jedes  einzelnen  die  rasche  Ausbildung  einer 
mehr  oder  minder  gehaltvollen  Kenntnis  des  geistigen  Lebens,  und 
die  Lücken  individueller  Erfahrung  ergänzend,  haben  die  Über- 
lieferungen der  Gesclüchte  und  die  Werke  der  Kunst  einen  Reichtum 
psychologischer  Anschauungen  um  uns  aufgehäuft,  deren  umfassende 
Mannigfaltigkeit  und  eindringende  Feinheit  wenig  zu  begehren  übrig 
läßt.  Aber  diese  lebendige  Menschenkenntnis  ist  dennoch 
weder  Wissenschaft,  noch  geeignet  eine  solche  aus  sich 
zu  entwickeln. 

Zwar  entspringen  gewiß  auch  aus  ihr  für  jedes  nachdenkliche 
Gemüt  allgemeine  Gesichtspunkte  und  zusammenfassende  Ansichten 
genug,  aber  sie  unterscheiden  sich  völlig  von  dem,  was  eine  Wissen- 
schaft anstreben  würde  .  .  .  Auf  schwebenden  Grundlagen  ruht  jene 
lebendige  Menschenkenntnis;  imd  so  wenig  wir  hoffen  dürfen,  ihren 
praktischen  Blick  jemals  durch  wissenschaftliche  Überlegungen  zu 
ersetzen,  so  wenig  vermag  sie  selbst  die  Aufgaben  der  Wissenschaft 
zu  lösen  oder  ihrer  Lösung  auch  nur  in  genügender  Weise  vorzu- 
arbeiten. Jenes  Innere  der  Seele,  das  der  Pädagog  nach  bestimmten 
Zwecken  auszubilden,  dessen  krankhafte  Störungen  der  Arzt,  dessen 
sittliche  Verirrungen  der  Seelsorger  zu  heilen  unternimmt,  bleibt  in 
seinem  eigentlichen  Wesen  und  in  den  ursprünglichen  Gesetzen 
seines  Wirkens  ihnen  allen  unbekannt.  Mit  instinktiver  Sicherheit 
bewegen  sie  sich  in  einem  Kreise  der  zusammengesetztesten  Ereig- 
nisse, die  auf  ilire  unzähligen  Bedingungen  zurückzuführen  die 
Wissenschaft,  selbst  im  Besitze  der  festesten  Prinzipien,  verzweifeln 
müßte;  manche  Gewohnheiten  ferner  des  Ineinandergreifens  geistiger 
Tätigkeiten  wissen  sie  den  Beobachtungen  geschickt  genug  zu  ent- 
lehnen, aber  die  wesentlichste  Frage  lassen  sie  unberührt,  die  nach 
den    elementaren    Kräften,     auf    deren    Wirksamkeit    und 


4.  Einleitung. 

Verbindung  die  Möglichkeit  aller  dieser  Gewohnheiten 
allein  beruht.  Neben  dem  feinsten  Verständnis  menschlicher 
Charaktere  im  Leben  und  neben  der  schärfsten  Zeichnung  derselben 
in  den  Werken  der  Kunst  pflegt  daher  doch  selbst  em  gebildetes 
Zeitalter  gewissen  Grundvorstellungen  über  die  Natur  des  geistigen 
Wesens  zu  folgen,  über  deren  Roheit  es  selbst  erschrickt, 
sobald  eine  empirische  Psychologie  ihm  die  Summe  der- 
selben in  wissenschaftlicher  Allgemeinheit  vorhält  und 
abgelöst  von  dem  bestechenden  Reichtum  spezieller  Anschauungen, 
die  allein  in  der  lebendigen  Anwendung  ihre  gänzliche 
Unzulänglichkeit  verdeckten. 

Dasselbe  geistige  Dasein  nun,  welches  jene  lebendige  Kenntnis 
so  fein  in  seinen  letzten  Verzweigungen  und  so  gar  nicht  in  seinen 
Wurzeln  versteht,  hat  freilich  stets  auch  den  geordneten  Angritten 
der  wissenschaftlichen  Untersuchungen  offengestanden.  Aber  ein 
doppeltes  Mißgeschick  hat  auch  diese  ernstlichen  Bestrebungen  der 
Erklärung  immer  verfolgt.  Zuerst  hat  die  überwältigende  Wichtig- 
keit  des  Gegenstandes  jedes  Zeitalter  gedrängt,  mit  oft^  unzuläng- 
lichen Erkenntnismitteln  eine  abschließende  Ansicht  über  ihn  zu 
suchen.  Wie  sehr  nun  auch  zur  Beurteilung  vieler  Seiten  des  geistigen 
Lebens  die  nötigen  Grundlagen  nur  in  dem  Innern  des  Geistes  selbst 
liegen  und  daher  dem  Scharfsinn  menschlicher  Erkenntnis  stets 
zugänglich  sein  müßten,  so  wird  doch  seine  vollständige  Aut- 
fassung nie  ohne  jene  klaren  naturwissenschaftlichen 
Anschauungen  möglich  sein,  die  im  Verlaufe  unserer  Bildung 
sich  bekanntlich  spät  und  allmählich  entwickelt  haben.  Im  An- 
gesiebt  so  vieler  mißlungener  Versuche,  das  geistige  Leben  zu  er- 
klären, dürfen  wir  deshalb  die  Hoffnung  doch  nicht  aufgeben,  wenig- 
stens in  bezug  auf  die  enger  begrenzte  Frage,  welche  den  Gegen- 
stand   unserer    folgenden    Betrachtungen    bilden    wird,    glucklicüer 

zu  sein  ...  ■,      r^  ^.     a 

Es  ist  daher  nicht  sowohl  die  eigene  Dunkelheit  des  Gegenstandes, 
die  wir  scheuen,  als  vielmehr  jenes  andere  Mißgeschick,  dem,  wie 
wir  erwähnten,  die  Versuche  psychologischer  Erklärung  stets  aus- 
gesetzt gewesen  sind.  In  jener  lebendigen  Menschenkenntnis  sind 
wir  mit  den  Erscheinungen  des  Seelenlebens  äußerlich  zu  bekannt 
geworden,  um  noch  gern  zu  glauben,  die  Wissenschaft  wisse  über 
sie  mehr  Aufklärung  zu  geben,  als  unsere  unerzogenen  Reflexionen 
bereits  enthalten.  Wie  jeder  andere  Kreis  von  Erfahrungen,  so  ist 
auch  der,  den  wir  über  psychische  Erscheinungen  uns 
gesammelt  haben,  durch  die  unablässige  Tätigkeit  halb 
unbewußter  Überlegungen  mit  einer  unfertigen  Meta- 
physik allenthalben  versetzt.  Jene  äußerliche  Vertrautheit 
aber  mit  den  Phänomenen  des  geistigen  Lebens  trägt  die  Schuld, 
daß  wir  gerade  auf  diesem  Gebiete  die  Vorurteile  jener  unregel- 
mäßigen Erklärungsversuche  mit  viel  größerer  Hartnäckigkeit, 
als  sonstwo,  den  Behauptungen  gegenüberstellen,  welche  eine  be- 


Einleitung.  5 

sonnene  Spekulation  geltend  zu  machen  luit.  Viele«  erscheint  daher 
der  allgemeinen  Meinung  als  eine  klare  und  brauchbare  Hypothese 
der  Erklärung,  was  jede  philosophische  Theorie  als  eine 
völlig  un  mögliche  Verkehrtheit  zurückweisen  muß;  manches 
gilt  umgekehrt  jener  fragmentarisch  gebildeten  Ansicht  als  unlös- 
bares Rätsel,  was  die  wissenschaftliche  Auffassung  als  einfach  und 
erledigt  betrachten  darf.  So  hat  jener  unangenehme  Zustand  der 
Dinge  sich  gebildet,  daß  zwar  jeder  zugibt,  die  Entscheidung  physi- 
kalischer Fragen  hänge  von  der  genauen  Kenntnis  unl^st  reit  barer 
Grundsätze  ab,  daß  dagegen  der  Bereich  psychologischer 
Untersuchungen  fast  für  ein  vogelfreies  Gebiet  gehalten 
wird,  in  welchem  bei  dem  Mangel  aller  festen  Gesetze 
und  der  Unmöglichkeit  sicherer  Ergebnisse  jeder  den 
Einfällen  folgen  dürfe,  die  ihn  am  meisten  anmuten. 
Zwar  müssen  wir  zugeben,  daß  hier  wie  in  allen  Wissenschaften, 
einzelne  unentscheidbare  Fragen  sich  finden,  deren  Beantwortung 
für  jetzt  einem  subjektiven  Gefühl  des  Richtigen  anheimgestellt 
bleiben  muß;  nicht  minder  aber  können  wir  das  Vorhanden- 
sein ebenso  sicherer  Grundsätze  behaupten,  als  sie  irgend- 
einer anderen  Wissenschaft  zu  Gebote  stehen.  Der  Ge- 
nialität unserer  Forscher  mag  das  schöne  Verdienst  beschieden  sein, 
diesen  Grundsätzen  durch  individuellen  Scharfsinn  eine  Reihe  wich- 
tiger Anwendungen  abzugewinnen;  in  bezug  auf  die  Grund- 
sätze selbst  dagegen  müssen  sie  mit  Aufgebung  subjek- 
tiver Neigungen  sich  zu  der  aufrichtigen  Stellung  eines 
Lernenden  verstehen. 

Indem  wir  nun  den  Versuch  wagen  wollen,  den  Zusammenhang 
des  geistigen  Lebens  in  jenen  Grundlagen  zu  schildern,  die  der  Heil- 
kunst von  Wert  sein  können,  müssen  wir  hoffen,  daß  eine  ausdauernde 
Teilnahme  unserer  Leser  die  Ungunst  der  Stellung  überwinden 
werde,  in  der  sich  alle  solche  Bestrebungen  gegenwärtig 
befinden.  Wir  sehen  uns  einem  Gegenstand  gegenüber,  dessen 
erste  Frische  längst  durch  unzählige  vereinzelte  und  mißglückte 
Versuche  seiner  Erforschung  für  uns  verloren  ist;  der  Zugang  zu 
dem  ferner  ,was  wir  als  feststehend  und  weiterer  Entwicklung  fähig 
behaupten  möchten,  steht  uns  nur  nach  dem  langen  Wege 
einer  erschöpfenden  Kritik  jener  V^orurteile  offen,  die 
sich  verwirrend  um  diese  Fragen  angesammelt  haben; 
endlich  ist,  was  wir  als  das  Wahre  vertreten  wollen,  nicht  eine  jener 
extremen  und  kapriziösen  Ansicliten,  die  gegenwärtig  am  meisten 
Hoffnung  haben,  die  erschlaffte  Empfängliclikeit  für  die  Behand- 
lung dieser  Gegenstände  wieder  aufzustaclieln.  Unsere  Absicht  ist 
es  vielmehr,  eine  Auffassung  des  Seelenlebens  zu  entwickeln,  die 
den  Anforderungen  naturwissenschaftlicher  Anschau- 
ungen ebenso  vollständig  Genüge  leistet,  als  sie  anderer- 
seits unverkümnierten  Raum  läßt  für  die  Anknüpfung  jener  geistcs- 
wissen-schaft liehen    Reflexionen,    deren    gleiches    Recht    an    unseren 


6  '  Einleitung. 

Gegenstand  zu  leugnen  wir  der  Leidenschaftlichkeit  unserer  Zeit 
nicht  zugestehen  dürfen.  Wir  wollen  versuchen,  diese  allgemeinen 
Grundlagen  der  psychologischen  Untersuchungen  hier  zusammen- 
zufassen, ohne  Bildung  und  Sprache  einer  bestimmten  philosophischen 
Schule  vorauszusetzen,  aber  gleichzeitig  auch  ohne  den  Zu- 
sammenhang mit  jenen  Elementen  der  Bildung  zu  ver- 
lieren, die  außer  der  Physiologie  das  menschliche  Nach- 
denken bewegen,  und  deren  Einfluß  der  Naturforscher 
sich  weder  im  Leben  noch  in  der  Wissenschaft  zu  ent- 
ziehen vermag,  oder  versuchen  soll.« 

Der  Gesamtumfang  des  vorliegenden  Werkes  ist  auf  drei  Bände 
berechnet.     Der  erste  Band  behandelt,  in  einer  völlig  in  sich  ab- 
geschlossenen   Weise,    den    Wissenschaftscharakter,    die    Geltungs- 
grundlagen und  die  Erkenntnismethoden  der  allgemeinen  Psychiatrie, 
sofern  sie  Anspruch  auf  strenge  Wissenschaftlichkeit  erheben.     Er 
enthält    also    irgendwelche    materiale    psychiatrische    Einzelarbeit 
noch  nicht.     Dies  sei  sogleich  bemerkt,  um  Enttäuschungen  vorzu- 
beugen; es  soll  aber  damit  nicht  gesagt  sein,  daß  sein  Inhalt  für  den 
psychiatrischen  Denker  und  Forscher  unwesentlich  sei.     Das  Gegen- 
teil ist  meine  feste  Überzeugung.     Der  zweite  Band  wird  die  mate- 
riale Durcharbeitung  der  psychischen  Reihe  von  Daten,  der  dritte 
die    im    weitesten    Sinne    psychophysischen    und    außerpsychischen 
Problemgebiete  behandeln,  die  im  Bereich  der  Psj^chiatrie  bestehen. 
Dem  hier  vorliegenden  ersten  Bande  habe  ich  einen  vorbereiten- 
den Teil  vorangeschickt,  welcher  eine  Einführung  des  Lesers  in  die 
allgemeinen  erkenntniskritischen   Grundlagen  gibt,   auf   denen  sich 
das  Fundament  der  eigentlichen  theoretischen,  phänomenologischen 
und  methodologischen  Gedankengänge  erhebt,   welche  ich  für  den 
Wissenschaftscharakter  der  allgemeinen  Psychiatrie  als  notwendige 
und  hinreichende  Bedingungen  erachte.     Dieser  erste  vorbereitende 
Teil  ist  es  nun  besonders,  welcher  unter  der  Ungunst  meines  persön- 
lichen Geschickes  in  seiner  äußeren  Form  zu  leiden  hatte.     Geplant 
war,  ihm  eine  systematisch  geschlossene  Form  strenger  Ableitungen 
zu   geben.      Diese  Absicht   zu    verwirklichen,    mußte   ich   aufgeben. 
An  ihre  Stelle  habe    ich  einige  synoptische,  kritische  und  polemische 
Ausführungen  zur  philosophischen  Erkenntnislehre  setzen  müssen; 
ein  Teil  derselben  ist,  freilich  in  wesentlich  anderer  Form,  schon  an 
anderen  Stellen  teilweise  schon  vor  einem  Jahrzehnt  von  mir  ver- 
öffentlicht worden.     Wenn  ich  es  dennoch  nicht  aufgegeben  habe, 
diesen    vorbereitenden    Teil    allgemeiner    erkenntniskritischer    Er- 
örterungen überhaupt  in  dies  Werk  aufzunehmen,  so  liegt  hierfür 
ein  doppelter  Grund  vor:    Einmal  nämlich  soll  durch  ihn  das  Inter- 
esse für  scharfe  und  präzise  Fragestellungen  gerade  auf  diesem  all- 
gemeinen Gebiet   mehr  geweckt  werden,   als  dies  beim  praktisch- 
psychologischen und  psychiatrischen  Leser  oftmals  der  Fall  ist,  der 
in  der  Erkenntnislehre  sich  entweder  gerne  durch  einen  Wust  von 
historischer   Gelehrsamkeit    oder    durch    schwungvoll    vorgetragene 


Einleitung,  7 

geistreiche  Gedanken  gefangen  nehmen  läßt.  Weder  das  eine  noch 
das  andereist  wesentlich:  es  kommt  ganz  einfach  auf  richtiges 
Denken  an;  dies  und  nichts  anderes  soll  an  den  Ausführungen  de« 
vorbereitenden  Teils  dargetan  werden.  Der  zweite  Grund  der  Voran- 
stellung dieses  erkenntniskritischen  Teiles  ist,  die  allgemeinen  Grund- 
lagen zu  schaffen,  welche  uns  zur  wissenschaftlichen  Bearixjitung 
unserer  eigentlichen  psychiatrischen  Probleme  festen  Halt  und 
»Standpunkt   gewähren. 

Was  ich  bei  den  (Jedankengängcn  dieses  Teiles  meinem  Freunde 
Leonard  Nelson,  als  dessen  Schüler  ich  mich  fühle  und  freudig 
bekenne,  zu  verdanken  habe,  das  wird  aus  jeder  Zeile  erkenntlich  sein. 

Weit  wichtiger  freilich  als  dieser  vorbereitende  Teil  ist  mir  alles 
das,  was  in  den  folgenden  eigentlichen  Hauptabschnitten  dieses 
Buches  gesagt  wird.  In  ihnen  glaube  ich  das  Neue  zu  geben,  was 
in  psychiatrischen  Erörterungen  bisher  noch  nicht,  in  psychologischen 
nur  allzu  selten  zum  Ausdruck  und  zur  Formulierung  gelangt  ist. 
Zwischen  den  einzelnen  Abscjinitten  besteht,  wenngleich  ein  jeder 
von  ihnen  eine  in  sich  geschlossene  und  verständliche  Abhandlung 
darstellt,  der  innigste  Zusammenhang.  Ein  jeder  von  ihnen  führt 
die  Beantwortung  des  Problemkreises:  Wie  ist  allgemeine  Psychiatrie 
als  Wissenschaft  möglich?  —  in  bestimmter  Richtung  weiter;  und 
so  wird  hoffentlich  der  Leser  am  Schluß  dieses  Buches  ein  einheit- 
liches Gesamt  })ild  dessen  besitzen,  was  ich  grundsätzlich  und  metho- 
dologisch in  das  psychiatrische  Denken  eingeführt  und  an  seinen 
einzelnen  !^Iaterien  verwirklicht  sehen  möchte.  Um  dem  Leser  trotz 
der  hier  gewählten  äußeren  Form  der  Einzelabhandlungen  dieses 
Verständnis  für  die  systematische  Einheitlichkeit  der  vorgetragenen 
Gedankengänge  zu  gewährleisten,  bin  ich  von  bestimmten  Gesichts- 
punkten der  .\uswahl  und  Anordnung  des  Problemgebietes  aus- 
gegangen. Zuerst  gebe  ich  eine  kurze  Synopsis  des  gegenwärtigen 
Standes  der  psychiatrischen  tind  psychologischen  Forschungstenden- 
zen. Es  handelt  sich  hierbei  um  eine  rein  ontologische  Zusammen- 
stellung, aber  eine  solche,  die  —  ohne  Rücksicht  auf  Einzelarbeiten  — 
auf  die  generelle  Problemlage  selber  eingestellt  ist.  Aus  ihr  ergeben 
sich  l)ereits  l)estimn\te  Anhaltspunkte  für  die  zu  leistende  Arbeit. 
Diese  l)esteht  nun  in  der  systematisclien  Üurchdenkung  der  zwei 
Hauptgebiete  der  Erkenntnisproblematik  der  Psychiatrie:  der 
Wissenschaftstheorie  des  Psychischen  und  der  Phäno- 
menologie des  Psychischen.  Die  beiden  umfangreichen  Studien, 
welche  sich  mit  diesen  l>eiden  Problemkreisen  auseinandersetzen, 
betrachte  ich  als  die  Kernstücke  des  vorliegenden  Werkes.  Zwischen 
sie  stellte  ich  einen  Entwurf,  welcher  einige  Linien  für  das  allein 
mögliche  Programm  einer  Grundlegung  der  allgemeinen  Psychiatrie 
zieht.  Ein  Anhang  zu  diesen  Prolegomenen  jeder  allgemeinen  Psy- 
chiatrie, die  mit  dem  Anspruch  auf  strenge  Wissenschaftlichkeit 
wird  auftreten  köimen,  In^schäftigt  sich  mit  den»  Verhältnis  imma- 
nenter Kritik  und  deren   Bedingungen   zu  irgendwelchen  konstruk- 


8  Einleitung. 

tiven  Hypothesen  und  sogenannten  Arbeitsgesichtspunkten,  wie  sie 
gerade  in  unserer  Wissenschaft  an  der  Tagesordnung  sind.  Dem 
phänomenologischen  und  psychologisch-theoretischen  Problem- 
gebiet lasse  ich  am  Schluß  noch  einige  Erörterungen  folgen  über  die 
besonderen  phänomenologischen  Aufgaben  der  Psychiatrie,  die 
psychiatrischen  Krankheitsbegriffe  und  die  Logik  und  Theorie  des 
Verhältnisses  von  Symptom  und  Krankheit  in  der  Psychiatrie.  Hierzu 
gehören  auch  Untersuchungen  über  das  Verhältnis  deskriptiver  und 
normativer  Typenbildungen  in  der  Psychopathologie. 

So  bereitet  dies  Buch  die  Anwendungen  seiner  logischen,  erkennt- 
niskritischen und  phänomenologischen  Ergebnisse  auf  die  Einzel- 
materien unserer  Disziplin  vor,  welche  zu  geben  Aufgabe  der  späteren 
Bände  sein  wird. 

Darf  dieser  Versuch  einer  Logik  der  Psychiatrie  noch  eine  nega- 
tive Charakteristik  erfahren,  so  kann  diese  durch  einen  doppelten 
Gegensatz  bezeichnet  werden:  erstens  durch  den  Gegensatz  zur 
dogmatischen  Starre  aller  konstruktiven  Theoreme,  welche,  oft 
unerkannt  und  mit  scheinbarer  Selbstverständlichkeit,  und  dann 
am  gefährlichsten,  unsere  Disziplin  durchsetzen;  mögen  diese  Kon- 
struktionen empiristischen,  mögen  sie  geisteswissenschaftlichen  Ur- 
sprungs sein,  welch  letzterer  gerade  neuerdings  in  den  Arbeiten 
mancher  Phänomenologen  und  Pathopsychologen  wieder  modern 
wird.  Zweitens  durch  den  Gegensatz  zum  analytischen  Chaos  der 
»reinen  Phänomenologie«  und  ihrer  Systemlosigkeit,  ihrer  Schein- 
tiefe und  Geschwollenheit,  Welches  der  positive  Ausweg  aus  dieser 
doppelten  Gegensätzlichkeit  ist,  dies  sagt  ausführlich  und  eindeutig 
das  Buch  selber;  nur  so  viel  sei  bemerkt,  daß  dieser  Ausweg  keines- 
wegs der  der  gegenwärtigen  klinischen  Nosologie  ist,  deren  konven- 
tionalistische  Willkür,  kritiklose  Sammelei  und  dogmatische  Schub- 
facheinteilung, jedes  beherrschenden  theoretischen  Gesichtspunktes 
bar,  noch  immer  Orgien  feiert.  Wir  setzen  die  überragende  Leistung 
eines  Kraepelin  nicht  herab,  wenn  wir  feststellen,  daß  die  Hyper- 
trophie klinischer  Gesichtspunkte  und  Dogmatismen,  die  in  seinem 
großen  Lehrbuch  von  Auflage  zu  Auflage  wuchs,  eben  dies  Lehrbuch 
von  Auflage  zu  Auflage  verwässert  und  veräußerlicht  hat.  Sein 
Weg  ist  ganz  gewiß  nicht  der  unsrige:  Er  hat  psychiatrische  Forschung 
in  die  Gefahr  konventionalistischer  Relativitäten  getrieben;  er  hat 
Psychiatrie  als  autochthone  Wissenschaft  mehr  und  mehr  ausge- 
schaltet; zurzeit  besteht  eine  Ära  fast  sklavischer  Abhängigkeit  der 
psychiatrischen  Forschung  von  ihren  heterologischen  Hilfswissen- 
schaften, von  deren  Sondermethoden,  die  auf  dem  Boden  fremder 
Disziplinen  wachsen,  sie  in  tatloser,  steriler  Gebundenheit  die  Ver- 
mittlung eigenen  Fortschreitens  erwartet,  ohne  sie  zu  finden.  Wir 
aber  wollen  uns  wieder  auf  die  autologischen  Grundlagen  psychia- 
trischen Denkens,  psychiatrischen  Erkennens  und  Wissens  besinnen. 

Wir  werden  uns  bei  der  Entwicklung  dessen,  was  wir  zu  sagen 
haben,  auf  Vorgänger,  die  wir  zum  Teil  als  unsere  eigentlichen  Lehrer 


Einleitung.  9 

lind  Führer  bet rächt t-ii,  stützen  und  berufen,  «oweit  uns  die«  irgend 
niöglieh  ist.  Deiinocli  wird  man  die  Eigenheit  der  (Jedanken 
dieses  Buches  und  iiire  Xeulieit  darülx-r  nicht  verkennen  wollen. 
Diese  Berufung  auf  Kigenheit  und  Neuheit  des  Inhalts  ist  nun  ira 
allgemeinen  nicht  gerade  ein  günstiges  Empfehlungszeichen  für 
psychiatrische  Werke.  Und  nun  noch  gar  für  eines,  in  welchem  mate- 
riale  Psyciüatrie  selber  noch  gar  nicht  zu  Worte  kommt,  welches 
sich  in  den  vom  Einzelforscher  so  gefürchteten  oder  belächelten 
»Allgemeinheiten«  bewegt!  Ich  gestehe  offen,  daß  ich  in  dieser  Hal- 
tung niemals  etwas  anderes  habe  sehen  können  als  ein  arrogantes 
Vorurteil  der  Befangenheit.  Klares  Bekenntnis  zur  Subjektivität 
eines  Standpunktes  ist  ehrlicher  als  der  Relativismus  skeptischer 
»Scheinolijckt ivität ;  Streben  zum  Allgemeinen,  zu  Gesetz  und  Be- 
gründung ist  wahrliafter  Wissenschaft  als  das  leere  systemlose  Sam- 
meln disjekter  Fakten  unter  äußerlichen  Zweckgesichtspunkten. 
Um  ein  nur  scheinbares  Paradox  meines  Freundes  Nelson  auf- 
zunehmen: Je  subjektiver  und  ihrer  Subjektivität  Ijcwußter,  je 
mehr  in  Synthese  und  System  tendierend  ein  wissenschaftliches 
Werk  sein  wird,  um  so  ehrlicner,  unparteiischer  und  wissenschaft- 
licher wird  es  sein. 

Die  gesamte  in  Frage  kommende  Literatur  zu  berücksichtigen, 
war,  so  sehr  wir  uns  dies  angelegen  sein  ließen,  nicht  möglich.  Es 
hätte  dazu  eine  Arbeit  vieler  Jahrzehnte  gehört.  Auch  im  Interesse 
der  oft  recht  schwierigen  Darstellung  selljer  erschien  es  nicht  ge- 
boten, sie  mit  gelehrteni  Beiwerk  allzu  stark  zu  belasten.  Wir  stehen, 
so  schroff  wir  den  sonstigen  Standpunkt  Rickerts  in  diesem  Buche 
ablehnen,  wenigstens  darin  auf  seiner  Seite,  »daß  wir  heute  im  all- 
gemeinen viel  zu  viel  zitieren«,  und  machen  uns  seine  Absicht  zu 
eigen:  »in  bewußtem  Gegensatz  hierzu  .  .  .  einfach  das  darzustellen 
und  zu  begründen,  was  wir  für  richtig  halten;  und  daher  sind  fremde 
Arbeiten  nur  dann  ausdrücklich  genannt,  wenn  uns  dies  im  Interesse 
der  Klarlegung  eines  Gedankenganges  wüncheuswert  erschien«. 

Ich  schmücke  dies  Buch  mit  dem  Namen  Hugo  Liepmanns, 
meines  verehrten  Lehrers,  dem  ich  als  hingebungsvollem  Irrenarzt, 
als  vorbildlichem  Forscher  und  scharfsinnigem  Denker  mehr  ver- 
danke, als  icii  in  wenigen  Zeilen  zu  sagen  vermag,  t^s  ist  mir  eine 
Genugtuung,  ihm  dieses  Buch  in  dem  Augenblicke  widmen  zu  dürfen, 
wo  ich  durch  äußere  Verhältnisse  genötigt  bin,  von  der  persönlichen 
Mitarbeit  innerhalb  seines  Wirkungskreises  dankerfüllten  Abschied 
zu  nehmen. 

Berlin,  Juni    1U19. 


Vorbereitende  Einführimg 

in  die  allgeiiieinen  erkenntniskritischen 
Grundlagen. 


3Ietaphysikfn'ii*  Naturforschung? 

Es  ist  für  den,  der  die  tiefsten  Grundlagen  wissenschaftlichen 
Denkens  der  Lehre  Immanuel  Kants  verdankt,  kein  erfreuliches 
Zeichen,  daß  gerade  in  dieser  Zeit  in  den  Köpfen  der  Naturforscher 
das  Vorurteil  wieder  Platz  greift  und  sich  befestigt,  die  Wissenschaft 
Metaphysik  sei  so  etwas  wie  ein  mystischer  Dogmatismus.  Und 
doch  wird  dies  anscheinend  mehr  und  mehr  die  allgemeine  Meinung; 
und  derjenige  gilt  als  freier,  bahnbrechender  Forscher,  der  sich  in 
irgendeinem  Wege  bemüht,  die  »vorurteilslose«  Forschung  von  der 
Metaphysik  zu  befreien. 

In  diesen  Bahnen  wirkte  vor  allem  der  berühmte  Physiker  und 
geistreiche  Psycholog  Ernst  Mach.  Er  hat  sich  den  Ruhm  erworben, 
das  metaphysische  Denken  aus  der  Naturwissenschaft  von  Grund 
aus  eliminiert  zu  haben.  Der  Gehalt  seiner  —  fast  möchte  man  sagen: 
metaphysikfreien  Metaphysik  —  die  er  in  stolzer  Bescheidenheit 
freilich  nur  als  »Skizzen  zur  Psychologie  der  Forschung«  wertet^) 
ist  vielen  zur  Weltanscliauung  geworden  und  gewinnt  einen  stetig 
wachsenden  Einfluß  auf  das  philosophische  Denken  in  der  Natur- 
wissenschaft. Da  ist  es,  scheint  uns,  nicht  ohne  Belang,  daß  die  be- 
rufene Forschung,  die  Fachwissenschaft  Philosophie,  die  Me- 
tlioden  und  Thesen  einer  also  propagierten  Lehre  besonderer  Prüfung 
unterzieht.  Diesem  Zwecke  dient  eine  Arbeit  des  Göttinger  Philo- 
sophen Leonard  Nelson^j.  Die  Ausführungen  des  Neubegründers 
der  Friessclien  Philosophie,  von  hoher  Achtung  vor  der  wissen- 
schaftlichen Bedeutung  des  großen  Gelehrten  Mach  getragen,  zeigen 
zugleich  mit  unwidersprechliclier  Sachlichkeit,  wie  unversehrt  und 
siegreich  der  Kritizisnnis  Kants  dem  versteckten  Dogmatismus  der 
Mach  sehen  Lelire  gegenüber  bestehen  bleibt. 

Damit  soll  nun  keineswegs  gesagt  sein,  daß  Nelson  den  Gehalt 
des  Empiriokritizismus  von  Beginn  an  nach  den  Kriterien  der  Kant- 
schen  Lehre  beurteile.  Das  wäre  immerhin  eine  Art  jener  Befangen- 
heit in  einem  historisch  vorliegenden  »System,  gegen  die  Mach  im 
Anfange  seines  Werkes  mit  Recht  Einspruch  erhebt.  Vielmehr  folgt 
der  Kritiker  dem  Autor  auf  sein  eigenes  Forschungsgebiet;  er  be- 
urteilt die  Ergebnisse  der  empirisch-psychologischen  Forschungen 
Machs  nach  den  Tatsachen  der  Selbstbeobachtung  und  prüft,  ob 
die  Machsche  Lehre  mit  der  inneren  Erfahrunu    —  auf  die  sie  doch 


»)   »ErkonntniH  und  Irrtum.«     2.  Aufl.   IIXXI. 

*)  »Ist   motni)hysikfreic   Naturwissenschaft   luuglicbT«     Abhandlungen   der 
Friesschen  Schule  II.  3. 


14    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritisciien  Grundlagen. 

ausschließlich  sich  aufzubauen  vermeint  —  selber  in  Konflikt  komme ; 
oder  ob  sie  in  einwandfreier  Methodik  zu  einwandfreien  Resultaten 
führe. 

Mach  findet  bekanntlich  in  den  Empfindungen,  den  einfachsten 
psychischen  Tatsachen,  die  ^Elemente«  unseres  inneren  Lebens, 
auf  denen  sich  alle  menschliche  Erkenntnis  aufbaut.  Nun  besagt 
der  Satz :  daß  die  Elemente  psychischer  Erlebnisse  die  Empfindungen 
seien  —  wofern  er  mehr  sein  will  als  eine  bloße  Namenerklärung  — , 
nichts   anderes  als  die  anschauliche  Grundlage  aller  Erkenntnis. 

Schon  dem  wäre  viel  entgegenzuhalten.  Indes,  folgen  wir  Mach 
vorläufig  weiter  und  stellen  wir  nur  die  Forderung :  daß  der  Forscher 
nunmehr  gemäß  seiner  Annahme  die  gesamte  menschliche  Erkenntnis 
auf  diese  intuitive  Basis  der  »Elemente«  zurückführe.  Mach  unter- 
zieht sich  dieser  Aufgabe;  er  nimmt  hierzu  die  Assoziation  zu 
Hilfe.  Die  »Elemente«,  sagt  er,  stehen  in  Beziehungen  zueinander; 
hängen  voneinander  ab:  und  dementsprechend  assoziieren  sie 
sich,  vergesellschaften  sie  sich  zu  Komplexen. 

Damit  ist  aber  nichts  gewonnen.  Daß  tatsächlich  die  Inhalte  der 
äußeren  wie  der  inneren  Erfahrung  jeweils  voneinander  abhängen, 
ist  ja  unbestritten;  das  tiefere  Problem  aber  bleibt  zu  lösen:  Wie 
gelangen  wir  zur  Erkenntnis  dieser  Zusammenhänge? 

Daß  diese  Frage  berechtigt  ist,  räumt  Mach  ein.  Jedoch  kann 
die  Erkenntnis  der  Verbundenheit  von  Elementen  ihrerseits  keine 
anschauliche,  keine  »Empfindung«  oder  »Beobachtung«  (im  Sinne 
Machs)  sein.  Denn  anschaulich,  wie  Mach  es  will,  können  wir  doch 
nur  in  einer  endlichen  Reihe  von  Fällen  die  Folge  eines  Erfahrungs- 
elementes auf  ein  anderes  beobachten;  und  nicht  mehr.  Wie  aber 
erklärt  sich  die  Möglichkeit  der  Erkenntnis  von  der  Notwendigkeit 
der  Verbundenheit,  von  der  Bedingtheit  des  einen  durch  das  andere? 
Diese  Notwendigkeit  des  Verbundenseins  zweier  Phänomene  ist 
doch  von  der  zufälligen  Tatsache,  daß  es  beobachtet  wird,  ganz 
unabhängig.  Mach  bezeichnet  sie  als  das  »Ergebnis  eines  unwider- 
stehlichen Analogieschlusses«.  Gewiß,  das  wissen  wir  ja.  Woher 
aber  der  psychologische  Grund  dieser  »Unwiderstehlichkeit«? 

Kant  hatte  auf  diese  Frage  die  Antwort  gefunden.  Notwendig- 
keit und  allgemeine  Gültigkeit  hatte  er  als  die  Kriterien  der  meta- 
physischen und  mathematischen  Urteile,  der  »apriorischen«, 
festgelegt.  Mach  weiß  das  wohl.  Er  wünscht  aber  den  Begriff  des 
Apriorischen,  der  ihm  ein  Stigma  »metaphysischer  Tendenz«  ist, 
aus  aller  Erkenntniskritik  auszuschalten.  Dieser  Wunsch  entspringt 
einer  merkwürdigen  Verkennung  der  Sachlage.  Mach  glaubt  näm- 
lich, a  priori  bedeutet  etwa  »angeboren«,  zeitlich  aller  Erfahrung 
vorausgehend.  Diese  Auffassung  ist  aber  falsch;  und  man  sollte 
meinen,  Kant  selber  habe  ihr  in  den  ersten  Sätzen  seines  Haupt- 
werkes vorgebeugt.  Dennoch  spukt  sie  von  Beneke  bis  auf  Mach 
immer  wieder  in  dem  Schrifttum  der  Philosophie.  Nicht  auf  die 
zeitliche  Genese  geht  das  a  priori  —  daß  alle  Erkenntnis  mit  der  Er- 


Metaphysikfreie  Naturforschung?  15 

fahrung  anfange,  sind  die  Einführungsworte  in  die  »Kritik  der  reinen 
Vernunft«  — ,  sondern  auf  den  Grund,  die  Quelle  der  Erkenntnis. 
Die  liegt  eben  nicht  in  den  zufälligen  wahrgenommenen  Tatsachen, 
sondern  in  unserer  geistigen  Organisation  selber,  in  der  reinen  Ver- 
nunft, um  mit  Knut  zu  sprechen.  In  seiner  dogmatischen  Befangen- 
heit gegenüber  allem  Metaphysischen  sieiit  Mach  diesen  Irrtum 
nicht  und  versucht  nun,  die  Relationskategorien,  in  specie  die  Kau- 
salität, empirisch  abzuleiten.  Daß  dieser  Versuch  unabwendbar 
scheitern  muß,  ist  klar;  das  Beispiel  Humes  hätte  es,  wenn  nichts 
anderes,  dartun  können. 

Üo  wenig  Machs  Faktoren:  Beobachtung  und  Assoziation,  allein 
die  Notwendigkeit  des  kausalen  Verhältnisses  zu  erklären  vermögen, 
so  wenig  ist  es  angängig,  aus  ihnen  beiden  das  Schlußverfahren  der 
Naturwissenschaften,  die  Induktion,  psychologisch  herzuleiten. 
Unter  der  Induktion  versteht  man  eine  solche  Schlußform:  daß  man 
eine  für  eine  Reihe  von  Fällen  beobachtete  Regel  für  alle  ähnlichen 
Fälle  als  gültig  erwartet.  Das  soll  nun  die  Assoziation  fundieren. 
Diese  Assoziation  wird  für  den  gegenwärtigen  Empirismus  tatsäch- 
lich mehr  und  mehr,  was  ihr  der  geistreiche  Engländer  Allen  vor 
30  Jahren  voraussagte :  »eine  Art  psychologischer  Deus  ex  machina, 
der  für  jedes  unvollkommen  definierte  Problem  einsteht  «.  Durch 
irgendeine  Vorstellung  können  andere,  ehedem  gehabte  Vorstellungen 
mit  teilweise  gleichem  Bestände  in  die  Erinnerung  zurückgerufen 
werden:  Dieser  Nexus  ist  Assoziation.  Mit  nichten  aber  enthält  eine 
solche  Verknüpfung  bereits  irgendeine  Erwartung.  Ein  Beispiel: 
Tritt  mein  Freund,  mich  überraschend,  in  mein  Zimmer,  so  assoziiere 
ich  vielleicht  vergangene  Tage,  an  denen  er  mich  bereits  unverhofft 
besuchte.  Keineswegs  aber  erwarte  ich,  wenn  ich  an  meinen  Freund 
denke  (wohl  gar  mit  denknotwendiger  Sicherheit)  —  er  müsse  nun 
auch  sogleicii  eintreten^). 

Mach  sieht  iiu  Verlaufe  seiner  Untersuchungen  selber,  daß  mit 
der  Assoziation  allein  die  Erwartimg  ähnlicher  Fälle  nicht  erklärbar 
ist.  Zu  ihrer  Erklärung  setzt  er  außer  der  Assoziation  noch  ein  diese 
bestimmt  beeinflussendes  »biologisches  Interesse«  ein.  Das 
drängt  uns,  bei  allen  auftauchenden  Vorstellungskomplexen,  an  die 
sich  früher  geiiabte  assoziieren  lassen,  die  uns  »lebenswichtigen« 
Merkmale,  die  damals  eintraten,  aufs  neue  zu  suchen.  Ijt^bens  wicht  ig 
ist  ein  sehr  weiter  Begriff:  alles  Nützliche  und  Schädliche,  alles  in- 
tellektuell Belangvolle  steht   darunter.      Dies   mag  zugegeben  sein; 

^)  Prinzipiell  formuliert:  Assoziation  ist  die  Wiederbelebung  eines  früheren 
Vorstellungskomplexes  durch  einen  neuen.  Nie  aber  enthält  sie  die  Erwartung, 
daß  die  in  jenem  ersten  Vurstellungskomplex  verbundenen  Elemente,  sobald  ein 
Teil  von  ihnen  sich  in  der  Vorstellung  erneut,  sich  auch  mit  den  übrigen  damals 
wirksamen  Elementen  wieder  verbinden  werden.  Nelson  schafft  hierfür  die 
Antithese,  daß  die  Assoziation  eine  Verbindung  von  VorstcUungselementen,  die 
Erwartung  ähnlic!  er  Fälle  die  Vorstellung  von  einer  Verbindung  der  Elemente 
onthült. 


16     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

und  es  mag  in  der  Tat  richtig  sein,  daß  wir  bei  allen  Assoziationen 
nach  jenen  biologisch  interessanten  Elementen  suchen.  Aber  wenn 
^ir  —  irgendwie  gespannt  —  suchen,  ob  sie  vorhanden  seien,  so 
erwarten  wir  doch  nicht,  daß  sie  vorhanden  seien.  Daß  wir  gerade 
das  aber  erwarten,  ist  ein  psychologisches  Faktum.  Das  Interesse 
würde  nur  unsere  Spannung  auf  die  Entscheidung,  nicht  aber  die 
Voraussicht  des  Ergebnisses  erklären  können.  Dabei  setzt  das 
biologische  Interesse,  das  uns  auf  die  Entscheidung  über  das  Auf- 
treten bestimmter  ähnlicher  Fälle  (nämlich  nur  der  lebenswichtigen) 
gespannt  macht,  seinerseits  schon  wieder  die  Erwartung  ähnlicher 
Fälle  voraus!  Denn  wenn  irgendwelche  »Merkmale«  vms  nützlich 
oder  schädlich  waren,  dann  treibt  uns  das  Interesse  doch  nur  deshalb 
dazu,  sie  wiederum  zu  erwarten,  weil  wir  erwarten,  mit  ihrem 
Wiedereintreten  werde  auch  der  damals  eingetretene  Nutzen  oder 
Schaden  (das  Lebenswichtige  eben)  sich  wiederholen.  Man  sieht  den 
Zirkelschluß!  Das  Problem  der  Induktion  bleibt  bei  Mach  ein 
ungelöstes. 

Er  streitet  dem  induktiven  Schlüsse  der  Naturwissenschaften 
freilich  —  von  seinem  Standpunkt  aus  konsequent  —  jede  logische 
Berechtigung  ab :  Dieser  ist  ihm  lediglich  die  sattsam  besprochene 
gewohnheitsmäßige  Erwartung  des  Ähnlichen  auf  Grund  eines  bio- 
logischen Interesses.  Aber  er  kann  natürlich  nicht  daran  denken, 
ihn  als  wertlos  zu  verwerfen;  das  würde  den  Tatsachen  der  gesamten 
Naturwissenschaft  widersprechen.  So  setzt  er  der  Induktion  an 
Stelle  ihrer  logischen  Berechtigung  das  Kriterium  des  Erfolges. 

Dieses  ist  nun  eigenartig.  Gewiß  können  induktive  Hypothesen 
im  Erfahrungsgebiet  insofern  ihre  Berechtigung  erweisen,  als  ihnen 
selbst  keine  Erfahrung  widersprechen  darf  und  ihre  theoretischen 
Folgen  direkt  empirisch  geprüft  werden  können.  Aber  die  Voraus- 
setzung einer  allgemeinen  Gesetzmäßigkeit  des  Geschehens  überhaupt, 
die  schließlich  im  Obersatz  aller  Induktion  steht,  ist  aus  der  Er- 
fahrung in  keiner  Weise  abzuleiten.  Der  empirische  Erfolg  der  In- 
duktion soll,  wie  es  scheint,  nur  die  Berechtigung  der  Annahme  be- 
weisen, daß  die  beobachtete  Regelmäßigkeit  keine  zufällige  sei. 
Darin  liegt  aber  doch  weiter  nichts  als  die  Stabilierung  irgendeiner 
Gesetzmäßigkeit  im  Geschehen,  also  eben  der  —  ausschließlich  lo- 
gische ■  —  Regreß  auf  jenen  Obersatz  aller  Induktion.  Was  aber 
hat  das  mit  dem  Kriterium  der  Richtigkeit  eines  induktiven  Schlusses 
zu  tun? 

Der  Grundfehler,  der  Mach  immer  wieder  scheitern  machte,  wird 
des  öfteren  auch  ihm  mehr  oder  minder  deutlich  bewußt:  nämlich 
die  Einseitigkeit  des  Dogmas,  daß  alle  Erkenntnis  aus  der  Beob- 
achtung stamme.  Ganz  klar  scheint  ihm  dies  einmal  zu  werden; 
er  schreibt:  »Um  angeben  zu  können,  daß  ein  Element  von  einem 
oder  mehreren  anderen  abhängt,  und  wie  diese  Elemente  vonein- 
ander abhängen,  welche  funktionale  Abhängigkeit  hier  besteht, 
muß  der  Forscher  aus  Eigenem,  außer  der  unmittelbaren  Beobachtung 


MetuphvHikfroii-  Natur£or»H:huti{;?  17 

(jJelegcnein  hin/.iifügrii  <<  ^a.  a.  (».  S.  3I(J).  Daü  di-i-  iJiiiker  uiilii 
merkt,  wir  or  mit  dieser  tiefen  und  wahren  EitiHicht  allem  früher 
Gegebenen  widerspriiht !  --  Was  ist  nun  dies  wKigene«,  da«  wir  alli- 
um  die  Erkenntnis  Kingenden  in  tiefem  Hemühen  zu  erj;rüiiden 
suchen?  Die  Beobaehtung  nicht,  wie  er  zugibt,  Aljcr  auch  die  Lt^gik 
nicht.  8io  ist  leero  Form  und  kommt  nur  als  Mittel,  nicht  als  Quellt- 
der  Erkenntnis  in  Frage,  wie  Mach  mehrfach  einräumt.  Unlxjfri«- 
digend  ist  Machs  Antwort:  einmal  spricht  er  von  »instinktiven  Er- 
fahrungen« (a.  a.  0.  S.  272).  Der  Erkeimt ni.swert  gewis.ser  »all- 
gemeiner Prinzipien«  beruht  nach  ihm  darauf,  »daü  ihr  Gegenteil 
sehr  stark  mit  unseren  gesamten  instinktiven  Erfahrungen  kon- 
trastiert«. Aber  eine  Erfahrung,  die  nicht  auf  Beobachtungen,  auf 
psychischen  Eindrücken  beruht,  ist  keine  Erfahrung:  so  bleibt  Machs 
Termiinis  ein  inlialt leeres  Wort. 

Wir  wissen  die  Antwort  seit  Kant.  .Sie  gibt  die  Vernunft- 
kritik. Jene  »allgemeinen  Prinzipien«  sind  die  von  Mach  tot- 
gesagten synthetischen  Urteile  a  priori. 

Al)er  Mach  will  n\in  einnuil  um  jeden  Preis  den  Apriori.smus  aus 
der  Erkenntnis  eliminiert  wissen:  und  so  hat  er  noch  eine  letzte  Ab- 
wehr gegen  diese  Rückkehr  ins  Metaphysische,  deren  Notwendigkeit 
sich  dem  Nachdenkenden  hier  schier  übermächtig  aufdrängt:  seinen 
Begriff  der  »Abstraktion«.  Abstraktion  füllt  die  Lücke  in  seiner 
Lehre  aus;  sie  führt  von  Einzelurtcilon  zum  Gesetz,  zur  Erkenntnis. 

Sicherlich  ist  richtig,  daß  die  Abstraktion  von  den  zusammen- 
gesetzten, besonderen  Einzelfällen  des  Urteils  auf  ein  einfacheres 
Allgemeines,  dali  sie  zuletzt  auf  die  Prinzipien  führt,  unter  denen  wir 
alles  Geschehen  begreifen.  Daß  wir  also  die  Abstraktion  gebrauchen, 
um  auf  die  Denkgrundsätze  zu  kommen,  und  daß  wir  anders  nicht  zu 
ihnen  gelangen  können,  das  hat  kaum  ein  Erkeinitniskritikcr  je  be- 
stritten. Diese  Abstraktion,  ein  logischer  V'organg,  ist  demnach 
die  Methode  zur  Auffindung  der  Gesetze  aus  Urteilen:  in  keinem 
Wege  aber  kann  dieser  Formalprozeß  als  die  Quölle,  der  Ursprung 
der  Erkenntnisinhaltc  dieser  CJesetze  angesehen  werden.  Und  eben- 
sowenig gewituien  die  Erkenntnisinhaltc  durch  Abstraktion  den 
Charakter  der  Notwendigkeit.  Allgcmeiniieit  ist  nicht  Notwendigkeit, 
Gültigkeit  für  einen  großen  Umkreis  von  Tatsachen  nicht  notwendige 
Gültigkeit  für  jede  unter  den  Begriff  fallende  Tatsache.  —  Mach 
zieht  hier  den  zwiefachen  —  und  l>cido  Male  falschen,  von  ihm  seibor 
hier  \ind  da  als  unzulänglich  erkaimten  —  Schluß:  Was  nicht  aus 
der  Erfahrung  stammt,  kommt  von  der  Abstraktion  her;  und  was 
nicht  der  Abstraktion  entlehnt  sein  kaiui.  ist  Erfahrxmg.  Stets, 
wenn  er  die  Erfahrung  als  unzulängliche  Erkennt nisqucUe  befunden 
hat,  beruft  er  sich  auf  die  Abstraktion;  und  wenn  ihm  umgekehrt 
ein  Gesetz  (wie  z.  B.  das  der  Trägheit)  nicht  als  in  sich  logisch  not- 
wendig erscheint  (wiw  es  ja  tatsächlich  auch  nicht  ist),  so  führt  er 
es  auf  empirischen  Cirund  zurück.  Das  ist  natürlich  ein  ganz  unzu- 
längliches Verfahren. 

K  r  <> n  f  r  I  d ,  roychUtrlacbe  Erkenotois.  S 


18    Vorbereitende  Einfühnmg  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

Indessen  hat  Mach  einen  Gedanken  in  die  Erkenntniskritik  ge- 
tragen, der  in  dieser  Zeit  der  soziologisch-genetischen  Betrachtungs- 
weise vielleicht  bestechender  und  förderlicher  sich  ausnimmt  als 
sonst  wohl.  Er  hat  das  Entwicklungsprinzip,  in  etwas  transformierter 
Gestalt,  als  Prinzip  der  Denkökonomie,  in  die  Debatte  geworfen. 
Dies  regulative  Prinzip  der  biologischen  und  sozialen  Wissenschaften, 
das  sich  logisch  auf  Induktionen  mit  Wahrscheinlichkeit  auf  er  baut, 
scheint  auch  eine  Reihe  von  Philosophen  geradezu  fasziniert  zu  haben : 
ich  nenne  die  Pragmatisten  verschiedener  Provenienz:  James, 
Schiller,  Mark  Baldwin,  Mauthner,  diesen  Dogmatiker  des 
Skeptizismus,  und  selbst  Simmeis  überschauenden  Geist.  Keiner 
aber  hat  es  auf  geistreichere  und  bestechendere  Weise  auf  das  Er- 
kennen angewandt  als  Mach.  Zum  Teil  ist  seine  Gedankenführung 
freilich  auch  da  nicht  neu.  Ältere  Logiker,  ebenso  tiefgründig  als 
in  den  Kreisen  der  Fachleute  heute  vernachlässigt,  nennen  bereits 
unter  den  heuristischen  Maximen  der  Systematisierung  von  Erkennt- 
nissen als  »oberste  Formel«  das  »Gesetz  der  Sparsamkeit«,  das  nicht 
anderes  besagt  als  Machs  »Prinzip  der  Denkökonomie«:  daß  nämlich 
die  Vollkommenheit  der  Natürerkenntnis  dann  erreicht  ist,  wenn  es 
gelingt,  alle  Erscheinungen  unter  eine  möglichst  geringe  Zahl  von 
Gesetzen  zu  bringen.  Indessen  will  Mach  über  diese  unstreitig  rich- 
tige Maxime  wissenschaftlicher  Systembildung  hinaus.  Nicht  um 
die  Form  der  Erfassung  von  Erfahrungserscheinungen  unter  Gesetzen 
handelt  es  sich,  sondern  der  Gehalt  der  Gesetze  selber  ist  ihm 
ein  sich  wandelnder.  Vernunft  ist  ihm  eine  Form  der  Adaptation 
an  das  biologische  Milieu;  Denkvermögen,  Denkformen  ein  Produkt 
des  biologischen  Vorteils.  Was  sich  unter  dem  Druck  der  Prinzipien 
der  Biogenese  an  ererbten  und  erworbenen  geistigen  Inhalten  dem 
Organismus  Mensch  aufprägte,  das  wird  dem  Bewußtsein  Werkzeug 
methodischer  Forschung. 

Das  ist  sehr  kühn.  Richtig,  wahr  wäre  dann  also  nur  noch  das 
biologisch  Förderliche!  Nichts  anderes  besagen  die  Sätze  wie  ein 
solcher:  »Eine  Erkenntnis  ist  stets  ein  uns  unmittelbar  oder  doch 
mittelbar  biologisch  förderliches  psychisches  Erlebnis.  Bewährt  sich 
hingegen  das  Urteil  nicht,  so  bezeichnen  wir  es  als  Irrtum.«  (Und 
viele  andere  Stellen  seiner  Werke i).)  Gilt  diese  Betrachtung  auch 
vom  Prinzip  der  Denkökonomie  —  das  dort  wohl  auch  ein  Natur- 
gesetz ist  — ,  so  ist  auch  dieses  Prinzip  nicht  im  gewöhnlichen  Sinne 
richtig  oder  wahr:  sondern  seine  Annahme  ist  biologisch  vorteilhaft. 
Und  auch  dieser  Satz:  es  sei  biologisch  vorteilhaft,  anzunehmen,  daß 
das  Wahre  das  biologisch  Vorteilhafte  sei  —  ist  nicht  wahr,  sondern 
biologisch  vorteilhaft  anzunehmen.  Und  so  fort.  Der  Wahrheits- 
begrift  Machs  scheitert  an  der  Unauflösbarkeit  dieses  unendlichen 
Regresses.     Überdies  ist  klar,  daß  dann,  wenn  mit  diesem  Prinzip 


1)  Das  Umgekehrte:  daß  alle  Erkenntnis  zugleich  irgendwie  einen  biolo- 
gischen Vorteil  repräsentiere,  ist  am  Ende  richtig,  aber  für  ihren  Wahrheitsgehalt 
erst  recht  kein  zulängliches  Fundament. 


Mot«phyNikfi<-ic  Naturf<ji>  lima''?  19 

dif  |Ji'i!k(.i>'|iarius  als  Kriterium  il<.i  Ku  iii  igK<i'  m  ili-r  Niit  m«' h<miiiI- 
nis  eiuf^fHftzl  werden  soll,  en  ain  »richtigHten«  erucheiiil.  ull«-  I>enk- 
urlx-it  zu  ersparen:  womit  denn  die  Möglichkeit  aller  N'aturwirtMcn- 
Hchnft  erlischt  und  das  Prinzip  »ich  «ellxT  aufhebt.  Auf«  entHchie- 
donstc  sei  betont,  dnÜ  der  Kritiker  dtiriin  un.schuldij?  int,  wenn  dioHo 
Konsequenz  wie  eine  Satire  klingt. 

Mach  scheitert  daran,  dali  er  einen  Xur-Empirisniu«  proklamiert, 
der  die  Wirklichkeil  apriorischer  Krkenntniscpiellen  vorurteiUvoll 
und  kraujpfhaft  ülxMsiehf  ;  der  dabei  zum  Dogma  erstarrt,  da**  seiner 
eigenen  Logik  und  den  Tatsachen  introspektiver  Psychologie  wider- 
Hprieht ;  der  in  der  Folge  die  Möglichkeit  aller  Naturwissenschaft,  auf 
die  er  sieh  gründet,  und  mithin  sich  selbst  vernichtet, 

Immanuel  Kant,  dessen  »philosopiiische  Dekrete«  Mach  etwas 
geringschätzig  Ix-iiandelt,  schrieb  in  der  Vorrede  zur  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft  die  Worte:  »Was  Schlimmeres  könnte  alx?r  diesen 
Bemühungen  wohl  nicht  begegnen,  als  wenn  jemand  die  unerwartet« 
Entdeckung  machte,  dali  es  überall  gar  keine  Erkenntnis  a  priori 
gebe  noch  geben  könne.  Allein  es  hat  hiermit  keine  Not.  Es  wäre 
ebensoviel,  als  ob  jemand  durch  Vernunft  lx*wcisen  wollte,  daß  es 
keine   V^crnunft   gäbe.« 

Ernst  Mach  hat  —  trotz  allem  —  diesen  Versuch  unternommen. 
Uns  scheint  alxT  —  und  Nelson  hat  es  gezeigt  — ,  er  ist  dabei  nicht 
eben  glücklich   gewesen. 

Uns  bleibt  eine  Frage:  Woher  kommt  diese  »antimetaphysische 
Tendenz«,  die  gerade  in  den  Werken  unserer  größten  Forscher  immer 
wieder  eklatiert  und  sie  ins  Abwegige  führt  i  Hier  hat  ein  glänzender 
Geist  sich  ein  System  der  Erkenntnis  geschaffen,  das,  in  gerader  Linie 
fortgeführt,  mit  der  größten  Konsequenz  sich  selber  wieder  aufhebt. 
Und  das  nur  deshalb,  weil  ein  Gegensat zgcfülil  ihn  gegen  eine  Meta- 
pliysik  antrieb,  deren  einzige  Inhalte  ihm  dogmatische  Piiantasmen, 
»Xebel  der  Mystik«  erschienen. 

(Jewili  trägt  Metaphysik  so,  wie  sie  historisch  getrieben  wurde, 
den  Charakter  ins  Malilose  führender  Spekulation.  Aber  Kant  hat 
den  unsagbar  tiefen  Gedanken  einer  Kritik  der  Vernunft  in  fast  voll- 
kommener Weise  durchgedaciit  und  danüt  jede  Möglichkeit  unge- 
gründeter Dogmatik  auf  seiner  Basis  aufgehoben.  Wenn  seit  Kant 
noch  fast  nichts  weiter  erreicht  wurde,  wenn  Epigonen  sein  Werk 
mißverstanden  und  ihre  Mißverständnisse  als  Fehler  Kants  ausgaben, 
wenn  heute  von  Cohen  bis  Lipps,  vom  »Transzendentalismus«  bis 
zum  »Psychologismus«.  jene  s|H'kulaiivo  Dogmatik  herrscht  wie 
ehedem  —  trägt  .Metaphysik  ihrem  Wesen  nach  die  Schuld  darauf 
Weiter  aber:  glaubt  man  mit  solchen  Systemen  wie  diesem,  des  meta- 
physikfroien  Empirisnnis,  jene  »Nebel«,  die  aus  verworrenen  Cteistern 
in  der  Metaphysik  aufgestiegen  sind,  zu  verscheuchen?  Metaphysik 
ist  die  Wissenschaft  von  den  in  unserer  geistigen  Organisation  — 
Kant  sagt:  »reine  Vernunft«  —  gegebenen,  alle  Erfahrung  erst  er- 
möglichenden,   aller    Gesetzgebung    überhaupt    zugrunde    liegenden 


20     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritisohen  Grundlagen. 

Grundprinzipien  der  Erkenntnis.  Entweder  man  stimmt  dem  zu, 
daß  die  Erfahrungsinhalte  sich  nach  den  notwendigen  Gesetzen  der 
Vernunft  verbinden  —  dann  treibt  man  Metaphysik  —  oder  man 
leugnet  das  — ,  dann  erklärö  man  alle  Wissenschaft  für  amüsanten 
(oder  nicht  amüsanten)  Phantasiesport.  In  der  Tat:  wer  die  Meta- 
physik ausschaltet,  gerade  der  ist  es,  der  das  Wissen  den  »Nebeln« 
ausliefert,  die  er  verdrängen  wollte;  gerade  der  setzt  an  Stelle  not- 
wendiger und  allgemeingültiger  Erkenntnis  das  chaotische  Spiel 
biologisch  bedingter  Assoziationen,  in  dem  alle  Verbindungs weisen 
ihre  nur  nach  Simplizität,  Dauer  und  Lungenkraft  der  Propagierung 
differente  Berechtigung  besitzen  —  ein  Verfahren  übrigens,  das 
natürlich  auch  Metaphysik,  freilich  unerkannte  und  falsche,  zur 
Voraussetzung  hat.  Eben  der  aber  wundere  sich  nicht,  wenn  Aus- 
wüchse, skeptizistische  oder  mystische  Outriertheiten  gerade  durch 
jene  offenen  Türen  mit  eintreten,  die  er  für  die  »von  konventionellen 
Schranken  des  Denkens«  befreite  Forschung  eingerannt  hat. 

Was  ist  nach  alledem  das  Wesen  der  immer  wieder  geforderten, 
bei  ihren  Verwirklichungsversuchen  immer  wieder  mißglückten  meta- 
physikfreien Naturwissenschaft?  —  Im  »Bacon«  des  Charles  de 
Remusat  (1857)  findet  sich  die  Stelle:  »L'empirisme  sans  philosophie 
rend  le  sceptre  au  dogmatisme  sans  philosophie;  l'autorite  se  releve 
lä  oü  avait  triomphe  l'examen,  et  l'oeuvre  de  la  renaissance  est  de- 
truite.  —  Tel  est  le  terme  fatal  vers  lequel  marche  cette  ecole  scienti- 
fique  qui  se  croit  l'extreme  gauche  de  la  science.« 

Es  ist  ein  nicht  zu  unterschätzendes  Verdienst  Nelsons,  den 
Beweis  hierfür  in  seiner  systematischen  Zergliederung  der  Mach- 
schen  Erkenntnislehre  wiederum  erbracht  zu  haben,  Kant  sollte 
der  Naturwissenschaft  kein  »Überwundener  «  sein,  sondern  ein  Führer 
werden. 


Erkcnntnistlit'oric  oder  VrnuiiiftkritikV 


Die  folgenden  Ausfülirungen  knüpfen  an  das  Werk  nu'ine.s  Fround's 
und  philosopliiöchen  Führers  Leonard  Nelson:  »Clx?r  das  so- 
genannte Erkenntnisprobloni «,  GöLtingen   1908,  an. 

Nelson  gibt  in  diesem  umfassenden  Werke  den  systematischen 
Ausbau  dessen,  was  er  —  gewissermaßen  programmatisch  —  in  seiner 
Arbeit  »Die  kritische  Methode«*)  niedergelegt  hatte.  Sein  neues 
Werk  geht  ülx'r  das  Grundsätzliche  dieser  ersten  Arlx-it  nicht  hinaus, 
es  enthält  aber  eine  ausführliche  Ableitung  der  Fehlerquellen,  die  im 
neueren  philosophischen  Denken  zur  Verkennung  der  Richtigkeit 
dieser  Methode  und  zu  der  infolgedessen  in  der  zeitgenössischen 
Philosopliie  herrschenden  Diskrepanz  der  Auffassungen,  Standpunkte 
und  Methoden  geführt   haben. 

Die  Wurzel  des  Streites,  der  seit  Kant  im  geschichtlichen  Ablauf 
sich  immer  erneuernd,  noch  heute  ungeschlichtet  zwischen  Trans- 
zendentalismus und  Psychülogismus  schwebt,  erblickt  Nelson  in 
der  Umbiegung  der  Vernunft  kritischen  Problemstellung  in  die  »er- 
kenntnistheoretischc«.  Anstatt  zu  fragen:  welche  Kriterien  haben 
wir  dafür,  ob  ein  Urteil  eine  richtige  Erkenntnis  sei  oder  nicht,  — 
fragen  Ix'ide  Heerlager  der  um  die  Philosophie  Bemühten,  ob  ea 
überliaupt  eine  objektiv  gültige  Erkenntnis  gebe  oder  nicht.  Diese 
Problematisierung  der  Objektivität  unserer  Erkenntnis  ist  im  wissen- 
.schaftlichen  Woge  nicht  auflösbar.  Worm  sollte  das  Kriterium  der 
Objektivität  von  Erkennt nis.sen  gegeben  sein?  In  einer  Erkenntnis? 
Das  gestattet  formale  Ijogik  nicht:  denn  auch  dieser  E.kenntuis 
objektive  Gültigkeit  ist  ja  Problem.  In  irgendeiner  Gegelx-nheit 
also,  die  nicht  Erkenntnis  ist  ?  Aber  auch  diese  Gegebenheit  müUte 
man  kennen,  um  sie  als  Kriterium  anzuwenden.  Sie  kann  zwar 
ex  definitione  nicht  Inhalt,  müßte  aber  Gegenstand  der  Erkenntnis 
werden,  um  als  Kriterium  zu  dienen.  Der  Erkenntnis  —  damit  ist 
iHjreits  wieder  das  Problematische  ihrer  Gültigkeit  in  die  Anwendung 
des  Kriteriums  hineingetragen.  Denn  um  über  die  Gültigkeil  unserer 
Erkenntnis  des  Kritoriunus  eine  Entscheidung  zu  fällen,  müßte  man 
das  Kriterium  selbst  schon  wieder  angewendet  haben,  und  so  fort. 


1)  Dio  kritisch««  Methode  und  das  VerhältniH  der  Psjcholojiic  rur  Philoaophio. 
Ein  Knpitcl  nud  der  Mothodenlehro,  .Abhandlungen  der  Kriesschon  Schule, 
Bd.  I.    19<>4.     (Aueh  i\la  Sonderdruck  erschienen.) 


22    Vorbereitende  Einführung  in  die  aUgem.  erkenntniskritiachen  Grundlagen. 

Wer  nun  aber  aus  der  Unauflösbarkeit  des  erkenntnistheoretischen 
Problems  auf  den  Mangel  objektiver  Gültigkeit  in  unserer  Erkenntnis 
überhaupt  schließen  wollte,  der  würde  voreilig  einem  Problem  negative 
Entscheidung  vindizieren,  das  er  als  unentscheidbar  erkannt  hat. 
Und  wer  andererseits  aus  dem  Ausspruche  dieses  negativen  Ent- 
scheids :  ich  weiß,  daß  ich  nichts  weiß  —  gemäß  dem  Satze  vom  Wider- 
spruch die  objektive  Gültigkeit  wenigstens  dieser  Erkenntnis  postu- 
lierte, —  oder  aber  wer  diesen  Satz  als  falsch  hinstellte  und  somit 
auf  ein  Wissen  schlösse,  —  der  würde  in  beiden  Fällen  ebenfalls  vor- 
schnell schließen.  Zweifellos  findet  hier  ein  Widerspruch  statt,  und 
zwar  in  der  Behauptung  des  Wissens  um  das  Nichtwissen.  Daraus 
folgt  nur  die  sichere  Falschheit  dieser  Behauptung;  nicht  aber  die 
Tatsache  des  Dennoch- Wissens.  Denn  das  wäre  ein  synthetisches 
Urteil;  und  Logik  läßt  aus  dem  Satze  vom  Widerspruch  nur  die  Ab- 
leitung analytischer  Urteile  zu.  Hiermit  ist  die  Unmöglichkeit  der 
Erkenntnistheorie  prinzipiell  nachgewiesen. 

Dieser  grundsätzliche  Gegenbeweis  gegen  die  Möglichkeit  einer 
Erkenntnistheorie  läßt  sich  am  Beispiel  aller  heute  verfochtenen 
Spielarten  derselben  zur  Anwendung  und  Bewährung  bringen. 

Alle  überhaupt  möglichen  Erkenntnistheoreme  müssen  ein  Kri- 
terium der  objektiven  Gültigkeit  der  Erkenntnis  aufrichten,  an  dem 
sie  die  Erkenntnis  prüfen.  Dieses  Kriterium  kann  entweder  wiederum 
eine  Erkenntnis  sein  —  oder  nicht. 

Ist  es  eine  Erkenntnis,  so  kann  es  hier  einerseits  durch  Reflexion 
vor  das  Bewußtsein  treten  —  diese  Anschauung  vertreten  Natorp 
und  Marcus.  Andererseits  kann  es  in  unmittelbarer  Bewußtheit, 
evident,  gegeben  sein  —  so  Meinong. 

Liegt  das  Kriterium  außerhalb  der  Erkenntnis,  ist  es  ein  prak- 
lisches,  normatives  Kriterium  —  so  kann  wiederum  einerseits  dies 
Wertkriterium  mittelbar  im  Nutzen  der  Erkenntnisinhalte  liegen  — 
diese  Auffassung  verfechten  Mach  und  die  Lehrer  des  »biologischen 
Vorteils«;  andererseits  aber  kann  ein  unmittelbarer  Wert  es  aus- 
zeichnen, es  kann  in  einer  kategorischen  Forderung  beruhen  — 
Gegensätze  wie  Rickert  und  Lipps  vereinen  sich  in  der  Annahme 
dieses  Standpunktes . 

Folgen  wir  diesen  verschiedenen  Möglichkeiten  im  einzelnen. 

Natorpi)  sieht,  wie  alle  Erkenntnistheoretiker,  in  dem  Ver- 
hältnis der  Erkenntnis  zum  Gegenstande  der  Erkenntnis  ein  Problem. 
Zwar  ist  uns  auch  der  Gegenstand  der  Erkenntnis  nur  in  der  Erkennt- 
nis gegeben;  aber  Erkenntnis  stellt  doch  den  Gegenstand  hin  unab- 
hängig von  allen  Relationen  zum  erkennenden  Subjekt.  Diese  Un- 
abhängigkeit der  Position  des  Gegenstandes  in  der  Erkenntnis  von 
der  Tatsache,  daß  er  vorgestellt,  erkannt  wird  —  diese  Unabhängigkeit 
soll  bewirkt  werden  durch  eine  Abstraktion  von  der  Subjektivität, 
von  der  Tatsache    des   Erkanntwerdens.     Welche   Gründe   machen 


1)  Philosophische  Monatshefte.     Bd.  XXIII.     1887. 


Erkenntnistbeurie  oder  Vcmunf tkritik  ?  23 

diese  Al^traktiun  nun  notwendig,  verbürgen  die  Geltung  ihre«  Er- 
gebninses?  Natorp  antwortet:  Subjektivität  der  Erkenntnis  be- 
deutet da«  unmittelbare  Verhältni«  de«  Erkennt niHgegenMtande«  zum 
Ich.  Diesi-  Subjektivität  laut  sieh  positiv  lx?stimnjen  al«  da>i  Er- 
scheinen'). Im  (jegen>atze  aber  zu  der  Subjektivität  do  i- 
nendenf  gilt  seine  ge.setzmäUige  Auffsussung  als  die  gegei  n 
wahre*).  Somit  ist  die  gesetzmäßige  Herau.sstellung  de«  Allgemeinen 
aus  dem  einzelnen  Erscheinenden  prinzipiell  die  Vcrgegenatändlichung, 
Objektivierung  unserer  subjektiven  Erkenntnisinhalte;  und  »die  Be- 
ziehung der  Erscheinung  zum  Gesetze  muß  die  in  aller  Erkenntnis 
ursprüngliciie  Beziehung  auf  den  Gegenstand  erklären«»).  Da« 
Gesetz  also  wird  zum  erkenntnistheoretischen  Kriterium. 

An  all  diesem  ist  gewiß  richtig,  daß  der  Erkennende  die  Daten 
seiner  äußeren  und  inneren  Erfahrung  dem  Allgemeinen,  dem  Gesetze 
unterordnet.  Daß  er  seine  Waiirnehmungsinhalte  nicht  regellos 
aneinanderreiht,  sondern  in  ihnen  das  (Josctz  zu  erfassen  sucht. 
Daß  er  demnach  eine  Gesetzlichkeit  in  den  Gegenständen  seiner  Em- 
pirie voraussetzt,  die  ihm  das  Kriterium  dafür  wird,  Erscheinungen, 
die  sich  ihr  nicht  einfügen,  der  objektiven  Realität  zu  entkleiden. 
Aber  nur  dafür!  Nur  als  solch  ein  negatives,  eliminatives  Kriterium 
wird  die  antizipierte  (iesetzlichkeit  auf  die  Erscheinungen  anwendbar: 
positive  Ableitung  des  Individuellen  aus  dem  vorausgesetzten  All- 
gemeinen ermöglicht  sie  nicht.  Positives  Kriterium  der  Realität  ist 
einzig  die  Anschauung.  Sie  gibt  ihren  jeweiligen  Inhalten  die  subjek- 
tiv unmittelbare  Assertion;  und  diese  Assertion  besteht  zu  Rechte,  so- 
lange nicht  der  Wahrnelimungsinhalt  einen  Widerspruch  zu  den  unab- 
hängig gewonnenen  (Je.'^etzen  aufweist,  der  seine  Realität  in  Frage  stellt. 

Es  ist  bekannt,  daß  E.  Marcus*)  den  Versuch  gemacht  hat,  den 
Kant  mißlungenen  transzendentalen  Beweis  der  Grundsätze  —  über 
den  noch  zu  sprechen  sein  wird  —  exakt  durchzuführen:  eine  groß- 
artige, aber,  wie  wir  wissen,  von  Beginn  ab  aussichtslose  Konzeption. 
Marcus  Ix'weist  indirekt  den  Satz:  die  Realitäten  stehen  unter  aus- 
nalimslosen  Regeln  (nämlich  den  Analogien  der  Erfahrung  Kants); 
er  faßt  diese  Regeln  als  »Gesetz  der  Erhaltung  des  dynamischen 
Charakters«*)  zusammen.  Angenommen,  dies  Gesetz  hätte  keine 
Gültigkeit  in  der  Xatur,  so  würde  keine  Erfahrung  (in  Kants  Sinne) 
möglich  sein;  das  läßt  sich  a  priori  einsehen.  In  der  Tat;  setzt  man 
die  Definitionen  von  Marcus  an  Stelle  seiner  Worte,  so  ergibt  sich 
der  Satz:  »Gesetzt  die  Realitäten  ständen  nicht  unter  ausnahmslcKsen 
Regeln«  —  so  ließen  sich  keine  allgemeinen  Regeln  über  die  Realitäten 
.lufstellen*).     Dieser  Satz  (als  ein  analytischer)  ist  allerdings  a  priori 


»)  a.  ».  O.    S.  273. 

«)  a.  ».  O.     S.  25U. 

»)  a.  a.  O.     S.  259. 

*)  Kants  RcTolutionsprintip  usw.     Herford  1902. 

»)  a.  a.  O.     S.  10. 

•)  Nrlflon.  S.  469. 


24     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgcm.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

einzusehen!  Marcus  fährt  nun  fort:  »Ergo  läßt  sich  einsehen,  daß 
es  keine  Natur  gibt-,  die  unsere  apriorischen  Sätze  widerlegt.  Folg- 
lich werden  sie  stets  bestätigt,  oder  es  wird  überhaupt  nichts  erkannt. 
Diese  Einsicht  ist  der  Grund  unserer  Vorstellung  von  ihrer  Notwendig- 
keit«i).  Gewiß;  sofern  etwas  erkannt  wird!  Diese  Prämisse 
liegt  implicite  als  unausgesprochener  Untersatz  des  Syllogismus  vor. 
Wird  erkannt?  D.  h.  ist  es  möglich.  Aussagen  von  allgemeiner  Gültig- 
keit zu  machen?  Ja:  unter  der  Voraussetzung  der  Gültigkeit  des 
)5Gesetzes  von  der  Erhaltung  des  dynamischen  Charakters«.  Als 
welches  aber  gerade  begründet  werden  soll!  Hier  steckt  die  petitio 
principii  der  Marcus  sehen  Argum.entation. 

Meinong2),  der  die  Möglichkeit  eines  Erkennen?,  »das  niclit  .  .  . 
zunächst  Urteilen  wäre  «3),  nicht  anerkennt,  bemüht  sich  um  das 
Kriterium  der  Wahrheit  oder  Falschheit  von  Urteilen.  Wahrheit 
gewisser  Urteile  ist  ihm  verbürgt  durch  das  psychologische  Faktum 
der  Evidenz  ihres  Inhaltes.  Solch  evidente  Urteile  können  nicht 
falsch  sein ;  es  liegt  in  ihrer  Natur,  wahr  zu  sein,  wobei  als  ihre  Wahr- 
heit die  Tatsächlichkeit  des  in  ihnen  Prädizierten,  des  »Objektivs«, 
definiert  wird.  Auch  hier  liegt  die  durch  die  erkenntnistheoretische 
Problemstellung  heraufbeschworene  petitio  principii  klar  zutage. 
Wie  will  ich  erkennen,  ob  ein  Objektiv  Tatsache,  ein  Urteil  also  wahr 
ist,  wenn  mir  das  Objektiv  doch  eben  nur  im  Urteil  erreichbar  ist! 
»Man  müßte«,  sagt  Nelson*),  »schon  wissen,  daß  das  Urteil  wahr 
ist,  um  es  mit  seinem  Objektiv  vergleichen  zu  können.«  Es  gibt 
ja  nun  die  evidenten  Urteile  beiMeinong:  Evidente  Urteile  können 
nach  ihm  nicht  falsch  sein.  Denn  das  Urteil:  evidente  Urteile  können 
nicht  falsch  sein  —  ist  ein  evidentes  Urteil.  Aber  angenommen, 
dieser  merkwürdige  letzte  Satz  gelte,  so  folgt  daraus  allein  keines- 
wegs, daß  ein  evidentes  Urteil  nicht  falsch  sein  kann.  Dazu  gehört 
noch  eine  zweite  Prämisse;  und  diese  müßte  lauten:  ein  evidentes 
Urteil  kann  nicht  falsch  sein.  Und  das  ist  gerade  das  zu  beweisende.  — 
Hierzu  kommt  das  weniger  Belangvolle,  daß  die  willkürliche  Stig- 
matisierung der  Evidenz  als  des  Kriteriums  der  Wahrheit  eigenartige 
psychologische  Folgerungen  haben  muß  —  und  bei  Meinong  auch 
hat:  z.  B.  die  Evidenzlosigkeit  der  Träume  und  Halluzinationen; 
eine  Auffassung,  die  den  Tatsachen  innerer  Erfahrung  nicht  ent- 
spricht. 

Nelson  bespricht  sodann  das  Prinzip  aller  biologisti sehen  Er- 
kenntnistheoretiker, die,  fasziniert  durch  nicht  ganz  ausgereifte 
Entwicklungshypothesen,  in  der  Vernunft  nichts  anderes  sehen  als 
eine  Form  der  Anpassung  an  das  biologische  Milieu,  in  Gesetzen 
nichts  als  Konvention;  die  also  das  Kriterium  der  Wahrheit  von 
Erkeimtnis  in  dem  (biologisch  oder  sonstwie)  Fördernden  erblicken. 


1)  a.  a.  0.     S.  26. 

2)  Meinong,  Über  die  Erfahrungsgrundlagen  unseres  Wissens.     1906. 

3)  a.  a.  O.     S.  18. 

4)  S.  481. 


Krkenutnistheorie  otlor  Vomunflkrilik?  25 

Was  hier  die  Pragmalisten  Avenarius,  Macli,  Poincare,  Jamea, 
Schiller  mehr  oder  weniger  versteckt  und  ausgearbeitet  lehren,  hat 
Simmel*)  auf  eine  klare  Formel  gebracht;  und  wenn  diese  biologi- 
stische  Aljwegigkeit  auch  für  das  sonstige  Wirken  dieses  reiclien 
Geistes  kaum  charakteristisch  ist,  so  tut  Nelson  doch  ganz  recht 
daran,  gerade  an  Simmeis  sehr  klarer  und  durchsichtiger  Argu- 
mentation den  prinzipiellen  Fehler  aufzuweisen. 

Die  Formulierung  dieses  Erkenntnistheorems  hat  zwei  Spielarten. 
Einmal  die:  Das  Wahre  ist  als  solches  das  Nützliche.  Sodann 
die:  Das  Kriterium  des  Wahren  ist  das  Nützliche,  Gilt  der  erste 
Satz  als  angenommen,  so  heißt  dies:  es  ist  nützlich,  anzunehmen, 
das  Wahre  sei  das  Nützliche;  und  dies  wiederum  bedeutet,  es  ist 
nützlich,  anzunehmen,  es  sei  nützlich,  anzunehmen,  das  Wahre  sei 
das  Nützliche.  Und  so  fort.  Es  liegt  ein  Regressus  in  infinitum  vor; 
und  der  Biologist  oder  Pragmatist  steht  vor  der  unmöglichen  Auf- 
gabe, ihn  zu  Ende  zu  führen,  um  einen  Wahrheitsbegriff  zu  erhalten. 

Ganz  dasselbe  gilt  vom  zweiten  Satze:  Ist  das  Kriterium  der 
Wahrheit  der  Nutzen,  so  kann  dieser  Satz  nur  behauptet  werden, 
sofern  wir  wissen,  daß  seine  Annahme  nützlich  ist;  und  der  Satz, 
daß  es  nützlich  sei,  anzmiehmen,  daß  das  Kriterium  des  Wahren  der 
Nutzen  sei,  gilt  ebenfalls  nur  unter  dem  Kriterium  als  wahr,  daß  es 
nützlich  sei,  anzunehmen,  das  Kriterium  des  Wahren  sei  der  Nutzen. 
Auch  hier  ist  der  Regreß  ein  unendlicher;  seine  Aiiflösung  unmög- 
lich; folglich  der  Nutzen  als  das  Kriterium  des  Walircn  unmöglich*). 

Aus  diesem  Einwände  exakt  logischer  Prüfung  lassen  alle  übrigen 
gegen  die  Biologisten  vorgebrachten  Einwürfe  sich  ableiten.  Damit 
ist  der  Biologismus  und  Pragmatismus  als  Erkenntnistheorie  wider- 
legt. 

Besonders  wichtig  aber  erscheint  mir  das,  was  Nelson  gegen  den 
glänzencLslen  V'ertretcr  erkenntnistheoretischer  Problenuitik,  gegen 
Rickert  zu  sagen  hat.  Nach  Ricker t^)  ist  bekanntlich  das  Prinzip, 
das  einer  Verbindung  von  Vorstellungen  im  Urteil  die  Assertion, 
den  Wahrheitsanspruch  zuerteilt,  die  kategorische  Nötigung,  diese 
(und  nur  diese)  Vorstellungsverbindung  zu  vollziehen.  In  der  For- 
derung, das  Urteil  zu  fällen,  in  diesem  Urteilensollen  ist  das  Kri- 
terium der  Gültigkeit,  Wahriieit,  des  Erkenntniswertes  gegeben. 
»Das  ,Seiende'  oder  die  .Wirklichkeit'  sind  lediglich  zusammen 
fassende  Namen  für  das  als  so  oder  so  seiend  Beurteilte**);  und 
»Wahrheit  ist  nichts  anderes  als  die  Anerkennung  des  Sollens*«), 
solches  sind  grundlegende  Thesen  Rickcrts.  Wenn  man  daraufhin 
fragt,  an  welches  als  existierend  zu  denkendes  Subjekt  denn  diese 


*)  Archiv  für  syKtonintischc  Philosophie.     Bd.  I.     S.  35. 
-)  (Jepon  Ernst  Muchs  Lehre  vom  Gesetz,  der  Deakökonoraie  vergleiche  dio 
vorhergihcmli;  Arbeits 

3)  Der  (Jogonstnnd  der  Erkenntnis.     2.  Avifl.     liKM. 
*)  IV.  a.  O.     S.  120. 
6)  a.  n.  O.     S.  118. 


26    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

Forderung  ergehe,  zu  urteilen,  da  doch  die  Existenz  nach  Rickert 
auch  nur  ein  Urteilsprädikat  sei,  so  antwortet  er:  »an  das  Bewußt- 
sein überhaupt«;  denn  dieses  sei  ein  »solches,  das  von  keinem  Stand- 
punkt aus  Objekt  werden  kann«i).  Und  auf  die  weitere  Frage,  wie 
er  dann  aber  dies  so  definierte  »Bewußtsein  überhaupt«  zum  Objekt 
einer  erkenntnistheoretischen  Untersuchung  machen  könne,  belehrt 
er  uns,  erstens  werde  ja  nicht  das  Bewußtsein  überhaupt,  sondern 
nur  sein  Begriff  hier  Gegenstand  einer  Erkenntnis,  und  zweitens 
habe  auch  das  »Bewußtsein  überhaupt«  selber  keine  V/esenheit, 
sondern  sei  eine  begriffliche  Abstraktion.  Wir  würden  dann  also 
vom  Begriffe  eines  Begriffs  reden,  und  könnten  Aussagen  über  seine 
Sphäre  und  Merkmale  usw.  machen.  Wenn  aber  Rickert  sagt, 
dieses  Bewußtsein  sei  ein  urteilendes,  kein  bloß  vorstellendes  Bewußt- 
sein, so  sagt  er  etwas  über  das  »Bewußtsein  überhaupt«  selber  aus, 
und  nicht  über  den  Begriff  vom  »Bewußtsein  überhaupt«;  das  aber 
widerspricht  der  von  Rickert  selbst  gegebenen  Erklärung,  das 
»Bewußtsein  überhaupt«  könne  niemals  Objekt  werden. 

Was  bedeutet  denn  dies:  »Wahrheit  ist  nichts  anderes  als  die 
Anerkennung  des  Sollens  ? «  Wenn  dieser  Satz  wahr  sein  soll,  so  muß 
er  per  definitionem  besagen:  es  soll  geurteilt  werden,  Wahrheit  sei 
nichts  anderes  als  die  Anerkennung  des  Sollens.  Und  wenn  dies 
»es  soll  geurteilt  werden  «  Anspruch  auf  Gültigkeit  besitzt,  so  beruht 
das  nach  Rickert  darauf,  daß  geurteilt  werden  soll,  es  solle  ge- 
urteilt  werden,  Wahrheit  sei  nichts  anderes  als  die  Anerkennung 
des  Sollens.  Und  so  fort  in  unendlichem  Regreß.  Denn  nach  Rik- 
kerts  eigener  Lehre  besteht  die  Wahrheit  jedes  Urteils  darin,  daß  es 
gefordert  ist;  und  in  dieser  Definition  kommt  der  zu  erklärende 
Begriff  versteckt  selbst  wieder  vor. 

Man  könnte  nun  —  und  Lippss)  hat  das  getan  —  annehmen, 
die  Wahrheit  eines  Urteils  finde  in  der  Forderung,  es  zu  fällen,  nicht 
ihre  Bedeutung,  sondern  nur  ihr  Kennzeichen.  Aber  auch  diese 
gemäßigtere  Fassung  des  Erkenntnistheorems  vermeidet  den  Kar- 
dinalfehler nicht.  Woher  weiß  Lipps,  daß  das  Kriterium  der  Wahr- 
heit eines  Urteils  in  der  Forderung  besteht,  es  zu  fällen?  Weil  die 
Forderung  besteht,  zu  urteilen,  das  Kriterium  der  Wahrheit  eines 
Urteils  bestehe  in  der  Forderung,  es  zu  fällen.  Und  das  Urteil,  daß 
diese  Forderung  besteht,  ist  nur  insofern  Erkenntnis,  als  die  For- 
derung besteht,  zu  urteilen,  es  bestehe  die  Forderung,  zu  urteilen, 
das  Kriterium  der  Wahrheit  eines  Urteils  bestehe  in  der  Forderung, 
es  zu  fällen.    Auch  hier  eine  unvollendbare  Reihe! 

Gewiß  ist  Erkenntnis  im  Urteile  nur  dadurch  möglich,  daß  wir 
die  uns  verliehene  Willkür  der  Vorstellungsverbindung  ausschalten 
wollen,  daß  wir  erkennen  wollen.  Es  ist  klar,  daß  das  Wissen  um 
diese   Abhängigkeit   des   Urteilens    vom   Willen   eine   psychologisch - 


1)  a.  a.  0.     S.  45. 

2)  Psychologische  Untersuchungen.     Bd.  I.     Heft  1.     1905. 


EriMOntninUieorie  oder  VemunftkritikT  27 

empiriBche  Krkenntnia  ImI.  l'^sycin>l^)gI^(  im-  Kmpiric  /«if^t  un.s  .ikxrr 
zugleich,  <lali  es  aiich  KrkenntniHHC  gibt,  die  nicht  L'rleilr  liud,  z.  B. 
die  Hiiitiliciieii  Waliriicliinungeii,  die  alhu  nicht  willkürlich  und  keine 
niittelbaro  assertorische  Verbindung  von  Hchon  vorher  gebildeten 
VorMtcUungen  Hind.  Sondern  sie  »ind  unmittelbare  V'onitcllungen 
mit  elxjnso  unmittelbarer  Assertion,  die  keineswegs  von  den  V^or- 
Btellungen  isoliert  ist  und  erst  z\i  ihnen  hitizutritt.  Wenn  also  mein 
Wuhrheitswille  mich  nötigt,  ein  Urteil  zu  fällen  und  ihm  die  -\s«ertion 
zu  gel>en,  so  tut  er  das,  weil  dann  in  diesem  Urteil  gerade  diejenige 
Voi-stellungaverbindung  vorliegt,  die  mir  unmittelbar  assertorisch 
war.  In  der  Urteilserkenntnis  wird  demnach  mittelbar  meine  un- 
mittelbare Erkenntnis  reflektiert.  Daß  ich  ein  Urteil  fälle,  dazu 
mag  ein  Wahrheitswille,  ein  Sollen  mich  iK'wegen;  wie  es  ausfällt, 
wofern  es  wahr  ist,  das  l>edingt  ausschlieülich  der  Inhalt  meiner 
unmittelbaren  Erkenntnis,  der  seinerseits  von  meinem  Willen  un- 
abhängig ist. 

ir. 

Bedeutet  nun  aber,  so  fragt  Nelson  im  zweiten  Teile  seines 
Werkes,  die  Ablehnung  der  erkenntnistheoretischen  Fragestellung 
nicht  »die  Proklamierung  des  offenbaren  Dogmatismus?«*)  So 
scheint  es.  Erkenntnistheorie  fordert  nach  dem  Satze  des  Grundes 
die  Begründung  aller  Erkenntnis.  Und  wir  sahen,  daß  diese  Be- 
gründung auf  einen  un vollendbaren  Regreß  führt,  in  jeder  Form 
immer  wieder  führen  muß,  —  an  dem  die  Erkenntnistheorie  scheitert. 
Sollte  nun  also  nichts  übrig  bleiben,  als  daß  nach  wie  vor  dogmatische 
Sjxkulation   Erkenntnis  zu  erreichen  suciit  ? 

Beide  Seiten  der  Alternative  zwischen  Erkenntnistheorie  und 
Dogma  halxMi  die  gemeinsame  falsche  Voraussetzung,  Erkenntnis 
und  Urteil  seien  identisch.  Die  Erkenntnistheorie  nun  wendet  den 
Satz  vom  Grunde  infolge  dieser  falschen  Voraussetzung  über  die 
Urteile  hinaus  auf  die  Erkenntnis  üWrhaupt  an;  und  so  bleibt  zuletzt 
lediglich  der  vage  V^ersuch  der  Begründung  der  Erkenntnis  durch  ihren 
Gegenstand  übrig. 

Aus  dieser  Alternative  befreit  uns  eines:  die  Unterscheidung 
von  Vernunft  und  Keflcxion.  Alle  Reflexion,  alles  Urteilen 
wiederholt  lediglich  eine  unmittelbare  Erkenntnis;  und  in  ihr 
liegt  da«  Kriterium  des  Richtigen  und  Falschen  an  unseren  Urteilen. 
Auf  sie  also  muß  von  allen  Urteilen  zurückgegangen  werden;  selber 
alK«r  ist  sie  nicht  (etwa  durch  Bt>ziehung  auf  ihren  Gegei\stand)  bo- 
gründbar  oder  hinsichtlich  ihrer  Geltung  verdäclitig:  denn  Ik'gründung 
sowohl  als  Zweifel  sind  .selU^r  erst  möglich  auf  ihrer  Grundlage,  unter 
der  Voraussetzung  ihrer  (Jültigkeit. 

HaiHMi  wir  dies  klar  erkannt,  so  erwächst  die  Aufgabe,  in  dieser 
Weise    die    Metophj-sik    zu    begründen;    die    synthetischen    Urteile 

»)  S.  521. 


28     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntuiskritißchen  Grundlagen. 

a  priori  durch  bloße  Begriffe  auf  die  Grundsätze  zurückzuführen  und 
deren  Rechtsnachweis  durch  die  Aufweisung  ihi-es  Ursprungs  in  der 
ixnmittelbaren  Erkenntnis  der  reinen  Vernunft  zu  erbringen.  Dieses 
Problem,  diese  Kritik  der  reinen  Vernunft,  führte  Kant  der  Lösung 
entgegen. 

Welche  Modalität  hat  nun  diese  kritische  Begründung  der  Er- 
kenntnis? Die  ursprüngliche  Dunkelheit,  Außerbewußtheit  unserer 
unmittelbaren  Erkenntnis  ist  die  Ursache  dafür,  daß  es  uns  nicht 
gegeben  ist,  metaphysische  Grundurteile  durch  direkte  Vergleichung 
mit  ihr  auf  ihren  Rechtsanspruch  zu  prüfen,  wie  dies  der  Mathematiker 
durch  Demonstration  seiner  Sätze  in  der  reinen  Anschauung  vermag. 
Vielmehr  muß  die  unmittelbare  Vernunfterkenntnis  erst  zum  Gegen - 
stände  einer  Untersuchung  gemacht  werden;  und  dies  geschieht  eben 
dadurch,  daß  wir  ihr  Vorhandensein,  ihre  Gegebenheit  als  Tatsache 
der  inneren  Erfahrung  aufweisen. 

Der  inneren  Erfahrung.  Hier  lag  für  die  Kritiker  J,  F.  Fries' 
und  seiner  Schule  stets  der  schwerste  Stein  des  Anstoßes.  »Was 
a  priori  ist,  kann  nicht  a  posteriori  erkannt  werden«,  so  lautete  schon 
Kuno  Fischers  Anathemai).  Daran  ist  so  viel  richtig,  daß  der 
Grund  von  Erkenntnissen  a  priori  nur  wieder  in  Erkenntnissen 
a  priori  liegen  kann.  Das  jedoch  ist  ebenso  gewiß  ein  pures  Dogma: 
daß  die  Methode  der  Zurückführung  auf  diesen  apriorischen 
Grund  —  den  sie  also  gar  nicht  enthält,  sondern  dessen  Existenz 
sie  nachweist  —  ihrerseits  auch  apriorisch  sein  müsse.  Man  kann 
das  Willkürliche  dieser  Annahme  gar  nicht  scharf  genug  hervorheben. 

Für  die  Erkenntnistheorie  liegen  diese  Dinge  freilich  anders.  Sie 
muß  den  Grund  aller  Erkenntnis  nicht  aufweisen,  sondern 
enthalten;  er  ist  nicht  ihr  Gegenstand,  sondern  ihr  Inhalt. 
Sie  also  ist  von  gleicher  Modalität  wie  die  Erkenntnis,  deren  Grund 
sie  zum  Inhalt  hat.  Setzt  man  an  Stelle  der  Kritik  also  die  Erkennt- 
nistheorie ein,  so  muß  diese  Problemstellung  zum  Transzenden- 
talismus führen.  Umgekehrt  schließt  der  Psychologismus  aus 
der  Tatsache,  daß  erkenntniskritische  Begründung  nur  durch  innere 
Erfahrung  möglich  ist,  darauf,  daß  der  Grund  aller  Erkenntnis  in 
der  inneren  Erfahrung  liege.  Beide  Schlüsse,  der  des  Transzenden- 
talismus und  der  des  Psychologismus,  sind  falsch;  und  der  Fehler 
steckt  in  der  Fassung  des  Begriffes  der  Erkenntnistheorie. 

Die  Vernunftkritik  bringt  diese  Antinomie  beider  Richtungen 
zur  Auflösung:  indem  sie  den  Grund  aller  Erkenntnis  als 
transzendent,  die  Begründung  metaphysischer  Urteile 
aber  als  ein  psychologisch  empirisches  Verfahren  statuiert. 

Natürlich  legen  sich  auch  die  Erkenntnistheoi'etiker  die  Frage 
vor,  von  welcher  Modalität  die  Methode  der  Erkenntnisbegründung 
sei.  Aber  hier  wird  fast  nie  scharf  zwischen  Grund  und  Begründung 
geschieden;  es  Vikariieren  dafür  verschwommene  Termini,  die  an- 


1)  Die  beiden  kantischen  Schulen  in  Jena.    S.  18. 


KrkcnntniBt'i.  nunfikriiik?  59 

«chttulicluMi  Analof^ien  entlehnt  mikI  iumI  clcmii  hhIi  Ix-iii«-  B  ^rmi'- 
beiordnen  hi.sHen  (»Wurzel«:  N'atorp;  »Urhoclen«:  Frege;  »Hf-imata- 
ort«:  HusHcrl).  Hert-chtigt  n^l  tltr  Kiiiwand  ganz  gewiU.  den  Frego 
und  besonders  Hu.sMerl  luachen:  dali  der  (Jrund  der  Logik  nicht  in 
der  Psychologie  liege;  daO  unmöglich  ».Sütze,  welche  »ich  auf  die 
bloDo  Form  bezichen,  crHchlossen  werden  nollen  au«  Sätzen  einen 
ganz  heterogenen  (lehalts«»).  Berechtigt:  denn  im  »ErHchlieOen« 
liegt  die  Hyposta^ierung  dieses  pHychologi.sehen  V'erfahreiLs  als  einer 
Beweisart;  und  im  Beweise  muß  modalisclie  Gleichheit  von  Prä- 
miBson  und  Konklusion  gefordert  werden.  Aljor  eben  um  den  Beweis 
der  Grundsätze  handelt  es  nich  in  der  Kritik  gar  niclit,  sondern  um 
ihre  Deduktion;  und  diese  enthält,  wie  wir  schon  sahen,  den  f Jrund 
der  Grundsätze  nicht. 

Bei  Husserl  ist  übrigens  die  antipsychologistische  Tendenz,  die 
er  in  die  Kritik  hineinträgt,  deshalb  nicht  ohne  Eigenart,  weil  er  eine 
deskriptive  Phänomenologie  des  Erkcnntnia-  und  Denkerlebens  aU 
Vorarbeit  und  Fundament ierung  logischer  »Statuiertingen  selber  er- 
heischt. Es  steht  doch  außer  allem  Zweifel,  daß  die  Inhalte  solcher 
phänomenologischer  Vorarbeiten  der  inneren  Erfahrung  entnommen 
werden  müssen,  also  guter  Bestand  der  Psychologie  sind.  Die  Not- 
wendigkeit einer  psychologischen  Begründung  der  rationalen  Er- 
kenntnis scheint  sich  hier  gerade  dem,  der  Husserls  Gedankengange 
und  seinen  meisterhaften,  für  die  Forschung  richtunggebend  ge- 
wordenen EinzeluntcrHuchungcn  folgt,  überwältigend  aufzudrängen. 
Indes  Husserl  scheint  hier  einen  Sprung  zu  machen  und.  um  das 
Gebiet  phänomenologischer  Deskription  des  empirischen  Charakters 
zu  entkleiden,  eine  »kategorialo  Anschauung«*)  einzusetzen.  Offen- 
bar unter  der  dogmatischen  Voraussetzung,  alle  unmittelbare  Er- 
kenntnis sei  Ansciiauung.  Wozu  bedürfte  es  dann  aber  ül>erhaupt 
noch  der  Reflexion?  An  anderer  Stelle  sagt  er  ülx'rdies  ausdrücklich, 
daß  die  innere  Wahrnehmung  eine  sinnliche  sei  und  daß  ihre  Mo- 
dalität zu  der  ihrer  möglichen  Gegenstände  in  keinerlei  Beziehung 
stünde. 

Also  ist  der  Antipsychologist  Husserl  auf  dem  gleichen  Wege 
psychologischer  Kritik  wie  wir.  Und  doch  verwirft  er  die  psycho- 
logische Tlioorcmbildung,  aus  der  die  Deduktionen  der  Grundsätze 
zu  erfol^'eii  haln'n.     Mit  Unrecht  scheint  uns. 

Endlich  werden  von  Nelson  die  erkennt ni-^kritischen  Ausfüll- 
rungen Lipps'  ausführlich  geprüft.  Lipps»)  kommt  der  Lösung 
des  Problems  der  kritischen  Methode  ziemlich  nahe,  aber  auf  einem 
gewundenen  Wege,  der  ihn  plötzlich  in  einen  falschen  Psychologismua 
hineingleiten  läßt.     Er  fordert  eine    »Grundwissenschaft«,  die    »aus 

»)  Husserl.  I>ipiiKho  l'ntorsuchunn.n.      IIKX).     Bd.  I.     S.  166. 

•)  n.  n,  O.  Hd.  II.  S.  616.  Vgl.  hioriibor  die  apütort^n  AbhAndluogon  dieae« 
Bacho.H. 

s)  Inhalt  und  Grgonstand.  Psychologie  und  Ix>gik.  Vgl  xo  Lippt  L^bre 
die  späteren  Arbeiten  des  Buches. 


30    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

allem  Erkennen  das  Apriorische  herauslöst «i).  Diese  Wissenschaft 
hätte  also  das  Apriorische,  das,  »was  alle  Erkenntnis  erst  zur  Er- 
kenntnis macht«,  den  Grund  aller  Erkenntnis  zum  Gegenstande. 
Lipps  nennt  diese  Wissenschaft  aber  die  »reine«  oder  »erste«  oder 
»Grundwissenschaft«  in  der  Annahme,  daß  sie  den  Grund  aller  Er- 
kenntnis enthalte,  zum  Inhalte  habe.  Das  ist  falsch.  Und  da 
Lipps  bei  dieser  Grundwissenschaft,  ausgehend  »vom  individuellen 
Bewußtsein«  (also  von  psychologischen  Tatbeständen)  »zum  reinen 
Bewußtsein«,  zu  »metaphysischen  Folgerungen«  gelangt,  tritt  er  in 
den  psychologistischen  Irrtum  ein. 

III. 

Weitaus  das  Tiefste  und  Wertvollste  gibt  Nelson  im  dritten 
Teile  seines  Werkes,  den  er  »die  Geschichte  der  Erkenntnistheorie« 
überschreibt.  Ungelöst  ist  ja  heutigen  Tages  noch  das  historische 
Problem:  Worin  liegt  der  Grund  dafür,  daß  Kants  unsagbar  tiefe 
Durchführung  des  vernunftkritischen  Gedankens,  der  die  Metaphysik 
von  aller  spekulativen  Dogmatik  zu  befreien,  sie  zu  konsolidierter 
Wissenschaft  zu  erheben  berufen  war,  —  daß  Kants  Werk  erst 
eigentlich  in  die  Arbeit  seiner  Weiterbildner  jene  klaffenden  Diver- 
genzen hineintrug,  aus  denen  wir  heute  noch  nicht  hinauskommen 
können  ? 

Die  Antwort  auf  dieses  Problem  wird  nur  aus  kritischer  Betrach- 
tung der  Kant  sehen  Lehre  abzuleiten  sein. 

Kant  lehrte  den  transzendentalen  Idealismus;  die  Unmöglichkeit 
positiver  Erkenntnis  von  Dingen  an  sich.  Seine  Begründung  war 
einmal  die  Auflösung  der  Antinomien.  Ihm  selber  dünkte  sie 
die  weniger  belangreiche  Begründung;  wir  freilich  haben  in  ihr  mit 
Nelson,  der  sie  in  extenso  nachprüft,  die  eigentliche  und  echte  Be- 
gründung des  transzendentalen  Idealismus  zu  würdigen.  Daneben 
steht,  stets  von  Kant  auf  das  klarste  herausgehoben,  der  formale 
Idealismus.  Aller  Erfahrungserkenntnis  liegen  Erkenntnisse 
a  priori  als  ihre  Form,  d.  h.  als  Bedingung  ihrer  Möglichkeit,  zu- 
grunde. Von  den  Dingen  aber  erkennen  wir  a  priori  nur,  was  wir 
selber  in  sie  hineinlegen  2),  Daher  können  die  Gegenstände  aller  Er- 
fahrungserkenntnis keine  Dinge  an  sich  sein. 

Es  wird  hier  etwas  über  das  Verhältnis  der  Erkenntnis  zum  Gegen- 
stande ausgemacht.  Nach  Kant  kann  eine  notwendige  Überein- 
stimmung von  Erkenntnis  und  Gegenstand  nur  unter  einer  von  folgen- 
den beiden  möglichen  Bedingungen  stattfinden:  »Entweder  wenn 
der  Gegenstand  die  Vorstellung,  oder  diese  den  Gegenstand  allein 
möglich  macht  «3).  Diese  Theorie  des  Verhältnisses  von  Erkenntnis 
und  Gegenstand  hat  wiederum   Obersätze;    nämlich    erstens  den, 


1)  a.  a.  0.     S.  557. 

2)  Kr.  d.  r.  V.     Vorrede  zur  2.  Auflage. 

3)  Kr.  d.  r.  V.     §  14. 


KrkfnntriiMtlieorje  oder  Vomundkritik  ?  'M 

«laß  zwiricIuMi  KrkeniitiiiH  und  GfgonHtaiuJ  ein  kauMaii-.  Vfiiiuiiuj« 
Vorliegt;  und  zweiten«  den,  daU  dieser  Kaunalnexiih  ein  unmittel- 
barer ist  —  so  dal)  etwa  eine  präntabilierte  Harmonie  von  vornherein 
auHge.schaltet  wäre.  Wovon  noch  zu  sprechen  sein  wird.  Ferner 
sind  VorauHHct Zungen  über  das  2^it Verhältnis  nötig,  um  für  dio  ver- 
schiedenen Erkenntnisarten  zu  entscheiden,  welche  der  genannten 
IJcdingungen  für  sie  vorliegt .  iK^nn  da.s  Kriterium  der  Anwetidbarkeit 
{ >h*sclieina  «)  der  Kategorie  der  Kausalität  ist  das  Zeit  Verhältnis.  Aus 
dem  allgemeinen  Verhältnis  der  Sinnlichkeit  zum  Verstände ')  nimmt 
Kant  ab,  das  Wesen  sinnlicher  Erkenntnis  liege  in  der  Kczeptivität, 
im  pa.ssiven  Affiziertwerden  von  CJcgenständen.  Erkenntnis  a  poste- 
riori sei  demnach  »eine  Erkenntnis,  ho  wie  sie  unmittelbar  von  der 
Gegenwart  des  (Jegenstandes  abliängcn  würde«*).  Erkenntnis  a  priori 
dagegen  gehe  vor  dem  (Jegenstando  selbst   vorher. 

Diese  Prämis-sen  sind  synthetische  Urteile:  keine  logisch-analy- 
iische  Notwendigkeit  stützt  sie.  iSie  sind  apriorisch:  denn  sie  sollen 
allgemein  und  mit  Notwendigkeit  gelten.  Sie  sind  nicht  anschaulich. 
\lso  sind  es  echte  metaphysische  Urteile. 

Metaphysische  Urteile  müssen  Ix^gründet  werden.  Allein  nirgends 
hat  Kant  in  der  Tafel  der  Grundsätze  des  reinen  Verstandes  den 
Grund  dieser  vier  Sätze  gezeigt.  Und  es  ist  schlechterdings  un- 
möglich, sie  von  hier  abzuleiten.  Sie  sind  unbegründbar;  Dogmen. 
Weiter:  sie  enthalten  Aussagen  ülx?r  das  Verhältnis  der  Dinge  an  sich 
/.u  unserer  Erkenntnis.  Die  Möglichkeit  einer  solchen  Au.ssage  aber 
widerspricht  Kants  eigenen  Nachweisungen,  widerspricht  dem  (Grund- 
gehalte des  formalen  Idealismus  selbst.  Denn  schon  die  Aussage: 
die  Dinge  an  sich  sind  a  priori  unerkennbar  —  schon  die  Zulassung 
dieser  .\ussage  widerspricht  ihrem  Inhalte:  sind  die  Dinge  an  sich 
a  priori  unerkennbar,  so  ist  auch  kein  Wissen  um  diese  Unerkenn- 
barkeit  möglich.  Die  Behauptung  dieses  Wissens  bildet  zu  seinem 
Inhalt  einen  Widerspruch.  Jede  einzelne  der  vier  Prämissen  des 
formalen  Idealismus  steht  in  Widerspruch  mit  dem  formalen  Idealis- 
mus selbst.     Damit  entfällt  der  formale  Idealismus. 

Kant  kam  zu  seiner  Disjunktion,  daß  entweder  die  Erkenntnis 
den  Gegenstand  oder  dieser  die  Erkenntnis  möglich  mache,  auf  Cirund 
folgender  Überlegung  :  Er  legte  sich  die  Frage  vor,  wie  die  notwendige 
t^bereinstimmung  der  Erfahrung  mit  den  Begriffen  ihrer  Gegenstände 
möglich  sei ').  Und  antwortete:  Entweder  ermöglicht  die  Erfahrung 
die.'ie  1^'griffe;  oder  umgekehrt,  diese  Begriffe  ermöglichen  die  Er- 
fahrung. I>etzteres  ist  al)er  der  Fall  bei  den  K  ■  m;  denn  diese, 
Begriffe  a  priori,  enthalten  ja  den  Grund  der  "'  keit  aller  Er- 
fahrung ül)erhaupt. 

Die.se  Feststellung  ist  ganz  richtig;  und  eine  der  denkerischen 
Großtaten  Kants.     Aber  sie  l)csagt  lediglich  etwas  über  das   Vcr- 

>)  Kr.  d.  r.  \*.     Tmnftzondcntalc  Logik.     Einleitung  I. 

«)  Prologomen«.     $  8. 

»)  Kr.  d.  r.  V.     2.  Auinjnl>c.     $  27. 


32    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

hältnis  der  apriorischen  Erkenntnis  zur  Erfahrung,  und  absolut 
nichts  über  das  Verhältnis  der  apriorischen  Erkenntnis  zu  ihrem 
Gegenstande.  Kant  hat  das  tatsächlich  verwechselt,  und  zwar  an 
mehreren  Stellen^),  wie  Nelson  sehr  klar  erläutert. 

Nun  hat  überdies  Kant  selbst  erkannt,  daß  seine  vielbesprochene 
Disjunktion  der  möglichen  Beziehungen  zwischen  Erkenntnis  und 
Gegenstand  unvollständig  war;  daß  noch  ein  dritter  Weg  offen  bleibt: 
die  Hypostasierung  einer  prästabilierten  Harmonie;  so  etwa,  als 
wenn  unsere  subjektive  geistige  Anlage  derart  organisiert  wäre,  »daß 
ihr  Gebrauch  mit  den  Gesetzen  der  Natur,  an  welchen  die  Erfahrung 
fortläuft,  genau  stimmte«  (»Präformationssystem  der  reinen  Ver- 
nunft«). Trendelenburgs  Einwurf,  Kant  habe  in  seiner  Dis- 
junktion die  Möglichkeit  dieser  Annahme  übersehen,  stimmt  also 
nicht;  wie  schon  Kuno  Fischer  ihm  nachwies. 

Kant  lehnt  allerdings  das  Präformationssystem  ab.  Einerseits 
aus  dem  teleologischen  Gesichtspunkt,  daß  eine  solche  »Voraus- 
setzung vor  bestimmter  Anlagen  zu  künftigen  Urteilen«  es  bei  allen 
unseren  Urteilen  im  Vagen  lasse,  »was  der  Geist  der  Wahrheit  oder 
der  Vater  der  Lügen  uns  eingeflößt  habe«;  daß  also  bei  ihr  ein  Kri- 
terium des  Wahren  und  Falschen  an  unserem  Urteilen  fehle.  Das 
ist  richtig;  indes  ist  die  Präformation  an  sich  noch  nicht  widerlegt.  — 
Ferner  führt  Kant  gegen  das  Präformationssystem  an,  daß  mit  der 
Annahme  desselben  den  Kategorien  die  Notwendigkeit  ihrer  Geltung 
abhanden  kommen  würde;  wenn  z.  B.  die  Kategorien  der  E-elation 
nur  auf  eine  »uns  eingepflanzte«  subjektive  Notwendigkeit,  gewisse 
empirische  Daten  in  bestimmten  Verhältnissen  verbunden  zu  denken, 
zurückgeführt  würden.  »Ich  würde  nicht  sagen  können:  die  Wir- 
kung ist  mit  der  Ursache  im  Objekte  (d.  i.  notwendig)  verbunden, 
sondern  ich  bin  nur  so  eingerichtet,  daß  ich  diese  Vorstellung  nicht 
anders  als  so  verknüpft  denken  kann. «  Das  stimmt  aber  nicht. 
Wenn  ich  »so  eingerichtet«  bin,  denken  zu  müssen:  A  ist  B,  so  denke 
ich  eben:  A  ist  B:  und  nicht:  ich  sei  nur  so  eingerichtet,  denken 
zu  müssen,  A  sei  B.  Überdies  setzt  ja  die  Präformation  voraus,  daß 
tatsächlich  unser  Denken  mit  den  Abläufen  der  Natur  in  prästabi- 
iierter  Übereinstimmung  steht.  Kants  Argument  entfällt  demnach. 
Außerdem  aber  enthält  das  Wissen  um  die  Art,  wie  ich  eingerichtet 
bin,  ebenfalls  Anspruch  auf  objektive  Gültigkeit.  Kant  müßte 
folgerecht  sagen:  Ich  bin  nur  so  eingerichtet,  denken  zu  müssen, 
ich  sei  nur  so  eingerichtet,  denken  zu  müssen  usw.  —  und  der  be- 
kannte unendliche  Regreß  tauchte  wieder  auf. 

Zugegeben  sei  das:  die  subjektive  Notwendigkeit,  ein  Sachver- 
hältnis zu  denken,  erlaubt  noch  nicht  den  Schluß  auf  die  objektive 
Notwendigkeit  dieses  Sachverhältnisses.  Beim  Präformationssystem 
lägen  die  Dinge  dann  so:  den  kategorischen  Grundformen  würde  die 
analytische,  logische  Notwendigkeit  in  der  Tat  fehlen.    Ihre  objektive 


1)  z.  B.  Proleg.     §  36. 


Er;  Vernunft  Lritik?  33 

(lüitigkcit  wäre  Io^imh  /.uijiiii^r.  MetaphvHiMclif  .\im  wc-ndigkeit  al>cr 
hrauchto  ihnen  durcliauH  nicht  zu  fehlen.  Diene  würde  allerdings 
nicht  im  lleweiswege  (id  chI  logi»ch).  sondern  unmittelbar  auf- 
gewiesen  werden   müssen. 

Das  prinzipiell  Entscheidende  in  der  Beurteilung  der  Präforma- 
tionslehre  liegt  in  folgender  Erörterung:  Eine  jede  P]rkenntni"theorie 
muli,  um  möglich  zu  sein,  auf  der  Voraussetzung  fußen,  dali  unserer 
Erkenntnis  (wenigstens  zum  Teile)  transzendrritnle  Wahrheit  inne- 
wohnt. Auch  der  formale  Idealismus.  Mit  welchem  Rechte  spricht 
denn  Kant  den  formalen  Bedingungen  der  Erfahrung  transzendentale 
l^«alitiit  ab?  Er  muli  für  die  erkenntnistheoretischen  Olx?r»ätze 
dieses  Urteils  transzendentale  Wahrheit  beanspruchen.  Wofern  wir 
also  die  transzendentale  Walirheit  eines  erkenntnistheoreti-schen 
Urteils  als  Präformat ion.ssystem  bezeichnen,  hat  dieser  Ausspruch 
Kants  das  Präformationssystem  zur  Grundlage.  Die  Bestreitung 
des   Präformat ionssystems  schlielJt  also  einen  Widerspruch  ein. 

Sorgfältig  von  dieser  Fassung  des  Präformationssystems  zu  unter- 
scheiden ist  freilich  der  Versuch,  die  Präformat ion  auf  einer  theo- 
logischen Basis  aufzurichten.  Hier  hat  Kant  in  der  prachtvollen 
H.-iefstelle  (an  Marcus  Herz)  wider  Crusius  und  den  Deus  ex 
maciiiiia  ganz  recht.  Denn  wolier  sollten  wir  von  dem  Geiste,  der  uns 
die  Regeln  unseres  Urteilens  einpflanzte,  Erkenntnis  erlangen,  wenn 
nicht  vermöge  der  Regeln  unseres  Urteilens?  Deren  Wahrheits- 
ansprüche doch  gerade  erst  durch  die  Annahme  der  uns  vom  Geiste 
verliehenen  Erkenntnismöglichkeit  begründet  werden  sollen!  Hier 
liegt  (>in  Zirkelschluß  vor. 

Also:  wenn  Kant  auch  mit  Recht  diese  zweite  Form  der  Präfor- 
mation »das  Ungereimteste,  was  man  nur  wählen  kann«  nennt  — 
s(l  hat  er  die  erste  Form  der  Präformat  ion  damit  durchaus  noch 
nicht  abgetan;  im  Gegenteil:  der  Erkenntnistheorotiker  wird 
sie  iniplicile  immer  vorau.ssetzen  müssen. 

Wir  hatten  als  Voraussetzungen  des  formalen  Idealismus  gefunden  : 
das  V^erhältnis  der  Erkenntnis  zum  Gegenstaude  ist  ein  kausales,  und 
zwar  ein  unmittelbar  kausales.  Was  aber  causa  im  einzelnen  Falle 
ist  —  ob  Erkenntnis,  ob  Gegenstand  — ,  wird  durch  das  Zeitverhältnis 
dessen  bestimmt,  was  von  beiden  dem  anderen  »vorhergeht«.  Bei 
<liT  Erkenntnis  a  priori  geht  die  Erkenntnis  dem  Gegenstand  vorher. 
Was  bedeutet  dies  nun?  Einmal  ist  unter  »Gegenstand«  ganz  offen- 
bar der  Wahrnehmungsgehalt,  das  empirische  Material  verstanden. 
Dann  hat  der  Satz  den  Siim:  Erkenntnisse  a  priori  sind  unabhängig 
von  der  FIrfahrung.  Gegensfand  einer  Erkenntnis  katui  aln^r  in  weite- 
rem Sinne  jedi-s  Vorgestellte,  jedi'S  Subjekt,  von  dem  etwas  prädi- 
ziert  wird,  heißen.  Für  apriorische  Erkenntnis  wäre  der  CJegenstand 
danach  »mter  Umständen  ein  Allgemeines,  eine  bloßo  Fonn,  ein 
Gesetz.  In  diesem  Falle  aber  wäre  Kants  Satz  vom  Zeit  verhält  ni.«« 
falsch;  auch  jede  Erkenntnis  a  priori  hätte  ihren  Gegenstand  un- 
mittelbar l>ei  sich. 

Kr>)nfi-lil,    r^VifiUlrU.-lir    Krkrr.iittiu  3 


34    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

Versteht  man  unter  Gegenstand  empirische  Gegebenheit,  so  hat 
Kants  große  Frage:  wie  es  möglich  sei,  Gegenstände  a  priori  zu  er- 
kennen —  mit  Recht  die  Lösung  erfahren:  weil  jeder  Gegenstand 
(der  Erfahrung)  seiner  Form  nach  durch  die  a  priori  erkannten  Ge- 
setze erst  möglich  wird.  Was  wir  a  priori  erkennen,  ist  also  die  Form 
der  Erfahrungsgegenstände.  Diese  Form  aber  ist  ihrerseits  Gegen- 
stand der  apriorischen  Erkenntnis  —  Gegenstand  in  seiner  zweiten 
Wortbedeutung ! 

Diese  beiden  Bedeutungen  sondert  aber  Kant  nicht  scharf  von- 
einander ab;  so  kommt  er  zu  seiner  Erkenntnistheorie.  Er  fragt 
(bei  der  Auf  Weisung  der  reinen  Anschauung  als  Grund  der  Möglich- 
keit der  Mathematik):  »Wie  ist  es  möglich,  etwas  a  priori  anzu- 
schauen? Anschauung  ist  eine  Vorstellung,  so  wie  sie  unmittelbar 
von  der  Gegenwart  des  Gegenstandes  abhängen  würde.  Allein  wie 
kann  Anschauung  des  Gegenstandes  vor  dem  Gegenstande  selbst 
vorhergehen?«  Die  Verwechslung  ist  hier  ganz  durchsichtig.  Dem 
»Gegenstande«,  sofern  er  empirische  Gegebenheit  bedeutet,  geht  die 
reine  Anschauung  tatsächlich  vorher.  Bezeichnet  man  indes  mit 
»Gegenstand«  einer  Erkenntnis  das  in  ihr  Erkannte,  so  hat  auch 
die  rein  anschauliche  Erkenntnis  ihren  Gegenstand  unmittelbar  bei 
sich;  und  die  Hindernisse  sind  aus  dem  Wege;  —  die  Prämisse  vom 
Zeitverhältnis  zwischen  Erkenntnis  und  Gegenstand  fällt  freilich 
damit. 

Wir  kommen  zum  Schluß:  Der  formale  Idealismus  ist  hinfällig, 
verfehlt,  und  als  Begründung  des  transzendentalen  nicht  zu  ge- 
brauchen.   —   —   — 

Ein  zweites  wichtiges  Abirren  der  Kant  sehen  Arbeit,  das  für 
die  Erkenntnistheorie  folgenschwer  ward,  ist  sein  transzendentaler 
Beweis  der  Grundsätze.  Die  prinzipielle  Unmöglichkeit  des  trans- 
zendentalen Beweises  überhaupt  wurde  bereits  im  ersten  Teile  dar- 
getan.   Wie  führt  nun  Kant  dies  Unmögliche  durch? 

Schicken  wir  zum  Verständnis  voraus:  Kant  faßt  nur  zu  häufig 
noch  in  aristotelischer  Tradition  die  Trennung  der  Logik  —  als  der 
apriorischen  Erkenntnis  in  analytischen  Urteilen  —  und  der  Em- 
pirie —  als  der  aposteriorischen  Erkenntnis  in  synthetischen  Ur- 
teilen —  als  eine  richtige  und  vollständige  Disjunktion  auf.  Wenn- 
gleich er  die  synthetischen  Urteile  a  priori  als  erster  herausgestellt 
und  einem  Teile  von  ihnen,  den  mathematischen,  den  Grund  auf- 
gezeigt hat,  so  hat  er  das  gleiche  bei  den  synthetischen  Urteilen 
a  priori  durch  bloße  Begriffe  noch  keineswegs  mit  Klarheit  erreicht. 
Die  Möglichkeit  dieser  synthetischen  Urteile  a  priori  soll  begründet 
werden;  das  ist  sein  Problem.  Nun  hat  der  Begriff  der  »Möglichkeit« 
einen  doppelten  Sinn.  Einmal  den  objektiven  der  Gültigkeit.  Dann 
den  subjektiven  des  psychologischen  Ursprungs  (wovon  außerdem 
noch  das  genetische  Problem  der  »physiologischen  Ableitung«  Kants 
sorgfältig  zu  unterscheiden  ist).  Zunächst  handelt  es  sich  für  Kant 
um  die  erste  Bedeutung;  die  objektive  Möglichkeit.     Auf  Grund  der 


Erk „.    ...     -j  ;   Veniunftkritik?  30 

««x'lxMi  voriiuHgeHclucklt'M  Animlime  d»?r  überkoinmem*n  lJi>jurjktion 
ist  dnH  Kiiti'riuin  di-r  Ciültigkeil  «yiithftLsciuT  Urlcilo  entweder  Kni- 
pirie  oder  Logik.  Würo  es  Empirie,  duim  küiinto  e«  keine  synthe- 
tischen Urteile  u  priori  von  objektiver  (Jültigkeit  gelxjn.  Bleibt 
uImo  die  Logik.  Der  )x*rühmte  Beweis  wird  folgendermaßen  geführt: 
Innerhalb  der  Erfahriingserkenntni.s  ist  un«  eine  Scheidung  zwiHchen 
Wuhrluit  und  Stliein  nio^Iicl;.  Die  Kriterien  für  diese  Scheidung 
liefern  uns  die  synthetischen  Urteile  a  priori  als  Prinzipien  dt-r  .Mög- 
lichkeit der  Erfahrung.  Durch  diese  Prinzipien  allein  kann  der  Begriff 
der  wissenschaftlichen  Wahrheit  definiert  werden.  »Erkenntnis  & 
priori  hat  nur  dadurch  Wahrheit,  daß  sie  nichts  weiter  enthält,  als 
was  zur  synthetischen  Einheit  der  Erfahrung  überhaupt  notwendig 
ist  «•)•  »Die  Möglichkeit  der  Erfahrung  ist  also  das,  was  allen  unseren 
Erkenntnissen  a  priori  objektive  Kcalität  gibt«*). 

Was  wir  schon  prinzipiell  festgestellt  haben,  wenden  wir  als  Kri- 
terium der  Stichhaltigkeit  an  diesen  Beweis.  Die  apriorischen  Grund- 
>ätze  sind  möglich  auf  Grund  der  Wirklichkeit  der  Erfahrung;  die 
Erfahrung;  aber  ist  ja  selbst  nur  möglich  unter  Voraussetzung  der 
Objektivität  der  apriorischen  Grundsätze!     Ein  Zirkel. 

Wie  wir  diesen  »Beweis«  auch  fassen  mögen:  nie  erreichen  wir 
mehr  als  den  rein  analytischen  Satz,  daß  gewisse  Prinzipien  auf 
«•inem  Gebiete  gelten,  das  durch  diese  Prinzipien  gerade  definiert  wird. 

Wenn  die  metapliysi.schen  Grundsätze  den  Grund  der  Möglichkeit 
der  Erfahrung  enthalten,  so  kann  nicht  die  Mögliciikeit  der  Erfahrung 
den  Grund  der  metapiiysischen  Grundsätze  enthalten.  Das  ist  klar. 
Einen  Grund  aber  müssen  diese  synthetischen  Grundsätze  doch 
haben;  und  ihn  zu  finden  ist  auch  Kants  Bemühen*).  Nelson 
hatte,  im  zweiten  Teile  seines  Buches,  diesen  Grund  schon  aufgedeckt : 
es  war  die  nichtanschauliche  unmittelbare  Erkenntnis  der  reinen 
Vernunft.  Kant  war  es  nicht  gelungen,  sie  zu  finden;  denn  ihm  galt 
die  dogmatisclie  Disjunktion  der  Erkenntnis  in  Anschauung  und 
Urteil;  und  so  mußte  er,  da  er  die  metaphysische  Erkenntnis  als 
nichtanschaulich  erkannt  hatte,  sie  auf  Reflexion  zu  gründen  suchen. 
So  kam  er  zum  transzendentalen   Beweise. 

.\n  dessen  Stelle  rückt  nunmehr,  als  eigentliches  Problem  der 
Vernunftkritik,  die  Deduktion  der  Grundsätze  aus  dieser  unmittel- 
baren Erkenntnis  im  subjektiv  psychologischen  Wege.  Auch  Kant 
kannte  wohl  die  Aufgabe  einer  »subjektiven  IX^duktion«*);  aber  er 
erteilte  ihr  nur  eine  präparalorische  Nebenfunktion.  Er  nahm  viel- 
mehr nii.  die  Kritik  haln»  die  Aufgabe,  die  metaphv'sischen  Grund- 
>iit/c  zu  Ix'weisen;  sie  enthalte  also  deren  CJrund  —  was  bei  der  De- 
duktion tatsächlich  nicht  der  Fall  ist  —  und  sei  also  hinsichtlich 
ihrer  Modalität  gleichartig  den  durch  sie  begründeten  metaph^'sischeu 

»)  Kr.  d.  r.  V.     (ReoUm.)    8.  IM. 

•)  Kbetid«.  8.222. 

*)  Ebond«.  8.  238  and  {mm. 

*)  Kr.  d.  r.  V.     S.  113f. 


36     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

Sätzen.  Er  zog  Kritik  und  Metaphysik  zusammen  unter  den  Ober- 
begriff der  transzendentalen  Logik;  jener  Wissenschaft,  die  erstens 
die  apriorischen  Vernunfterkenntnisse  synthetischer  Art  enthält 
(Metaphysik)  und  zweitens  ihren  Ursprung  bestimmt  (Kritik)'). 
Es  wird  demnach  die  Kritik  an  die  Spitze  des  Systems  der  Vernunft- 
erkenntnis gestellt;  und  daraus  resultieren  nun  zwei  Möglichkeiten: 
Einerseits  nämlich  wissen  wir  prinzipiell  und  können  jederzeit 
faktisch  aufweisen,  daß  die  Sätze  der  Kritik  auf  innerer  Erfahrung 
fußen;  also  erkennen  wir  in  Kants  Fassung  der  transzendentalen 
Logik  den  drohenden  Fehler  psychologischer  Ableitung  des  Systems 
der  Vernunfterkenntnis  aus  empirischen  Obersätzen. 

Andererseits  aber  sind  die  Sätze  des  Systems  der  metaphysi- 
schen Erkenntnis,  wie  Kant  definitiv  feststellte,  synthetische  Urteile 
a  priori  aus  Begriffen;  wenn  also  die  transzendentale  Logik  Kants 
die  logische,  syllogistische  Ableitung  der  Sätze  des  Systems  aus  denen 
der  Kjitik  zum  Inhalt  hat,  so  müssen  die  Obersätze  dieser  logischen 
Ableitung,  also  die  Inhalte  der  Kritik,  ebenfalls  synthetische  Urteile 
a  priori  durch  Begriffe  sein.  So  verführt  die  falsche  Identifizierung 
der  Modalitäten  von  Kritik  und  System  klar  zum  »transzenden- 
talistischen  Vorurteil«  (das  oben  genauer  erörtert  wurde).  Implicite 
liegt  in  Kants  Fassung  des  Begriffes  der  transzendentalen  Logik 
bereits  die  Möglichkeit  dieser  beiden  Fundamentalfehler  aller  späteren 
Erkenntnistheorie  beschlossen;  die  kritische  Errungenschaft  stürzt, 
und  das  Dogma  erneut  sich.    — 

Aus  Nelsons  »axiomatisierender «  Zergliederung  der  Voraus- 
setzungen, die  dem  Denkwerke  Kants  unterlagen,  geht  hervor,  daß 
hinter  ihnen  allen  zuletzt  immer  der  Fehler  steht:  daß  Kant  Re- 
flexion und  unmittelbare  Erkenntnis  nicht  scharf  gesondert  hat. 
Was  um  so  bemerkenswerter  ist,  als  Kants  größte  Entdeckung,  die 
der  synthetischen  Urteile  a  priori  aus  bloßen  Begriffen,  zusammen 
mit  dem  mathematischen  Analogon  ihn  eigentlich  geradezu  auf  diese 
Unterscheidung  hätte  führen  müssen.  Denn  steht  einmal  die  Tat- 
sache des  Vorkommens  synthetischer  Urteile  a  priori  aus  bloßen  Be- 
griffen fest,  so  muß  die  Frage  nach  ihrem  Grunde  gestellt  —  und  bei 
der  Antwort  Anschauung  und  Reflexion  in  gleicher  Weise  als  dieser 
Grund  abgelehnt  werden.  Und  damit  hält  man  dann  die 
Lösung  in  Händen. 

Der  Schluß  erfolgt  mit  Deutlichkeit  aus  drei  Prämissen:  Erstens 
—  wir  besitzen  metaphysische  Urteile.  Zweitens:  Reflexions- 
erkenntnis ist  mitelbar.  Oder,  was  dasselbe  ist:  Reflexion  enthält 
nicht  den  Grund  synthetischer  Urteile;  ein  logisches  Kriterium  ma- 
terialer Wahrheit  ist  unmöglichi^.  Drittens:  Das  Bewußtsein  um 
die  metaphysische  Erkenntnis  ist  nur  durch  Reflexion  möglich  (wir 
besitzen  keine  intellektuelle  Anschauung).  —  Hieraus  folgt  die  Exi- 


1)  Ebenda.     S.  80.    '^ 

2)  Kant  lehrt  dies  ganz  genau  so.   Vgl.  Kr.  d.  r.  V.  S.  81  f.   Logik,  Einl.  VII. 


Krkenii'  fikritik?  37 

»teil/,   tlci    unniittelhartMi   unniiiuHchaulichfii    KrkenntniH  tli-r   n-iinMi 
Vernunft  ab<  (Jjund  der  niotapliyHi»cht*n   Krkennlni«. 

Kttr»t  nun  Ix^ging  die  Unkorrekt heit,  an  der  zweiten  I'rJirni.iHo, 
wenn  er  selbst  sie  aucl»  lelirt,  nicljt  gleichinäliig  fetitzulialtcn.  Neben 
ihr  taucht  unausgesprochen  immer  wieder  das  traditionelle  Dogma 
auf:  alle  Erkenntnis  ist  entweder  Anschauung  oder  Reflexion.  Hält 
man  diese  dogmatische  Trämissc  aufrecht,  so  muß  man  eine  der  drei 
faktischen  streichen.  Hut  weder  die  erste:  dann  folgt  der  Empi- 
rismus. Oder  die  zweite:  dann  folgt  der  logische  Dogmatismus. 
Oder  die  dritte:  dann  folgt  die  intellektuelle  Anschauung,  der  In- 
tuitivismus und  der  Mystizismus.  —  Oder  aber  man  streicht  da« 
Dogma:  dann  bleibt  die  Annahme  der  unmittelbaren  Erkenntnis  der 
reinen  Vernunft  übrig  (Kritizismus). 

IV. 

Diese  vier  prinzipiell  möglichen  Schlü:se  —  und  die  auf  jedem 
von  ihnen  jeweils  sich  aufbauenden  Philosopheine  —  sind  nun  in 
der  Tat  auch  im  historischen  Ablauf  von  den  Fortbildnern  Kants 
verfociiten  und  systematisch  durchgeführt  worden.  Der  Empirismua 
feierte  durch  Bcneke,  der  logische  Dogmatismus  durch  Hegel, 
der  Mystizismus  durch  Schelling  seine  Auferstehung;  Jacob 
Friedrich  Fries  aber  brachte  den  eigentlichen  Kritizismus,  wie  ihn 
Kant  angebahnt  hatte  zur  Vollenduung.  Es  ist,  wo  nicht  das  größte 
Verdienst,  so  doch  die  scharfsinnigste  Leistung  Nelsons,  die  grund- 
sätzliche Notwendigkeit  jenes  geschichtlichen  Werdens  hier  aus 
Kants  Werk  selber  abgeleitet  zu  haben. 

Hierüber  ist  noch  einiges  zu  sagen.  Nelson  zergliedert  zunächst 
das  Werk  des  Denkers,  der,  heute  hinter  größeren  Nachfolgern  zurück- 
stehend, doch  als  der  eigentliche  Schöpfer  des  metluxlisciien  Werkee 
wie  des  malerialen  Fundamentes  zu  U'trachten  ist,  auf  dem  Beneke 
und  Ficlite,  Schelling  und  Hegel  erst  ihre  dogmatischen  CJe- 
bäude  errichten  konnten:  Karl  Leonhard  Ueinhold. 

Rc inhold  sieht  in  dem  analytischen  Regreß  das  methodische 
Prinzip  der  Kant  sehen  Kritik.  AIkt  die  Zergliederung  geht  ihm 
nicht  weit  genug.  Denn  das  Prinzij)  der  .Möglichkeit  der  Erfahrung, 
aus  dem  die  regressiv  gewonnenen  metaphysischen  Grund-sätze  be- 
wiesen werden,  bedarf  selbst  einer  weiteren  Reduktion  auf  Oliersätze. 
Als  höchstes,  letztes  Fundament  muß  ein  Prinzip  gefunden  werden, 
das  sowohl  die  inetaph\'sischen  Grundsätze  als  auch  diesen  Satz  der 
Mögliclikeit  der  Erfahrung  zu  Folgesätzen  hat;  mehr  noch:  da.s  auch 
der  praktischen  Metaphysik  zugrunde  liegt,  auch  den  Ober«atz  aller 
Logik  darstellt. 

Die  Wissenschaft  von  diesem  Prinzip,  die  »Elementarphilosophie«, 
hat  auszugehen  vom  Begriffe  der  bloßen  Vorstellung,  den  wir  au« 
dem  Bewußtsein  schöpfen.  Das  Faktum  des  Bewußtseins  muß  da« 
Fundament  der  Elcmentarphilosophio  letzthin  seinerseits  begründen. 


38    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

Und  zwar  wissen  wir  durch  bloße  Reflexion  über  dieses  Faktum: 
»daß  die  Vorstellung  im  Bewußtsein  durch  das  Subjekt  von  Objekt 
und  Subjekt  unterschieden  und  auf  beide  bezogen  wird«i)  (»Satz 
des  Bewußtseins«). 

Nun  ist  aber  nicht  abzusehen,  wie  sich  Reinholds  Forderung 
eines  obersten  Grundsatzes  für  Logik  und  Metaphysik  erfüllen  lassen 
sollte.  Dieser  Grundsatz  müßte  entweder  analytisch  oder  synthe- 
tisch sein.  Allein  aus  analytischen  Grundsätzen  folgen  nie  synthe- 
tische Schlußsätze,  und  aus  synthetischen  Sätzen  nie  analytische! 
Die  Einzahl  dieses  Grundsatzes  zwingt  ferner  zur  Erinnerung  daran, 
daß  zu  jedem  Syllogismus  zwei  Prämissen  gehören,  daß  sich  also 
aus  einem  Grundsatz  allein  gar  nichts  entwickeln  läßt.  Sodann 
kann  es  überhaupt  keine  höheren  Sätze  geben,  aus  denen  die  meta- 
physischen Grundsätze  beweisbar  würden.  Denn  da  die  zu  beweisen- 
den Grundsätze  synthetisch  sind,  müßte  es  wenigstens  eine  Prämisse 
auch  sein.  Diese  könnte  aber  nicht  empirisch  sein  —  denn  die  Kon- 
klusion ist  ja  metaphysisch  — ;  metaphysisch  aber  könnte  sie  auch 
nicht  sein  —  denn  unter  den  metaphysischen  Sätzen  sind  ja  die  Grund- 
sätze, die  bewiesen  werden  sollen,  die  allgemeinsten.  Der  ganze 
Fundamentierungs versuch  ist  also  falsch. 

Reinhold  kam  zu  ihm  offenbar  dadurch,  daß  er  den  analytischen 
Regreß  Kants  als  die  einzige  Methode  der  Kritik  wertete.  Er  über- 
sah dabei,  daß  durch  diese  Methode  zwar  die  metaphysischen  Grund- 
sätze tatsächlich  herausgestellt  werden,  nie  aber  über  den  Grund  ihrer 
Gewißheit  etwas  ausgemacht  wird.  Gerade  das  letztere  ist  aber  das 
eigentliche  Problem  der  Kritik.  Und  diese  Auf  Weisung  des  Grundes 
kann  im  Wege  logisch  analytischen  Regresses  nicht  geschehen.  Sie 
wird,  wie  Nelson  im  zweiten  Teile  seines  Buches  nachwies,  im  Wege 
innerer  Erfahrung  vollzogen.  Reinhold  selbst  will  ja  etwas  ähnliches, 
wenn  er  die  Elementarphilosophie  als  Wissenschaft  von  den  Merk- 
malen bloßer  Vorstellungen  statuiert;  aber  er  übersieht  die  Tatsache, 
daß  die  Modalität  solcher  Wissenschaft  eine  empirische  ist.  Indem 
er  aus  den  Inhalten  dieser  Wissenschaft  die  metaphysischen  Grund- 
sätze im  Beweisverfahren  abzuleiten  sucht,  vollzieht  er  also,  ohne 
es  zu  merken,  die  Introduktion  des  empiristischen  Psycho- 
logismus in  das  System  der  Metaphysik  (an  dessen  Spitze  ja  seine 
ungewollt  empirische  Elementarphilosophie  steht).  —  Daß  Rein- 
hold  die  Grundsätze  aus  irgendeinem  anderen  Prinzip  zu  beweisen 
versucht,  und  aus  diesem  Beweis  verfahren  Vernunftkritik  macht  — 
das  zeigt,  daß  bei  ihm  im  letzten  Grunde  das  Kant  sehe  Vorurteil: 
Erkenntnis  sei  entweder  Anschauung  oder  Reflexion  —  weiter- 
bestehen blieb  und  sogar  zum  eigentlich  treibenden  Moment  seiner 
Spekulation  geworden  ist.  Das  Resultat,  das  er  erzielt  —  indem  er 
von  irgendwelchen  dogmatischen  Prinzipien  seiner  Elementarphilo- 

1)  »Über  das  Fundament  des  philosophischen  Wissens«.  1791.  S.  78.  Des- 
gleichen »Versuch  einer  neuen  Theorie  des  menschlichen  Vorstellungsvermögens «. 
S.  258  und  pass. 


Krkt'nntniBlhuoho  oder  Vi-muiiftkhtikT  S9 

fiophiü  die  liihalle  der  Metuphysik  epwyllogiMtiach  ableitet  — ,  mt  die 
Wiedeniuf rieht ui»g  des  iogisclion  DogmutisinuH  auf  den  Trüm- 
mern  verluMHeiier  Vernunft  kritik. 

Die  rixMimlnne  von  Keinliolds  Feliler  in  ein  DcnküyBtein  kann 
diesem  zwei  mögliclie  Tendenzen  geixjn.  Entweder  man  nimmt  an: 
die  KlementarphiluHophie  int  aU  der  Grund  der  metaphyHiHcheu  Er- 
kerujtnis  von  gleielier  Modalität  wie  diese,  also  apriorisch  —  darau» 
folgt  da.s  erkennt iiistheoretisehe  System,  wie  ea  Fichte  in  der  Wissen- 
Bcliaftslehre  aushaut.  Oder  man  bleibt  Ix'i  den  Tatsachen  und  sagt: 
Wissenschaft  vom  Vorstellungsvermögen  ist  empirisch;  und  daa  aus 
ihr  Bewiesene  muÜ  mit  ihr  modalisch  gleichartig  sein  —  dann  syste- 
matisiert sich  Keinholds  Fehler  im  psychologischen  Genetismua 
Bcnekes.  Also:  als  tiefster  Ursprungsort  der  noch  lieute  sich  Ije- 
fehdenden  Ix-iden  Erkenntnistheoreme,  des  Transzendentalismus 
und  des  Psychologismus,  liegt  in  der  Historie  der  nachkantischen 
Pliilosophic  hier,  bei  Keinhold,  der  Denkfehler  vor:  daß  eine 
Wissenschaft  möglich  sei,  die  das  konstitutive  Funda- 
ment der  Philosophie  zum  Inhalte  hat.  In  dieser  mit  sorg- 
samer Schürfe  herausgearbeiteten  Tatsache  sehe  ich  den  Schlüssel  zur 
(Jesciiichte  der  nachkantischen  Erkenntnislelire;  sie  erschließt  zum 
ersten  Male  definitives  Verständnis  des  historischen  Entstehens 
der  erkenntnistheoretischen  Diskrepanzen  bei  den  Nachfahren 
Kants. 

Von  den  zwei  möglichen  Ausbauten  des  Reinholdschen  Fehlere 
ist  der  eine  der,  dali  die  Apriorität  der  Elementarphilosophie  be- 
hauptet wird.  Hier  systematisiert  sich  das  »transzendentale  Vor- 
urteil«, wie  es  Fries  treffend  nennt;  man  sieht  die  Bahn,  die  Fichte 
beschritt.  Fichte  übernimmt  Reinholds  Forderimg  eines  obersten 
Grundsatzes  der  gesaniten  Philosophie,  setzt  aber  den  Regreßversuch 
Reinholds  noch  über  dessen  Prinzip  des  Bewußtseins  fort.  Über 
dem  Begriffe  der  Vorstellung  noch  stehe  der  der  »Tathandlung«. 
Auf  diese  aber  dürfen  die  Kategorien  noch  nicht  angewendet  werden; 
sie  sind  ja  ein  erst  Abzuleitendes;  es  handelt  sich  also  um  ein  Tun 
ohne  Tuendes;  jegliche  Beziehung  auf  das  Subjekt  hat  auszuscheiden. 
Dieses  Tun  ist  das  »Ich«.  Im  Ich  über  fallen  Subjekt  und  Objekt 
zusammen;  sie  sind  »gleich  ursprünglich  in  der  Ichheit  verbunden«»). 
Aus  dem  Satze:  »Ich  =  Ich«  geht  »die  ganze  Philosophie  hervor«; 
aus  ihm  vernuig  die  Wissenschaftslehre  »allen  möglichen  Wissen- 
schaften nicht  die  Form  allein,  sondern  auch  den  Gehalt  zu  geben«*». 

Hier  also  die  Forderung  echten  dogmatischen  Ix>gizismus,  aus 
einer  analyliselien  Vergleichungsformel  tlas  gesamte  Wissen  ab- 
zuleiten! Dazu  kommt,  daß  Fichte  als  einziges  Begründungs- 
verfahren den  Beweis  hinstellt  ^)  und  die  für  den  Logizisten  ja  un- 
vermeidliche   Folgerung    zieht,    willkürlicher    Reflexion    die    letzte 

>)  Wirko.     B«l.  II      S.  442. 

«)  Wirke.     B4l.  I.     S.  m. 

»)  Kbondn.     IW.  I.     Ü.  TfOS.     Bd.  11.     <!.  253ff. 


40    Vorbereitende  Einführung  in  die  ailgem.  erkenntniskritisclicn  Grundlagen. 

Entscheidung  über  die  Grundsätze  des  Sytems  zu  überlassen.  Indes 
fühlt  er  die  Undurchführbarkeit  seines  Weges;  ja  er  erkennt  gar 
Reflexion  als  ein  an  sich  leeres  Formalvermögen  i).  So  stößt  er  doch 
auf  ein  »unmittelbares  Bewußtsein«,  eine  »Selbstbeobachtung«,  mit 
der  er  die  ersten  Ausgänge  seines  Systems  begründet,  mit  der  er 
»wahrnimmt«,  daß  neben  freien  Vorstellungen  auch  solche,  die  vom 
Gefühl  der  Notwendigkeit  begleitet  werden,  in  uns  auftreten.  (Nach 
dem  .Grunde  des  Systems  dieser  Vorstellungen  fragt  er  ja.)  Und 
immer,  wenn  Reflexion  nicht  ausreicht,  greift  er  zu  dem,  »was  sich 
nur  innerlich  anschauen  läßt«,  zum  »unmittelbaren  Bewußtsein« 
zurück.  Ist  das  nicht  aber  krasser  Psychologismus?  Fichte  beugt 
dem  vor:  dies  »unmittelbare  Bewußtsein«  ist  kein  empirisches.  Das 
heißt:  bei  Fichte  hat  die  philosophische  Erkenntnis  ihr  konstitu- 
tives Prinzip  in  der  Selbsterkenntnis;  philosophische  Erkenntnis  ist 
intellektuell  (rational),  Selbsterkenntnis  ist  unmittelbar  anschaulich. 
Fichte  lehrt  also  die  intellektuelle  Anschauung. 

Indes  zeigt  psychologische  Selbstbeobachtung  denn  doch,  daß  so 
etwas  wie  unmittelbare  Selbsterkenntnis  der  inneren  Erfahrung  an- 
gehört; und  daß  andererseits  das  Bewußtsein  um  die  philosophische 
Erkenntnis  ein  mittelbar  reflexionelles  ist.  Fichtes  Lehre  wider- 
spricht den  Tatsachen. 

Fichte  identifiziert  sein  genanntes  Problem  bekanntlich  mit  dem 
des  Verhältnisses  von  Erkenntnis  und  Gegenstand:  »Wie  hängen 
unsere  Vorstellungen  mit  ihren  Objekten  zusammen  ? «  Und  löst  es 
absolut  idealistisch  :»Das  Bewußtsein  des  Gegenstandes  ist  nur  ein 
nicht  dafür  erkanntes  Bewußtsein  meiner  Erzeugung  einer  Vor- 
stellung vom  Gegenstande  «2).  In  seiner  Begründung  dieser  Lösung 
ist  fast  jeder  Satz  falsch,  schief  und  zweideutig.  Uns  kommt  es  hier 
zunächst  auf  eine  Kritik  im  einzelnen  weniger  an,  hier  genüge  fol- 
gende allgemeine  Erwägung.  Angenommen,  Fichtes  Lösung  und 
das  darauf  Erbaute  stehe  fest,  so  gilt  also:  Das  »reine  Ich«  erzeugt 
das  »Sein«.  Dies  »reine  Ich«  ist  kein  persönliches,  ist  nicht  mein 
Ich;  das  wäre  ja  Psychologismus.  Ist  dem  aber  so,  wie  entsteht 
dann  der  Gedanke  meines  persönlichen  Ichs?  Offenbar  nur  ebenso 
wie  der  aller  äußeren  Realität.  Daraus  folgt,  daß  der  »Zusammen- 
hang dieses  Außer-uns  mit  uns  selbst  nur  ein  Zusammenhang  in 
unseren  Gedanken  ist  «3).  Also  haben  wir  innerhalb  des  vom  »reinen 
Ich«  erzeugten  »Seins«  gewisse  »denkende  Wesen«  von  nichtdenken- 
den (»Dingen«)  zu  unterscheiden.  Dieser  Unterschied  von  indivi- 
duellem Subjekt  und  Ding  ist  also  nur  ein  Erzeugnis  des  »reinen 
Ich«.  Aber  damit  ist  ja  das  Problem  gar  nicht  gelöst!  Es  steckt 
ja  vielmehr  hier:  wie  hängen  die  Vorstellungen  des  durch  das  »reine 
Ich«  erzeugten  denkenden  Wesens  mit  den  außer  ihm  befindlichen 
»Dingen«  —  deren  sonstige  Provenienz  ja  gar  nicht  interessiert  — 

1)  Ebenda.     Bd.  II.     S.  254. 

2)  Ebenda.     Bd.  II.     S.  221. 

3)  Werke.     Bd.  IJ.     S.  238ff. 


KrkenntuiBti ^  .        ruuiiitkhtikT  41 

zuHaniniou?  Ficlitca  »Lööuiig«  gibt  uu«  darf  zu  lo->.ii(l<-  l'robifui 
verdeckt,   doch  ubHoIut    UMgelötit,  auf»  neue  auf! 

JSoweit  Fichte.  Sein  Philosophem  in  alle  Tiefen  (un<l  Untiefen) 
nachzudenken,  int  hier  nicht  der  Ort,  wo  nur  die  Tendenz  nach- 
gezeichnet werden  sollte,  in  der  er  von  KantauH  weiterging.  Nelson 
hat  das  mühevolle  Cjeächäft  gründlich  besorgt.  Diese  gründliche 
Prüfung  FichtoM  durch  Nelson  ist  eine  hocherfreuliche  lieaktion 
auf  den  Geist  einer  Zeit,  in  der  es  möglich  wurde,  in  einem  flaciion, 
rhethorisch  schwülstigen,  unabgeklärten  Denkwerke  wie  dem  Fichteti 
einen  tiefen,  teuren  Besitz  zu  erblicken.  Diejenigen,  die  zum  Prei«e 
Fichtes  ihre  Stimme  am  lautesten  erhoben  haben,  sind  nun  am 
Worte;  es  ist  nicht  nur  aulk'rordentlich  interessant,  sondern  zugleich 
auch  ein  clementtircs  Gebot  wissenschaftlicher  Moral,  sich  mit  Nel- 
sons exakten  sachlichen  Argumentationen  auseinanderzusetzen:  sie 
strikt  zu  widerlegen   —  oder  einem  entlarvten  Idol  zu  entsagen^). 

Bei  Fichte  fand  sich  —  das  zeigte  sich  bereits  —  noch  keine  feste 
Bestimmung  darüber,  ob  die  (transzendentale)  Kritik  (oder  Wissen- 
schaftslehrc  oder  dergleichen)  die  Quelle  ihrer  Erkenntnis  in  der 
Anschauung  oder  der  Reflexion  habe.  Seine  Nachfahren  entschieden 
sich;  Hegel  wäiilte  die  logizistischc,  Schclling  die  intellektuell- 
anschauliche  Seite  der  Alternative.  Damit  ist  ihr  jeweiliges  System 
im  Grundstock  festgelegt.  Begnügen  wir  uns  damit,  diese  Wurzeln 
aufzuweisen. 

Der  psychologiatische  Fortbildner  Kants  (oder  Reinholds)  ist 
Beneke.  Kr  erkennt  deutlicher  als  Kant  die  Leerheit  der  Re- 
flexion'). Ferner  ist  er  sich  über  die  sinnlich-empirische  Natur  der 
Anschauung  klar.  Aber  er  hat  noch  das  aristotelische  Vorurteil  der 
Disjunktion  der  Krkemitnis  in  Anschauung  und  Reflexion;  und  so 
folgert  er,  dali  alle  Wissenschaft  ozuletzt  aus  der  Erfahrung  schöpfen« 
müsse;  und  daß  '»eine  Piiilosophie  a  priori,  in  der  Form  von  Begriffen 
wie  in  der  Ftirm  von  Anschauungen,  ein  leeres  Phantom  sei«'). 

Jene  dogmatische  Disjunktion  führt  ihn  also  zum  empiristischen 
Psychologismus.  Wie  steht  nun  Beneke  zum  Werke  Kants?  Er 
fußt  auf  dem  Fehler  Reinholds;  er  verwechselt  den  Inhalt  der 
Kritik  —  die  er  mit  Recht  als  empirisch  anerkennt  —  mit  ihrem 
Gegenstande,  dem  Grunde  der  metaphysisciien  Grundurteilc.  Wenn 
man  mit  Kant  die  Modalität  der  letzteren  als  apriorisch  annähme, 
wäre  es  widerspruchsvoll,  sie  durch  empirische  Kritik  zu  begründen; 
da  aber  die  Kritik  zweifellos  empirisch  ist,  so  darf  man  die  meta- 
phjrsischen  Grundsätze  eben  nicht  als  apriorische  annehmen.  Sondern 

')  Auf  dioaen  1900  an  inaO^cbcndor  Stelle  vcrüIfontlichtcD  Aufruf  ist  natur- 
lich  HU»  d«"ni  LagtT  di-r  Fichtcancr  jede  Antwort  aungeblirbco.  Stall  drsam  h«t 
die  natioiml«'  HogrisU-ning  Fichte  im  Weltkrit>g  (örmhcb  iura  pracccplor  IJcr- 
maniar  ivu.igi -Hcbinuckt. 

*)  Kant  und  dir  (ihilotiophiiK-hc  Aufpnho  unMTtT  Zeil.  1832,  S.  12,  18. 
38,  02.     L«-hrburh  «I«t  l»Kik  oJh  Kunstl.  lin-  d.  s  D,nl,fi!..      1S3L\     .<:.  XIV. 

*)  Logik.     S.  (k>. 


42     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkeaatniskritischen  Grundlagen. 

ebenfalls  als  empirische.  Sein  Grundirrtum  ist  also  der,  daß  er  an- 
nimmt, die  kritische  Begründung  der  philosophischen  Erkenntnis 
müsse  den  Grund  dieser  Erkenntnis  enthalten.  Aber  auch  der 
Empirist  meint  »die  wahre  kantische  Lehre  «  zu  lehren  »nicht  seinem 
Buchstaben  nach,  sondern  seinem  Geiste  nach«  .  .  . 


V. 

Haben  wir  Nelson  so  die  Aufweisung  des  Grundes  der  Divergenz 
aller  erkenntnistheoretischen  Weiterbildner  Kants  in  einer  falschen, 
ihnen  allen  gemeinsamen  —  von  Kant  mit  seinen  wahrhaft  großen 
Entdeckungen  oft  unbewußt  vermengten,  von  Reinhold  zuerst 
deutlich  hingestellten  —  Voraussetzung  zu  verdanken,  so  schulden 
wir  ihm  gleichen  Dank  für  seine  klare  und  vollendete  Auflösung  der 
erkenntnistheoretischen  Verwirrnis,  die  jene  falsche  Voraussetzung 
hervorrief.  Alle  seine  früheren  Arbeiten  waren  schon  dieser,  von 
ihm  als  richtig  erkannten,  eigentlichen  Lösung  des  vernunftkritischen 
Problems  gewidmet;  und  so  sind  es  auch  die  letzten  Kapitel  dieses 
Werkes.  Was  Kant  angebahnt  hatte,  J.  F.  Fries  hat  es,  abgeklärt 
und  zielsicher,  beendet.  Ihm  verdanken  wir  den  reifen,  geläuterten 
Kritizismus,  in  dem  das  erkenntnistheoretische  Dogma  prinzipiell 
überwunden  ist. 

Schon  in  seiner  ersten  Schrift i)  hat  Fries  die  Frage  des  Zu- 
sammenhanges von  Kritik  und  System  der  metaphysischen  Grund- 
sätze beantwortet.  Er  erwägt  die  prinzipiell  denkbaren  Lösungen 
der  Frage  nach  dem  Grunde  der  metaphysischen  Grundurteile.  Aus 
irgendeinem  rationalen  Wissenschaftssystem  sind  sie  nicht  progressiv 
ableitbar:  sie  selber  sind  ja  die  allgemeinen  rationalen  Erkenntnisse. 
Induktiv  sind  sie  ebenfalls  nicht  beweisbar:  denn  bei  rationalen  Ur- 
teilen liegt  der  Gültigkeit  des  Besonderen  —  aus  dem  sie  erschlossen 
werden  müßten  —  immer  schon  die  des  Allgemeinen  zugrunde. 

Bleibt  die  Unmöglichkeit  eines  Beweises!  Und  die  Forderung, 
die  Grundsätze  als  unbeweisbar  an  der  Hand  der  Regel  aufzuweisen. 
Wie  eine  solche  Auf  Weisung  voliziehbar  sei,  ha-t  Kants  regressives 
Verfahren,  die  Abstraktion  vom  Einzelnen  zum  Allgemeinen,  gezeigt. 
Aber  der  Regreß  gewährleistet  nicht  die  Gültigkeit  des  Rechts- 
anspruches der  gefundenen  Grundsätze;  -denn  er  zeigt  ihren  Grund 
nicht  auf.  Eine  objektive  Begründung  dieser  Grundsätze  ist  jedoch  — 
das  sahen  wir  vorher  prinzipiell  —  nicht  möglich. 

Es  gibt  nur  zwei  Auswege:  entweder  auf  jede  Begründung  des 
Rechtsanspruches  zu  verzichten;  oder  aber  die  Spekula,tion  sub- 
jektiv zu  wenden;  und  die  Grundsätze  hinsichtlich  ihres  subjektiven 
Ursprunges  in  der  Vernunft  psychologisch  aufzuweisen.  Es  handelt 
sich  also  darum,  eine  psychologische  Theorie  über  die  Beschaffenheit 
der  erkennenden  Vernunft  zu  schaffen  und  aus  ihr  die  metaphysischen 


1)  Über  das  Verhältnis  der  empirischen  Psychologie  zur  Metaphysik.    1798. 


ErkenntniBthoorie  oder  Vernimltkritik  ?  43 

GniiidHiitz«-  zu  deduzieren  (Deduktion  im  .Sinne  der  oben  gemachten 
Ausfüllrungen).  Kine  Holclie  Tlieorie  fulit  auf  den  KrkenntnisHen  der 
inneren  Eifahrung.  Dieser  Gedankengang  ward  wehon  im  zweiten 
Teil  enlwiekelt.  Er  erklärt  auch  dius  Verhältnis  der  Philosophie  zur 
Psychologie:  Gegenstand  der  Kritik  ist  der  Grund  der  uietaphyBiächcn 
Grundsätze,  die  den  Inhalt  der  Metaphysik  bilden.  Inhalt  der  Kritik 
sind  psychologische  Sätze   von  assertorischer  Modalität. 

Der  Transzendentalismus  ist  so  beseitigt;  denn  es  ward  l>ewie8en, 
daß  ein  Beweis  der  allgemeinsten  metaphysischen  Sätze  aus  anderen 
rationalen  Sätzen  unmöglich  ist.  Und  der  Psychologismus  ist  be- 
seitigt; denn  es  ward  bewiesen,  daß  ein  induktiver  Beweis  metaphysi- 
scher  Grundsätze  unmöglich  ist. 

Und  Fries  beugt  sogleich  dem  Haupt  einwände  vor,  der  seit 
seinem  Wirken  mit  stetig  steigender  Verständni.slosigkeit  immer  wieder 
erhoben  worden  ist :  daß  sich  die  kritische  Deduktion  in  einem  Zirkel 
bewege.  Gewiß  muß  man,  um  eine  Theorie  der  Vernunft  zu  formen, 
die  Gesetze  der  Logik  und  überdies  die  »metaphysischen  Gesetze 
einer  möglichen  Erfahrung  überhaupt «  vorau.ssetzen  —  obwohl  es 
scheint,  »als  sollten  sie  erst  bewiesen  werden«.  Sie  sollen  al)er  gar 
nicht  bewiesen  werden!  Sollten  sie  das,  so  läge  tatsachlich  ein  Zirkel 
vor.  Was  aber  hier  geschieht,  ist  dies,  daß  die  Erkenntnis  a  priori 
als  eine  Qualität  unserer  geistigen  Organisation,  »als  zu  den  Zuständen 
meines  Gemütes  gehörig«,  nicht  aber  hinsichtlich  ihrer  objektiven 
Gültigkeit,  psychologischen  Ol^ersätzen  unterstellt  wird.  Die  De- 
duktion ist  kein  Beweis  der  Grundsätze  und  soll  auch  keiner  sein; 
darauf  kommt  hier  alles  an;  das  scheidet  sie  von  allem  Psychologismus. 

Rs  fragt  sich  nun  noch,  ob  diese  psychologische  Kritik  —  ihre 
Möglichkeit  zugegeben  —  für  die  Begründung  der  Metaphysik  not- 
wendig sei.  Man  könnte  ja,  wenn  sicli  auch  zur  kritischen  Theorie 
der  Vernunft  metaphysische  Voraussetzungen  nicht  umgehen  lassen, 
einfach  deren  System  frei  von  aller  empirischen  Beimischung  un- 
mittelbar aufstellen.  Das  möchte  so  sein,  wenn  es  nicht  ungeheuer 
schwierig  wäre,  diese  metaphysischen  Prinzipien  in  abstracto  rein 
und  systematisiert  herauszustellen.  Weit  leichter  und  naturgemäßer 
ist  es,  mit  ihnen  in  concreto,  an  gewöhnlicher  Erfahrung  angewandt, 
zu  arl>eiton;  weit  leichter  —  und  weit  l^sser  vor  Fehlern  bewahrend. 
Li  diesem  Gebrauche  haben  wir  den,  wie  Fries  es  bezeichnet,  »ein- 
zigen Standpunkt  der  Evidenz  für  spekulative  Dinge«. 

Man  hat  dagegen  einwenden  wollen,  daß  solche  kritiklose  Be- 
rufinig  auf  die  Erfahrung  dem  comnuin  sense  der  Keid,  Beattie  usw. 
die  olH>rsto  Kichterschaft  in  philosophischen  Dingen  ülx^rtrage.  Man 
täuscht  sich.  Der  common  sense  und  seine  empirischen  Urteile  ent- 
halten keineswegs  den  Grund  der  (iültigkeit  philosophischer  Sätze. 
Allerdings,  wo  dieser  Grund  gelegen  sei  —  um  diese  Frage  beant- 
worten zu  können,  müssen  wir  unsere  Erkeinitnis  ihrer  Beschaffen- 
heit nach  zimächst  einmal  betrachten;  und  dies  ist  eine  Tätigkeit 
innerer  Erfahrung.    Mag  sein,  daß  diese  .Anknüpfung  ans  Empirische 


44     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

unser  Wollen  nicht  gegen  Irrtum  feit :  —  das  dürfte  wohl  in  keinem 
Wissensgebiete  anders  sein.  Sicherlich  am  wenigsten  im  kritiklos 
phantastischen  Kartenhausbau  dogmatischer  Dialektik. 

Im  zweiten  Teile  wurde  das  hypothetische  Urteil  bewiesen:  wenn 
es  synthetische  Urteile  a  priori  aus  Begriffen  gibt,  so  muß  deren  Grund 
in  einer  nichtanschaulichen  unmittelbaren  Erkenntnis  liegen.  In 
diesem  Teile  wird  nunmehr  der  direkte  Existenzbeweis  dieser  un- 
mittelbaren Erkenntnis  nichtanschaulicher  Art  erbracht,  und  zwar 
psychologisch-empirisch  erbracht.  Die  Psychologie  lehrt,  als  Mittel 
der  Erkenntnis  sei  uns  Sinn,  Assoziation  und  Reflexion  gegeben. 
Die  Reflexion  nun  läßt  sich  auf  willkürliche  Assoziation  unter  Leitung 
der  Aufmerksamkeit  zurückführen.  Sind  diese  Mittel,  Sinn  und 
Assoziation,  zulänglich,  um  synthetische  Urteile  a  priori  aus  bloßen 
Begriffen  zu  ermöglichen?  Es  läßt  sich  beweisen,  daß  sie  das  nicht 
sind.  Daraus  folgt  dann  notwendig  die  Existenz  einer  nichtanschau- 
lichen unrefiektierten,  also  unmittelbaren  Erkenntnis  als  Grund  der 
synthetischen  apriorischen  Urteile  aus  Begriffen.  Der  Beweis  soll 
aus  empirischen  Daten  erbracht  werden.  Nun  ist  die  Apodiktizität 
von  Urteilen  kein  empirisch  feststellbares  Faktum;  sondern  nur  der 
Anspruch  gewisser  Urteile  auf  Apodiktizität.  Wir  stellen  also  em- 
pirisch fest,  daß  wir  im  Besitze  gewisser  Urteile  sind,  die  einen  An- 
spruch auf  Apodiktizität  enthalten.  Wie  ist  dieser  Anspruch  psycho- 
logisch möglich?  Die  Frage  ist  in  dieser  Form  (für  den  Satz  der 
Kausalität)  zum  ersten  Male  von  Hume  gestellt  worden.  Hume 
führt  diesen  Anspruch  auf  das  psychologische  Gesetz  der  Erwartung 
ähnlicher  Fälle  zurück;  glaubt  ihn  also  als  eine  durch  Assoziation 
entstandene  psychologische  Gewohnheit  erklären  zu  können.  Das 
ist  aber  falsch.  Wenn  ich  eine  Vorstellung  habe,  so  können  durch 
sie  andere,  auf  sie  irgendwie  bezogene  Vorstellungen  reproduktiv  in 
Erinnerung  gebracht  werden:  dieser  Nexus  ist  Assoziation.  Asso- 
ziation ist  die  Reproduktion  eines  früheren  Vorstellungskomplexes 
durch  einen  neuen.  Nie  aber  enthält  sie  bereits  irgendeine  Erwar- 
tung. Denn  die  Möglichkeit  einer  Erwartung  enthält  bereits  die 
Vorstellung  einer  objektiven  Verknüpfung;  Assoziation  aber  ist  nur 
eine  subjektive  Verbindung  von  Vorstellungen.  Also  ist  die  »Er- 
wartung ähnlicher  Fälle  «  durch  Assoziation  nicht  zu  fundieren.  Nun 
ist  die  Vorstellung  einer  objektiven  Verbindung  aber  ein  unbezweifel« 
bares  psychologisches  Faktum.  Dies  Faktum  wäre  nicht  möglich,, 
wenn  unsere  Erkenntnismittel  nur  in  Sinn  und  Assoziation  bestünden. 
Es  muß  also  einen  besonderen  Grund  dafür  geben;  und  dieser  Grund 
ist  die  unmittelbare  nichtanschauliche  Erkenntnis.  So  ergibt  sich, 
im  Wege  steter  Empirie,  ein  »von  allem  Verdacht  spekulativer  Täu- 
schung befreites  Kriterium«  (Fries),  das  die  Existenz  einer  nicht- 
anschaulichen unmittelbaren  Erkenntnis  beweist. 

Es  sei  wiederholt:  Über  die  objektive  Gültigkeit  metaphysischer 
Urteile  macht  die  psychologische  Kritik  gar  nichts  aus.  Objektive 
Gültigkeit  wird  für  die  unmittelbare  Erkenntnis  der  reinen  Vernunft, 


?>kenntautbeorio  oder  Vemunf  tkritik  ?  45 

auB  der  jene  Urteile  kritisch  deduziert  werden,  schon  vorausgesetzt. 
Denn  aller  Zweifel  nachträglicher  Reflexion  an  der  objektiven  Geltung 
der  unmittelbaren  Erkenntnis  setzte  diese  zu  seiner  eigenen  Möglich- 
keit schon  voraus!  Freilich  steht  für  das  Recht  dieser  Voraushetzung 
die  Kritik  nicht  ein.  Die  Ik<rufung  auf  dos  faktische  »Seibetvertrauen 
der  \'ernunft  «  ist   vielmehr  ihr  olx;rster  (Jrundsatz. 

Was  also  die  Kritik  eigentlich  leistet,  ist  das.  sie  deduziert  durch 
den  Existenzlx?weis  der  unmittelbaren  Erkenntnis  der  reinen  V^er- 
nunft  die  Möglichkeit  einer  Metaphj'sik.  Gerade  al>er  das  suchte 
Kant  mit  seiner  Krage:  Wie  synthetische  Urteile  a  priori  aus  bloßen 
Begriffen  möglich  seien.  Sie  also  löst  das  Problem  streng  wissen- 
schaftlich und  eindeutig. 

Diese  große  Entdeckung  von  Fries,  wie  sie  die  Fehler  der  kan- 
tischen und  nachkantischen  Erkenntnistheorien  klar  heraushebt, 
ermöglicht  zugleich  in  ihrem  .systemati.schen  Ausbau  die  Anbringung 
der  Korrekturen  an  Kants  kritischem  Werke.  Sie  beseitigt  den  for- 
malen Idealismus,  sie  gibt  eine  richtige  Begründung  des  transzenden- 
talen Idealismus,  sie  ermöglicht  eine  spekulative  Begründung  der 
Ideenlehre.  Dem  sei  hier  nicht  gefolgt :  es  hieße  das  Lebenswerk 
des  großen  Denkers  in  einige  Zeilen  pressen. 

Vielleicht  aber  regen  diese  Ausführungen  die  zeitgenössischen 
Forscher  dazu  an,  dies  Lebenswerk,  ein  Denkmal  deutschen  Geistes, 
wieder  der  Vergessenheit  zu  entreißen  und  zu  studieren.  Den  Gewinn 
davon  wird  unsere  Forschung  haben,  auf  welches  Gebiet  sie  sich  auch 
erstrecken  möge. 


Geleitworte  zum  zehnjährigen  Bestehen  der  neuen 
Friesschen  Schule  (1913). 


Eingedenk  der  Bedeutung  dessen,  was  uns  als  Aufgabe  gesetzt 
und  Ziel  unserer  Arbeit  ist,  und  erfüllt  vom  Gefühl  unserer  Verant- 
wortung: so  legen  wir  Anhänger  der  philosophischen  Lehre  von 
Jacob  Friedrich  Fries  im  zehnten  Jahre  unserer  Arbeitsgemein- 
schaft Rechenschaft  ab  über  deren  Ziel,  Sinn  und  Form.  Und  erneut 
rufen  wir  uns  an  diesem  Zeitpunkt  ins  Bewußtsein,  welche  Stellung 
wir  innerhalb  der  geistigen  Kräfte  und  Richtungen  des  gegenwärtigen 
Zeitalters  unserer  Schule  beimessen. 

Der  Schule  —  wir  bilden  in  der  Tat  und  mit  Wissen  und  Willen 
die  Gemeinschaft  einer  Schule.  Wir  wissen  uns  in  direkter  innerer 
Kontinuität  mit  jenem  ersten  Schülerkreise,  den  der  Schöpfer  und 
Gestalter  unserer  philosophischen  Überzeugungen  um  sich  einte, 
noch  als  ihm  das  öffentliche  Lehramt  der  Philosophie  von  der  ängst- 
lichen Brutalität  eines  um  seinen  eigenen  Fortbestand  allzu  besorgten 
politischen  Quietismus  entzogen  worden  war:  des  Kreises  von  Schü- 
lern, als  dessen  Vertreter  Männer  wie  Schieiden,  Schlömilch, 
Apelt,  de  Wette,  Sclimid  und  Mirbt  noch  der  heutigen  Nach- 
welt sichtbar  sind.  Wie  diese  Männer  mit  der  Bezeichnung  als  Schule 
neben  der  sachlichen  Gefolgschaft  noch  eine  Beziehung  persönlicher 
Pietät  vor  dem  großen  Denker  zum  Ausdruck  brachten,  der  einsam, 
von  den  damals  regierenden  geistigen  und  politischen  Mächten  ge- 
hässig in  einen  fast  resonanzlosen  Hintergrund  gedrängt,  stillwirkend 
und  innerlich  unangefochten  an  dem  Lehrgebäude  schuf,  dem  wir 
anhängen:  so  ist  es  auch,  seit  den  Tagen  unseres  Zusammenschlusses, 
unser  ausdrückliches  Streben,  uns  als  seine  Schüler  zu  fühlen  und 
seine  Schüler  zu  sein.  Seine  Schüler  zu  sein:  in  der  eigenen  Er- 
arbeitung dessen,  was  er  geschaffen  hat,  und  in  dessen  Fortbildung 
und  Festigung  besteht  die  einzige,  aber  alles  umgreifende  Pflicht, 
die  einem  jeden  von  uns  gesetzt  ist.  Als  seine  Schüler  uns  zu  fühlen: 
das  Bewußtsein  des  Wertes  dessen,  was  wir,  in  gleichgerichteter 
Arbeit,  von  ihm  empfangen  haben,  das  Wissen  um  die  Stärke  und 
Sicherheit  des  Besitzes  und  um  die  Größe  der  Aufgabe,  dieses  beides 
schließt  uns  zu  einem  Ganzen  zusammen  und  stellt  uns,  eine  Geistes - 
gemeinschaft,  verehrend  und  voll  Dankes  vor  das  Bild  seiner 
geistigen  Persönlichkeit,  deren  Leben  und  Wollen  uns  Vorbild  ist, 
wie  seine  Lehre  der  Quell  unserer  Sicherheiten. 


Geleitwort«  tum  xebnjilirigen  Bwtehen  der  oouen  Friedlichen  Schule  (1013).     47 

Wir  brauchleii  diese  Haltung  —  vor  ihm  und  zueinander  —  nicht 
/,u  rechtfertigen.  HäniiHche  Glossen,  wie  »ie  jemand  von  außen  her 
wider  die  »Schule«  aufbrachte,  lafiHon  uns  gleichgültig.  Und  in  dem 
vt'rflo.'^senen  .Iiihrzeiint,  da  wir,  unter  der  liingebcnden  tind  opfer- 
vollen Führerseliuft  Nelsons,  die  Lehre  Fries'  in  uns  aufnehmen 
und  zur  Weiterwirkung  bringen  durften,  da  die  innere  Arbeit  an 
uns  und  die  Niederlcgung  der  rein  wissen-schaft liehen  Früchte  der- 
selben un.scre  einzige  Wirkungsform  war,  da  wir  keine  25cit  und  keinen 
Wunsch  hatten,  Meinungen  einer  zufälligen  (iegonwart  zu  beachten  — , 
hat  uns  jeder  N'ersueii,  unser  Seinsrecht  als  Arbeitsgemeinschaft  vor 
der  (Hfenlliehkeit  darzutun,  absolut  ft;rngelegen.  Nunmehr  alx;r  ist 
vielleicht  die  Zeit  gekommen,  in  künftiger  Arljcit  das,  was  wir  er- 
worUm  haben  und  heute  besitzen,  auch  anderen  zu  übermitteln, 
denen  die  Vielfältigkeit  der  zufällig  gerade  herrschenden  Philoso- 
pheme  und  die  Ansichten,  die  ihre  Vertreter  an  den  Hochschulen 
über  Fries'  Lehre  verbreiten  oder  —  verschweigen,  den  Zutritt 
zum  Werke  Fries'  bisher  versperrten.  Es  soll  in  Zukunft  nicht 
mehr  dem  Zufall  überlassen  sein,  ob  ein  denkender  Mensch 
dies  Werk  kennen  lernt  oder  nicht! 

Mit  dieser  Zwecksetzung  rechtfertigen  wir  die  Form  uuaere« 
Bestehens. 

Die.se  Form  liat,  schon  rein  äußerlich  betrachtet,  gerade  in  den 
Arbeitsweisen  gegenwärtiger  philosophischer  Richtungen  einige  be- 
merkenswerte Analogien.  Fast  alle  diese  treiben,  unausgesprochen 
und  oft  nur  halb  der  Tragweite  und  des  Zieles  bewußt,  in  den  letzten 
Jahren  auf  eine  Form  von  Organisation  hin,  welche  die  neue 
Friessche  Schule  sich  von  Anfang  nn  mit  Bewußtsein  vorgesetzt 
hat,  noch  zu  einer  Zeit,  als  im  philosophischen  Denken  allein  das 
Individuum  und  die  Originalität  bewertet  wurde:  auf  die  organisierte 
(.Jemeinsehaftsarbcit,  auf  die  Schulbildung  —  welchen  Namen 
uiun  ihr  auch  geben  mag. 

So  war  der  Marburger  Transzendentalismus,  der  sich  neukan- 
lisch  nennt,  seit  den  Tagen  der  älteren  Friesschulo  vielleicht  das 
erste  in  sich  abgeschlos-sene  Philosophem,  dessen  Lehre  sich  um  daa 
Werk  und  das  Wirken  einer  Persönlichkeit  konsolidierte.  Die 
Hinsicht  in  Irrtümer  jenes  Philosophems  wird  uns  nicht  abhalten, 
die  ethisch- werbende  Kraft  jenes  V^erhältnisses  von  Lehrer  und  Schule, 
wie  es  in  Marburg  geherrscht  hat,  zu  würdigen.  Wir  glauben  freilich, 
gerade  von  der  Persönlichkeit  des  philosophisclien  Lehrers  sollte  zu 
fordern  sein,  daß  sie  hinausrage  ülx'r  die  Gegenwart,  in  der  seine 
Schüler  stehen,  daß  sie  über  ihr  sei  und  niclit  in  ihr,  sich  noch  wan- 
delnd, unabgeschlossen,  irrend.  Um  das  Bild  des  Vollendeten,  des 
\'erklärt(«n  muß  die  Organisation  sich  kristallisieren  können,  wie 
durch  einen  notwendigen  Naturprozeß  historischen  Geschehens,  mit 
innerer  Notwendigkeit  und  organisch  erwachsend.  Das  war  Aristo- 
teles dem  philosopischen  Geiste  des  Mittelalter»;  daa  ist  Karl  Marx 
der  Sozialist ischon   Bewegung  der  Gegenwart. 


48     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

Wir  werden  nicht  untersuchen,  wie  weit  der  Kreis  der  Marburger 
Forscher  diesen  Postulaten  der  wahrhaften,  idealen  Schule  sich  an- 
näherte. Lange  Jahre  hindurch  war  er  jedenfalls  der  einzige,  dessen 
aktuelles  Wirken  dem  der  Schule  wenigstens  äußerlich  glich.  Dann 
trat  vor  einigen'  Jahren  eine  andere  Strömung  individualer  Kultur 
hervor,  mit  dem  Anspruch,  ein  Weltbild  zu  bieten  und  ein  sittliches 
Gebot  zu  diktieren,  deren  Vertreter  sich  ebenfalls  als  ein  Kreis  von 
Schülern  um  eine  schöpferische  Persönlichkeit  scharten  als  um  ihr 
Zentrum:  der  Kreis  um  Stefan  George.  Aber  was  den  Kreis  der 
Anhänger  dieses  großen  Dichters  auf  immer  aus  dem  Bereiche  wahr- 
haft philosophischen  Geistes  ausschließt,  das  ist  die  Heteronomie 
der  Prinzipien  des  Weltbegreifens  und  der  sittlichen  Gesinnung,  die 
ihn  durchherrscht.  Stefan  George  ist  nicht  der  Lehrer,  er  ist  der 
Meister.  Er  hat  nicht  Schüler,  sondern  Jünger.  Sie  erarbeiten  nicht, 
als  autonome  Persönlichkeiten  und  mit  innerer  Freiheit,  was  er  als 
Gebot  und  sittliche  Norm  entäußert,  sie  nehmen  es  hin  und  halten  es 
für  verbindlich,  weil  er  es  entäußert  hat.  Nicht  die  autonome  Ver- 
nunft des  Einzelnen  ist  der  Rechtsgrund  der  Prinzipien,  sondern  der 
Glaube  an  einen  Menschen.  Gewiß  ist  es  sinnlos  und  ungerecht,  in 
Georges  schöpferisch  gestaltetem  Weltbild  das  eines  Ästheten  zu 
sehen:  dies  aber  ist  schlimmster  Ästhetizismüs,  daß  der  Glaube  der 
»Jünger  «  an  diesen  empirischen  Menschen  sich  eine  religiöse  Geberde 
leiht,  um  sich  wirksam  zu  machen,  um  die  eigene  dogmatische  Halt- 
losigkeit mit  einer  gewaltsamen  Mystik  zu  umkleiden.  Diese  Haltung 
widerstreitet  echter  Religiosität  ebenso  wie  dem  Geiste  wahrer  Philo- 
sophie und  dem  Wesen  schulmäßiger  Gemeinschaft.  Aber  auch  hier 
bleibt  zum  Mindesten  äußerlich  die  schulähnliche  Gemeinschaft  ein 
bemerkenswerter  Hinweis. 

Und  gerade  in  der  jüngsten  Zeit  ergreift  diese  Tendenz  zu  einer 
wenigstens  äußerlichen  Organisation  selbst  solche  philosophischen 
Richtungen,  die  ihr  dem  Wesen  nach  ganz  ungemäß  sind.  So  ist 
gewiß  die  gegenwärtige  »Kulturphilosophie«  aller  Scliattierungen  in 
ihren  Arbeitsweisen  heute  noch  genau  so  individual  zerfallen,  wie  es 
ihre  Inhalte  und  Ansprüche  seit  Beginn  ihrer  Ausbreitung  waren. 
Noch  haftet  ihr  das  Merkmal  an,  innere  Verwandtschaften,  die  sich 
zwischen  einzelnen  ihrer  Träger  zeigen,  eher  zu  lockern  und  durch 
Trennmauern  dem  Blicke  zu  verbergen,  als  zum  Fundamente  gemein- 
samer Weiterarbeit  zu  machen.  Jeder  dieser  Forscher  legt  Wert 
darauf,  daß  seine  Eigenart  weithin  sichtbar  sei.  Und  selbst  diese 
dissoluteste  aller  philosophischen  Strömungen  hat  sich  nunmehr  eine 
Art  gemeinsames  Bette  gegraben:  im  »Logos«,  dem  Orte,  wo  ihre 
Autoren  an  die  Öffentlichkeit  treten. 

Ebenso  handelten  andere  philosophische  Gemeinschaften  der 
Gegenwart.  Von  den  lärmenden  monistisclien  Organisationen  wollen 
wir  schweigen.  Aber  z.  B.  gründete  sich  unlängst  der  deutsche  Po- 
sitivismus  eine  Stätte  organisierten  Zusammenwirkens.  Die  Gesell- 
schaft für  positivistische   Philosophie  entstand;   hier  sollen  unsere 


Geleitworte  zum  zehnjahrigtii  Be«t«'hcn  d<T  neuen  Frieawhen  Schule  (1913).     49 

l)e(ieutciuli-n  Nut iirfcirscluT  und  Mathciimtikcr,  diTen  exakte  Kinzel- 
tdrschung  da«  VVertvoIlHto  und  vielleiclit  allein  Dauernde  iwt,  was 
da«  wisHenseluift liehe  Deutsehland  »iimerer  Tage  hervorbringt,  für 
ihr  unciune.standenes  luetaphysisehes  Hediirfni.n  das  Surrogat  einer 
l'.'friedi^uMj^  erhalten,  das  sie  nieht  mit  ihrer  all/.u  vorsiehtigen  SelbMt- 
l>'»scliräiikung  hinsieht  lieh  der  tiefstiMi  inenschliehen  Probleme  in 
Konflikt   bringt. 

Und  aueh  die  jüngste  aufgekoiMMiinc  Rieht ung  philosoplüscher 
ArlH'it,  die  phänomenologisehc,  steht  im  liegriff  sieh  zu  organisieren. 
l'ViMlieh  weist  ihr  Führer  fast  noch  entschiedener  als  jene  der  anderen 
-ich  herausschälenden  (Jegenwartstendenzen  gemeinsamer  philo- 
-ophiseher  Arbeit  den  Gedanken  der  Schule  ab:  Es  sei  nieht  ein 
Sehulsystem,  das  hier  Gleichgerichtete  verbinde  und  »das  gar  bei 
allen  künftigen  Mitarlx>itern  vorausgesetzt  werden  soll;  was  sie  ver- 
eint, ist  vielmehr  die  gemeinsame  philosophische  Ül>erzeugung«  .  .  . 
Und  nun  wird  als  Inhalt  der  gemeinsamen  philosophischen  Über- 
zeugung ein  so  fundamentaler  methodischer  und  systematischer  Leit- 
gedanke angegeben,  daß  man  erstaunt  die  Zurückhaltung  bedenkt, 
die  hier  nicht  zur  voll  ausklingenden  Konsequenz  organisierten  ge- 
meinsameix  Wirkens  sich  zu  entschlicUen  in  der  Lage  ist. 

Es  ist  in  der  Tat  eine  falsche  Vorsicht,  die  in  diesen  Beispielen 
da.s  Ergriffensein  von  einem  Gedanken  meistert,  der,  nach  der  Mei- 
nung seiner  Erzeuger,  an  Reichtum  und  Tragkraft  über  den  einzebien 
Menschen  hinauszureichen  bestimmt  ist.  Oder  es  besteht  dieses 
Ergriffensein  gar  nicht :  und  was  spräche  mehr  wider  den  Gedanken! 

II. 

Doch,  daü  wir  eine  Schule  sind  und  sein  wollen,  ist  nicht  etwa 
die  Gebärde  einer  unklaren  Begeisterung;  so  wenig  wie  es  bloße  Xach- 
ahmung  der  zur  äußeren  Organisation  hint reil>enden  Tendenz  ist, 
die  wir  an  Beispielen  in  der  pliilosophischen  Gegenwart  auffanden. 
Was  wir  am  Beispiel  einiger  gegenwärtiger  Piiilosopheme  äußerlich 
als  Tatsache  ihrer  Bearl>eitungswei.so  feststellten,  was  wir  selbst 
ferner  zu  verwirklichen  lx»strebt  sind,  hat  sein  sicheres  Fundament 
innerer  (Jründe.  Nelson  hat  uns,  in  den  Werdezeiten  unserer  Orga- 
nisation, oft  genug  diese  (Jrümle  ihrer  Bildung,  die  Gründe  der  Zweck- 
mäßigkeit jedes  schulmäßigen  wissenschaftlichen  Philosophierens,  an 
«lie    Hand  gegeben. 

Wir  wollen  Philosophie  als  strenge  Wi.ssensehaft .  Das  Wahrheits- 
prinzip aller  theoretischen  Wissenschaft,  das  Wertprinzip  un.seres 
Ix«l>ens.  die  N«irm  unseres  Verhaltens  sollen  einsichtig  und  von  all- 
gemeiner (ieltung  sein:  dieser  .Vnsprueh  liegt  in  ihrem  Begriff.  All- 
gemeingültige Einsichten  zu  In^gründen  ist  .AufgalK»  der  Wissen- 
schaft. Nur  diejenige  Antwort  auf  die  philosophischen  (trundfragen, 
die  spekulativen  wie  die  praktischen,  erkennen  wir  an.  welche  diesem 
Anspruch  auf  systematische  Wahrheit  genügt.     Das   kann  nur  eine 

Kronfrld,  I'ayrhUtriM-hc  Krkrnntnia.  4 


50    Vorbereitende  Einführung  in  die  aUgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

einzige  sein;  und  es  muß  eine  sein!  Sie  zu  erreichen,  erfordert  eine 
ungeheure  Vorarbeit.  Die  Kriterien  dieser  Wahrheit  sind  zu  ent- 
wickeln; die  Vernunft  ist  zu  prüfen,  wieweit  sie  diesem  tiefsten  aller 
Probleme  genugzutun  vermag.  Diese  Vorarbeit  umfaßt  die  gesamte 
Erkenntnislehre ;  sie  vollzieht  sich  in  den  Klritiken  der  Vernunft. 

Die  Forderung  der  Einheit  und  der  systematischen  Wahrheit 
philosophischer  Wissenschaft  führt  uns  zur  Ablehnung  jeder  Mög- 
lichkeit, Philosophie  etwa  durch  das  Studium  ihrer  Geschichte  zu 
lernen.  Der  Historiker  der  Philosophie  kann  sein  Material,  die  Be- 
hauptungen der  aufeinander  abfolgenden  Philosopheme,  gar  nicht 
auf  die  einzig  wesentliche,  für  unser  geistiges  Leben  bedeutungsvolle 
Frage  hin  prüfen:  ob  sie  wahr  oder  falsch  sind.  Denn  dazu  müßte 
er  jene  Kriterien  von  wahr  und  falsch  bereits  besitzen,  die  das  Stu- 
dium der  Geschichte  ihm  erst  erschließen  soll.  Durch  faktische  Fest- 
stellungen historischer  Art  kommt  man  der  philosophischen  Wahr- 
heit um  keinen  Schritt  näher.  Im  Gegenteil:  jene  vielfach  befolgte 
Methode,  Philosophie  aus  ihrer  Geschichte  heraus  zu  verstehen, 
ergibt,  wie  Nelson  uns  oft  gezeigt  hat,  nur  zu  sicher  ein  unwürdiges 
Bild  von  der  Philosophie,  in  dem  man  keinerlei  Fortschritt  der  Er- 
kenntnis entdeckt,  sondern  nur  eine  Abfolge  von  Systemen,  deren 
jedes  dem  vorangehenden  widerstreitet.  Dieser  Aspekt  ist  die  psycho- 
logische Quelle  der  Abneigung  aller  exakten  Einzelforscher  wider  die 
Philosophie  und  der  Grund  der  gänzlichen  Ohnmacht  und  Einfluß- 
losigkeit  derselben  gegenüber  dem  praktischen  und  politischen 
Geisteslebens  der  Gegenwart.  Was  ist,  fragen  die  hier  stehenden 
Laien,  deren  philosophische  Interessierung  ein  unabsehbarer  Gewinn 
für  die  Hebung  des  geistigen  Gesamtniveaus  wäre,  von  einer  Abfolge 
widersprechender  Terminologien  an  eindeutiger  Bereicherung  für 
Rechtssetzung  und  Staatsleitung,  für  Naturerkenntnis,  Kunstver- 
stehen, religiöse  Überzeugung  und  Seelenbildung  denn  zu  erwarten? 
Und  sie  gleichen  damit  dem  Kallikles  Piatons  (Gorgias,  Kap.  40), 
der  sich  »gegenüber  den  Philosophierenden  genau  in  derselben  Lage 
befindet  wie  gegenüber  solchen,  die  stammeln  und  spielen«.  Tat- 
sächlich ist  nun  ganz  gewiß  die  Geschichte  des  philosophischen  Den- 
kens gar  nicht  so  unbefriedigend;  es  gibt  in  ihr  wie  in  der  Geschichte 
aller  Wissenschaften  einen  Fortschritt  der  Einsicht;  nur  kann  man 
diesen  natürlich  nicht  bemerken,  wenn  man  nicht  schon  einen 
Maßstab  für  die  Beurteilung  philosophischer  Leistungen 
besitzt. 

Diesen  Maßstab  erreicht  und  verbürgt  allein  die  kritische 
Selbstbesinnung  der  autonomen  Vernunft.  Philosophieren: 
das  ist  Selbstdenken.  Es  steht  in  geradem  Gegensatz  zum  Erlernen 
des  von  anderen  Gedachten  auf  deren  historische  Autorität  hin. 

Aber  freilich,  diese  Forderung  des  Selbstdenkens  wird  oft,  und 
gerade  von  den  Historikern  der  Philosophie  zuerst,  verwechselt  mit 
der  falschen  Forderung  einer  Originalität.  Verwechselt  wird  die 
Selbständigkeit  des  Denkens  mit  der  Eigenart  des  Gedachten.     Wo- 


Geleitworto  zum  rühnjahrigt-n  B««t«h«i  tliT  ncueu  I  ■  i  3).     51 

fern  ubci  Philosophie  nicht  anders  besteljen  sulI  denn  aU  Wlsscn- 
Hchaft,  kommt  e»  nicht  darauf  an,  daß  wir  anderes  denken  ab)  andere, 
sondern  darauf  allein :  daß,  was  wir  denken,  wahr  ist.  Würde 
diese  FordiTung  von  allen,  die  Philosophie  treiben,  erfüllt  sein,  so 
könnte  es  gar  nicht  anders  sein,  als  daß  notwendi^^  alle  inhaltlich 
Gleiches  dachten.  Dies  ist  das  Endziel;  dies  allein  das  zu  Erstrebende. 
Originalität  ist,  als  Forschungsmethode,  das  gerade 
Gegenteil  von  Wissenschaftlichkeit.  Die  Forderung  di*s 
Selbstdenkens  schlielit  nur  aus,  daß  wir  der  Autorität  üljerkommener 
Meinunu;  uns  hinpel>en;  nicht:  daß  wir  Belehrung  annehmen. 

Und  die  Belehrung  von  Generation  zu  Generation  enthält  allein 
erst  die  Bürgschaft  wissenschaftlichen  Fortschritts,  in  der  Philo- 
sophie wie  in  allen  übrigen  Wissenschaften.  Der  einzelne,  welcher 
vermeint,  ohne  alle  Rücksicht  auf  die  Geistesarbeit  der  vor  ihm  ge- 
wesenen Generationen  zum  Ziel  seiner  Problemlösungen  gelangen 
zu  können,  ermangelt  der  Selbstkritik. 

Man  ülx'rtrage  für  einen  .\ugeiiblick  diesen  Gesichtspunkt  auf  die 
Arbeit  des  einzelnen  etwa  in  irgendeiner  exakten  Naturwissenschaft: 
das  Bild,  welches  diese  Wissenschaft  böte,  wäre  grotesk!  Und  — 
es  sei  wiederholt  —  exakte,  strenge  Wissenschaft  im  Sinne 
dieser  vorbildlich  durchgcarIxMteten  Disziplinen  — :  so  oder  gar 
nicht   soll   Philosophie  sein! 

Belehrung  also,  die  das  Denken  des  Belehrten  nicht  autoritär 
bindet,  sondern  didaktisch  leitet  und  fördert,  schul  mäßige  Be- 
lehrung in  einer  Kontinuität  wissenschaftlichen  Arbeitens  mit  ge- 
wesenen und  zugleich  strebenden  Forschern:  dies  ist  Gewähr  und 
Bürgschaft  echter  Wissenschaftlichkeit  in  allen  Wissenschaften,  und 
damit  auch  in  der  Philosophie.  Hier  liegt  der  innere  Grund  der 
Notwendigkeit  für  die  Bildung  einer  Schule;  und  weil  sie  die  so  allein 
verbürgte  wissenschaftliche  Sicherung  und  systematische  Rundung 
ihres  philosophischen  Wollens  irgendwie  unausgesprochen  fühlen, 
darum  treiU'ii  zurzeit  alle  philosophischen  Strömungen  mehr  oder 
minder  geradlinig  auf  die  Schulbildung  zu. 

Freilich,  ohne  sie  mit  Bewußtsein  zu  erstreben.  Im  Gegenteil: 
man  wird  sich  berechtigt  fühlen,  den  einfachen  Gedankengang,  der 
uns  zur  Schule  gemacht  hat,  für  trivial  zu  erklären  und  mit  Ein- 
wänden zu  ersticken. 

Nun,  den  V^)rwurf  der  Trivialität  nehmen  wir  gerne  auf  uns.  Wer 
alle  Originalität.ssucht  als  unwürdig  und  unwi.'<.senschaftlich  ablehnt, 
dem  wird  ihr  CJegentcil  nur  eine  Konsequenz  seines  Willens  zur  Wissen- 
schaftlichkeit Iwdeuten.  So  wenig  Originalität  uns  ein  Kriterium  de« 
Wertes  einer  Meinung  ist,  so  wenig  ist  ihr  Gegenteil,  Trivialität,  uns 
ein  Kriterium  ihres  Unwertes.  Sachlichen  Einwänden  aWr  sind  wir 
zugänglich. 

Der  Haupteinwand  wider  jede  Schule  in  der  Philosophie,  joner 
Einwand,  der  wohl  auch  bei  allen  gegenwärtigen  Philosopheracn 
bewirkt,  daß  ihre  Träger  trotz  der  Tendenz  zur  Schule  ängstlich  Tor 

4« 


52    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

dem  Anschein  der  Schule  zurückschrecken,  entspringt  ans  dem  ver- 
breiteten Widerwillen  vor  jeder  Art  von  Parteinahme.  Man  be- 
fürchtet von  ihr  eine  Beschränkung  des  Gesichtskreises,  Einseitigkeit, 
Dogmatismus.  Vernünftig  sei  es  und  würdig,  über  den  Parteien  zu 
stehen,  tolerant  zu  sein. 

Diese  Maxime  der  Toleranz  endet  geradeswegs  beim  Indifferentis- 
mus, der  Uberzeugungslosigkeit.  Nur  ein  innerlich  unwahrer  Ästhe- 
tizismus,  dem  jedes  sittliche  Gebot  fremd  ist,  kann  hierin  etwas  wie 
Würde  finden!  Aber  auch  die  Vernunft  kommt,  auf  einem  solchen 
Standpunkte,  nicht  zu  ihrem  Recht.  Der  Vernünftige  ist  nicht  der, 
welcher  auf  jede  eigene  Meinung  verzichtet  und  jede  fremde  toleriert : 
sondern  der,  welcher  sich  die  richtige,  das  ist  eben  die  vernünftig 
begründete  Meinung  bildet.  Die  Wahrheit  selbst  ist  Partei,  ist 
einseitig  und  intolerant :  es  gibt  über  einen  Gegenstand  stets  nur  eine 
einzige  Wahrheit!  Sie  kann  nicht  wie  ein  Mosaik  aus  den  verschie- 
denen widerstreitenden  Meinungen  der  einzelnen  Philosopheme 
zusammengesetzt  werden.  Durch  ihren  bloßen  Begriff  schließt  sie 
alle  die  unendlich  vielen  möglichen  Vorstellungsweisen,  die  von  ihr 
abweichen,  als  Irrtum  aus.  Wer  sie  alle  nebeneinander  gelten  lassen 
will,  der  verzichtet  auf  die  Wahrheit. 

Es  kann  daher  nur  eine  Schule  Recht  haben.  Und  es  wird  eine 
Recht  behalten! 

Ein  Philosoph  also,  der  behauptet,  keiner  Schule  anzugehören, 
täuscht  sich  —  oder  andere.  Er  kann  seinen  Partei-  und  Schul- 
standpunkt wohl  verschweigen:  aber  er  kann  nicht  über  ihn  hinweg, 
kann  ihn  nicht  entbehren.  Und  dies  Verschweigen  bedeutet  nicht 
eine  größere  Objektivität,  sondern  innere  Unklarheit  —  oder  Un- 
ehrlichkeit. Unehr]ic]ikeit  liegt  in  einem  Anspruch  auf  Objektivität, 
die  tatsächlich  nicht  besteht.  Wie  die  historische,  so  ist  auch 
diese  relativistische  Scheinobjektivität  etwas,  das  dem  wahren  Wesen 
des  Philosophen  im  Tiefsten  widerspricht.  Der  wahre  Philosoph 
soll  sich  seiner  subjektiven  Parteistellung  sehr  bewußt 
sein;  er  soll  sie  stets  ,wenn  er  lehrt,  mitbezeichnen  und  Rechenschaft 
über  sie  ablegen.  Je  streitbarer,  intoleranter,  parteiischer 
er  alsdann  an  andere  Philosopheme,  an  die  Historie  der 
Philosophie  herantritt,  um  so  ehrlicher,  unbefangener, 
glaubwürdiger,  um  so  wahrer  und  gerechter  wird  sein 
Urteil  sein.  Wenn  man  es,  weil  er  irrte,  verwirft  —  die  Achtung 
vor  seiner  Geschlossenheit  und  seinem  moralischen  Verantwortungs- 
willen wird  man  ibm  nicht  versagen  dürfen.  Philosophie  aber  wird 
wieder  jenes  Mark  und  Rückgrat  erhalten,  welches  die  sicherste 
Stütze  für  einen  wirklichen  Fortschritt  der  Arbeit  ist. 

Nelson  hat  uns  ferner  gezeigt,  wie  dies  Schulmäßige  der  Arbeits- 
weise in  den  anderen  Wissenschaften  längst  durchgedrungen  ist. 
Damit  ist  ein  Einwand  vorweggenommen,  den  man  wider  diese  Wer- 
tung der  schulmäßigen  Arbeitsform  vielleicht  geltend  machen  könnte : 
das  Beispiel  anderer  Disziplinen.    Man  hat  etwa  auf  die  Mathematik 


Ueleitworto  zum  zehnjährigen  Be«tchcn  «ler  neuen  FricoÄchen  Schule  (1913).     .03 

hingewiesen  und  Ixiluinpfet,  hier  fehle  das  Schuhnäüige  ganz.  Da« 
ist  ein  Irrtum.  Dan  Ft-hlen  den  Schuhnüßigen  int  nur  ein  Hchein- 
bares;  und  dieser  An.sehein  bewoirtt  Icdiglieh,  um  wieviel  weiter  fort- 
geschritten der  Erkennt ni.s.stand  in  allen  anderen  Di.sziplinen  i.st  ab 
in  der  Philosophie.  In  Wahrheit  herrscht  gerade  in  der  Mathematik 
das  Schulmäliige  der  Arlx'it  unbeschränkt:  al)er  hier  ist  es  eine 
einzige  große  Scliule,  die  sich  siegreich  durchgerungen  und  dio 
vielen  widerstreitenden  Schulen  aulier  Kraft  gesetzt  Ijat ;  die  ein© 
Schule,  weil  ihre  Lehrmeinung  die  richtige  ist.  Nicht  schuhnäßige 
Arbeit  fehlt  in  der  Mathematik:  es  fehlt  lediglich  der  Streit  der 
Schulen.  Die  Zugehörigkeit  aller  heutigen  Mathematiker  zu  dieser 
einen  Schule,  deren  Ijchrer  GauU  war,  ist  gewissermaßen  etwas 
Selbstverständliches;  sie  braucht  nicht  durch  Ix'sondere  Benennung 
betont  zu  werden   —  und  nur  darum  wird  sie  ülx^rsehen. 

Nur  der  Streit  der  Schulen  ist  vielleicht  ein  Mangel;  er  ist  das 
Anzeichen  des  Garens  und  Werdens,  aus  dem  wahrer  Fortschritt 
erst  noch  herauswachsen  soll.  Das  Schulmäßige  alxM-  ist  vielmehr 
der  einzige  Charakter  der  Wissenschaftlichkeit.  Wo  aber  in  einer 
Wissenschaft  jener  Mangel  noch  Ix^steht,  da  ist  er  nur  durch  den 
Sieg  einer  Schule  über  die  anderen  zu  beenden;  nicht  etwa  durch  Ver- 
zicht auf  das  Schulmäßige  ül)erhaupt.  Das  Unerquickliche,  das 
jedem  Streit  anliaftet,  darf  luid  wird  den  wahrhaft  Lel>enskräftigen 
nicht  beirren  und  zu  derartigen  Kon.sequcnzen  führen.  Denn  was 
würde,  durcli  das  Aufgeben  des  Schulmäßigen,  erreicht  ?  Nur  eine 
Vervielfältigung  der  Lehrmeinungen.  Es  würde  soviel  Parteien 
wie  Philosophierende  geben.  Und  also  entweder  eine  unübersehbare 
Vervielfältigung  des  Streites  und  der  Kampfplätze  —  oder  der  inner- 
lich unwahre,  scheinoV)jektive,  tolerante,  gewaltsame  Quictisinus  der 
Lebensschwäche,  der.  wofern  Philosophieren  ein  Suclien  mich  Wahrheit 
ist,  das  Ende  alles   Philosophierens  bedeuten  würde. 

So  ersteht  die  Notwendigkeit,  eine  Schule  gemeinsamer  philo- 
sophischer Arbeit  zu  bilden,  und  durch  das  Schulmäßige  der  gemein- 
samen ArlxMf  Garantien  dafür  zu  gewinnen,  daß  die  Philt>sophie  in 
wissenschaftlichen  Hahnen  vorwärts  schreitet.  Diejenige  Schule, 
welche  diese  CJarantie  in  vollstem  Umfang  gewährleistet,  wird  den 
Fortschritt  in  philosophischen  Dingen  an  sicli  heften.  Und  sie  wird 
eines  Tages,  fern  von  allen  Wertungen  zufälliger  Zeitumstände,  den 
Sieg  über  die  anderen  Meinungen  davon  tragen,  den,  wenigstens  in 
tlen  übrigen  Wissenschaften,  die  Wahrheit  noch  stets  über  den  Irr- 
tum errungen  hat.  Dann  wird  es  auch  in  der  Philosophie,  ähnlich 
wie  schon  jetzt  in  der  Mathematik,  nur  eine  Schule  geben.  Auch 
dann,  freilich,  wird  nur  dio  erste  Vorarbeit  an  der  Lösung  der  letzten 
Probleme  geleistet  sein;  denn  unendlich  groß  ist  die  Aufgabe.  Aber 
der  Weg  zu  diesen  lÄisungen  wird  gebahnt  und  Ix^treten  sein. 

Dies  sind  die  Gründe,  aus  denen  vor  zehn  Jahren  Nelson  vnid 
.seine  engsten  philosophischen  Freunde  mit  klareni  Wissen  und  Willen 
zur  neuen  Friesschen  Schule  zusammentraten.     Wie  aus  ihr,  infolge 


54    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

der  allmählich  sich  verbreiternden  Basis  und  unter  einigem  Wechsel 
der  Organisationsformen,  das  sich  herausbildete,  was  heute  die 
Jacob  Friedrich  Fries-Gesellschaft  darstellt  —  davon  wird, 
ebenso  wie  von  unseren  Prinzipien  und  Forderungen  an  den  einzelnen 
Zugehörigen,  noch  an  anderer  Stelle  die  Rede  sein. 

III. 

Wir  aber  stellen  uns  heute  erneut  die  entscheidende  Frage :  welches 
sind  denn  nun  eigentlich  die  Prinzipien,  deren  Bewahrung  und  För- 
derung unsere  Organisation  sich  zum  Ziel  setzt  ?  Ist  die  Bezeichnung 
derselben  durch  die  Namen  Kant  und  Fries  nicht  so  unbestimmt, 
daß  sie  uns  nur  sehr  unwesentlich  von  anderen  philosophischen  Be- 
strebungen der  Gegenwart  unterscheidet?  Zwei  Möglichkeiten 
scheinen  zu  bestehen.  Entweder  das  dogmatische  Hinnehmen  und 
Aufnehmen  aller  Forschungen  und  Lehren  dieser  Meister  —  ist  die 
Gesellschaft  dann  nicht  zur  Rolle  einer  dogmatischen  Sekte  ver- 
urteilt, deren  Errichtung  mit  Wissenschaft,  mit  kritischer  Selbst- 
besinnung nichts  zu  tun  hat?  Oder  Kritik  auch  am  Werke  der 
Meister  —  mit  welchem  Rechte  legt  sich  dann  aber  die  Gesellschaft 
auf  die  Namen  dieser  Meister  fest,  mit  welchem  Recht  beansprucht 
und  erfüllt  sie  ihre  wissenschaftliche  Sonderstellung? 

Wir  meinen:  wer  die  »Abhandlungen  der  Friesschen 
Schule«!)  bisher  ohne  Vorurteil  gelesen  hat,  dem  beantworten  sich 
diese  Fragen  leicht.  Weder  die  eine  noch  die  andere  Seite  der  oben 
aufgestellten  Alternative  trifft  zu.  Kurz  und  begründungslos  setzen 
wir  hierher,  was  wir  als  höchste  Voraussetzungen  unserer  Gemein- 
schaftsarbeit betrachten.  Gelänge  es  irgendeiner  wissenschaftlichen 
Nachprüfung,  diese  Fundamente  zu  erschüttern,  so  hätte  unsere 
Organisation  ihr  Seinsrecht  eingebüßt  —  so  wäre  unsere  Arbeit  ein 
philosophischer  Irrweg  gewesen,  wie  es  viele  gab.  Wir  halten  die 
Möglichkeit  einer  so  gearteten  wissenschaftlichen  Gegenargumenta- 
tion für  ausgeschlossen;  wir  haben  Gründe  für  diese  Meinung;  ebenso 
wie  wir  in  der  Lage  sind,  unsere  Fundamente  selbst  positiv  wissen- 
schaftlich zu  sichern. 

Diese  Fundamente  sind: 

das  theoretische  Weltbild  des  transzendentalen  Idealismus, 

die  ethische  Gesinnung  des  moralischen  Rigorismus, 

das  methodische  Prinzip  des  Selbstvertrauens  der  Vernunft 
in  die  Wahrheit  ihrer  Erkenntnisse,  das  sich  wissenschaftlich  an- 
wendet in  der  Methode  des  autonomen  Selbstdenkens,  der 
kritischen  Methode. 

In  diesen  drei  tiefsten  Errungenschaften  kristallisiert  sich  uns 
in  der  Tat  das  Erbe  Kants  und  Fries';  und  zwar  mit  einer  Spezi- 
fität, die  es  von  allen  anderen  sich  kantisch  nennenden  Philosophemen 


1)  Göttingen,  Vandenhoeck  und  Ruprecht,  4  Bände. 


Geleitwort«  zum  zehnjährigen  liestehen  der  ne\.'  -  bul«(i913).     55 

flondert   und  abhebt.     Inwiefern  das  so  ist,  inwiefern  ca  gerade  der 
speziell  Friessche  Anteil  an  diesen  Grundforderungen  alle*«   Philo- 
BophierenH  int,  näntlith  da«,  wa«  wir  unter  kritischer  Metluxle  ver- 
BteluMj,    wjiH    die    SondcrHtelUing    unseren    PhiloHophiorenn    lx.'dingt: 
das   ist    in    unseren    Veröffentlichungen    oft    und   ausführlich   genug 
auseinandergesetzt  worden.     Hier  liegt  die  Tendenz  der  Fri esschen 
Schule   zu   sprachlicher   und   logischer    Präzision,    ihre   Tendenz   zu 
axiomatischcr  ArWitsweisc  l)Ogründet ;  hier  liegen  die  Wurzeln  ihrer 
liostrebung,  die   kritische  Lösung   metaphysischer  Probleme 
auf   dem    neutralen   Boden    der   Psychologie    zu   erreichen, 
ohne    in    irgendeinen    Psychologismus    zu    verfallen.      Und 
ebenso  liegt  der  Kern  der  Sonderstellung  Friesscher  Ethik  in  diesen 
(Srundlagen,  der  Autonomie  der  Vernunft,  dem  rigoristischen  Prinzip 
»ind   der   kritisch-psychologischen    Methode   der   Ausbildung    bereits 
fest   und   bestimmt    Ijcschlossen.      Das   alles   kann   hier   nicht  seine 
besondere    und   einzelne    Begründung    erfahren;     auch    bedarf    es 
dessen  nicht;  dem  Ausbau  und  der  Begründung  dieser  Positionen 
ist  ja  die  ganze  Arbeit  der  Friesschen  Schule  mit  ihren  Veröffent- 
lichungen,  ist   die  ganze  wissenschaftliche  Leistung  unserer  Gesell- 
schaft gewidmet.     Hier  findet  der  Interessierte  und  der  Gegner  die 
Mittel  der   Überzeugung,   die   wir  liesitzen;    und  es  ist    uns   hierbei 
sachlich  nicht  wesentlich,  ob  wir  für  diese  Methode  und  Gründe  von 
unseren  philosophischen  Lehrern  übernehmen  konnten,  oder  ob  an 
deren   Stelle   brauchbarere,    kritisch   haltbarere   und   einwandfreiere 
Methoden  selber  ausgebildet   werden  mußten.     Den   Prinzipien  der 
Meister  sich   iiinzugeben.   den   Geist  ihrer    Philosophie  lebendig  zu 
erhalten:  das  steht  nicht  im  Widerspruch  damit,  an  Begröndungs- 
weisen,  an  Einzelheiten  des  Ausbaues  Neues  zu  schaffen  und  Kritik 
zu  üben.     Dieses  letztere  Verhalten  allein  vermag  vielmehr  den  Vor- 
wurf des  Dogmatismus   von  der  Schule    abzuwenden,    ihrer  Arbeit 
den  Charakter  wahrhafter  Wissenschaftlichkeit  zu  sichern. 

IV. 

Wollen  uir  den  Versucii  wagen,  die  Besonderheit  unserer  philo- 
sophischen Stellung  im  Rahmen  der  geistigen  Gesamtkultur  des 
Zeitalters,  in  welchem  sie  entstand  und  zu  ihrer  jetzigen  Form  sich 
ausbildete,  historiscli  z\»  umreilien*).  «o  dürfen  wir  —  im  Bewußt- 
sein der  Lückenhaftigkeit  einer  derart  skizzenhaften  Retrospektive 
gerade  im  gegenwärtigen  Moment  —  mit  unserem  Führer  Nelson, 
der  uns  zuerst  eine  solche  Überschau  entwickelt  hat,  etwa  folgendes 
feststellen. 

Der  neueren  Philosophie  ist  ihre  Aufgabe  gestellt  worden  durch 
die    Entstehung    der    modernen    Naturforschung.      Diese    moderne 

•)  Anni.  l>ei  der  Kom>ktur:  V>jl.  hiortu  neuere  VeruffenthchunRcn  atu  der 
Neuen  Fries  Schule,  vor  allem  Muhlvatein,  Dio  rtirupuucho  lU-ionnation. 
Leipzig  191!). 


56     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgein.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

Naturforscliung  hatte  die  alten  Autoritäten  aller  Gebiete  der  mensch- 
lichen Kultur  untergraben  und  zerstört,  und  so  entstand  das  große 
Problem  für  die  Philosophie,  was  nun  an  Stelle  dieser  alten  Auto- 
ritäten treten  sollte.  Neue  Normen  waren  statt  der  zerstörten  auf- 
zurichten. Dies  war  die  Aufgabe,  die  sich  das  Zeitalter  der  Auf- 
klärung bewußt  gestellt  hatte.  Es  galt,  sich  nicht  mehr  irgend- 
welchen neuen  Autoritäten  zu  beugen,  sondern  nur  »der  eigenen 
Vernunft  zu  vertrauen«.  Den  historischen  Höhepunkt  im  Vollzug 
der  Lösung  dieser  Aufgabe  stellt  das  Gebäude  der  k  an  tischen  Philo- 
sophie dar.  Aber  diese  Vernunft,  die  Normen  für  alle  Kultur  geben 
sollte,  wußte  man  nicht  von  der  Reflexion  zu  unterscheiden.  Man 
verwechselte  die  Vernunft  mit  dem  leeren  Verstand,  mit  dem  bloßen 
Reflexions  vermögen.  Es  entstand  so  der  vergebliche  Versuch,  die 
Normen  in  Wissenschaft,  Religion,  Ethik  und  Ästhetik  auf  bloße 
Reflexion  zu  gründen.  Diesem  Fehler  war  die  Leibniz -Wolf f sehe 
Theorie  extrem  verfallen,  diesem  Fehler  verfiel  auch  —  will  man  sie 
nach  ihrer  tiefsten  Tendenz  beurteilen  —  Kants  Kritik  der  Vernunft. 
Kants  Kritik  der  Vernunft  ist  der  großartigste  Versuch,  die  meta- 
physischen Prinzipien  auf  bloße  Reflexion  zu  gründen;  sie  ist  die^ 
größte  Anstrengung,  die  in  der  Menschheitsgeschichte  gemacht  worden 
ist,  ihr  Problem  allein  aus  den  Mitteln  des  Verstandes  zu  lösen.  Und 
es  war  ein  tragisches  Verhängnis  im  geschichtlichen  Werdegang  der 
damaligen  Philosophie,  daß  in  diesem  Irrtum  Kants  der  Angelpunkt 
seines  Philosophems  allein  erblickt  wurde;  die  neuen  und  frucht- 
baren Keime,  die  neben  ihm  in  Kants  Philosophie  sich  entwickelten, 
wurden  nicht  beachtet. 

Es  war  historisch  notwendig,  daß  ein  Zeitpunkt  kommen  mußte, 
dem  die  Form,  in  der  Kant  versucht  hatte,  das  Grundproblem  der 
modernen  Philosophie  zu  lösen,  nicht  genügen  konnte,  dem  die  Er- 
kenntnis aufging,  daß  die  kantische  Kritik  an  der  Leerheit  der 
Reflexion  ebenso  scheitern  müßte,  wie  die  Philosophie  seiner  rationa- 
listischen Vorgänger;  dem  es  aufgehen  mußte,  daß  Kant  das  Hume- 
sche Problem  im  letzten  Grunde  ungelöst  hatte  stehen  lassen  und 
damit  den  metaphysischen  Skeptizismus  unwiderlegt  gelassen  hatte. 
Diese  Einsicht  rief  eine  allgemeine  Reaktion  hervor.  Es  war  ganz 
klar  geworden,  daß  die  logische  Reflexion  als  Quelle  der  metaphysi- 
schen Erkenntnis  unzulänglich  bleiben  muß  und  daß  die  Reflexions- 
philosophie, wie  man  dieses  Unternehmen  nannte,  durchaus  auf  fal- 
schem Wege  war.  Die  Konsequenz  war  eine  allgemeine  Verzweiflung 
an  der  menschlichen  Vernunft.  Diese  Konsequenz  mußte  sich  noch 
besonders  aufdrängen  durch  den  Ausgang  der  französischen  Revo- 
lution, die  es  unternommen  hatte,  die  Ideale  der  Aufklärung  in  die 
Praxis  des  Lebens  umzusetzen  und  eine  Umgestaltung  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  nach  den  Forderungen  der  Vernunft  zu  bewirken. 
Das  Fehlschlagen  dieser  Hoffnungen  schien  ein  deutlicher  Beweis 
für  die  Ohnmacht  der  menschlichen  Vernunft  zu  sein.  Es  setzte 
damals  die  große  Bewegung  ein,  die  man  als  Romantik  bezeichnete. 


Geleitworte  zum  zehujährigmi  Bealfhcn  der  neuen  Kriciischen  Schule  ( 191 3).     57 

Eh  trat  in  ihr  eine  Rückkehr  von  d«-n  Idealca  der  Aufklürunj»  zu  den 
gestürzten  Autoritäten  ein,  e«  bcnmehtigte  »ich  der  (Jebildeten  eine 
allgeineine  Voraclitung  und  ein  ullgenieiner  Haß  g<-geii  die  Reflexion 
als  die  Quelle  aller  V\>e\  —  man  denke  an  den  Wortführer  Jacobi 
und  die  gerade  historische  Linie,  die  sich  von  ihm  zu  Schelling« 
Philosophie  der  Offenbarung  hinzieht.  Die  Tendenz  wurde  groß, 
auä  der  Wirklichkeit,  die  man  mit  der  Vernunft  nicht  mciMtern  zu 
können  glaubte,  hineinzuschreiten  in  das  Reich  des  Irrationalen, 
das  man  in  sich  vorzufinden  vermeinte.  Jener  Hang  zum  Mystizis- 
mus trat  auf,  der  nichts  ist  als  die  Nachgeburt  der  vMjweiidung  von 
verstandesmäliiger  Kritik,  des  Versuches,  das  freie  Denken  abzusetzen. 
Mehr  und  mehr  sah  man  den  Grund  der  Werte  in  dunklen  geheimnis- 
vollen und  mystischen  Zonen,  fern  von  dem  l)egrifflich  Klaren  und 
wissenschaftlich  Haltbaren.  Und  auch  jener  weitere  Schritt  wurde 
getan,  den  wir  noch  ülx'rall  in  di-r  Historie  auf  dem  Weg  ins  Irrationale 
vorgezeichnet  finden:  der  kScluitt  zum  Historizismus,  zt>r  autoritären 
Heteronomie  des  Gewordenen.  Das  Staunen  und  die  Pietät  vor  der 
verstandesmäßigen  Unbegreiflichkeit  des  positiven,  komplexen, 
historisch  Entstandenen  führte  dazu,  hier  den  eigentlichen  Grund 
aller  Nornu-n  zu  suchen.  Damit  taucht  jene  reaktionäre,  hoffnungs- 
und  fortschrittsfeindliciie  Tendenz  auf,  die  sich  noch  stets  an  jede 
Form  der  Mystik  geknüpft  hat. 

Daß  diese  Wendung  im  Gang  der  Kultur  den  Menschen  in  vieler 
Hinsicht  bereichert  hat,  wird  niemand  leugnen.  Damals  war  es, 
daß  wahrhaft  die  deutsche  Seele  eine  zentrale  und  herzliche  Be- 
ziehung zur  Kunst  gewaiui;  damals  ging  das  Verständnis  für  Reli- 
gion und  Geschichte  dem  Mensehen  neu  auf;  und  durch  dies  alles 
formten  sich  vertiefte  Gebilde  der  Ahnung  göttlichen  Geistes.  Und 
trotz  alledem:  dies  ist  eine  Epoche  innerlicher  Unwahrhaftigkeit ; 
und  dcshall)  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  die  Schattenseiten  in  dieser 
ganzen  geistigen  Bewegung,  von  der  sich  die  Ciebildeten  forttragen 
ließtMi,  ihr  Licht  verfinstern.  Es  wäre  darauf  angekommen,  nach  dem 
Gesetzmäßigen,  Allgemeingültigen  zu  suchen:  man  haschte  nach  dem 
Eigenartigen,  Individuellen,  Originalen.  Ein  Kultus  der  genialen 
Persönlichkeit  setzte  ein,  der  sich  nicht  selten  ülx'rschlug;  und  auch 
die  Kunst,  erst  leuchtende  Folie  und  sodaiu»  Ix'fruchtete  Blüte  der 
hier  entbundenen  Kräfte,  wurde  im  historischen  Verlauf  der  Er- 
eignisse mehr  inul  mehr  von  einer  Richtung  btOierrscht,  die  nur  den 
Mystizismus  begünstigte  und  eine  Entfremdung  zwischen  Kunst 
und  Leben  schuf,  die  auf  die  Dauer  Wert  und  Wirken  der  Kunst 
untergral>cn   mußte. 

Wir  finden  die  gleiche  Tendenz  auf  allen  (Jebieten  geistigen  Ix«lH»ns. 
Anstelle  der  vorher  erst  rebten  natürlichen  Religion  trat  die  Schätzung 
des  positiven  Kirehentums.  In  der  Politik  kam  man  zurück  von  den 
Ideen  der  Menschenrechte  und  des  Weltbürgertums  zur  Schätzung 
der  nationalen  Eigenart,  der  Würde  der  einzelnen  Nationen  im  Gegen- 
satz zu  den  anderen.    Und  in  der  Rechtslehre  triumphierte  wiederum 


58    Vorbereitende  Einführung  in  die  aligem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

die  historische  Rechtsschule  über  das  Naturrecht  und  sprach  der 
Zeit  den  Beruf  der  Gesetzgebung  ab  mit  Gründen,  die,  wären  sie 
triftig,  für  jedes  Zeitalter  gelten  würden.  Hatte  der  Mangel  des 
Aufklärungszeitalters  in  seiner  bloßen  Intellektualität  gelegen,  in 
seinen  Rationalismen,  in  seiner  Überschätzung  des  Vermögens  von 
Wissenschaft  und  Verstand,  so  trat  jetzt  ein  diesem  Mangel  gerade 
entgegengesetzter  anderer  auf.  Ein  Irrationalismus  brach  herein  in 
verschiedenen  Spiegelungen,  sei  es  in  der  des  Ästhetizismus,  sei  es  der 
des  Historismus.  Die  Frage  nach  der  Wahrheit  verschwand  aus  dem 
Geiste  derer,  die  sich  um  ein  im  Subjekt  allein  verwurzeltes,  intui- 
tives Innewerden  des  Absoluten  bemühten;  die  Frage  nach  der  Be- 
rechtigung der  bestehenden  Zustände  wich  der  Untersuchung  ihrer 
geschichtlichen  Entstehung. 

So  war  es  damals  auch  in  der  Philosophie.  Man  legte  allen  Wert 
auf  die  persönliche,  originale  Formel,  keinen  auf  die  wissenschaftliche 
Wahrheit.  Die  Philosophie  zog  sich  von  Wirklichkeit  und  Leben 
zurück;  —  sie  ward  zur  bloßen  dialektischen  Abwandlung  der  Be- 
griffe, ohne  allen  Ernst  und  festen  Hintergrund.  Oder  aber  sie  zog 
sich  auf  die  bloße  Erforschung  der  Geschichte  der  Philosophie  zurück. 

Man  darf  sich  nicht  darüber  täuschen,  welche  bedeutenden  prak- 
tischen Folgen  diese  Änderung  der  Denkweise  gerade  auch  in  der 
Philosophie  gehabt  hat.  Es  sei  insbesondere  auf  einen  Umstand  hin- 
gewiesen, nämlich  auf  den  Einfluß,  den  die  Philosophie  dieser'Epoche 
auf  eine  der  wichtigsten  Formen,  in  denen  sich  philosophisches  Denken 
in  die  Praxis  des  Lebens  umsetzt,  ausgeübt  hat:  auf  die  Politik.  Es 
genügt,  den  Namen  Stahl  zu  nennen,  dessen  legitimistische  Rechts- 
und Staatslehre  religionsphilosophisch  auf  die  spätere  Ausbildungs- 
form der  Schellingschen  Philosophie  gestützt  wird.  Der  Ausgangs- 
punkt der  Betrachtungen  Stahls  liegt  in  einer  Polemik  gegen  den 
politischen  Liberalismus  der  Aufklärung.  Diese  Kritik  des  poli- 
tischen Liberalismus  der  Aufklärung  besteht  bei  Stahl  nun  darin, 
daß  er  immer  wieder  auf  die  Leerheit  der  Reflexion  hinweist,  auf 
die  Ohnmacht  des  Verstandes,  aus  sich  eine  Gesetzgebung  für  das 
gesellschaftliche  Leben  der  Menschen  zu  erzeugen.  Und  in  dieser 
Kritik  behält  Stahl  recht.  Es  ist  ein  wirklicher  Fehler  der  Auf- 
klärung, daß  sie  aus  der  Leere  der  Reflexion  einen  Gehalt  an  be- 
stimmten Gesetzen  erzwingen  will.  Der  falsche  Schluß  aber,  den 
Stahl  aus  dieser  Kritik  des  Liberalismus  zieht,  ist  die  Lehre  von 
der  Ohnmacht  der  menschlichen  Vernunft,  die  Lehre,  daß  wenn  wir 
nicht  dem  Anarchismus,  der  völligen  Gesetzeslosigkeit  verfallen 
wollen,  wir  zur  Autorität  zurückkehren  müssen.  Die  Konsequenz 
ist  die  legitimistische  Staatslehre,  das  monarchische  Prinzip,  und  die 
Lehre  vom  christlichen  Staat,  jener  göttlichen  Institution,  deinen 
Zweck  in  dem  Seelenheil  der  Menschen  liegt. 

Mit  gleicher  historischer  Notwendigkeit  aber  zeitigte  das  roman- 
tische Denken  noch  andere,  unter  sich  heterogene,  politische  Systeme, 
deren  jedes  seinen  eigenen  Tod  in  seiner  theoretischen  Konstruktion 


Celiütworto  zum  zchnjubn^'  .  !i<-n  der  neaen  F^ieanbea  Schule  (1913).     59 

«elbHt  enthält.  So  verMchiedcii  ctwii  die  Hegelscho  StaatHauffaM«ung 
von  der  StuhlHchen  i.st,  ho  hat  .sie  docli  mit  ihr  du«  (JeineiriJiame 
des  Gegenaatzes  gegen  den  IndividualiHintis  der  Aiifklürungsplülo- 
eophie.  Naeh  Hegel  i.st  nielit  das  Individuum,  sondern  der  Staat 
selbst  Zweck,  er  ist  nicht  nur  eine  göttliche  Institution  wie  bei  Stahl, 
sondern  in  ihm  verwirklicht  sich  die  Gottheit  selber,  und  das  Indi- 
viduum sinkt  zu  dem  Hange  eines  blolien  Mittels  für  den  Staatszweck 
herab.  Die  Ix'hre  von  der  ümnipotenz  des  Staates  ist  hieraus  ledig- 
lich eine  Folge.  Auch  diese  Lehre  führt  auf  eine  Heteronomie,  auf 
die  Unterwerfung  des  Individuums  unter  die  äußere  Norm  des  ob- 
jektiven Geistes,  die  in  Gestalt  des  Staates  an  es  herantritt.  Die 
lähmenden  quietistischen  Folgen  dieser  Lehre  haben  bittere  histo- 
rische Früchte  gezeitigt. 

Alx'r  die  Hegeische  Lehre  war  auch  des  entgegengesetzten  Ex- 
trems ihrer  praktischen  Anwendung  aufs  Leben  fähig.  Der  Mar- 
xismus ist  nichts  als  eine  ihrer  Entwicklungsformen.  Und  dabei 
ist  er  nach  seinen  philosopliischen  Fundamenten  im  Grunde  nichts 
als  ein  Teilsymptom  des  Materialismus.  Und  dieser  Materialismus, 
mit  seiner  verflachenden  und  kulturlosen  Tendenz,  steckt  auch 
schon  im  innersten  Kern  des  Hegelianismus  mit  innerer  Not- 
wendigkeit mit  drin.  In  ihm  erlebt  dtvs  Hegeische  Philosophen! 
das  Schicksal  des  dialektischen  Umschlagcns  in  sein  Gregenteil.  Was 
bedurfte  es  dazu  weiter,  als  die  Hegeische  Begriffswelt,  die  für  ihn 
mit  der  Welt  des  Geistes  eines  war,  lediglicli  als  eine  Welt  bloßer 
Bfgriffe  anzuerkennen,  um  ihr  die  Realität  abzusprechen  und  damit 
<lem  puren  Materialismus  zu  verfallen!  Es  ist  bekannt,  wie  Feuer- 
bach, Strauß  und  Marx  diesen  Schritt  taten.  In  der  Tat,  wenn 
man  den  Hegclschen  Realismus  der  Begriffe  fallen  läßt,  so  bleibt 
nichts  übrig  als  das  Dasein  der  Materie;  und  man  braucht  nicht 
einmal  auf  den  .\nspruch  eines  absoluten  Wissens  zu  verzichten, 
man  kann  an  der  Identität  von  Denken  und  Sein  festhalten,  um  auf 
den  Satz  zu  kommen,  daß  nur  die  Materie  Existenz  hat,  und  das 
Denken  zu  einer  bloßen  Erscheinungsweise  der  Materie  zu  machen. 
Es  zeigt  sich  so,  daß  die  höchste  Blüte  des  romantischen  Philoeo- 
phierens,  daß  das  Hegolsehe  Sj'stem,  im  Grunde  durchaus  irreligiös, 
rein  naturalistisch  ist  und  seinen  entgegengesetzten  Anschein  nur  durch 
Wortspiele  vortäuscht.  Nach  Hegel  ist  Gott  nur  der  allgemeine  Be- 
griff des  Seins  und  er  realisiert  sich  nur  im  Bewußtsein  der  Menschen. 
Der  konsequente  Schluß  hieraus  ist,  daß  Gott  nur  in  der  Vorstellung 
der  .Menschen  existiert,  daß  er  der  Gegenstand  einer  puren  Illusion  ist. 
Und  s»>  steht  es  auch,  in  der  praktischen  Philosophie,  mit  dem  an- 
geblichen Widerspruch  des  Marxismus  mit  der  Hegelschcn  Lehre. 
Der  revolutionäre  Charakter  der  marxisti.schcn  und  der  Quietismus 
der  Hegelschcn  und  Stahlschen  Staatsdoktrin  scheinen  nichts  Ge- 
meinsames zu  iH'sitzen.  Um  so  interessanter  ist  es,  zu  sehen,  welche 
gemeinsamen  kulturellen  Züge  tlie  marxistische  Lehre  gerade  mit 
diesen  ihren   .\ntip<>d«'n    verbindet.      Das  Gemeinsame  jener  an  und 


60     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

für  sich  so  entgegengesetzten  politischen  Auffassungen  liegt  in  der 
Kritik  des  von  der  Aufklärung  überkommenen  politischen  Liberalis- 
mus. Dem  reflexionsphilosophischen  Aufklärungsliberalismus,  der  in 
seiner  Konsequenz  als  Anarchismus  erkannt  wird,  wird  eine  Auffas- 
sung entgegengesetzt,  die  das  Selbstbestimmungsrecht  des  Indivi- 
duums einem  inhaltlich  bestimmten  Staatszweck  unterordnet.  Alle 
diese  Staatslehren  kommen  so  zu  einem  heteronomen  politischen 
Prinzip.  Der  Unterschied  ist  nur  der,  daß  bei  Stahl  der  Staat  wesent- 
lich zum  religiösen  Vormund  der  Bürger  gemacht  wird,  bei  Marx 
zum  wirtschaftlichen.  So  zeigt  sich  hier,  daß  die  beiden  ganz  feind- 
lichen Parteien,  die  konservativ-klerikale  und  die  sozialistische,  die 
sich  heute  die  politische  Herrschaft  streitig  machen,  in  ihrer  theo- 
retischen Begründung  und  damit  zugleich  ihrer  historischen  Ent- 
stehung einen  gemeinsamen  Ausgangspunkt  besitzen :  nämlich  in  der 
Reaktion  gegen  den  aus  der  Aufklärungsphilosophie  stammenden, 
irrig  fundierten  individualistischen  Liberalismus. 

Und  wiederum  waren  es  die  Naturwissenschaften,  welche 
zum  zweitenmal  in  den  Gang  der  neueren  Philosophie  eingriffen  und 
diese  ganze  romantische  Bewegung  hinwegfegten.  Die  Naturwissen- 
schaften, wenigstens  in  ihren  theoretischen  Teilen,  waren  der  einzige 
Zweig  der  allgemeinen  Kultur  geblieben,  der  durch  die  romantische 
Spekulationsweise  nicht  in  Mitleidenschaft  gezogen  worden  war. 
Ihre  Sicherung  lag  in  der  festen  Ausbildung  ihrer  Methode.  Und 
von  dem  Ausbau  dieses  methodisch  gesicherten  Besitzstandes  ging 
die  Gegenbewegung  aus.  Aber  diese  Gegenbewegung  verfiel,  sobald 
sie  sich  philosophisch  generalisierte,  in  dieselbe  Einseitigkeit,  wie 
die  schon  vorher  unter  dem  Einfluß  der  Naturwissenschaften  in  der 
Philosophie  entstandene  Strömung;  sie  verfiel  in  den  Empirismus, 
den  Monismus  und  die  verschiedenen  anderen  Spielarten  des  Na- 
turalismus. Abermals  handelte  es  sich  um  die  Tendenz,  unabhängig 
von  allen  Autoritäten  zu  werden.  Dies  Ziel  hoffte  man  mit  Hilfe  der 
Naturwissenschaften  zu  erreichen.  Mit  ihrer  Hilfe  hoffte  man  alle 
Fragen  lösen  zu  können,  von  deren  Entscheidung  die  Regelung  des 
gesellschaftlichen  Lebens  der  Menschen  untereinander  abhängt.  Von 
ihr  erhoffte  man  praktische  Normen.  In  diesem  historischen  Momente 
sollte  besonders  die  neue  evolutionistische  Biologie  die  Erzeugerin 
der  neuen  Philosophie  werden.  Aber  auch  dieser  Naturalismus 
mußte  sich  bald  überleben.  Er  trug  den  Keim  der  »Selbstzerstörung 
von  vornherein  in  sich.  Dieser  Keim  der  Selbstzerstörung  lag  in  der 
kritiklosen  empiristischen  Grundauffassung  von  der  Methode  der 
Naturwissenschaften.  Die  Konsequenz  dieses  Empirismus  ist  all- 
mählich der  Skeptizismus;  und  dieser  Skeptizismus  mußte  sich 
schließlich  gegen  die  eigenen  Ergebnisse  der  Naturforschung  selber, 
die  ihn  zum  Siege  geführt  hatte,  richten.  Er  mußte  zur  Bestreitung 
der  Möglichkeit  von  Naturerkenntnis  überhaupt  und  auf  der  anderen 
Seite  damit  zugleich  zur  Bestreitung  der  Möglichkeit  einer  Erkenntnis 
objektiver  Normen  in  der  Ethik  führen. 


(IfUitvrortc  zum  ix'hnjahri^;' !  .11  der  ncu«-n  Krifi»*chon Schule  (1913).     Gl 

l>if  .HkoptizistiHchen   KonHcqufnzeii    trefffii    daher   nicht   nur  die 
vcrfehltfii    ViTSUflic   eituT    philosophiHchen    AuHlM*utung   der    Natur- 
wiMsenschuften,  sondern  sie  inuliten  die  eigene  Autorität  der  Natur- 
wissenHclmften  seihst    untergrahen.      Und  dann   niulite  diene  an  sich 
HclbKt    verzweifehide    Wissenschaft    auch    alshahi    aufhören,    der   all- 
irenicinen,  reaktionär  ronmntischen   Bewegung  feindlich  zu   bleiben. 
Indem  sie  auf  ihre  urMpriinglichen  Ansprüche   verzichtete,   zur   Er- 
kenntnis objektiv  gühiger  (lesetze  zu  gelangen,  hörte  sie  auf,  diesem 
v«rfeinerten  AU-rglaulx-n   g»'fährlich  zu  »ein.      Denn   eine  Natur- 
wissenschaft,   die    niclit    objektive  Gesetze    der  Natur   er- 
kennen   will,    sondern    »ich    darauf    beschränkt,    Konven- 
tionen   zu    treffen,    hinsichtlich    der  Art,    wie   es    für    uns 
zweckmäßig   ist,    über  die  Natur    zu   denken,   die  also  ülier- 
haiipt    darauf   verzichtet,    ülxjr  die   Natur  zu    urteilen,   eine  solche 
Naturwi.ssenschaft  wird  notwendig  mit  jedem  iK^liebigen  Alx"rglauben 
iii  Kintracht  leben  können.     So  zeigt  sich,  daÜ  letzten  Grundes  auch 
diesem  im  Namen  der  Aufklärung  und  der  Geistesfreiheit  auftretenden 
Kmpirismus  eine  reaktionäre  Tendenz  anhaftet.     In  der  Gegenwart 
sehen  wir  sie  bereits  breit  entwickelt.     Die  fortgeschrittenen  gegen- 
wärtigen   Kinpiristen    leugnen,    dali    die    Naturwissenschaft    Gesetze 
erkennen  kann,  die  objektiv  in  der  Natur  gelten;  sie  Ijehaupten,  daß 
das  Gesetz  der  Naturwissenschaft  sich,  soweit  es  über  die  bloüe  und 
mitteilbare  Beobachtung  und  das  Experiment   hinausgeht,  lediglich 
auf   Definitionen   Ix-schränkt,   d.  h.  auf  willkürliche  terminologische 
Festsetzungen.     Wenn   wir  also  nach  den  Wahrheiten  fragen,  die  in 
der  Natur  gelten,   so  schweigt  die  Wissenschaft.      Die  Antwort  auf 
solche  Fragen  gibt  uns  nicht  die  Wissenschaft,  sondern  nur  die  Kirche, 
die  alte  oder  eine  neue!     Diese  Auffassung  findet  sich  allerdings  so 
unumwunden    nur   bei   wenigen    ausgesprochen.      Aber  die   Ursache 
liegt  nicht  etwa  in  einem  sonderbaren  und  zufälligen  Einfall  dieser 
wenigen,    sondern   in  einem  grolnMi  Mang»>l  an   Konsequenz  Ix'i   den 
anderen.      Die  einzig  bündige  Konsequenz   aus  dem  in  der  Wi.sscn- 
schaft  heute  allgemein  angenommenen  Empirismus  ist  die  Ohnmacht 
der  Wissenschaft  in  bezug  auf  die  Erkenntnis  der  Wahrheit.     Diese 
Konseciuenz   ist    für  jeden   logisch    Denkenden   so  einleuchtend,   daß 
sie  sich  mehr  und  mehr  durchsetzen  muli;  und  das  um  so  mehr,  als 
andere  Mächte  an  dieser  Knt wickelung  ein  starkes  Interesse  haben. 
Es  findet  liier  eine  Kapitulation  der  Wissenschaft   vor  den  äuUeren 
Autoritäten  statt  und  es  treten  wieder  hetcronome  Prinzipien  daa 
Erbe  der  sich  seilest  verachteiulen  Wissenschaft  an.    So  entsteht  eine 
große  rück.Hchritt liehe   Iknvegung  durch  die  die  mehrhundertjährige 
BefreiungsarU'it  der  Wissenschaft   wieder  rückgängig  gemacht   wird. 
Diese    Ent Wickelung  ist   teils  (irund,   teils  erst    recht   auch   Folge 
der  Nicht l>eachtung  und  des  Nicht verstehens  der  kritischen   Philo- 
sophie, wie  sie  von  Fries  ausgebildet  worden  ist.     Die  gegenwärtig© 
Philosophie  hat  sich  auf  diese  Weise  sell>st  ihr  Urteil  gesprm'hen,  sie 
hat  auf  ihren  großen  Beruf  verzichtet,  der  ihr  in  der  Geschichte  der 


62     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniekritischen  Grundlagen. 

Menschheit  zukommt,  auf  ihren  Beruf  als  Beschützerin  der  Geistea- 
freiheit  und  als  Hüterin  der  Autonomie  der  Vernunft. 

Ein  Ausweg  ist  hier  nur  möglich  durch  eine  Rückkehr 
zur  kritischen  Philosophie.  Nur  möglich  dadurch,  daß  man 
den  Grundfehler,  der  dieser  historischen  Entwickelung  zugrunde 
liegt,  aufdeckt  und  beseitigt.  Dieser  Fehler  ist  letzten  Endes  kein 
anderer  als  die  Nichtunterscheidung  der  Vernunft  von  der  leeren 
Reflexion.  Die  Aufklärung  des  Unterschiedes  von  Reflexion  und 
Vernunft  ist  der  Ausgangspunkt  der  großen  Reform  der  Philosophie, 
die  Fries  begründet  hat.  Es  kommt  nunmehr  darauf  an,  dieser 
Friesschen  Entdeckung  allgemeines  Verständnis  und  allgemeine 
Anerkennung  zu  verschaffen,  um  den  wirklichen  Mangel  der  Auf- 
klärungsphilosophie zu  beseitigen  und  damit  auch  zugleich  die  Wurzel 
der  durch  ihn  erzeugten  reaktionären  Bewegung,  unter  deren  wachsen- 
dem Einfluß  wir  heute  noch  stehen,  zu  zerstören.  Es  ist  der  gemein- 
same Fehler  der  Auf  klärungsphilosophie  und  der  ihr  entgegengesetzten 
romantischen  Philosophie,  die  Vernunft  mit  der  leeren  Reflexion 
verwechselt  zu  haben.  Ebenso  verkehrt  wie  es  war,  aus  der  bloßen 
Reflexion,  dem  bloßen  Vermögen  der  Aufklärung,  den  Gehalt,  den 
nur  die  Vernunft  geben  kann,  erzwingen  zu  wollen,  so  war  es  auf  der 
anderen  Seite  verkehrt,  durch  die  richtige  Einsicht  in  die  Unmöglich- 
keit dieses  Beginnens,  die  leere  Reflexion  zur  Quelle  aller  Wahrheit 
und  Gesetzgebung  machen  zu  wollen,  zu  einer  Verzweiflung  an  der 
Vernunft  selbst  sich  hinreißen  zu  lassen.  Durch  die  Trennung  von 
Vernunft  und  Reflexion  werden  diese  beiden  entgegengesetzten 
Fehler  zugleich  aufgehoben.  Durch  sie  allein  gelingt  es  einerseits, 
die  skeptische  und  anarchistische  Konsequenz  der  bloßen  Reflexions- 
philosophie zu  vermeiden,  und  andererseits  die  romantische  Konse- 
quenz, die  mit  der  Verwerfung  der  Reflexion  verbundene  Rückkehr 
zur  äußeren  Autorität  auszuschließen.  Die  Reflexion  ist  allerdings 
für  sich  leer,  aber  wir  können  doch  nicht  ohne  sie  zur  Wahrheit  ge- 
langen. Sie  ist  vieiraehr  das  notwendige  Mittel,  um  die  in  uns  liegende 
dunkle  Erkenntnis  der  Vernunft  zur  Klarheit  des  Bewußtseins  zu 
erheben.  Wir  können  uns  über  die  Schranke  der  Reflexion  nicht 
dadurch  hinwegsetzen,  daß  wir  die  Reflexion  von  uns  werfen;  damit 
verzichten  wir  überhaupt  auf  das  Bewußtsein  der  Wahrheit.  Wir 
können  es  nur  dadurch,  daß  wir  die  Reflexion  zu  Ende  führen  bis  zu 
dem  Bewußtsein  um  den  Gehalt  der  unmittelbaren  Erkenntnis  zu 
unserer  Vernunft. 

So  soll  uns  die  Friessche  Philosophie  wieder  dazu  verhelfen, 
gegenüber  allen  falschen  Lehren  von  der  Ohnmacht  der  menschlichen 
Vernunft  eine  Lehre  vom  Selbstvertrauen  der  Vernunft  in  ihre  Rechte 
einzusetzen.  Sie  soll  uns  dazu  verhelfen,  aus  dieser  Lehre  die  prak- 
tischen Konsequenzen  für  das  Leben  zu  finden  und  festzusetzen! 


(;.  Mjahrigenli  .ic(i913).     63 

V. 

Wenden  wir  den  Blick  aber  von  diesem  hirttorischon  Hilde  zum 
gegenwärtigen  Stande  der  geistigen  Kultur,  ho  erkennen  wir,  daß  ihre 
Herkunft  und  ihre  Entwickclung  ihren  Charakter  bestimmt  haben. 
Noch  stehen  im  geistigen  Zentrum  doa  gegenwärtigen  Ix-bens  die 
fortwirkenden  Kräfte  der  naturwissenachafl liehen  Arbeit  der  letzten 
Menschenalter.  Feindselig  al>er  bestehen  auf  der  anderen  Seite 
neuroniuntische  CJegenströinungen. 

Niemand  wird  den  außerordentlichen,  rasch  errungenen  Fort- 
schritt der  Xiiturerkenntnis  in  den  letzten  Jahrzehnten  leugnen  und 
verkleinern  wollen.  Aber  die  allgemeine  begeisterte  Aufnahme  ihrer 
Erfolge,  vom  ganzen  Volke  gespürt  an  einer  ungeahnten  Erleichterung 
technisch  sozialer  Bedürfnis l>efriedigung,  führte  zur  ül>ersteigerung 
der  an  sie  gestellten  Anfortlerungen  und  Hoffnungen,  ein  abgerundetes 
Weltbild  geben  zu  können,  was  ihr  dem  innersten  Wesen  und  dem 
wahren  Anspruch  nach  versagt  ist.  Zugleich  stellte  sich  eine  Über- 
schätzung der  praktischen  Werte  ein,  welche  durch  sie  zweifellos 
errungen  worden  sind.  Sie  schien  zum  Quell  aller  Werte  überhaupt 
zu  werden,  und  diese  .\uffassung  verrät  eine  Selbstgenügsan^keit, 
eine  selbst  überhebende  Selbstbeschränkung,  die  notwendig  alle  Be- 
wegung ülxjr  die  Nützlichkeitswerte  hinaus  zu  den  zeitlosen,  an  sich 
gültigen  Werten  zum  Stillstand  und  zum  Zurückfluten  bringen  und 
in  einer  Art  von  geistiger  Barbarei  endigen  muß.  Diese  beiden  furcht- 
baren Fehler  in  der  Einschränkung  des  Wertes  der  Naturwisseixschaft 
für  die  Erkenntnis  und  für  das  Leben  hängen  miteinander  zusammen. 

An  der  theoretischen  Überspannung  des  naturwissenschaftlichen 
Erkenncns  und  seiner  Wendung  ins  Weltanschauliche  sind  die  Natur- 
forscher großenteils  selber  schuld.  Nur  eine  Minderzahl  sind  jene 
Theoretiker,  die  resignieren.  Und  wenn  sie  resignieren,  so  geschieht 
dies  so  radikal,  daß  sie  hoffnungslosester  Skepsis  und  reaktionären 
Dogmatismen  verfallen.  Die  Mehrzahl  der  Naturforscher 
aber,  von  dem  Erfolge  ihrer  Einzeldisziplin  getrieben, 
legt  ihren  naiven  und  hoffartigen  Empirismus  auch  an 
alle  Probleme  des  reinen  Denkens. 

Die  mechanistische  Naturauf fa.ssung  schlägt  über  in  eine  Mecha- 
nisierung des  Welt  ganzen.  Materialistische  Auffassung  verödet  alle 
Erkenntnis,  alle  Lebensgebiete.  In  der  Seelenlehre  täuscht  die  ex- 
perimentelle Verf lachung  eine  erkünstelte  Vertrautheit  mit  jenem 
Geheimnisvollen  und  Tiefen  unserer  geistigen  Organisation  vor,  die 
\ms  verliehen  ist,  um  Welt  und  Wert  in  ihrem  Wesen  zu  begreifen. 
Eine  mehr  oder  wei)iger  verschämte  Nützliehkeitslehro  leitet  die 
Bildung  der  olwrstcn  Normen  unserer  sittlichen  Haltung  aus  irgend- 
welchen sozialen  Instinkten  oder  aus  Kindheitserfahrungen  her;  und 
mit  dieser  Genesis  glaubt  sie  ihre  Geltung  zu  rechtfertigen.  Am 
Ganzen  sozialer  Bildungen  sieht  sie  als  wesentliches  nicht  mehr  die 
Persönlichkeit,   ilir   Wirken,   ihre   Motive   und  ihren   Wert,  sondern 


64    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

dynamische  und  ökonomische  Bildungsfunktionen,  die,  aus  toter 
Masse  quellend,  starr  und  leblos  und  jenseits  alles  menschlichen 
Wollens  sich  verweben.  Es  ist  schon  viel,  wenn  einer  von  diesen, 
durch  alle  Entwickelungsmoral  und  Soziologie  hindurch,  das  wahre 
ethische  Problem  überhaupt  bemerkt,  überhaupt  anerkennt:  es  ist 
schon  viel,  wenn  ihn  dieses  Sehen  zu  derjenigen  Haltung  treibt,  die 
der  Empirist  vor  der  apriorischen  Norm,  die  er  nicht  ausmerzen  kann, 
allein  einzunehmen  fähig  ist:  zur  ethischen  Skepsis.  Entgötterung, 
Entsittlichung,  Entpersönlichung:  dies  Endziel  empi- 
ristischer Geistesrichtung  ist  längst  erreicht  und  wirkt 
in  der  Masse  weiter. 

Aber  auch  das  Gegengift  der  anderen  Seite  unseres  Geisteslebens 
ist,  an  sich  betrachtet,  ein  Gift.  Transzendentalismen,  die  an  Schel- 
ling  und  Hegel  anknüpfen,  ein  Historizismus,  der  im  tiefsten  Grunde 
skeptisch  und  schrankenlos-subjektiver  Individualismus  ist,  ein  Ethos, 
das  im  Individuum  wurzelt  und  der  objektiven  Begründung  ermangelt, 
die  es  auch  nach  dem  Stande  der  Methode  jenes  Philosophierens 
niemals  erfahren  kann;  dazu  eine  Geberde  von  Religiosität,  Ver- 
achtung der  ehrlichen  und  sachlich  begrenzten  Arbeit  der  Natur- 
wissenschaft und  eine  im  tiefsten  Grunde  reaktionäre  Tendenz,  deren 
Wurzeln  wir  vorhin  aufzeigten:  in  dieses  Extrem  entflieht  man  dem 
anderen.  Die  individuelle  Zerfahrenheit  und  Zuchtlosigkeit  der  gegen- 
wärtigen Kunst,  die  sich,  statt  ihre  Kräfte  harmonisch  zu  ordnen,  in 
schrankenlosen  Subjektivitäten  entlädt,  ist  ihre  hybride  Blüte. 
Und  zwischen  beiden  Extremen,  zwischen  der  Entgeisti- 
gung  der  Welt  und  der  Verachtung  des  Gesetzes,  pendelt 
der  Geist  der  Moderne  hin  und  her,  direktionslos,  neuig- 
keitslüstern, unverantwortlich,  unschöpferisch,  anar- 
chisch  zum  Verfall  hin. 

Wir  aber  in  unserer  Arbeitsgemeinschaft  wollen  wieder 
aufrichten  helfen  die  Achtung  vor  echter  Naturwissen- 
schaft; aber  ihren  Anspruch  an  Erklärungswert  begrenzen. 
Das  Ethos  wollen  wir  hochrichten;  aber  auch  begründen. 
Wir  wollen  Gott  nicht  hineinziehen  in  das  historische,  das  psycho- 
logische, das  naturwissenschaftliche  Erfassen  und  Bestimmen  der 
Gegenstände  unserer  Umwelt,  aber  ihn  bekennen.  Metaphysik 
wollen  wir,  aber  als  strenge  Wissenschaft. 

Und  wir  sind  unserer  Sache  sicher.  Mag,  im  gegenwärtigen  Mo- 
mente noch,  die  offizielle  Philosophie  an  den  deutschen  Hochschulen 
sich  der  Lehre  Fries'  mehr  oder  weniger  verschließen:  es  kann  die 
sichere  Fortwirkung  ihrer  W^ahrheit  nicht  berühren.  Im  Gegenteil: 
wir  glauben  konstatieren  zu  müssen,  wie  die. gänzliche  praktische 
Ohnmacht  und  Einflußlosigkeit  dieser  offiziellen  Philosophie  auf  das 
soziale  und  kulturelle  Gesamtniveau  unserer  Zeit  gerade  daraus  ent- 
springt, daß  sie  aller  der  Elemente  mangelt,  die  das  Wesen  unserer 
Philosophie  ausmachen.  In  stetem  Ringen  mit  dem  ethischen  Pro- 
blem, dem  sie  methodisch  nicht  gewachsen,  auf  dessen  Wissenschaft- 


G  oldtworle  zum  zchnj.ihrig«-n  H©j<U"hon  (U't  neuen  Friofsoh'-n  Schule  (1913).     63 

liehe  Lösung  «io  nicht  vorbereitet  ist,  hlfibt  die  offizielle  Philosophie 
eine  Utitt'rhnltiing  von  Kuchleuten,  die  oline  ütiÜcrf*  H^-Monanz  in» 
(tanzen  des  geiHtigcn  DeutHchland  verhallt.  Wir  alx-r,  die  wir  gern, 
und  in  gleicher  Weiae  ohne  Stolz  und  ohne  Bescheidenheit,  außerhalb 
dieser  Konvent ikel  stehen,  dürfen  mit  Freude  in  unseren  Iteihen  vor- 
wiegend PerHÖnlichkeiten  au«  der  Praxi.s  deH  Lelxjns  sehen.  Päda- 
gogen, Politiker  und  Theologen,  die  ihrer  lietütigung  letzte  Normen 
und  Wissenschaft liflie  Si(;herung  von  der  philosophischen  Arbeit  der 
Schule  erhoffen  und  erhalten;  Männer  der  Einzelforschung  aus  allen 
Zweigen  der  Naturwissenschaft,  der  Historie  und  der  soziologischen 
Disziplinen,  die  ihre  Arbeit  am  wissenschaftlichen  Weltbild  unserei' 
i*hilosopheins  gesichert  verankern  und  aus  dieser  Verknüpfung  den 
Wert  und  die  wi.ssenschaftliche  Bedeutung  ihrer  Einzelarl>eit  zu  er- 
kennen und  zu  iK'grenzen  vermögen. 

Wir  wi.s8en,  wie  klein  unser  Kreis  noch  ist,  wie  lx?grenzt  unsere 
Arbeit,  wie  wenig  weittragend  unsere  äußere  Wirkung.  Aber  im 
Keime  wenigstens,  das  dürfen  wir  bereits  heule  aussprechen,  schlingt 
sich  um  divs  Zentrum  der  kritischen  Philosophie  von  Kant  und  Fries 
in  unserer  Arl^Mtsgemcinschaft,  nicht  nur  die  universitas  scientiarura, 
sondern  auch  die  Gesamtheit  praktisch  geistiger  Be»ufe.  Hier,  da.s 
glauben  und  hoffen  wir,  liegt  die  Wurzel  unserer  Kraft,  hier  die  Ver- 
heißung unserer  Zukunft. 


Kronfeld,  P«]rchUUkKb«  Er 


Windelbands  Kritik  des  Phänomenalismus  und  die 
Aufgabe  der  Psychologie  im  Ganzen  der  Erkenntnis. 

Es  ist  neuerdings  üblich  geworden,  auf  die  Psychologie  und  ihren 
wissenschaftlichen  Anspruch  zu  scheiten  und  so  zu  tun,  als  mische 
sie  sich  unbefugt  in  wichtige  menschliche  Angelegenheiten  ein,  deren 
Bearbeitung  ihr  nicht  zufalle,  und  deren  Lösung  ihr  versagt  sei.  Man 
wirft  ihr  vor,  sie  verflache  durch  ihr  ungeziemendes  Eindrängen  die 
ethischen  und  religiösen  Grundfragen,  indem  sie  die  Norm  des  Sitt- 
lichen und  den  Gehalt  des  Glaubens  auflöse  und  verflüchtige,  als 
seien  das  zufällige  menschliche  Vorstellungsweisen,  mit  ebenso  zu- 
fälligen anderen  Inhalten  und  Abläufen  verknüpft  und  aus  ihnen 
herleitbar,  und  zu  einer  höheren  Betrachtung  dieser  Dinge  vermöge 
sie  sich  nicht  aufzuschwingen.  Und  man  behauptet,  eine  gleiche 
psychologische  Verständnislosigkeit  vor  dem  Anblick  der  Funda- 
mente allen  Wissens  und  jener  dunklen  Gründe  zu  finden,  aus  denen 
künstlerisches  Schaffen  und  Erfassen  kommt.  Darum  nennt  man 
den  Psychologen  flach  und  ehrfurchtlos,  einen,  dem  die  Tiefen  fehlen, 
aus  denen  die  großen  transzendierenden  Kräfte  des  Geistes  aufsteigen; 
darum  sei  er  selber  zur  Sterilität  verurteilt  und  ersetze  —  ein  trivialer 
Pedant  —  seine  Unfähigkeit  zur  Zeugung  wahrer  Werte  durch  eine 
empirische  Verflachung  und  Mechanisierung  der  seelischen  Kräfte; 
aus  seinem  Ohnmachtsgefühl  und  der  eigenen  Armut  heraus  parasi- 
tiere er  in  der  reicheren  Seele  der  anderen;  und  besonders  nimmt 
man  ihm  seine  Apparate  übel.  Und  es  ist  seltsam,  daß  ungefähr  die- 
selben, die  das  sagen,  dennoch  von  den  psychologischen  Fragestel- 
lungen sich  nicht  losmachen  können  und  in  nur  methodisch  oder 
heuristisch  andere  Bahnen  gleiten,  mögen  diese  nun  an  den  Namen 
Freud  anknüpfen  oder  an  okkultistische  Hoffnungen  oder  an  spiri- 
tistische Glaubensartikel. 

Es  geht  bei  diesen  Verwerfungsgründen  psychologischer  Betrach- 
tungsweise, scheint  mir,  die  Rede  und  der  Begriff  von  vielem  durch- 
einander, das  man  wohl  trennen  sollte. 

Niemand  wird  verkennen,  daß  ein  Psychologismus  in  die  Arbeit 
des  Geistes  und  in  die  Welt  der  Werte  und  Geltungen  eingedrungen 
war,  der  sich  mit  allem  fertig  dünkte,  wenn  er  es  hinsichtlich  seiner 
seelischen  Gegebenheit  erkannt  und  zergliedert  —  schlimmer:  wenn 
er  es  in  eine  psychophysiologische  Schablone  gebracht  und  von  ihr 
aus  »erklärt«  hatte.  Das  spezifisch  Heutige  dieses  Psychologismus 
ist  seine  biologische  Note;  im  Prinzip  ist  er  ein  Teilphänomen  jenes 


Windel bands  Kritik  d.  l'huuuiiunalisinujt  u.  d  Aufgabe  d.  l'Hycbologie  u«w.     07 

ultübcikumiueneii  Ktupiri.HinuH,  der  Hcit  den  Tagen  der  Hngländer 
mit  einer  Art  hiütorisclion  Zwangen  und  gloieliHani  traditionell  mit 
rutionalereti  IMiilosopheinen  weclmelt.  So  folgte  Leibnizauf  Locke, 
urul  nai'li  H  u  nie  kam  Kant;  nach  dem  HrbiitsMen  Hügel«  erschienen 
Beneke  und  Mill;  dieser  aber  und  Spencer  bilden  da«  metluxlo- 
UjgiHchü  Arsenal  einer  Natnrwisaenschaft,  deren  Siegesgefühl  vor 
keinem  Problem  mehr  zurückMchreckt.  Ihre  letzten  philooophiüchen 
Vorfechtcr  leben  jetzt,  und  der  biologische  oder,  wie  er  «ich  gerne 
nennt,  pragmalische  Psychologismu«  ist  ihr  Produkt.  Die  Iloaktion 
auf  ihn,  von  der  wir  eingangs  sprachen,  ist  das  erste  Symptom  des  neuen 
Kichtungswechsels :  die  Transzendentalismen  kommen  wieder  auf. 

Ich  will  prinzipiell  l)chaupten,  wa«  sich  schon  aus  der  Wertung 
dieses  historischen  Geschehens  ergibt :  daß  es  keinen  Gewinn  darstellt, 
wenn  der  jjsychologistische  Fehler  von  dem  transzendentalist ischen' 
abgelöst  wird.  Wozu  wird  ein  transzendentalist isches  Erkenntnis- 
theorem kt)nstruiert  '.  Es  sollen  letzte,  allgemeinste  Sätze  hin.sichtlich 
ihrer  Geltung  Ix^gründel  werden.  Gewiß  darf  man  diese  Geltung  nicht 
dadurch  beweisen,  daß  man  sie  psychologist isch  auf  Weisen  inneren 
i'lrfahrens  zurückbezieht,  aus  denen  sie  stammen  sollen:  sie  gelten 
ja  vor  aller  Pwfahrung  und  unabhängig  von  ihr.  -Aber  man  darf  eben- 
sowenig den  Versuch  machen,  diese  letzten  Erkenntnisgründe  aus 
Voraussetzungen  zu  ersciiließen,  deren  Geltungswert  der  ihrigen 
gleicht :  denn  diese  Voraussetzungen  müßten,  um  den  versuchten 
Schluß  zu  gestatten,  noch  allgemeiner  sein,  als  jene  letzten  Erkenntnis- 
gründe, die  erst  aus  ihnen  folgen  sollen.  Diese  sind  al)er  als  die  all- 
gemeinsten definiert.  Und  wolier  käme  denn  der  Geltungsgrund 
jener  »Voraussetzungen«?  Für  ihn  erneuerte  sich  doch  das  Problem 
der  Gellung,  das  man  gerade  lösen  wollte.  In  der  Tat  werden  alle 
ilicse  Transzendentalismeu  an  irgendeinem  Punkte  dogmatisch.  Sie 
»setzen  «dann  l>edingungslos  irgendwelche  »letzten«,  endgültig  letzten 
Prinzipien  oder  sie  gel)cn  vor,  sie  intuitiv  zu  erfassen;  und  dann  ist 
der  H<'i'htsanspruch  dieser  Intuition  da.s  Dogma.  Wäre  ein  Trans- 
zendentalismus  wirklich  ein  Fortschritt  unserer  fundamentalen  Er- 
kenntnis, so  wäre  der  stete  Rückschlag  ins  Psychologist ische  gar 
nicht  zu  Ix^greifen.     Ihm  bleibt  ein  Erdenrest  zu  tragen  peinlich. 

Aber  damit  ist  der  Psychologismus  nicht  etwa  gerechtfertigt. 
Aus  der  zufälligen  Wirkli<'likeit  seelischer  Befunde  läßt  sich  gewiß 
die  CJellung  der  liöchsten  Prinzipien  nicht  beweisen I  Deren  Geltung 
ist  ja  die  wesentliche  Voraussetzung  auch  für  die  bloße  Möglichkeit 
jener  liefunde.  Die  psychologist ische  Wendung  ist  wirklich  ein 
Relativieren  der  ewigen  und  wesenhaften  Fundamente  des  Geistes; 
sie  ist  elx'nso  flach  wie  sinnlos;  denn  mit  dieser  Relativierui  "  t 

sie  nur,  daß  auch  alle  un.sere  Erkenntnis  ihren  aijsoluten  W 
wt>rt   einbüßt;  und  ist  das  so,  dann  wird  man  auch  den  Wert   ihrer 
»Wahrheiten«  einzuschätzen  wi.ssen. 

Iit  der  Tat  ist  die  relativistische  Zeit  des  Geistes  eine  Zeit  der 
Normlosigkeit.     Auf  allen  Gebieten  hat  sich  das  gezeigt,   dem  der 

5« 


68     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

Kunst  wie  dem  des  Erkennens  und  des  Glaubens.  Und  da  am  Be- 
wußtsein der  Norm  das  Schöpfertum  verankert  ist,  so  ist  die  psycho- 
logistische,  relativistische  Epoche  eine  solche  unschöpferischer  Leere 
und  Ärmlichkeit. 

Und  es  mag  sein,  daß  die  Psychologie  da  manchmal  als  will- 
kommene Ausflucht  gedient  hat,  um  diese  Unfähigkeit  zur  Gestaltung 
der  Totalität  vom  eigenen  Geiste  aus  mit  dem  Schilde  einer  objektiven 
Notwendigkeit,  einer  gegenständlich  bedingten  Resignation  zu  decken. 
Aber  die  Ehrfurchtslosigkeit  und  das  selbstzweckhafte  und  somit 
zwecklose  Zerspellen  der  Realitäten  schützt  sich  nur  mit  dem  psycho- 
logistischen  Vorwand,  zu  dem  es  die  Psychologie  mißbraucht;  es 
wäre  auch  ohne  sie  da  und  würde  sich  anders  entladen,  wäre  ihm  ihre 
Methode  verschlossen.  Wie  die  Menschen  sind  und  wie  ihre  Charaktere 
und  Neigungen,  dies  ist  ganz  gleich;  es  ficht  die  Wissenschaft  nicht 
an,  er  rührt  nicht  an  ihre  Methoden  und  ihren  Bestand,  die  ihrem 
eigenen  objektiven  Gesetze  gehorchen.  Die  Wissenschaft  von  der 
Natur  und  ihre  notwendigen  Weisen  des  Auflösens  und  Zergliederns 
sind  als  solche  weder  ehrfurchtslos  noch  ehrfürchtig;  sie  stehen  in 
der  erhabenen  Sphäre  einer  Sachlichkeit,  die  eine  Bewertung  nach  den 
Motiven  menschlicher  Zufälligkeiten  nicht  duldet.  Und  die  Psycho- 
logie, die  Wissenschaft  von  der  Natur  der  Seele,  soll  nicht  ungerecht 
das  Opfer  eines  ethischen  Unwillens  werden,  welcher  wider  den  Selbst- 
gefälligen frommt,  der  weltanschaulichen  Mißbrauch  mit  ihr  treibt. 

Sie  hat  aber  auch  in  der  Fundierung  der  metaphysischen  Prin- 
zipien, der  ethischen  Normen,  der  höchsten  religiösen  Geltung,  ihre 
Stelle.  Und  mit  dieser  Behauptung,  die,  wie  wir  zeigen  werden, 
nur  scheinbar  im  Widerspruch  zu  dem  bisher  Gesagten  steht,  knüpfen 
sich  diese  Ausführungen  an  die  jüngst  erschienene  Abhandlung 
W.  Windelbands:  »Über  Sinn  und  Wert  des  Phänomenalismus «i). 
Der  bedeutende  Geschichtsschreiber  der  Philosophie  nimmt  es  hier 
auf  sich,  gegenwärtige  Tendenzen  der  geistigen  Bewegung,  noch 
bevor  sie  zu  Reife  und  Frucht  gelangt  sind,  wie  fertige  historische 
Ganzheiten  zu  werten.  Eine  solche  Behandlung  der  flüssigsten  aller 
schwebenden  Fragen  kommt,  bei  aller  Weite  der  Perspektive,  doch 
immer  auf  Prognosenstellung  und  Warnung  oder  Zustimmung  hinaus. 
Darin  liegt  ihr  Wert,  aber  auch  ihr  Stachel  für  den  Leser,  der  sich 
noch  in  unbefreitem  Mitarbeiten  an  dem  Problematischen  weiß,  auf 
das  Windelband  bereits  wie  auf  Fertiges  und  Abgeschlossenes 
zurückblickt.  Prognosen  sind  Dekrete,  und  Dekrete  in  Grundfragen 
der  Philosophie  fordern  zur  Auflehnung  heraus.  Dadurch  wirken 
sie  Gutes :  denn  indem  sie  Lösungsmöglichkeiten  ausschalten,  müssen 
sie  sie  zuerst  aufstellen;  so  wächst,  an  der  Hand  Windel  band  scher 

1)  Sitzungsber.  d.  Heidelberger  Akad.  d.  Wissensch.,  philos.-histor.  Klasse, 
9.  Abhandl.  1912.  Wir  verstehen  hier  und  in  dieser  ganzen  Abhandlung  aus- 
drücklich unter  Phänomenalismus  nicht  die  sich  selbst  so  nennenden  Spiel- 
arten des  »positivistischen«  Empirismus  eines  Mach  usw.,  —  sondern  das 
Gleiche,  was  Windelband  meint:  die  Naturtheorie  des  kritischen  Idealismus. 


Windi-lbandd  Kritik  d.  i'ha.. .,.  .  ......ci , ,  u.  d.  Au/gu.^    ^   ,  v  bulogie  usw.     69 

CJedunkonführung,  diu  Einniclit  und  CborsiiJit  des  \VidiT«trfitendon. 
Dieses  M(Mneiit  i.st  es,  iiebon  der  Bedeutung  des  Denkers  und  I^*hrers 
Windel  band,  in  erster  Linie,  diis  uns  zu  auHführlicher  Würdigung 
seiner  Ablumdlung  veranlnÜt.  Hierzu  alx*r  kunimt  ein  weitere«: 
Windel  band  ist  einer  von  jenen  transzendentalistiaehen  Verächtern 
der  Psychologie;  und  aueii  Windelbands  neue  Arlx-i^  wci.st  der 
Psychologie  eine  Stellung  im  und  zum  Erkenntnisganzen  zu,  die  von 
den  Psychologen  nicht  unwidersprociien  hingenommen  werden  darf. 
Die  Zuweisung  dieser  Stellung  ist  aber  durch  tiefgreifende  allgemein- 
philosophische  Anschauungen  fundiert,  und  ist  typisch  für  eine  starke 
Strömung  gegenwärtiger  »Kulturphilosophie f,  deren  Exponent  hier 
Windelband  ist.  Wir  sollten  diesen  Streit  einmal  ehrlich  aus- 
fechten! Für  die  Argumentation  der  gekennzeichneten  Richtung  ist 
nun  Windelbands  jüngste  Abiiandlung  ein  vorbildliches  Beispiel. 
Sie  verwirft  den  Phänomenalismus  als  Philosophera;  sie  billigt  seine 
Betrachtungsweise  zwar  der  mathematischen  Xnturtheorie  als  Maxime 
zu,  erklärt  aber  das  GegenstuncLsgebiet  naturwissenschaftlicher  Er- 
kennt iiisart  als  übi'rhaupt  von  nur  sekundärem  Belang,  dem  gegen- 
über »das  V^erständnis  der  Welt  der  Werte,  als  der  höheren  Realität, 
durch  die  Kulturwissenschaft,  d.  h.  durch  die  historischen  Dis- 
ziplinen«, gewährleistet  werde.  Anthropologische  Arbeitsweisen 
werden  daher  nicht  ohne  Heftigkeit  als  untauglich  zu  philosophischer 
Grundlegung  verworfen;  auf  die  »große  Bewegung  der  Idcntitäts- 
philosopiiie«,  auf  Schellings  »Transzendentalen  Idealismus«  als 
die  vorgezeichnete  Richtlinie  einer  wahriiaft  fortschreitenden  philo- 
sophischen Entwicklung  wird  bekenntnishaft  hingewiesen.  Auf  die 
Begründung,  die  solche  (Jedanken  tragen  soll,  muß  gerade  der  Natur- 
wissenschaftler, der  Phänomenologo  und  Psychologe,  eingehen,  um 
sein  Wirken  vor  sich  selber  zu  rechtfertigen. 

Windel  band  hält  es  für  bedeutsam  an  der  Philosophie  dieser 
Zeit,  daß  sie  die  Einschränkung  philosophischer  Arlx»it  auf  Erkennt- 
nistheorie aufzugeben  und  zur  Behandlung  der  »eigentlichen«  sach- 
lichen Probleme  vorwärts  zu  dringen  scheint.  »Denn  eine  sich  von 
allen  inhaltlichen  Problemen  ausschließende  Erkennt nb«theürie,  die 
keine  tieferen  Wurzeln  iiat,  ist  immer  in  (Jefahr,  auf  die  Dauer  ent- 
weder zu  einer  sehenuitischen  Methodologie  oder  gar  nur  zu  einer 
psychologischen  Entwicklungsgeschichte  der  Vorstellungen  zu  ver- 
dorren: ihr  natürliches  Ende  ist  der  Relativismus,  der  «ich  heute 
Pragmatismus  nennt.«  Dekrete!  aber  sie  sollen  uns  zunächst  noch 
nicht  aufluiiten.  —  Das  (^IxTwiegen  erkenntnistheoretischer  Pro- 
bleme, inunerhin  entschuldigt  als  eine  »geschichtlich  notwendige 
Zwischenstufe«,  fand  seinen  Ursprung  in  einer  einseitigen  Restriktion 
der  Philosophie  auf  Kants  Phänomenologie,  auf  seine  Zertrüm- 
merung der  alten  .Metaphysik,  »seine  Lehre  von  der  wissenschaftlichen 
Unerkennbarkeit  des  Dings-an-sich «.  Das  Karditialproblem  der 
Erkenntnistheorie,  das  Verliältnis  von  Bewußtsein  und  Sein.  Wuison 
und   Wirklichkeit,    Erkenntnis    und   Gegenstand    wird    vom    Phäno- 


70    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritisclien  Grundlagen. 

menalismüs  nach  einer  der  möglichen  Richtungen  beantwortet. 
Jene  Frage,  sagt  Windelband,  »erlaubt  viele  Antworten:  das 
Verhältnis  muß  durch  irgendeine  Kategorie  gedacht 
werden,  und  es  lassen  sich  mehr  als  eine  mit  guten  Gründen  darauf 
anwenden  .  .  . «  Ist  das  richtig  ?  Jenes  Verhältnis  läßt  sich  auch 
rein  semiotisch,  im  Sinne  einer  Zuordnung  ohne  irgendwelche  kate- 
goriale  Bestimmung,  denken,  als  ein  »Entsprechen«  von  Erscheinung 
und  Gegenstand,  ein  Zeichensein  oder  ein  »Hindeuten«  des  Scheins 
aufs  Sein  (Herbart).  Man  kann  diese  Zuordnung  sogar  als  moda- 
lisch  notwendig  setzen,  wenn  man  auf  dem  Standpunkt  steht,  daß 
lediglich  die  Art,  die  Bestimmtheit  der  Notwendigkeit,  nicht  aber  die 
Notwendigkeit  selber  in  einem  Verhältnis  kategorial  gedacht  werden 
muß.  Freilich  ist  dieser  Standpunkt  kein  unanfechtbarer,  und  teilt 
man  ihn,  so  bleibt  doch  die  Setzung  der  Notwendigkeit  in  diesem 
Falle  ein  erkenntnistheoretisches  Dogma.  Doch  ist  das  semiotische 
Erkenntnistheorem  auch  ohne  diese  Dogma  möglich i).  Aber  sehen 
wir  von  alledem  ab,  gestehen  wir  selbst  zu :  das  Verhältnis  von  Gegen- 
stand und  Erkenntnis  müsse  »durch  irgendeine  Kategorie  gedacht 
werden«,  so  gilt  diese  Forderung  doch  nur,  wofern  es  überhaupt 
»gedacht«,  erkannt  zu  werden  vermag.  Windelbands 
Formulierung  setzt  eine  objektive  Erkennbarkeit  dieses 
Verhältnisses  bereits  voraus.  Ist  die  Frage  nach  dieser  Er- 
kennbarkeit nicht  aber  eben  das  Problem  der  Erkenntnistheorie? 
Und  löst  nicht  der  Phänomenalismus  dieses  Problem  gerade,  indem 
er  es  als  unlösbar  erkennt?  Bestreitet  er  nicht  gerade  die  Erkenn- 
barkeit, die  objektive  Bestimmbarkeit  der  Beziehung  zwischen  Er- 
kenntnis und  Gegenstand?  und  daher  auch  jede  der  möglichen  kate- 
gorialen  Bestimmungen  dieser  Erkennbarkeit?  Denn  es  fehlt  ihm 
an  jedem  objektiven  Kriterium,  durch  das  er  »Sein  und  Bewußt- 
sein«, »Objektives  und  Reales«  auf  ihre  Übereinstimmung  und  Be- 
ziehung vergleichen  könnte. 

Wenn  Windelband  also  bereits  in  seinen  Voraussetzungen  und 
Ausgangspunkten  die  Forderung  erhebt,  diese  Beziehung  irgendwie 
kategorial  zu  denken,  so  wird  dem  Prinzip  des  Phänomenalismus 
von  vornherein  der  Boden  entzogen;  Windelband  kann  dann  den 
aufs  Phänomenale  beschränkten  Arbeitsweisen  in  ihrer  Tragweite 
niemals  gerecht  werden,  und  es  ist  schließlich  kein  Wunder,  wenn 
er  »psychologisches  Verdorren«  dort  sieht,  wo  uns  der  Boden  echter, 
dogmenfreier  Wissenschaft  bescheidene  Früchte  trägt. 

Wir  also  setzen  kategoriale  Verknüpfungen  nur  da,  wo  sie  hin- 
gehören: als  Prinzipien  möglicher  Erfahrung,  zwischen  den  Er- 
scheinungen selber.  Und  wir  würden  in  dem  Ansetzen  einer  kate- 
gorialen  Beziehung  zwischen  Erkenntnis  und  Gegenstand  erstens 
einen  erkenntnistheoretischen  Fehler,  zweitens  aber  keinen  Akt  des 
Phänomenalismus,   sondern  einen  Akt  der  Zerstörung  allen  Phäno- 


1)  Über  den  einzig  möglichen  Einwand  gegen  alle  Semiotik  s.  sp. 


Wincldband»  Kritik  ti.  ii.    i  li-i-nuB  u.  d.  Aufgabe  «1.  i    >  -•:<!•*.     71 

monalisinns  frl»liiki'n.  U.iiuiii  U-^rüßi-ii  wir  iitn  ho  erfnuttr  den  in 
WiiKlflbundM  gjiMZfr  Al»lmiullinig  erhr<i<-htt?n  historiMrlirii  Nach- 
weis, daü  auch  dan  AnHotzen  einer  «olcheii  katogorialen  lk*7.iehung 
bisher  noch  niemnlH  dclctür  für  den  PliäiioineMaliHinus  geworden  ist. 
Windel  band  prüft  niiiiilidi  in  der  Folge  die  einzehien  Kategorien 
auf  iliro  Tauglichkeit  durch,  für  diese  Ik'ziehuug  cinzuntehen.  Taug- 
lich wäre  diejenige,  deren  Ansatz  den  GegeiiHtand  von  der  p]rkcnntni« 
aus  Ix'stiiutnt,  mithin  den  l'hiinonienali.snui.s  üIxTwindet.  Windel - 
band  findet  nun,  dali  keine  einzige  Kategorie  in  diesem  Gebrauche 
es  in  Wahrheit  ermöglicht,  von  der  Erscheinung  aus  das  Sein  wirk- 
lich zu  ergreifen,  mit  Inhalt  und  Bestimmung  zu  versehen;  daü  also 
trotz  ihrem  Ansatz  ein  unausrottbarer  Phänomenalismus  bleibt, 
hinter  dem  das  Objektive  völlig  »unl)est immbar  und  unaussagbart 
verschwindet.  Windel  band  findet  das,  naturgemäß,  am  histo- 
rischen Beispiel;  es  ließe  sich  auch  systematisch  ableiten  .  .  .  Windel  - 
band  wird  hier  zur  starken  Stütze  des  Phänomenalismus.  Aber  er 
wird  es  wider  eigenes  Wissen.  Denn  seltsamerweise  läuft  seine 
Nachprüfung  unter  der  Fiktion,  daü  es  immer  irgendein  phäno- 
nicnalist  ischcs  Philosophem  in  der  Geschichte  gewesen  sei,  welches 
jeweib  eine  der  möglichen  kategorialen  Beziehungen  zwischen  Sein 
und  Erscheinung  aufnahm:  und  mit  dem  Mißglücken  der  Anwend- 
barkeit der  betreffenden  Kategorie  iK'hauptet  er  dann  —  nicht  etwa 
das  Verfelilte  derartiger  erkenntnistheoretischer  Methoden,  sondern 
die  Unbrauchbarkeit  der  fraglichen  Spielart  des  Phänomenalismus! 
Als  ob  das  Kriterium  der  Unbrauchbarkeit  eines  Philosophems  darin 
läge,  daß  es  sich  nicht  widerspricht  .  .  .  Jene  historischen  Sj'steme, 
deren  Stellung  und  Unhalt barkeiten  niemand  anschauliclier  als 
Windelband  uns  darzulegen  wußte,  mögen  in  einzelnen  Zügen  und 
Fragestellungen  an  solche  piiänomenalistischer  Art  erinnern:  dennoch 
gehören  sie  ganz  prinzij)iell  nicht  zum  Phänomenalismus,  den  ihre 
Versuche  kategorischer  Verknüpfung  von  Schein  und  Sein  gerade 
zerstören,  und  ihre  Unhalt  barkeit   beweist  gar  nichts  gegen  die.*<en! 

Deiuioch  ist  es  von  größtem  Interesse,  Winclelband  zu  den  ein- 
zelnen Versuchen  kategorialer  Verknüpfung  von  Erkenntnis  und 
Gegenstand  zu  folgen,  obwohl  —  oder  weil  —  seine  Ausführungen 
dem  Phänomenalismus  die  Waffen,  die  ihn  schlagen  sollten,  zur 
Verteidigung  in  die  Hände  spielen. 

Schon  wenn  der  naive  Intellekt  der  Ikziehung  zwischen  Sein  und 
Bewußtsein  durch  tue  Kategorie  der  Gleichheit  Umstimmt,  Wahr- 
heit also  durch  die  (Jleichlieit  von  Erscheinung  und  Sein  verbürgt 
ist,  so  nniü,  wie  Windelband  zeigt,  der  Phänomenalismus  darin 
eine  Wurzel  finden,  daß  es  •  Bewußtseiendes  gibt,  dem  kein  Sein 
entspricht  «;  daß  also  »die  Momente,  denen  wir  auch  ein  Sein  zu- 
8chreil)en  zu  dürfen  glau)>en,  v(»n  anderen  Ik?stimmungen  zu  scheiden 
sind,  die  zwar  elH-nfails  allgemein  und  notwendig  vorgestellt  werden, 
aber  auf  den  Wert  der  .Mibildlichkeit  dem  Seienden  gegenüU'r  kei.en 
Anspruch   halxMi«.      Mit   dem    letzteren   ist   der   Erschcinungsbeg:iff 


72    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

umschrieben;    und   diesen    Phänomenalismus,    der   lehrt,    »daß    die 
sinnlichen   Bestandteile   der   menschlichen   Weltvorstellung   nur   als 
Erscheinungen   angesprochen   werden,    dagegen   die   rationalen   Mo- 
mente als  übereinstimmend  mit  dem  Wesen  der  Wirklichkeit  gelten 
dürfen«,  bezeichnet  Windelband  als  partiellen.     Ihn  läßt  er  auch 
in  gewissem  Maße  zu,  als  Voraussetzung  der  Naturforschung,  der 
quantitativen    Gesetzesbestimmung    durch    mathematisch-konstruk- 
tive Theorie.    Ihr  gelten  die  Qualitäten  als  phänomenal,  als  wahres 
Sein  die  Quantitäten,  die  räumliche  Ordnung.    Doch  schon  schränkt 
Windelband    das  Recht    dieser    partiellen    Phänomenalität    ein; 
»woher  das  Recht  dieser  Scheidung?«    Qualität  und  Quantität  seien 
doch  untrennbar  in  dem  einen  und  gleichen   Erleben   verbunden: 
»weshalb  sollen  die  einen  Phänomene,  die  anderen  Realitäten  sein?« 
Sobald    das    Interesse    der    mathematischen    Naturtheorie    erlischt, 
versagt  nach  Windelband  auch  die  Berechtigung  dieser  Trennung; 
sobald  die  Natur  ohne  diesen  Zweck  angeschaut  wird,  fordert  das 
»Recht  dieses  unmittelbaren  Erlebnisses«  auch  die  objektive  Realität 
der    Qualitäten.    —    Seltsam,    daß   in    einem    Erkenntnis  verfahren 
falsch  sein  kann,   was  im  anderen  richtig  war!     Oder  ist  das  »un- 
mittelbare Erlebnis «  kein  Erkennen  ?  was  kümmert  uns  aber  dann 
sein  Anspruch  an  die  Realität  der  Qualitäten?    »Interesse  der  Na.tur- 
theorie  —  Recht  des  unmittelbaren  Erlebnisses«:  so  entscheidet, 
mit   einer   leichten  Geste,    jene   »Kulturphilosophie«,   die 
auf   unsere   sachlich-begrenzte  Arbeit    wie    auf    ein   »Ver- 
dorren«   herabsieht,     über    Probleme    von    so    gewaltiger 
Tragweite,    wie   es  der  Erkenntnisanspruch  der  gesamten 
Naturwissenschaft  ist.     Spürt  sie  auch  die  Last  ihrer  Verant- 
wortung? —  Aber  zweifellos  geistreich  wird  aufgewiesen,  wie  in  dieser 
Forderung  des  unmittelbaren  Erlebens  an  die  Objektivität  der  Quali- 
täten der  philosophische  Nerv  der  Goethe  sehen  Farbenlehre  liegt 
und  der  Grund,  aus  dem  ihr  so  heterogene  Systemschöpfer  wie  Hegel 
und  Schopenhauer  zustimmten. 

Die  Wertscheidung  zwischen  Qualität  und  Quantität  in  ihrem 
Verhältnis  zum  Sein  darf  also  nach  Windelband,  jenseits  der  natur- 
theoretischen Schranke,  fallen.  Aber  es  gibt  zwei  Wege  sie  aufzu- 
heben: man  kann  das  objektive  Sein  der  Qualitäten,  man  kann  die 
Phänomenalität  der  raumzeitlichen  Ordnung  aussprechen.  Dies 
letztere  tat  Kant.  Gewiß  ist  seine  Begründungs methode  der  Phäno- 
menalität von  Raum  und  Zeit  eine  ganz  andere  als  die  der  Subjek- 
tivität von  Sinnesqualitäten:  sie  ist,  wie  Windelband  sagt,  der 
»Preis«  der  Anwendbarkeit  mathematischer  Theorie  auf  die  em- 
pirischen Inhalte;  wir  halten  diese  Fundierung  von  Newtons  Werk 
für  eine  seiner  größten  Leistungen.  Aber  wir  gestehen  Windel  band 
zu :  wir  kommen  damit  nicht  über  das  Prinzip  der  Möglichkeit  von 
Naturerkenntnis  hinaus  und  genügen  dem  Interessengebiet  »un- 
mittelbaren Erlebnisses«  nicht. 

Freilich  wird  durch   Kant,    was  zum  Phänomen  wird,  Inhalt- 


Windelband--«  Kritik  d.  l'i  n.  <i.  Aufi,- il,<- d   !••<.   hc,    ,.    75 

lieh  viel  weiter  gefalit  als  vorcicin;  (I.im  g»-.i;iiiitf  ^<  i^innUindlichc  und 
geöclu'hciido  Aulk-n  und  Innen.  Und  aiilicr  den  inathernatiMchon 
lieHtininiungBslücken  inügliclier  Erfaljrung  werden  V(jn  ilmi  noch 
weitere  Forniprinzipien  der  Phänomene  ilirer  Absolutheit  entkleidet: 
die  katogorialen  Grundformen,  insofern  auch  sie  erst  in  ihrer  An- 
wendung auf  Erfahrung  zu  F!rkenntniHprinzipien  werden.  Mit  die>»cm 
Schritt  Kants  war,  wie  Windelband  sagt,  »alle  Metaphysik  über- 
haupt «  (Kant  hat  gesagt:  alle  dogmatische  Metaphysik)  »preis- 
gcgclx>n «. 

Windclband  faUt,  wie  er  die  mathematische  Synthcsis  als  Er- 
kenntnisgrund aus  den  naturtheoretischen   Postulaten  von   Demo- 
krit  und  Descartes  liistorisch  ableitet,  so  auch,  in  nicht  neuer  und 
nicht   ganz  richtiger  Analogie,  die  dynamisch-kategorialo  iSynthesis 
Kants  als  ein  geschichtliches  Derivat  der  Stellung  auf,  die  Piaton 
den  Ideen,  den  »logischen«  Beziehungen,  als  dem  wahren  Wesen  der 
Phänomene  eingeräumt  hatte.     Den  phänomenalistischen  Zug  aller 
dieser  iSystcme  betonend,  sieht  er  daher  in  Kants  Werk  eine  Ver- 
schmelzung    der     mathematischen      »demokritisch -cartesiani- 
schen«  mit  der  »platoni.'^ch  «-»logischen  <i  Forderung  »partiellere 
Phänomenalismen  an  das  wahre  Sein,  an  Objektivität  und  Absolut- 
heit.    Man  darf  das,  trotzdem  Kants  Dissertation  Zeugnis  ablegen 
muß,  für  eine  jener  reizvollen  Konstruktionen  hallen,  an  denen  der 
Historiker  Windel  band   Überfluß   hat.     Schließlich  sind   Piatons 
Ideen   ja   inhaltlich,   formal,   in   ihrer   gegenseitigen    Rangabstufung 
und  in  ihrem  Bezug  auf  die  Phänomene,  also  ziemlich  in  jeder  Hinsicht, 
etwas  anderes  als  die  kategorialen  Grundformen   möglicher  Erfah- 
rung;   von   ihnen   so    unterschieden,    wie   eben   Seins  best  immungen 
von   Erkenntnisbestimmungen  sein    können.     Und   demjenigen,    der 
nur  wissen  will,  ob  Kants  Lehre  von  den  Kategorien  und  ihrer  An- 
wendbarkeit richtig  ist  oder  falsch,  erscheint  die  Feststellung  äußer- 
licher   Ähnlichkeiten    mit    anderen    historisch    vorgekommenen    An- 
sichten, die   Kants  Lehre  weder  zu  fundieren  noch  psychologisch 
zu  motivieren  geeignet  sind,  im  Grunde  als  unerheblich  .  .  .    Jeden- 
falls:    nach    Windclband    begründet    diese    »Verschmelzung«,    die 
Kant  zwischen  jenen  Ix-iden  »Postulaten«  vollzieht,  indem  sie  jede 
Metaphysik  zerstört,  den   absoluten  Phänomenalismus.     iXnin  die 
kategoriale  Beziehung  bestehe  nicht  in  einer  Verknüpfung  bestimmter 
Erkenntnisse   (Windelband:    »Erkeimtnisinhalte«)    — ,   sondern   in 
»einem  Verhältnis  zwischen  der  Gesamtheit  der  bestimmten  Inhalte 
und  etwas  völlig  Unlx'stimmtem  «.     »Und  von  diesem  Unbestimmten 
sollte  man  nichts  wissen,    als  daß  es,  da  es  zu  dem  Bestimmton  in 
jene  kategoriale  Beziehung  gebracht  und  also  von  ihm  unterschieden 
wurde,  notwendigerweise  etwas  anderes  sein  miLssc,  als  alles  in  der 
Erscheinung  Gegebene.« 

Wir  mü.Hsen  widersprechen:  Kants  Kategorien  verknüpfen  tal- 
sächlich nur  Erscheinungen;  nirgendwo  in  der  Kategorienlehre 
»Wesen«,    »Ding  an  sich«  und   Erscheinung.     Die    Phänomenalität 


74    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritisclien  Grundlagen. 

der  durch  die  Kategorien  verknüpften  Erscheinungen  wird  auch 
nirgends  bei  Kant  aus  der  Geltung  kategorialer  Verknüpfungen 
hergeleitet,  wie  das  Windelband  in  dem  eben  wiedergegebenen 
Zitat  behauptet.  Diese  ganze  Interpretation  Windelbands  ist, 
mit  allen  ihren  Konsequenzen,  hinfällig.  Allerdings  findet  sich  bei 
Kant  der  Ansatz  zu  einer  kategorialen  Verknüpfung  von  Gegenstand 
und  Erkenntnis  im  Sinne  einer  doppelseitigen  kausalen  Abhängigkeit : 
im  »Übergang  zur  transzendentalen  Deduktion«,  §14,  steht:  »Es 
sind  nur  zwei  Fälle  möglich,  unter  denen  synthetische  Vorstellung 
und  ihre  Gegenstände  zusammentreffen,  sich  aufeinander  notwen- 
digerweise beziehen  und  gleichsam  einander  begegnen  können.  Ent- 
weder wenn  der  Gegenstand  die  Vorstellung,  oder  diese  den  Gegen- 
stand allein  möglich  macht.  Ist  das  erstere,  so  ist  diese  Beziehung 
nur  empirisch,  und  die  Vorstellung  ist  niemals  a  priori  möglich«  .  .  . 
usw.  Aber  diese  erkenntnistheoretische  Stelle  hat  mit  der  Grund- 
legung der  Kategorienlehre  und  der  Feststellung  der  empirischen 
Anwendung  der  Kategorien  gar  nichts  zu  tun;  sie  kann  gut  fortfallen, 
ohne  an  System  und  Gebrauch  der  Kategorien  nach  Kant  irgend 
etwas  zu  ändern.  Sie  allerdings  setzt,  dogmatisch,  eine  Beziehung 
zwischen  Erkenntnis  und  Gegenstand;  und  im  Kampfe  wider  solche 
Meinung  würden  wir  Windelbands  Vorantritt  dankbar  anerkennen. 
Fries  hat  diesen  Kampf  schon  vor  100  Jahren  aufgenommen.  Und 
mit  dem  Worte,  das  hier  auch  Windelband  —  nicht  wider  diesen 
Satz,  sondern  gegen  das,  was  er  Kants  Kategorienlehre  unterlegt  — 
findet,  spricht  Windelband  nur  die  eigenste  Meinung  des  Phäno- 
menalismus  aus:  »Mit  dieser  Umbiegung  des  Satzes  aber  verliert 
die  Kategorie  ihre  Brauchbarkeit  für  die  Erkenntnis  .  ,  .  wird  be- 
hauptet, das  Wesen  sei  prinzipiell  nicht  bestimmbar,  so  ist  die  Kate- 
gorie im  eigensten  Sinne  des  W^ortes  gegenstandslos  geworden. « 
Nichts  anderes  haben  wir  von  Anfang  an  behauptet !  Und  gerne 
werden  wir  uns  Windelbands  Führerschaft  anvertrauen,  der  diese 
Unbrauchbarkeit  noch  »an  zwei  anderen  Kategorien  verfolgen« 
will;  wiederum  freilich  in  der  Abischt,  damit  den  Phänomenalismus 
zu  belasten,  der  sich  wirklich  unschuldig  weiß.  Diese  kategorialen 
Setzungen  zwischen  Erkenntnis  und  Gegenstand  sind  das  Verhältnis 
von  Substanz  und  Inhärenz  und  die  Kausal  Verknüpfung. 

Die  Unzulänglichkeit  des  ersteren  Verhältnisses  will  Windel - 
band  am  Spinozismus  erweisen.  Sobald  die  Attribute,  aus  denen 
nach  ihm  die  Substanz  »besteht «,  »noch  in  dem  Sinne  von  ihr  unter- 
schieden werden  wie  im  empirischen  Denken  das  Ding  von  seinen 
Eigenschaften,  so  wird  die  Substanz  zur  leeren  Form  der  Substan- 
tialität  und  Gott  so  völlig  unbestimmt  und  unaussagbar  wie  von 
jeher  in  der  negativen  Theologie  der  Mystik«.  Wird  hier  Spinoza 
nicht  zu  klein  gesehen?  Prinzipiell  ist  dort  die  Unendlichkeit 
möglicher  Attribute  von  der  Substanz  prädikabel,  und  durch  sie  ist 
eben  Gott  »  bestimmt «  und  »  aussagbar  «,  Daß  nur  zwei  davon  aller- 
dings  dem   menschlichen   Erkenntnisvermögen   zugänglich  sind,   ist 


WiniI«'H>'"i«I«  Kritik  (1  riiinomenaliamus  u.  d.  Aufgabe  d.  1'.^ , 75 

eint'  niiihi(>2>'U.p^i-.i  ii  iniMclitige  Begrenzung.  Und  die»««  findet  in- 
Hoferri  ihren  Ausj^leicli,  aln  nich  aus  dem  V'rrhültniH  der  M<«li  zu  den 
Attributen  die  ganze  Vit-Iheit  ge.setzinäliigcr  I*rädiknti(»tien  ergibt, 
deren  System  die  unvollendbaro  Aufgalx?  des  \Vi««enschaftHganzen 
ist.  Die  Analogisierung  dieses  in  sich  ruhenden  naturalistischen 
PanHuismus  mit  irgendeiner  Mystik  können  wir,  im  Zeitalter  Wil- 
helm W'undts,  auf  sich  In'ruhen  lassen.  Richtig  ist.  daü  der  S  pino- 
zismus  die  phänomenale  (Jeltung  von  Natur  involviert.  Dali  die« 
eine  »stete  (Jefahr«  Ix-deute,  ist  ein  Windel  bandsches   Dekret. 

Wertvoller  und  feiner  als  alle  jene  anfechtbaren  Historizismen 
erscheint  uns  ein  hier  angefügter  Exkurs  Windel  band s  ülx'r  die 
Stellung  der  empirischen  Einzeldisziplinen  zum  Phänomenalitäts* 
problem:  Auch  diese  Stellung  nämlich  entwickelt  sich  in  Abhänj^'ig- 
keit  vom  Substanz-Inhärenz-Verhältnis.  Windelband  zeigt,  daß 
jede  einzelwissenschaftliche  Ablauff.lK'stimmung  zu  einer  Trennung 
akzidenteller,  phänomenaler  Bestimmungen  vom  dinghaften  Kern 
des  durcharbeiteten  Gegenstandsgebictes  gelangen  muß,  und  daß 
diese  Au.ssoiiderung  des  »Dinges«,  das  Eigenschaften  »hat«,  in  der 
Architektonik  der  Wissenschaft  sich  stetig  weiter  und  weiter  voll- 
zieht, dnli  der  (Jegenstand  immer '>  absoluter  «  und  leerer,  die  Phäno- 
mene immer  Ix^reicherter  werden.  Zuletzt  gelangt  so  die  Empirie, 
soweit  sie  analysiert,  zu  der  bloßen  Postulierung  einer  unerfahrbaren 
Substanz  als  Gegenstandsgrund.  So  endete  ja  z.  B.  Locke.  »Auch 
dieser  Begriff«,  sagt  Windel  band  mit  Reclit,  »bedeutet  dann  mit 
seiner  Inhaltslosigkeit  nichts  als  die  hypostasierte  Begriffsform  der 
Inhärenz«.  Also  auch  von  der  Empirie  aus  ein  gebieterisches  Zu- 
schreiten auf  den   Phänomenalismus. 

Mit  der  Ansetzung  des  substantialen  Verhältnisses  zwischen  Be- 
wußtsein und  Sein  ist  die  Anerkennung  einer  notwendigen  Zuord- 
nung l>eidcr  gegelx-n.  Denkt  man,  sagt  Windel  band  ,  diese  als  real, 
HO  »spielt  das  Verhältnis  von  Wesen  und  Erscheinung  in  die  Kate- 
gorie der  Kausalität  hinüber.  Die  Erscheinung  ist  so,  weil  das  Wesen 
so  ist ;  das  Wesen  wird  der  Grund  und  bald  auch  die  Ursache  der 
Erscheinung  genannt.«  Die  Kausalkategorie  werde  also  vorwiegend 
angesetzt  »in  der  Richtung  einer  Abhängigkeit  der  Erscheinung  vom 
Wesen«.  Winilclband  sieht,  etwas  mißtrauisch,  diese  kausale 
Verknüj)fung  hinter  allem  naturwissenschaftlichen  Phänomenalismus 
auftauchen,  greift  zum  Beweise  auf  Protagoras  und  dessen  Lehre 
von  der  Wirkung  der  Körper  auf  das  Bewußtsein  durch  Erzeugung 
verschiedener  Empfindungen  zurück  und  meint:  »Im  Prinzip  lehrt 
man  Um  aller  Feinheit  der  Detailausführung,  welche  die  Forschung 
inzwischen  gebracht  hat,  doch  heute  noi'h  genau  dasselU*«.  Der 
moderne  Xominalismus  und  Helmholtz*  ph>-siologischo  Dptik.  »die 
weit  davon  entfernt  ist,  kantisch  gedacht  zu  sein«,  sollen  hierfür 
zeugen. 

Be.Hser  hätte  Windelband  diese  Berufung  unterlassen.  Denn 
sie  Ix'weist  nur.  daßer  hierzwtsi  immerhin  grundverschiedene  Problem« 


76     Vorbereiteude  Einitlhrung  in  dio  aügcin.  crkenatnislaitibclien  Graiidlagea. 

fälschlich  identifiziert  hat:  das  psychophysische  Verhältnis 
(zwischen  physischem  Reiz  und  zugeordneter  psychischer  Reaktion) 
und  das  erkenntnistheoretische  Verhältnis  (zwischen  transzen- 
dentem Gegenstand  und  Erscheinung).  Protagoras  mag  sie  noch 
nicht  gesondert  haben;  aber  trotz  »aller  Feinheit  der  Detailaus- 
führung« hat  die  neuere  Forschung  das  »im  Prinzip«  Verschiedene 
dieser  beiden  Fragestellungen  nicht  übersehen.  Und  daß  Helm- 
holtz'  »physiologische  Optik«  weit  davon  entfernt  ist,  kan tisch 
gedacht  zu  sein«i),  gereicht  sowohl  Helmholtz  als  Kant  zum 
Ruhm,  deren  jeder  sein  spezielles  Problem  klar  abzugrenzen  wußte. 

Um  nun  zur  erkenntnistheoretischen  Seite  dieses  Windelband- 
schen  Problemgemischs  zurückzukehren,  so  wäre  hiermit  die  mo- 
derne semiotische  Auffassung  der  Sachlage,  die  Kant  mit  dem 
Moment  inauguriert  hat,  wo  er  die  Phänomene  und  Noumene  ein- 
ander »entsprechen«  ließ,  zu  den  Versuchen  kausaler  Verknüpfung 
von  Gegenstand  und  Erkenntnis  geworfen.  Das  ist  nicht  berechtigt : 
die  Semiotik,  von  Her  bar  t  bis  Husserl,  stabiliert  keineswegs  ein 
erkenntnistheoretisches  Kausalverhältnis,  wie  ihr  Windelband 
hier  unterlegt.  Sie  bezeichnet  vielmehr  ihre  erkenntnistheoretische 
Stellung  ziemlich  genau.  Windelbands  Einwand  ist  also  keiner. 
Der  einzige  Einwand,  der  wider  die  Semiotik,  ja  wider  allen  nicht 
absoluten  Phänomenalismus  gemacht  werden  kann,  ist  Windel - 
band  völlig  entgangen.  Es  ist  der  logische  des  »introjizierten  Wieder- 
spruchs«, den  Nelson  aufgestellt  hat.  Der  behaupteten  Uner- 
kennbarkeit  einer  Zuordnung  von  Erkenntnis  und  Gegenstand  wider- 
spricht die  Behauptung  des  Bestehens  einer  Zuordnung;  und  die 
Unerkennbarkeit  einer  Zuordnung  schließt  die  Behauptung  dieser 
Unerkennbarkeit  aus.  Und  dieser  Einwand  ist  nur  ein  Spezialfall 
des  fundamentalen  Gegenargumentes,  mit  dem  sich  Nelson  wider 
die  Möglichkeit  jeder  Erkenntnistheorie  gewandt  hat. 

Aber  Windelband  ist  von  solchen  Bedenken  weit  entfernt. 
Ihm  genügt  der  Einwand,  den  wir  als  irrig  erwiesen :  daß  hinter  aller 
erkenntnistheoretischen  Semiotik  eine  erkenntnistheoretische  Kausal- 
theorie stehen  müsse.  Mit  einer  solchen  jedoch,  darin  stimmen  wir 
ihm  gerne  bei,  kann  der  Gegenstand  von  der  Erkenntnis  aus  auch 
nicht  weiter  »bestimmt«  werden;  sie  verfehlt  also  ihren  Zweck. 
Windelband  folgert  hieraus,   »wie  unhaltbar  der  Versuch  des  ab- 


1)  Windelband  hat  natürlich  absolut  recht  mit  diesem  Satze,  wenngleich 
aus  anderen  Gründen,  als  er  anführt.  Die  Behauptung,  Helmholtz'  physiolo- 
gische Optik  sei  »kantisch«,  kann  nur  jemand  aufstellen,  der  entweder  Helm- 
holtz oderKant  nicht  kennt.  Helmholtz  ist  vielmehr,  in  der  Optik  wie  überall, 
der  große  empiristische  Gegenschöpfer  Kants.  Vielleicht  hat  aber  Windelband 
gar  nicht  auf  Helmholtz,  sondern  auf  Johannes  Müller  exemplifizieren  wollen 
und  versehentlich  die  Namen  verwechselt.  Müller  selber  und  viele  Beurteiler 
hielten  in  der  Tat  sein  Werk  für  »kantisch  gedacht«.  Diese  Meinung  ist  irrig, 
aber  auf  sie  paßt  Windelbands  Darstellung,  soweit  sie  auf  Helmholtz  ge- 
münzt sein  soll;  denn  Müller  trennte  seine  erkenntnistheoretische  nicht  von  seiner 
psychophysischen  Zuordnung. 


Windelbandü  Krilik  d.  Phiinomonalisniua  u.  d.  Aufgab«  d.  rHyoboIogie  a*w.     77 

soluttii  riiünoraenaÜHinuH  ist,  die  Goeamtheit  dt»«  im  BcwuOt»ein 
Bestimmten  zur  Erecheinung  eines  prinzipiell  unt>cMtimmbaren 
WescnH  zu  machen.«  Wir  glaulx'n  nicht  rocht  zu  hören.  Da«  Cha- 
rakteri.stikum  des  »ab.soluton«  PhänomenaÜMmuH  (nicht  de»  in 
irgendeiner  Art  »  partielli-n  •,  auch  nicht  des  Hemiot  i.schen,  der  nf>ch 
erkenntni«theorctischc  IJc.standieile  einHchlieüt)  schien  unn  ja  tx;reitfl 
am  Beginn  unserer  Darlegungen  zu  sein,  duü  er  einen  solchen  Versuch 
nicht  macht,  sondern  a  limine  ablehnt.  Und  das  Scheitern  dieses 
Versuches,  wie  es  auch  Windelband  aufwies,  beweist  gerade,  daQ 
der  »absolute«  Pi»äiion\enalismus  (für  uns  der  Phänomenalismus) 
recht  iuitto,  wenn  er  ihn  nicht  macht.  Mehr  noch:  Es  ist  ein  er- 
noutes  Beweisstück  für  die  Unentrinnbarkeit  der  Geltung  dieses 
Phänomenalismus  selbst.  Unhaltbar  ist  hier  also  nicht  der  »ab- 
solute« Piiänomenalismus,  sondern  Windelbands  Folgerung. 

Windelband  indes  vermeint,  den  absoluten  Phänomenalismus 
widerlegt  zu  halwii;  und  er  geht  im  positiven  Teil  .seiner  Abhandlung 
dazu  über,  ihn  zu  überwinden  und  künftiges  Pnilosophieren  auf  die 
rechte  Bahn  zu  weisen.  Noch  einmal  faßt  er  zusammen,  daß  das 
unerkennbare  Ding  an  sich  »nicht  das  geringste  zur  Erklärung  der 
Erscheinungen  lx.'itragen  «  kann  —  was  es  ja  schließlich  auch  ex  de- 
finitione  nicht  soll  —  und  daß  es  dalicr  in  der  phänomcnalistischen 
Erkenntnislehre  »nur  ein  rudimentäres,  funktionslos  gewordenes 
Organ  bildet«  —  was  wir  dahin  verstärken  möchten,  daß  das  Ding 
an  sich  überhaupt  weder  Organ  noch  Funktion  und  nicht  einmal 
Gegenstand  in  einer  phänomcnalistischen  Erkennt nislohro  sein  kann. 
Und  noch  einmal  vollziclit  Wintlelband  den  iSchluß:  »daiier  ist  der 
al>sol»Jte  Phänomenalismus  eine  erkennt nistlieoretisch  unhaltbare 
Position«.  Unhaltbar  ist,  wie  wir  hier  ständig  nachgewiesen  haben, 
jede  erkenntnistheoretischo  Position;  aber  der  absolute  Piiänomena- 
lismus ist  ja  gerade  kein  Erkenntnistheorem,  er  ist  eine  erkenntnis- 
theoretischo Resignation!  Ergreift  das  Problem  aller  Erkenntnis- 
theorie: die  Frage  nach  der  objektiv-gegenständlichen  Gültigkeits- 
grundlage von  Erkennt ni.sson  —  gar  nicht  an;  er  hält  sie  für  unlösbar; 
er  bleibt  daher  ganz  bei  der  Subjektivität  des  Piiänomenalen  stehen 
und  suclit  die  Gründe  der  Geltung  von  Erkenntnissen  als  subjek- 
tive Notwendigkeiten  cpidoiktisch-»  anthropologisch«  (wie  sein 
großer  Vorkämpfer  Fries  es  nannte)  auf. 

Aber  Windel  band  verschließt  sich  vor  dem  allem.  Er  macht 
den  »absoluten«  I*hänomenalismus  zu  einem  Schreckbild;  und  so 
hat  er  alsbald  die  Pflicht,  Kants  Kritizismus  »mit  aller  Entschieden- 
heit« von  dem  Verdacht  zu  befreien,  solch  ein  absoluter  Phänomena- 
lismus zu  sein.  Er  setzt  diesen  dabei  mit  Hamiltons  Agnostizis- 
mus gleich  und  hierdurch  verwischt  er  wiederum  die  Grenzen  l>eider 
Bogriffe.  Ein  Agnostizismus  ist  Kants  Lehre  natürlich  nicht;  und 
dennoch  ist  sie  —  schaltet  man  die  erkenntnistheoretischen  Stollen 
der  transzendentalen  Logik  aus  —  alMolut  phänomenalist isch.  Die»or 
Phänomcnalismus  Kants  schließt  die  Möglichkeit  allgemeingültiger 


78    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

und  notwendiger  Erkenntnis  nicht  aus  —  wie  das  der  Agnostizismus 
tut  —  sondern  auf!  Kants  Lehre  bedarf  keiner  Rettung  vor  sich 
selber. 

Selbst  Windelband  kann  nicht  umhin,  die  phänomenalistische 
Position  von  Kants  theoretischer  Philosophie  zuzugestehen;  und  so 
muß  denn  jene  »Rettung«  von  der  Seite  der  praktischen  Lehre 
Kants  erfolgen.  Der  Gedankengang  wäre  etwa:  diese  praktische 
Lehre  ist  nicht  phänomenalistisch,  sondern  auf  Erkenntnis  der  Dinge 
an  sich  gerichtet.  Und  sie  hat  den  Primat.  Also  war  Kant  kein 
Phänomenalist.  Folgen  wir  den  Ausführungen  Windelbands  im 
einzelnen.  Die  Einsichten  der  praktischen  Vernunft  gelten  für  Kant 
»nicht  bloß  als  Ahnungen  des  Gefühls«,  »wie  sie  von  den  Bieder- 
meierphilosophen, den  Jacobi,  Pries  oder  Hamilton  gedeutet 
wurden  «,  noch  weniger  natürlich  als  pragmatische  Fiktionen  im  Sinne 
neuer  Konventionalismen,  »sondern  durchweg  als  rationale  Denk- 
notwendigkeiten des  Vernunftslebens  in  seiner  einheitlichen  Tota- 
lität«, »Und  das  ist  das  Entscheidende«  ...  »es  darf  nie  vergessen 
werden  «  .  .  .  »  man  soll  diese  Auffassung  nicht  ignorieren  «  .  .  .  »  man 
darf  sie  nicht  vergessen«  .  .  .  Ist  die  Gefahr  so  groß?  Oder  dürfen 
wir  Windelband  versichern,  nicht  einmal  ein  Anfänger  im  kanti- 
schen Denken  werde  ignorieren  oder  vergessen,  daß  Kants  kate- 
gorischer Imperativ  mit  apodiktischer  Gewißheit  gilt,  und  daß  den 
Einsichten  der  praktischen  Vernunft  Notwendigkeit  und  Ailgemein- 
gültigkeit  zukommen.  Auch  der  »Biedermeierphilosoph«  Fries  hat 
das  nicht  vergessen;  wohl  aber  hat  der  Historiker  Windelband 
vergessen,  was  dieser  Biedermeierphilosoph  nicht  vergessen  hat  und 
unter  » Ahndimg  «  verstanden  wissen  will.  Der  Biedermeierphilosoph 
—  welch  humorvolle  Charakteristik  eines  der  größten  deutschen 
Geister!  —  also  Fries  trennt  nämlich  die  Notwendigkeit  und  Apo- 
diktizität  der  Geltung  praktischer  Normen  von  der  Art,  wie  ihr 
Inhalt  ins  Bewußtsein  gelangt.  Dies  letztere,  erkenntnispsycho- 
logische Problem  führt  ihn  zu  der  Lösung,  daß  ein  Teil  jener  Normen, 
z.  B.  die  ästhetischen,  gar  nicht  diskursiv  und  bestimmt,  sondern 
als  Inhalte  einer  eigenartig  strukturierten  Gefühlsfunktion  bewußt 
werden,  die  er,  ohne  sie  phänomenologisch  zu  erörtern,  Ahndung 
nennt.  Würde  sich  Windelband  mit  seiner  Autorität  dieser  recht 
exakten  Trennung  anschließen,  so  würde  sich  manches  neuere  Miß- 
gebilde kulturphilosophischen  »Denkens «,  wie  es  sich  zum  Beispiel 
im  »Logos«  findet,  erledigen;  als  ein  mißglückter  Versuch,  für  be- 
grifflich Unfaßbares  wenigstens  Worte  zu  finden.  Man  kann  natür- 
lich auf  das  ahndend  Erfühlte  wie  auf  die  Ahndung  selber  auch  reflek- 
tieren ;  doch  ist  dann  die  Gefahr  »  psychologischen  Verdorrens  «  nicht 
ferne.  Alles  in  allem:  Der  Einwand  der  Gefühlsphilosophie  wider 
Fries  ist  sachlich  irrig;  und  die  daher  geleitete  Bezeichnung  »Bieder- 
meierphilosoph« paßt  wirklich  nur  auf  den  Fries,  der  das  Geschöpf, 
nicht  auf  den,  der  das  Opfer  dieses  historischen  Irrtums  ist. 

Einig  aber  sind  alle  Kantianer    mit  Windelband  in  der  Auf- 


Windolbanda  Kritik  (L  PbanomonAliamtu  u.  d.  Aufgabe  d.  rsychologi«  turw.     79 

faAsung  der  Mudalitüt  aller  praktüichon  Normen,  die  hü  sclbHtver- 
Btändlich  iHt,  daß  ihre  atarke  Betonung  durch  Windel  band  merk- 
würdig anmutet. 

Wa.s  nun  Hchlielit  er  daraus? 

Kants  PhänomenaÜHmuH  »ei  doch  nur  ein  •  p.irliellfr «.  Kr 
komme  auf  eine  Zweiweltentheorie  hinauH,  in  der  daa  Sinnliche,  die 
»Welt  als  Ki-scheinung«,  auf  die  »sekundäre  Wirklichkeit«  angewiesen 
sei.  Nolx-n  dieser  »erscheinenden  Wirklichkeit«  stehe  die  »wahre 
Wirklichkeit «,  daa  Übersinnliche,  da«  Wesen,  der  Gegenstand  der 
in  praktischen  Normen  gesetzten  »Welt Vorstellung«.  In  der  theo- 
reti.schcn  Philosophie  nun  ist  das  Übersinnliche  das  Unerfahrbare. 
Und  doil»  muÜ  es,  da  es  im  Ik'wuülsein  ist,  »erlebt,  im  inneren  Sinne 
erfahren«  werden.  Ks  gibt  also  eine  Möglichkeit  direkter  Erkenntnis 
von  Dingen  an  sich;  und  sie  liegt  in  dem  »Verständnis  der  Welt  der 
Werte«.  Wie  die  Naturwi.ssenschaft  die  Sinnenwelt,  so  ergreift  die 
Kulturwissenschaft,  d.  h.  »die  historischen  Disziplinen«,  diese  »höhere 
I^-alität«.      Hier  steht    Hegel. 

In  die.>*er  Darstellung  Windelbands  liegt,  scheint  uns,  eine 
unzulässige  Vereinfachung  der  vernunftkritischen  Problcmlage.  Man 
kann  sie  sich  durch  folgende  argumcntatio  ad  hominem  verdeut- 
lichen. Ist  die  Wirklichkeit  der  Sinnenwelt  eine  zwar  sekundäre, 
»alHT  darum  nicht  minder  wirkliche  Wirklichkeit«  als  die  »wahre 
Wirklichkeit  «  des  Wesens  der  Dinge,  —  und  ist  ferner  die  Sinnen- 
welt die  zugeordnete  Erechcinung  des  Wesens  der  Dinge  — ,  so  folgt, 
daü  die  P^rkenntnis  der  einen  (»wirklichen«)  wie  der  anderen  (»wah- 
ren«) »Wirklidikeit «,  die  beide  auf  den  gleichen  Gegenstand,  daa 
»Wesen«,  zurückgehen,  inhaltlich  identisch  sein  muß.  Denn  beides 
sind  ja  wahre  Erkenntnisse  üU'r  den  gleichen  Gegenstand.  Daraus 
folgt  die  Clxrflü.ssigkeit  einer  der  beiden  Erkenntnisarten,  und  zwar 
natürlich  derjenigen,  die  den  Umweg  über  die  »sekundäre  Wirklich- 
keit «  nimmt:  aller  Naturwissenschaft.  Das  könnte  den  jungen 
Mystagogen  der  Kulturphilosophie  so  passen  ...  Es  leuchtet  aber 
ein,  daU  Erkeimtnis  von  Naturgesetzen  nicht  identisch  ist  und  sein 
kann  mit  der  Aufstellung  praktischer  Normen.  Mithin  muß  in  den 
Iniden  Prämi.ssen  ein  Kehler  stecken.  Man  muß  also  entweder  an- 
nehmen, die  »wirkliche  Wirklichkeit  «sei  nicht  »wahr«,  oder  »wahre 
Wirklichkeit«  sei  nicht  »wirklich«.  Etwas  Ähnliches  trafen  wir  in 
der  Tat  Ihm  Windel  band  l)ereits  an,  als  er  an  (Joethes  Farbenlehre 
demonstrierte,  daß  das  Wahrheitskriterium  einer  Erkenntnis  n)it 
dem  Interesse  der  Verfahrensweise  und  Erlebensart  wechseln  darf. 
Uns  erscheint  das  sinnwidrig.  Wir  erblicken  den  Fehler  jener  beiden 
Voraus.set Zungen  in  der  ihnen  gemeinsam  zugrunde  liegenden  Be- 
hauptung, theoretische  und  praktische  Prinzipien  seien  Arten  der 
gleichen  »Welt Vorstellung«.  Wir  können  —  was,  wie  wir  glauben, 
auch  im  Sinne  Kants  ist  —  Wintlelband  nicht  zugeben,  daß 
die  Dinge    an   sich   in  der  theoretiichen  Philosophie  iden- 

tiHcli       «i|iii1        mit       il(>M      P  r  1  II  7  (  p  !  ••  »1       iii>r      II  r  •!  L  f  1  •< :   h  «' n      P1»IM>- 


80     Vorbereitende  Einfühlung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

Sophie.  Kants  praktische  Philosophie  ist  überhaupt  keine  Art 
von  »Weltvorstellung  «  im  Sinne  einer  auf  einen  Gegenstand  gerichte- 
ten, erkennenden  Rezeptivität;  ihr  Inhalt  ist  die  Erkenntnis  von 
Art,  Form,  Inhalt  und  Verbindlichkeit  der  Normen  unseres  Handelns. 
Und  wenn  Kant  weiterhin  zu  Postulaten  im  »Übersinnlichen«  ge- 
langt, so  hat  die  hierauf  gerichtete  Dialektik  mit  der  eigentlichen 
Normen bildung  und  der  Untersuchung  ihres  Verbindlichkeits- 
gründes  nur  eine  höchst  indirekte  Beziehung;  sie  könnte  ganz  fehlen: 
am  Begriff  der  Norm,  an  der  Geltung  der  Norm,  am  Grund  ihrer 
Verbindlichkeit  änderte  sich  nichts.  Nun  ist  die  praktische  Dialektik 
bei  Kant  freilich  da;  auch  sind  ihre  Postulate  (Gott,  Freiheit,  Un- 
sterblichkeit) gerade  diejenigen  Prinzipien,  von  denen  Kant  sehr 
explizit  nachgewiesen  hatte,  daß  ihre  theoretisch  bestimmte  Er- 
kenntnis nicht  möglich  ist;  sie  sind  also  zweifellos  »Dinge  an  sich«. 

Aber  sie  sind  nicht  die  Dinge  an  sich.  Vor  allem  nicht  diejenigen, 
denen  das  bestimmte  Einzelne  an  der  Erscheinungswelt  und  der  ge- 
setzmäßig unendlich  vielfach  bestimmte  Zusammenhang  des  Ein- 
zelnen jeweils  entspricht.  Auch  über  diese  können  wir  gar  nichts 
weiter  aussagen,  als  daß  sie  gefordert  sind,  weil  die  Erscheinung  und 
der  Zusammenhang,  in  dem  sie  steht,  erkannt  wird.  Diese  Un- 
endlichkeit hinter  der  phänomenalen  ist  die  »wahre  «  Welt  der  Dinge 
an  sichi)  in  einem  ganz  anderen  Sinne  als  die  drei  aus  dem  Prinzip 
des  höchsten  Gutes  üsw.  bei  Kant  nicht  erkenntnismäßig, 
sondern  normativ  hergeleiteten  praktischen  Postulate.  Die 
erstere  ist  der  Stempel  des  Phänomenalismus;  die  letzteren  können 
angenommen  oder  abgelehnt  werden,  ohne  an  der  phänomenalisti- 
schen  Struktur  der  Erkenntnis  etwas  zu  ändern. 

Denn  Windelbands  Einwand,  daß  auch  sie  im  Bewußtsein  er- 
lebt werden,  ohne  doch  zur  Erscheinung  zu  werden,  besagt  nur  etwas 
wider  den  Erkenntnischarakter  dieses  Erlebens.  Ich  habe  das 
Bewußtsein  der  Existenz  dieser  Dinge  an  sich  genau  so,  wie  ich  das 
Bewußtsein  der  Existenz  jener  anderen  Dinge  an  sich  haben  kann. 
Der  Grund  dieses  Bewußtseins  ist  beide  Male  ein  verschiedener;  in 
einem  Falle  ein  praktischer,  im  anderen  ein  theoretischer.  Das  Be- 
wußtsein der  Existenz  aber  ist  die  einzige  Art  von  Erkenntnis, 
die  ich  von  diesen  »Dingen  an  sich  «  ex  def  initione  haben  kann.  Was 
ich  sonst  noch  vom  Wesen  der  Dinge  » im  Bewußtsein  erlebe «,  ist, 
sofern  es  irgendeine  Art  von  Bestimmtheit  gewinnt,  gemäß  der 
Struktur  Kantschen  Gedankenbaus  —  dialektischer  Schein. 
Will  man  über  die  Meinung  Kants  wirklich  und  ernstlich  hinaus- 
kommen, so  sollte  man  sich  durch  Windelbands  Verdikte  nicht 
abschrecken  lassen,  die  neue  Begründung  der  Ideenlehre  bei  Fries 
und  seine  Untersuchung   der  Art,    wie   wir  das  Wesen   der  Dinge 

1)  Cohens  wesentlich  andere  Auffassung  und  Verwertung  des  »Ding-an- 
sich  «-Begriff s,  so  sehr  diese  Leistung  eines  reichen  Geistes  Bewunderung  ver- 
dient, wird  hier  nicht  diskutiert:  weil  sie  uns  trotz  seiner  Behauptungen  nicht 
In  Wort  und  Sinn  von  Kants  Werk  enthalten  zu  sein  scheint. 


Windelbands  Kritik  d.  Ptianompnaliamiia  u.  d.  Aufgabe  d.  pKjcbologie  luw.     81 

uiimittolhui     im    Ik'WuUtiH'in    crlelK'ii,    recht    gründlich     keitnrn    zu 
lernen. 

Kurz:  vh  gibt  nicht  eine  lx5«tinuute,  direkte,  unmittelbar  ira  Bc- 
wußtsiiii  erlebte  Erkenntni»  der  wahren,  ülx?i-Minnlichen  Wirklichkeit 
neben  der  »wirklichen  Wirklichkeit «  der  Sinnenwelt,  (AüthetiHches 
und  religiöses  Erlebnis  hat  zwar  dicwo  Merkmale,  nl>er  keinen  Er- 
kenntniHcluirakter.)  Kants  thcorotiHchcr  PhünomenaliHmus  wirrt 
nicht  dadurch   »partiell«.  daU  er  praktische   Postulatc  aufstellt. 

Aus  allem  Bisherigen,  das  Einzclarljeit  war,  in  deren  Kcsultaton 
man  sich  Windelband  odrr  unseren  Einwänden  ausschlieUen  mag  — 
tritt    Windelbands   (Jedankenführung    plötzlich    heraus   und   über- 
8cha\it  ihr«'   l'roblemhige  von  höchster  Warte.     Zwei  Anerkennt niaae 
nimmt  sie  voraus:  die  Anerkenntnis  eines  Dualismus,  in  dem  weeen- 
haftcs   Clx>rsinnlichos,  und  erscheinendes  Sinnliches  einander  gegen- 
über treten.     Und  als  Zweites,  als  AnstoQ  zu  aller  idealistbch-philo- 
Bophischer  Arbeit  :  die  Anerkenntnis  einer  15<'ziehung  zwischen  diesen 
beiden  Polen  der  Totalität.    Jeder  Phänomenalismus,  sagt  Windel - 
band,  iiat  ein  ')dop|X'ltC8  Gesicht«.     Auf  der  einen  Seite  sind  We«en 
und  Erscheinung  etwas  voneinander  Geschiedenes.     Auf  der  anderen 
Seite  ist  es  das  Wesen,  da.s  in  den  Erscheinungen  sich  selber  mani- 
festiert.    Ein  Antagonismus  zweier  Tendenzen  ist  daher  in  der  idea- 
listischen Erkenntnistheorie  zu  Ix'merken  :  die  eine  betont  die  Vvr- 
schiedenheit    von   Phänomen  und  Wesen,  die  andere  (die  »positive«, 
sagt  Windelbantl)   die   Feinheit  in   Ixüdem,  den    »Grundgedanken« 
der  »Verwirkliciiung  des  Übersinnlichen  in  der  Sinnenwelt«.     Kant 
mag  im  Theoretischen  noch   Dualist.    i.  e.    Phänomenalist,  gewesen 
sein:    die    Nachkantianer    seit    Maimon    und    Fichte   gingen    tur 
»positiven«,  unifizierenden  Tendenz  iilx'r;  und  zwar,  wie  der  Histo- 
riker  bemerkt,    »durch   die    Aufnahme   des    Leibnizschen    Prinzips 
der  Kontinuität«.      »Und   das   kam    zum   vollen  Austrag   in  Schel- 
lings   »transzendentalem   Idealismus«,   in   welchem   mit   ausgiebiger 
Benutzung     und     durchgängiger    Verarl>eitung    der    Leibnizschen 
Bei^riffe  die  Reste  des  Kan tischen   Phänomenalismus  von  der  idea- 
listischen Metaphysik  abgestreift   wurden«. 

Ist  dies  die  historische  Linie,  in  der  Windelbaml  den  Aufstieg 
zur  Wahrlieit  sieht,  so  bleibt  ihre  Rechtfertigung  noch  zu  erweisen. 
Windelband  bleibt  sie  keineswegs  schuldig.  Sie  setzt  in  dem  Mo- 
mente ein,  wo  Kants  Wertscheidung  von  theoretischer  und  prak- 
tischer Philosophie  als  Unzulänglidikeit ,  als  Halbheit  erkannt  wini. 
Wodurch  kommt  diese  Sp:iltung  in  Kants  Philosophie  hinein  f  Da- 
durch, meint  Windelband,  »dali  nach  Kant  das  theoretische 
Wissen  auf  spezifisch  menschlichen  Vorstellungsweisen,  da»  prak- 
tische BewuOts(>in  dagegen  auf  Vernunftnotwendigkoitcn  beruh«-, 
die  für  alle  vernünftigen  Wesen  in  gleicher  Weise  gt»lten«.  Di©?*« 
Position  Kants  ist  »nicht  haltbar«.  Und  hier  muU  die  Parteinahme 
einsetzen.  »Entweder  muß  auch  unser  praktisches  Wert«»n  ab«  ein 
in  den  Bedingungen  des  menschlichen  Wesens  begründetes  und  dv^- 

Kronfeld,  rvychUtrtache  Erkeonlato.  0 


82    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

halb  darauf  beschränktes  Verhalten  betrachtet  werden,  —  oder  es 
müssen  auch  in  unserem  theoretischen  Leben  Momente  anerkannt 
werden,  die  eine  über  diese  Bedingungen  des  menschlichen  Wesens 
hinausgehende  Wahrheit  besitzen.«  Und  Windelband  fährt  fort: 
»Damit  sind  die  beiden  Wege  bezeichnet,  auf  denen  die  weitere  Ent- 
wicklung über  Kants  Dualismus  hinausgehen  kami.  Erweitert 
sich  die  anthropologische  Auffassung  von  dem  theoretischen  Gebiet 
aus  über  die  Gesamtheit  der  Weltanschauung,  so  geht  dieser  Anthro- 
pologismus unaufhaltsam  in  Relativismus  und  Pragmatismus  aus. 
Und  andererseits:  erobert  das  universelle  Prinzip  von  Kants  prak- 
tischer Philosophie  auch  das  Reich  der  theoretischen  Vernunft,  in- 
dem auch  deren  Prinzipien  als  über  den  Menschen  hinaus  für  das 
Wesen  der  Wirklichkeit  selbst  gültig  angesehen  werden,  so  eröffnet 
sich  der  Weg  zu  einer  Metaphysik  des  Geistes.« 

Hier  also  der  Kreuzweg.  Und  obwohl  die  Wahl  der  einen  von 
den  beiden  Richtungen  uns  durch  Windelbands  Perspektive  ver- 
lockend gemacht  wird,  schwanken  wir  dennoch  und  fragen:  welches 
Argument  unseres  Führers  appelliert  denn  nun  nicht  an  unser  Hoffen 
und  Wünschen,  sondern  an  unser  überlegendes  Besinnen?  Welches 
ist  denn  nun  die  objektive  Rechtfertigung  des  Wegs  zur  Identitäts- 
philosophie ? 

Folgendes  finden  wir:  Das  Schreckgespenst  des  Relativismus 
und  Pragmatismus,  das  schon  am  Eingang  der  Abhandlung  dem 
Psychologen  entgegendi'ohte.  Davon  nachher.  Ferner  die  Be- 
hauptung, daß  auch  Kant  selbst  dem  letzteren  Wege  mehr  zugeneigt 
hätte  als  dem  ersteren.  Also  ein  historisches  Argument  von  —  wie 
nach  unseren  früheren  Einwendungen  klar  sein  wird  —  sehr  be- 
streitbarer Richtigkeit.  Ferner  finden  wir  den  Satz:  »Die  Begriffe, 
mit  denen  der  Phänomenalismus  arbeitet,  reichen  niemals  weiter 
als  bis  zu  einer  lediglich  problematischen  Stellungnahme  hinsichtlich 
der  metaphysischen  Grundfrage  der  Erkenntnistheorie«  —  einen 
Ausspruch,  den  wir  völlig  unterschreiben,  ohne  indes  einzusehen, 
inwiefern  er  einen  Einwand  darstellt.  —  Ferner  eine  prinzipiell  nicht 
wichtige  Hinweisung  darauf,  daß  die  Phänomenalität  von  Raum 
und  Zeit  noch  einige  unentschiedene  Probleme  einschließe.  —  Ferner 
den  Satz:  »An  Stelle  der  quantitativen  Grenzen  menschlichen  Wissens 
und  Begreifens  .  .  .  möchte  der  absolute  Phänomenalismus  die  quali- 
tative Behauptung  setzen,  die  Erscheinung,  die  wir  denken  und  er- 
kennen, sei  etwas  ganz  anderes  als  die  Realität,  auf  die  wir  sie  be- 
ziehen. Aber  die  Ungleichheit  ist  gerade  so  wenig  beweisbar  wie  die 
Gleichheit «.  Ganz  gewiß !  aber  der  Phänomenalismus  denkt  gar  nicht 
daran,  sich  durch  derartige  positive  Behauptungen  über  die  Be- 
ziehung zwischen  Realität  und  Erscheinung  selbst  das  Grab  zu 
schaufeln!  Wer  diese  Beziehung  für  ein  objektiv  unauflösbares 
Problem  hält,  wird  seinen  Standpunkt  doch  nicht  durch  eine  so  naive 
Lösung  negieren!  Windelbands  Einwand  ist  ganz  ausgezeichnet, 
—  aber  gegen  wen  er  sich  richtet  —  das  wollen  wir  nachher  doch  noch 


WiutlelbaDda  Kritik  d.  \_^        ^  ^io  u»w.     83 

fc«t8tellen!  —  Endlich  zum  Schluß  da«  Bekenntnis  :  *li;ui  Vurhältni« 
von  BewulitHüin  und  Sein  niuU  durch  andere  Kategorien  i/<'dirht 
werden«  als  Clleichhcit  und  Ungleichheit,  .  .  .  »die  von  da   t  de 

Kntwicklung  wird  prinzipiell  Hchwerlich  andere  Hahnen  ci       ^t:n 

können,  aln  sie  durch  die  große  Bewegung  der  Identitätaphilcwuphie 
in  der  Richtung  vorgereichnet  sind,  daß  für  das  kategoriHche  Grund- 
verhältni«  zwischen  Sein  und  Bewußtsein  »tatt  der  Gleichheit  die 
Identität  eingesetzt  wird«.  Also  eine  Prognotje  ohne  weitere  Be- 
gründung. 

Da«  ist  Windel bands  objektives  Recht fertigungsniaterial  seiner 
Foeition.      hls   ist    wenig    —    so  wenig,   daß  wir  una  erneut   fragen: 
damit  soll  die  Beiseiteschiebung  der  Naturtheorie,  iiiäbesondere  der 
l'sychologie  (oder  mit  dem  Wort  der  Alteren:  Anthrojxjlogie)  für  die 
Beantwortung  von   Krkenntnisgrundf ragen  fundiert   werden  dürfen? 
Andererseits:  vergessen  wir  niciit,  daß.  auf  dem  Boden  der  Win- 
delbundschen    Alternative,    die    Zurückweisung    seüier    Argumente 
noch  gar  nichts   positives   ausmacht   über   die  Richtung  de.s  einzu- 
schlagenden   Weges.      Auch    wenn   alle  seine   Rechtfertigungen   hin- 
fällig sein  sollten,  kann  sein  Weg  richtig  sein.    Vielleicht  iüt  aber  auch 
die  Alternative  selber  schon  falsch  gestellt,   und   beide   Wege  sind 
J  rrwego  ? 

Dieses  wichtigste  Problem  zu  untersuchen  —  ein  Problem,  an 
dem  der  Erkennt ni.sanspruch  unserer  Einzeldi.sziplinen,  an  dem  die 
Mügliciikcit  wahrer  Erkenntnis  selber  und  ilirer  Kriterien  verankert 
ist  — ,  kehren  wir  zu  Windeibands  fundamentalen  beiden  Voraus- 
setzungen zurück. 

Da  wird  zunächst  wohl  klar,  daß  Windel  bands  eigener  Satz: 
»die  Gleichheit  (von  Wesen  und  Erscheinung)  ist  gerade  so  wenig 
beweisbar  wie  die  Ungleichheit  «  —  jede  seiner  beiden  Prämissen  zu 
einem  Dogma  stemjx'lt.  Ist  die  Gleichlieit  nicht  beweisbar,  so  ist 
auch  die  Identität  nicht  Ix'weisbar;  also  Ix'haupte  man  sie  auch 
nicht!  Und  wenn  Windelband  sehr  treffend  sagt,  die  Begriffe 
des  Phänomenalismus  reichten  nur  bis  zu  einer  problematischen 
Stellungnahme  zu  dieser  erkenntnistheoretischen  (Jrundfrage:  so 
scheint  uns,  es  gibt  ülx«rhaupt  keine  bessere  Rechtfertigung  dieoer 
prol>lematischen  Stellungnahme,  als  hier  Windel  band  sell)er  ge- 
gel)en  hat.  Gleichheit  und  Nicht -CJleichheit  ist  eine  vollständige  Dis- 
junktion; tertium  non  datur.  Keines  von  Beiden  ist  »beweisbar«. 
Konsequenz:  »problematische  Stellungnahme«.  Die  Inkonsequenz 
liegt  offenbar  bei  IXMnjenigen,  der  die  Voraussetzungen  der  UnU»- 
weisbarkeit  macht  \uui  die  Konsetpienz  daraus  wie  einen  Vorwurf 
aus.spricht.  Warum  alx>r  keine  Aussage  ülx«r  das  erkenntnistheo- 
retische Problem  gemacht  werden  kann,  das  wurde  bereits  oben 
erörtert.  Kants  Phänomonalismus  war  also  wohl  bedacht,  und  dio 
idontitätslehre  seiner  »überwmder«  überwindet  tatsächlich  die  Kritik 
lurch  das  Dogma;  sie  raubt  uns  die  große  Errungenschaft  Kant»; 
aber  mit   unzulänglicher  Kraft. 


84     Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntnif^kritiscben  Grundlagen. 

Erwas  ganz  anderes  als  dieses  erkenntnistheoretischc  Problem 
enthält  aber  Windelbands  Frage,  ob  nicht  Kants  »Wertschei- 
dung« von  theoretischer  nnd  praktischer  Vernunft  eine  »Halbheit« 
sei.  Diese  Frage  ist  sehr  diskutabel  —  wenn  wir  nur  zunächst  wüßten, 
was  mit  »Wertscheidung  «  gemeint  sei.  Offenbar  umschreibt  Windel  - 
band,  was  er  meint,  wenn  er  davon  spricht,  daß  das  theoretische 
Wissen  auf  spezifisch  menschlichen  Vorstellungsweisen,  das  prak- 
tische Bewußtsein  aber  auf  Vernunftnotwendigkeiten  »beruht  ((, 
Was  bedeutet  dieses  »beruhen«?  Offenbar  den  Grund  der  Gültig- 
keit des  theoretischen  Wissens  und  des  praktischen  Bewußtseins. 
Windelband  will  also  »spezifisch-menschliche  Vorstellungsweisen« 
als  Gri;nd  der  theoretischen  Erkenntnisse  und  Vernunftnotwendig- 
keiten «  als  Grund  des  praktischen  Verhaltens  bezeichnen,  will  sagen, 
daß  diese  beiden  Gründe  etwas  voneinander  toto  genere  Verschiedenes 
sind,  und  will  weiter  sagen,  dies  sei  Kants  Meinung.  Es  bleibt  doch 
merkwürdig,  daß  Kant  sein  theoretisches  Hauptwerk  nicht  als 
»Kritik  der  spezifisch  menschlichen  Vorstellungsweisen«,  sondern 
als  »Kritik  der  reinen  Vernunft«  bezeichnet  hat.  Auch  schließt 
doch  das  eine  Glied  dieser  Disjunktion  logisch  wenigstens  das  andere 
keineswegs  aus.  Vielleicht  gehören  die  spezifisch  menschlichen  Vor- 
stellungsweisen irgendwie  zu  den  Notwendigkeiten  der  Vernunft 
hinzu  oder  umgekehrt.  Windelband  hat  also  ganz  gewiß  recht; 
hier  steckt  ein  Problem,  das  Parteinahme  erfordert ;  an  ihm  ist  wieder 
einmal  das  Grundproblem  des  Erkennens  überhaupt  irgendwie  ver- 
ankert: freilich,  wie  wir  sehen  werden,  diesmal  nicht  mit  seiner  ob- 
jektiv gegenständlichen,  sondern  mit  seiner  subjektiven  Seite. 
Wenn  Windelband  hier  einen  Gegensatz  aufstellt  zwischen  psychi- 
scher Funktion  einerseits  und  Vernunftnotwendigkeit  andererseits, 
so  kann  und  soll  es  nur  den  Sinn  haben,  daß  die  letztere  insofern 
über  alle  psychischen  Funktionen  hinausragt,  als  ihre  Inhalte  nicht 
bloß  subjektiv  notwendigen,  sondern  objektiven  Geltungscharakter 
haben,  und  als  dieser  Geltungsanspruch  für  die  menschlichen  »Vor- 
stellungsweisen« natürlich  nicht  einsteht. 

Hierzu  ist  nun  folgendes  zu  bemerken:  wie  kann  ich  entscheiden, 
ob  das  so  ist?  Welche  Mittel  habe  ich,  um  den  objektiven 
Geltungscharakter  der  Vernunft  zu  begründen;  welche, 
um  ihn  zu   bestreiten? 

Verifizieren  kann  ich  ihn  nicht.  Denn  dazu  müßte  ich  das  trans- 
zendente Objekt  selber  neben  die  Vernunft  halten  können,  um  ihre 
Adäquatheit  an  ihm  als  Kriterium  zu  prüfen.  Das  aber  kann  ich 
nicht ;  denn  der  Gegenstand  ist  mir  nur  in  der  Erkenntnis  gegeben  — 
und  um  deren  Grundlage,  die  Vernunft,  handelt  es  sich  ja. 

Bezweifeln  kann  ich  den  objektiven  Geltungscharakter  der  Ver- 
nunft ebensowenig.  Denn  die  Möglichkeit  des  Zweifels  setzt  bereits 
die  Geltung  der  Vernunft  voraus.  Und  ferner:  Das  einzige  Kri- 
terium der  Berechtigung  des  Zweifels  ist  wiederum  der  transzendente 
Gegenstand. 


Windelband«  Kritik  d.  Ph&iiuinvoiilijiiiiuii  u.  d.  Aufgabe  d.  Ptj< 

AImu  auächiMMciid  uiich  hier  cino  •probleiimtiHche  Stellun^iiiiiiu.«-  i 
Wo  steckt  denn  alxT  der  (irund  der  Clültigkcit  von  Kr  kennt  niiMcn, 
wo  duH  Kriterium  ilirer  Walirlieit? 

Sehen  wir  unn  dun  andere  Glied  der  WindclbandHchen  Dij*- 
junkfion  an.  Sie  lautete:  entweder  Psyc-hologiHniuB  —  oder  tranj*- 
zendentalisliöche  IdentitätHnietaphyHik.  über  die  letztere  wurde 
gesagt,  wa«  kritisch  zu  sagen  war.  Bleibt  nun  nur  der  andere  Weg 
als  Ausweg  ? 

Windelband  hat  bereits  gezeigt,  wohin  er  führt.  Ruht  wirklich 
der  CJrund  der  Geltung  von  Erkenntnissen  in  Details  un.serer  empi- 
rischen seelischen  Organisation,  so  ist  die  Gefahr  des  liclativismu» 
und  Konvent ionalisinus  .sehr  nahe,  so  fällt  Ge*M^tz  und  Norm,  wahr 
und  falsch  in  sich  zusammen. 

Andererseits  ist  kein  Zweifel,  daU  unsere  Erkenntnisse  wirklich 
zu  »spezifisch  menschlichen  Vorstellungswei-sen  *  gehören  —  es  ist 
überaus  wertvoll,  daü  Windelband  auch  in  Kants  Kritik  der 
reinen  Vernunft  diesen  Gedanken  findet  und  ihre  Leistung  somit 
als  eine  psychologische  lx;t rächtet. 

Der  Ausweg  liegt,  wie  mir  scheint,  in  folgendem.  Die  Vernunft 
und  ihre  Notwendigkeiten  sind  auch  in  Kants  Kritik  der  reinen 
Vernunft  der  letzte  Grund  aller  )>spezifisch  menschlichen  Vorstel- 
lungsweisen«, sofern  sie  auf  Erkenntnis,  auf  Wahrheit  Anspruch 
erheben.  Ihre  Derivation  aus  der  Vernunft  —  aus  der  transzenden- 
talen Apperzeption  —  wie  sie  die  Kritik  aufweist,  verleiht  allererst 
den  Inhalten  dieser  »Vorstellungsweisen«  Geltung,  Notwendigkeit, 
Wahrheit. 

Diese  Vernunft  aber,  so  wenig  ich  mit  meinen  Erkenntnismitteln 
ihre  Transzendenz  ins  Objektive  zu  erweisen  vermag,  kaini  ich  eben- 
sowenig ihrer  Absijlutheit  entkleiden.  Ich  kann  sie  nicht  anzweifeln 
darauf  wurde  schon  hingewiesen.  Ich  kann  nicht  —  wie  Nelson 
«  mmal  an  Kants  iM'kanntem  IJeispiel  ausführte,  sagen,  »ich  sei  nur 
so  eingerichtet  denken  zu  müssen«  A  gilt.  Denn  auch  der  Gültig- 
keitsgrund dieses  Urteils  —  ich  sei  nur  so  eingerichtet  —  läge  dann 
<larin.  daß  ich  nur  so  eingereichtet  bin  denken  zu  müssen,  ich  sei  nur 
so  eingerichtet  denken  zu  müssen  .  .  .  usw.  Und  von  diesem  Urleil 
gilt  das  Gleiche,  und  so  ergäln.»  ein  unendlicher  Kegreli  die  Unmög- 
lichkeit einer  derartigen  Au.ssage.  Bin  ich  niir  so  eingerichtet  denken 
/.u  müs.sen,  A  gilt,  so  sage  ich  eben:  A  gilt,  ein  anderes  ist  unmöglich. 

Das  Selbstvertrauen  der  Vernunft  in  ihre  eigene  Wahr- 
Iteit  ist  also  die  Voraussetzung  allen  Erkennens,  sowohl 
faktisch  als  auch  seiner  Möglichkeit  nach.  Und  nun  mag 
ich  in  der  Tat  anthropologisch  untersuchen,  inwiefern  meine  Vor- 
stellungswei.sen  in  ihr  wurzeln,  inwiefern  sie  deren  Inhalt  und  Form 
durchdringt  —  die  Gefahr  des  Psychologismus  ist  vermieden.  Denn 
Erkenntnis  gilt  dann,  weil  Vernunft  ist,  nicht  als  »spezifi-sch 
menschliche  Vorstellungsweise«  und  auch  nicht  als  ihr  Gegenteil  — 
sondern  schlechthin:    weil   sie  ist   als  letzte  und  oberste  Vor- 


86    Vorbereitende  Einführung  in  die  allgem.  erkenntniskritischen  Grundlagen. 

aussetzung  aller  Erkenntnismöglichkeit  überhaupt,  als 
solche  weder  bezweifelbar  noch  begreiflich. 

Damit  sind  beide  Seiten  der  Windel  band  sehen  Alternative  ab- 
gewehrt :  der  Transzendentalismus,  insofern  wir  mit  unseren  kritischen 
Aussagen  niemals  den  Boden  dessen  verlassen,  was  unserer  Erkenntnis 
wirklich  zugänglich  ist;  und  der  Psychologismus,  insofern  der  Grund 
und  die  Wahrheit  von  Erkenntnissen  nicht  in  den  spezifisch  mensch- 
lichen Vorstellungs weisen,  die  uns  Vernunftnotwendigkeiten  ins 
Bewußtsein  bringen,  gesucht  werden,  und  ebensowenig  in  den  psycho- 
logischen Untersuchungen,  welche  diese  Vorstellungsweisen  an  der 
Vernunft  verankern  oder  von  ihr  ablösen.  Der  Psychologie  aber 
fällt  hier  die  wichtigste  aller  Positionen  zu,  welche  die 
kritische  Philosophie  zu  vergeben  hat:  das  Verfahren  der 
kritischen  Begründung  von  Erkenntnissen,  die  Vernunft- 
kritik selber.  Sie  ist  nicht  mehr  das  Aschenbrödel  des  Transzenden- 
talismus, sie  wird  nicht  von  den  historischen  Disziplinen  ausgeschaltet, 
sondern  sie  bildet  ihre  wichtigste  Grundlegung.  Meinong  hat  un- 
längst ersti)  für  ^ie  Werttheorien  einen  schönen  Beweis  ihrer  Fähig- 
keiten dazu  erbracht.  Sie  steht,  was  mehr  ist  als  dieses  Einzelne,  als 
Wächter  am  Eingang  zur  Wahrheit  selber. 

Es  war  Jakob  Friedrich  Fries,  der  diese  Form  der  Erkenntnis- 
kritik geschaffen  und  ausgebaut  hat,  die  einen  befreienden  Ausweg 
bedeutet  aus  der  Enge  zwischen  der  Scylla  des  transzendentalistischen 
und  der  Charybdis  des  psychologistischen  Vorurteils.  Sein  Werk 
ist  in  den  letzten  Jahren  durch  seine  Schüler  wieder  aufgelebt,  aber 
noch  vor  wenigen  Jahren  hat  Windelband  den  Sieg  Hegels  über 
Fries  proklamiert. 

Auch  wir  glauben,  daß  der  Kampf  um  die  philosophischen  Wahr- 
heitskriterien sich  zu  einen  Ringen  zwischen  diesen  beiden  Lehren 
zuspitzen  wird:  zwischen  ihnen  wird  die  endgültige  Entscheidung 
fallen  müssen.  Aber  wir  sehen  Fries  noch  nicht  geschlagen.  Auch 
durch  dieses  neue  Werkchen  Windelbands  nicht.  Und  darin  liegt 
die  Rechtfertigung,  oder  doch  die  Entschuldigung  dafür,  daß  wir 
Windelbands  Arbeit  nicht  einfach  referierten,  sondern  auch  kriti- 
sierten. Denn  vor  dem  wichtigsten  Problem  des  erkennenden  Men- 
schen ist  jede  Scheinobjektivität  eine  innere  Un Wahrhaftigkeit. 

1)  Logos  III,  1. 


Hauptteil. 


Ein   Kuihlblick   über  (i('«r«'n\viirtsströiiiiiii;::«'ii 
der  (ItMitsrIh'ii  psycliiafrisclM'n  iiinl  psycliolotrisclicn 

1.  Der  Siep  (1<  r  lutcrolo^ischen  ForsrliungsteiHieiiz»*!!  in  der 

rsycliiatri«'. 

In  der  deutschen  Psychiatrie  luit  das  Lebenswerk  Kraepclins 
eine  bis  an  ilire  wissenschaftlichen  Wurzehi  reichende  Umformung 
bewirkt.  Bis  zu  seinem  Auftreten  in  der  Forschung  kann  man  zwei 
große  Perioden  derscUxMi  voneinander  abgrenzen.  Ihre  älteste  war 
die  der  s{x>kulativen  psychologischen  Theorie.  Diese  sah  im  Wesen 
der  Kranklieiten  psychiscli  kranker  Menschen  einen  toto  genero 
anderen  Prozeß  als  in  dem  körperlicher  Krankheit.  Sie  übertrug 
den  Krankheitsbegriff  von  der  letzten  Kategorie  nur  in  metapho- 
rischem .Sinne  auf  die  psychischen  und  psychotischen  Abwegigkeiten. 
Eine  völlige  Unvcrgleichbarkcit  schien  ihr  hier  zu  herrschen.  Indem 
sie  die  genetischen  Fundamente  seelischer  Erkrankung  restlos  eben- 
falls iT»s  Seelische  verlegte,  welches  sie  durch  die  Iranszendentalisti- 
Hche  Identitätsphilosophic  noch  als  substantialisiert  zu  denken  ge- 
wtihnt  war,  mußte  die  spekulative  Theorie  aus  Unzulänglichkeiten 
dieses  Seelenwesena  die  einzelnen  seelischen  Krankheitstypen  kon- 
struktiv herleiten  und  aufbauen.  Solche  Unzulänglichkeiten  konnten 
moralischer  Art  sein,  Schuld  oder  Sünde  (Reil,  Heinroth);  sie 
konnten  im  »Widerspruch  zum  Xaturzweck«  (Hoffbauer)  geboren 
werden;  sie  konnten  aus  »gewucherten  Leidenschaften t  (Esquirol, 
Dissertation)  sich  bilden.  Die  Einzelheiten  waren  ab«urd;  die  an 
sie  geknüpfte  vermeintliche  Willcnsheilpädagogik  eine  üble  Mischung 
von  liicdirmeiermoralismus,  Pedanterie  und  Brutalität.  Mit  ge- 
nialem Wt)llcn  befreite  Griesinger  die  Forschung  aus  dieser  speku- 
lativen Sackgas.se  durch  die  klare  Erkenntnis,  daß  der  an  jxsychischen 
Merkmalen  zu  bildende  Krankheitsbegriff  grundsätzlich  nur  ein 
symptomatologischcr  sein  könne,  dem  als  ideale  Forderung  ein 
patliogenetischer  gegenülx»r  zu  treten  habe.     Damit  war  die  zweite 


•)  ZumromciifaatH'odc  Bearbeitung  rweier  Abhanillungen,  welche  -  für 
einen  I^^^wrlcrei«  von  Nnturfonnhem  b<"nfhnet  --  in  der  »Scienti««  en«chicnen. 
Sie  wiirdm  hier  nufgrnommen  um  eini^'-r  (Je-nichtupunkte  willen,  welche  mir 
prinzipiell  wiihtig  sind.  Die  wahrend  des  Kriege«  erschienenen  Arbeiten  wurden 
nicht   a.ehr  beruikätchtigt. 


90  Ein  Rundblick  über  Gegenwartsströmungen  usw. 

Epoche  psychiatrischer  Forschung  eingeleitet.     Schon  Griesinger 
erkannte  die  somatische  Basis  dieses  zu  fordernden  pathogenetischen 
Krankheitsbegriffes  und  führte  daher  die  Psychiatrie  aus  der  Reihe 
philosophischer   Scheinwissenschaften   zu  ihrer  natürlichen   Mutter, 
der  Medizin,  zurück.    War  aber  für  ihn  die  Identifizierung  der  psycho- 
logisch  beobachtbaren    psychotischen  Typen  mit  den  pathogeneti- 
schen  Fundamenten    in   einer    Krankheitseinheit   noch   eine   ideale 
Forderung,  welche  höchstens  zufällig  einmal  sich  realisieren  mochte, 
aber  weder  durch  das  Wesen  somatologischer  Forschung,  noch  durch 
das    symptomatologischer    Psychologie    grundsätzlich    gewährleistet 
werden  konnte,   so  verloren  seine  Schüler  und  die  auf  ihn  folgende 
Forschergeneration  die  weise  Selbstbeschränkung  des  Meisters  nur 
zu  bald.     Der  Aufstieg  der  ganzen  somatischen  Medizin  riß  sie  mit 
fort;    vorschnell  und  kritiklos   wurden   deren  Gesichtspunkte  auch 
zu  uneingeschränkten  Kriterien  psychiatrischer  Forschung.     Patho- 
genetische Basis  seelischer  Veränderungen  war  nach  dem  Erkenntnis- 
stande jener  Zeit  ausschließlich  die   Pathologie  des  Zentralnerven- 
systems,  und  mußte   es   sein.      Und  psychiatrische   Forschung   der 
zweiten  Epoche  bestand  nunmehr  ausschließlich  darin,  die  beobacht- 
baren psychischen  Veränderungstypen  den  Formeln  der   —  äußerst 
rudimentär  entwickelten    —   Hirnpathologie   in   Hypothesen,   Kon- 
jekturen,  Konstruktionen   und  Konventionen   anzupassen.     Hierzu 
mußten    psychophysiologische,    hirndynamische    und    eine    Zeitlang 
auch  »molekülarmechanische  «  Theorien  gebildet  werden,  welche  sich 
in  gleicher  Weise    auf  Hirntätigkeit  und  seelisches   Geschehen  be- 
zogen,  und  welche  im  Grunde  in  bezug  auf  Beides  nichts  waren  als 
leere  Phrasen.     Das  Psychische  wurde  in  dieser  ganzen  Forschungs- 
richtung   zum   bloßen   Epiphänomen.     Die   großen  und   bleibenden 
Verdienste,  welche  die  Führer  dieser  Richtung:  ein  Exner,  Meynert, 
Westphal,  Schule,  und  vor  allem  Wernicke,  sich  um  die  For- 
schung erworben  haben,  und  die  noch  in  den  Arbeiten  der  jetzigen 
Forschergeneration  befruchtend  fortwirken,  betreffen  durchweg  nicht 
die   eigentliche    Psychiatrie    im  strengen  Sinn,   sondern  ein   Grenz- 
gebiet  psychischer  Sekundärfunktionen  rezeptiver  und  expressiver 
Art,  deren  epiphänomenales  Wesen  man  zugeben  könnte,  ohne  damit 
das  Wesen  des  Seelischen  selber  zu  berühren.      Vor  allem  aber  be- 
treffen sie  die  von  allem  psychologischen  Beiwerk  befreite  Gehirn- 
forschung, als  neue  deskriptive  somatologische  Wissenschaft.     Kli- 
nisches Forschen  bewegte  sich  im  Kreise  der  hirnpathologisch  vor- 
gegebenen Dogmatik;  und  wo  es  sich  von  ihr  befreite,  wie  in  dem 
Werke   Ziehens,    kam  es  nicht  über  symptomatologische   Klassi- 
fikation hinaus.     Es  war  Kraepelin,  welcher,  anknüpfend  an  Vor- 
gänger wie  Kahlbaum,  Hecker  und  wenige  andere,  die  Forschung 
in  ihre  dritte  Periode  die  hinüberleitete,  welche  wir  als  die  klini- 
sche  charakterisieren   können.      Will   man   aus   seinem   gewaltigen 
Lebenswerke  diejenige  Forschungsmaxime  heraussondern,  welche  uns 
hier  als  weiterleitender  Gesichtspunkt  fruchtbar  ist,   so  kann  man 


Der  Sieg  dor  bi-t«rologiachen  Foraobuogateodflnaen  in  6rr  Pi^cbutrie.      ^1 

sagen:  er  hat  nolx'n  den  Hvmptoinatohigischon  und  dc*n  pathogene- 
twchen  Kranklu-itHlK'Kriff  den  noHologischen  in  der  Kon»chung 
durchgt'setzt.  Kr  hat  IMatz  gfHt'haffcn  für  dio  i>syili<jlo;^'isch-kliiiijich« 
Bfschreibung,  welche  in  wahrhaft  vorurtciLsltmer  Weihe  an  einem 
einzigen  unmittelbaren  Zweck  orientiert  war,  und  dieser  Zweck  ist 
praktischer  und  prognoHtincher  Art.  Keine  theoretische  Stellung- 
naliine  verdunkelt  ihn  und  .schränkt  ihn  ein.  80  sind  durch  ihn  neu© 
Krjinkheitseinheiten  nosologischer  und  klinincher  Art  geschaffen 
worden,  nicht  auH  den  Abetraktionen  spekulativer  Psychologie  heraus 
und  ebensowenig  aus  Lokalisationshypothescn  der  Hirnpathologie; 
sondern  aus  vorurteilsloser  sj-ntematischer  Beobachtung  heraus, 
welche  sich  nicht  bloß  an  einwlne  ZustancLsbilder  klammerte,  sondern 
ülxT  das  ganze  LelnMi  der  Kranken  erstreckte,  und  die  V^erlaufstypen 
der  Krankheit  sell)er  zum  Ausgangwptinkt  nahm.  Für  diese  Beob- 
achtung stellten  alle  Materien  eine  gleiche  Bedeutsamkeit  dar,  alle 
waren  gleicher  Beachtung  würdig,  von  der  Struktur  der  Erinnerungs- 
fälschungen bis  zur  Altersstatistik,  vom  Muskeltonus  bis  zur  Rinden- 
veränderung, vom  Stammbaum  bis  zum  Strafregistcrauszug.  Die 
Ordnungsgesichtspunkto  für  die  ungeheure  Materialienfülle,  welche 
sich  auf  diese  Weise  ergab,  waren  vorwiegend  äußerliche.  Wenn 
sich  auch  zeitweise  bei  Kraepelin  da.s  Bestreben  regt,  z.  B.  bei  der 
Erfassung  und  Einteilung  der  symptomatischen  Psj'chosen  toxischer 
Art,  aus  psychischen  Verschiedenheiten  Gesichtspunkte  ihrer  gegen- 
seitigen Abgrenzung  zu  gewinnen,  so  hielt  er  sich  doch  im  allgemeinen 
völlig  und  lK.>wuüt  im  Bereiche  reiner  Heuristik,  ohne  das  Bestreben, 
in  einer  psychologischen  oder  anders  gearteten  Synthese  zu  gründen. 
Als  eine  Ganzheit,  eine  Krankheitseinheit  galt  ihm  alles,  was 
auf  Cirund  seiner  Beobachtungen  Analogien  aufwies  in  den  Sympto- 
men, der  Verlaufsform,  der  Ätiologie  und  dem  zerebralen  Bilde.  Das 
grundsätzliche  und  methodologische  l*roblem  der  Tragweite  und  des 
Geltungsl)ereiches  dieser  »Analogion«  Ijesonders  im  psychischen  Ge- 
schehen beachtete  er  nicht.  Er  zog  sie  beliebig  weit,  und  sein  Ge- 
sichtspunkt blieb  der  gleiche,  auch  wenn  in  dem  reichen  Gesamtbilde 
individueller  Krankheitserscheinungen  bei  psychischen  LÄngsschnitten 
und  Querschnitten  solche  Analogien  in  gewissen  Symptomgriippen 
bestanden,  in  anderen  fehlten.  Wa.s  uns  heute  eine  der  wichtigsten 
Fragen  zu  sein  scheint:  der  Grund  der  Existenz  derartiger  »Ana- 
logien« —  bildete  für  ihn  größtenteils  ülierhaupt  kein  der  Forschung 
zugängliches  Problem.  Seine  Krankheitsoinheiten  betrachtete  er 
selber  nicht  als  endgültig  feststehende  Realitäten;  sie  wan'H  nichts 
anderes,  als  Ordnungsgesichtspunkte  der  klinischen  Praxis;  und  mit 
weiser  Vorsicht  war  er  .sell)er  der  erste,  sie  gegebenen  fallt*  bei  fort- 
schreitender Erfahrung  zu  modifizieren.  So  ist  das  Kriterium  der 
Theorienfreiheit  zum  Signum  seiner  Arbeitsweise  g;eworden. 

Unsere  Forschung  ist  inzwischen  zweifellos  in  mancher  Hinsicht 
nicht  mehr  reines  Epigonentum  Kraepelinscher  Gedanken,  simdern 
über  ihn  hinausgclangt.     Aber  dir  ablehnende  Haltung  im  Hinblick 


92  Eiii  Rundblick  über  Gegenwartsströmungoa  usw. 

auf  alles  Theoretische  ist  geblieben.  Die  neue  Aufgabe,  welche  die 
Forschung  über  ihn  hinausführte,  war  zunächst  die  einer  noch  vor- 
sichtigeren Selbstbescheidung,  als  sie  Kraepelin  selber  bereits 
geübt  hatte,  und  blieb  im  wesentlichen  kritischer  Art.  Sie  bestand 
darin,  unabhängig  von  den  momentanen  Bedürfnissen  klinischer 
Praxis  alle  die  neuen  Materialien  hinsichtlich  der  Einteilungen  und 
Ordnungen,  welche  Kraepelin  sehe  Erfahrung  in  ihnen  vollzogen 
hatte,  auf  ihre  Bewährung  zu  prüfen.  Wenn  sich  damit  auch  die 
Forschung  äußerlich  zunächst  innerhalb  der  Grenzen  des  durch  ihn 
Geschaffenen  weiterzubewegen  scheint,  so  schlummert  dahinter  doch 
bereits  ein  Umschlag  seiner  Maximen  in  ihr  Gegenteil,  Beispielsweise 
darf  sich  für  sie  die  Zusammenordnung  der  Phänomene  am  lebenden 
Kranken  und  an  der  Leiche  nicht  mehr  nach  Gesichtspunkten  voll- 
ziehen, welche  den  zufälligen  und  äußerlichen  Gesichtspunkten  der 
Klinik  entsprechen.  Jede  der  beiden  Beobachtungsreihen  hat  viel- 
mehr, unabhängig  voneinander,  ihrem  eigenen  Gesetz  zu  folgen. 
Das  innere  Band,  welches  notwendig  sowohl  die  einzelnen  psycho- 
tischen Symptome  und  Zustandsbilder  als  auch  die  einzelnen  Ver- 
laufsformen als  auch  endlich  die  histopathologischen  Typen  zu  einer 
Einheit  verbindet,  muß  gleichwohl  für  jede  einzelne  dieser  drei 
Sondersphären  besonders  entdeckt  werden.  Der  Einheitsgesichtspunkt 
punkt  ihres  Verbundenseins  tritt  zurück  hinter  der  methodischen 
Sonderart  ihrer  einzelnen  Durchforschung.  So  ist  die  gegenwärtige 
Epoche  der  Psychiatrie  zu  einer  solchen  methodologischer  Be- 
sinnung geworden,  welche  jedes  Sondergebiet  unabhängig  von  allen, 
anderen  zu  durchforschen  unternimmt  mit  Hilfe  von  Methoden,  die 
einem  jeden  in  besonderer  Weise  angepaßt  sind.  Ihr  letztes  Ziel  ist, 
alle  diese  Sondergebiete  im  systematischen  Rahmen  wissenschaft- 
licher Synthese  zusammenzufassen.  Anstatt  also  den  nosologisch- 
klinischen  Charakter  der  Forschung  festzuhalten,  geht  die  Synthese 
letzten  Endes  auf  ein  pathogenetisches  Ziel  —  ganz  im  Sinne  von 
Griesingers  vorausschauendem  Genie,  aber  in  der  Hoffnung,  das- 
jenige, was  ihm  nur  eine  ideale  Forderung  bedeuten  konnte,  durch 
methodische  Arbeit  fallweise  zu  realisieren. 

Freilich  hat  die  Aufteilung  der  Psychiatrie  in  Sonderzweige  der 
Forschung  dazu  geführt,  daß  ihre  methodische  Trennung  diese  Syn- 
these noch  nicht  einmal  von  ferne  erkennen,  geschweige  denn  in  die 
Erscheinung  treten  läßt.  Die  Methoden  verfeinern  und  spezialisieren 
sich  immer  mehr  und  werden  daher  von  immer  engerer  und  be- 
grenzterer  gegenständlicher  Anwendung.  Daher  sind  auch  die 
Fortschritte,  die  in  den  einzelnen  Forschungszweigen  gemacht  werden, 
keineswegs  überall  auch  nur  annähernd  die  gleichen.  Die  beträcht- 
lichsten hat  zweifellos  die  Histopathologie  der  Großhirnrinde 
mit  sich  gebracht.  Unter  der  Führung  von  Nissl,  Alzheimer  und 
ihren  Schülern  ist  dieses  Gebiet,  das  noch  vor  wenigen  Jahren  fast 
unzugänglich  schien,  so  durchforscht  worden,  daß  wir,  für  eine  große 
Reihe  von  Psychosen,  Untersuchungen  besitzen,  welche  die  klinisch- 


ÜtT  !>icg  clor  hct<rologinch«^n  KorBcbuiig»U-Dd«»zfn  in  der  Paychiatri«-.      i*S 

diagnoHtiwclicn  Bt-dürfnissp  dor  KraepcIiiiHrheii  Ära  an  Cicnaiiigkeii 
und  VertiffuiiR  weit  ülHTtffffii.  K»  sei  hier  nur  priiiiu-rl  an  Spiel- 
meyors  Untersuthungen  ül)or  den  fleekweisen  MiirkHclieidenauMfall 
büi  Paralyse,  dem  ein  klinischei*  Äquivalent  bis  jetzt  nicht  entMpricht, 
an  die  Untersuchungen  zur  tuberöeen  Sklero«e,  an  Alzheimers 
nach  ihm  genannte  Krankheit,  die  dann  klinisch  erst  Kokundär  auf 
(Irimd  seiner  histopiithologischen  Befunde  ahgrenzhar  wurde,  an 
iSträuülers  Studien  zur  juvenilen  Paralyse  und  ihrer  Beziehungen 
zu  Entwicklungshemmungen,  an  die  (iliastudien  verschiedener  Kor- 
scher, inslxjaondere  Heltls  und  Alzheimers,  an  die  Abgrenzung 
der  familiären  amaurotischen  Idiotie,  welche  der  Arbeit  verschiedener 
Forscher  uruibhängig  voneinander  zu  verdanken  ist.  an  das  Studium 
fötaler  Bildungsliemmungen.  dem  Ranke  wertvolle  Arlx-iten  wid- 
mete, und  an  die  neuesten  Arbeiten  Jahneis  und  Hauptmanns 
über  da«  Verhalten  der  Spirochäten  bei  der  Paralyse  und  ihre  Be- 
ziehungen zum  rindenpathologiachen  Prozeß,  welche  sich  würdig 
den  besten  Forschungen  des  Auslandes  anreihen.  Auch  die  feinere 
anatomische  F]inzclfor8ch\ing  im  Rindengebiet,  welche  an  die  Arbeiten 
von  Bielschowsky,  Economo,  V\jgt  u.  a.  m.  anknüpft,  hat 
Fortschritte  gezeitigt,  welche  indes  die  grundlegenden  Probleme  der 
Fibrillcnstruktur,  des  nervösen  Graus,  des  Zidlenbaus  und  der  Neu- 
ronenlehrc  nicht  wesentlich  über  die  älteren  Arbeiten  Bethes  hinaus- 
zufördern  vermochten.  Hingegen  ist  ein  bemerkenswerter  Fort- 
schritt den  unermüdlichen  Forschungen  Brodmanns  gelungen, 
welcher  die  Lokalisat ionslehre  durch  seine  grolien  Arbeiten  den 
psychophysiologischen  Dogmen  zu  entrücken  vermocht  hat,  die 
die  Lehren  von  Flechsig,  Munk  usw.  in  den  Vordergrund  gestellt 
hatten.  Seine  vergleichend-aiuitomischen  Studien  am  Zellbild  der 
Rinde  haben  es  ermöglicht,  morphologisch  identische  Strukturtyf)en 
verschiedener  Rindenregionen  landkartennrtig  nel>eneinander  zu 
stellen.  Neuerdinga  hat  Nissl  wenigstens  für  das  Kaninchengehirn 
auf  neuen  experimentell-anatomischen  Wegen,  unter  Benutzung  der 
Ouddenschen  Degenerationsmethode,  zwischen  diesen  deskriptiven 
Abgrenzungen  Brodmanns  und  den  entsprechenden  Gegenden  der 
großen  Stammganglien,  insln-sondere  dem  Thalamus  und  seinen 
Kernen,  Ix'stimmte  gesetzmäßige  Bi'ziehungen  fc.><t gestellt.  Es  gelang 
ihm  festzustellen,  welche  Rindenschichten  und  Rindenregionen  mit 
diesen  Kernen  und  so  auch  mit  der  Peripherie  des  Nervensystems  in 
einer  anatomisch-demonstrierbaren  Beziehung  stehen.  So  kann  man 
im  allgemeinen  sagen,  daß  neue,  vollkommenere  Methixien  und  kri- 
tischere Fragestellungen  hier  zu  neuen  lU-sultaten  geführt  halxMi 
und  damit  ein  (Jebiot  verselbständigt  hal)en.  welches  zur  Durch- 
forschung bis  dahin  auf  konstruktive  I>ikalisationstheorien  an  der 
Hand  des  groben  und  unzuverlässigen  Markfaserbildes  und  physio- 
logischer Exj>erimento  mit  vieldeutiger  Interpretation  angewiesen  war. 
Damit  ist  nicht  gesagt,  daß  jede  Lokalisat ionstheorie  an  sich 
schon  von  uns  als  verwerflich  betrachtet  würde.     In  dem  Maße  viel- 


94  Ein  Rundblick  über  Gegenwaxtsströmungen  usw. 

mehr,  wie  die  Lokalisation  selbst  seelischer  Funktionen  in  umschrie- 
benen Hirnregionen  ohne  Behelf  konstruktiver  Dogmen,  durch  reine 
Erfahrung  und  eine  Analyse,  die  notwendig  psychologischer  Art 
sein  muß,  sich  vollziehen  ließ,  hat  auch  die  Hirnpathologie  Fort- 
schritte zu  verzeichnen.  Die  Forschungen  Liepmanns  sind  be- 
kannt, in  denen  er  die  großen  Entdeckungen  Wernickes  fort- 
setzend, ohne  aber  in  dessen  konstruktive  Dogmen  zu  verfallen,  die 
Theorie  der  Aphasie  einer  kritischen  Durcharbeitung  unterzogen 
hat,  und  oft  im  Gegensatz  zu  den  großen  französischen  Forschern 
auf  diesem  Gebiet,  aber  mit  sicherer  Hand  auf  eine  psychologische 
Analyse  der  Materie  zusteuert.  Auch  glückte  es  ihm  zuerst,  die  Stö- 
rungen des  spontanen  Handehis  und  der  Bewegungsintentionen  einer 
vertieften  psychologischen  Analyse  und  hirnpathologischen  Lokali- 
sation und  Darstellung  zu  unterziehen:  seine  Lehre  von  der  Apraxie 
ist  heute  völlig  anerkannt.  Auch  hier  waren  es  neue  Methoden,  die 
der  Forschung  zu  neuen  Ergebnissen  verholfen  haben.  Und  wenn 
bei  seinem  Versuche,  diese  Forschungsmethoden  auch  auf  alle  jene 
Bewegungsstörungen  zu  übertragen,  die  man  sonst  noch  bei  Geistes- 
störungen findet,  Kleist  sich  nicht  völlig  den  Konstruktionen  Wer- 
nickes hat  entziehen  können,  so  beweist  dies  nur  die  Kühnheit 
dieser  Methoden,  welche  auf  lokalisatorischem  Gebiet  so  erfolg- 
gekrönt waren. 

Von  methodisch  geringerer  Sicherheit  und  daher  auch  weniger 
schlüssig  sind  die  Forschungen  über  die  Elemente  einfacher 
Bewegungen  und  Muskelzustände,  vor  allem  hinsichtlich  der 
verschiedenen  Starresymptome  bei  Geisteskrankheiten,  welche  zu- 
erst Rieger,  sodann  Sommer  und  neuerdings  Isserlin  mit  Hilfe 
neuer,  experimenteller  Verfahren  angestellt  haben.  Auch  ihnen  ist 
die  Theorienfeindschaft  gemeinsam.  Auch  die  anderen  körper- 
lichen Begleitsymptome  geistiger  Störungen  wurden  einer 
methodischen  Forschung  unterzogen,  die  auf  neuen  und  exakteren 
Verfahrensweisen  beruht.  So  haben  unter  anderen  Bach  und 
Bumke  die  Pupillensymptome  systematisch  bearbeitet.  Gregor 
und  andere  Forscher  haben  das  sogenannte  psychogalvanische  Re- 
flexphänomen zur  Bestimmung  affektiver  Schwankungen  verwandt; 
und  ein  weites  Tätigkeitsfeld  eröffnet  sich  den  Methoden,  welche 
Sommer  und  seine  Schüler,  besonders  Pfahl,  vor  allem  aber  Ernst 
Weber  in  einem  ausgezeichnetem  Werke  hierüber  ausgearbeitet 
haben. 

Die  Verfeinerung  der  Methoden,  welche  uns  bisher  das  Kenn- 
zeichen gegenwärtigen  Geistes  in  der  psychiatrischen  Forschung  war, 
erstreckt  sich  auch  auf  die  pathogenetische  Arbeit  und  verbürgt 
hier  ein  Weiterkommen.  Freilich  sind  die  chemischen  Untersuchun- 
gen über  den  Stoffwechsel  der  Geistesstörungen  ziemlich  resultatlos 
verlaufen,  trotz  gewissenhafter  Forschungen  von  Kauffmann, 
Knauer,  Gräfe  u.  a.;  und  dasselbe  gilt  auch  von  der  Chemie  des 
Gehirns  (Allers  u.  a.  m.).    Hingegen  hat  die  physikalische  Unter- 


Der  Sieg  der  hcU-rologischcn  Forsch ongslcndenzon  iri  w  i  i  n\   uiAtiie.      95 

suchung  (Icft  Cifliinis  /.u  neuen  Ergcbnis-sen  geführt.  Keichanlt 
konnte  /.eigen,  dali  d»T  Quotient,  der  die  Beziehung  zwinchen  Hirn- 
gewicht und  iSchüdelkapazitttt  auedrückt,  einen  Index  liefert,  der  — 
itn  NornialzuHtande  konstant  —  bei  akuten  oder  Hubakuten  Ver- 
laufen bestiinnito  Veränderungen  aufzuweisen  vermag.  Freilich 
bind  die   Akten   ül)er  die  »HirnHchwellung«  noch   nicht  geHchloBBen. 

Hierher  gehören  auch  die  serologiflchen  und  biologisch - 
themischen  Forschungen,  welche  eine  besondere  reiche  tarnte  von 
Ergebnissen  geliefert  haben.  Ohne  schon  eine  eindeutige  Bewertung 
zu  ermöglichen,  haben  sie  doch  zu  wichtigen  Schlüssen  über  die 
Ätiologie  und  Pathogenese  einer  Anzahl  Krankheiten  Anlaß  gegeben. 
Die  Cerebrospinalflüssigkeit  wurde  hinsichtlich  ihres  Gehaltes  an 
Zellen  und  Eiweiß,  hinsichtlich  der  durch  Ammoniumsulfat  fäll- 
haren  Substanzen  (Nonne),  hin-sichtlich  ihrer  Fähigkeit,  kolloide 
Ivösungen  auszufällen  (Lange,  Eraanuel)  und  hinsichtlich  der 
Wassermannschcn  Reaktion  geprüft,  und  zwar  sowohl  theoretisch 
als  im  Zusammenhang  mit  klinischen  Krankheitstypen.  Kafka 
durchforschte  den  Fermentgehalt  des  Liquors  und  das  Problem  der 
Durchlässigkeit  der  Hirnhäute.  Alle  diese  Untersuchungen  hatten 
zum  praktischen  Ergebnis,  selbst  bei  Abwesenheit  jedes  anderen 
körperlichen  Symptomcs,  die  Formen  organischer  Geistesstörung 
intra  vitam  diagnostizieren  und  mit  ziemlicher  Sicherheit  voneinander 
abgrenzen  zu  können.  Die  Wassermannsciie  Reaktion  im  Blutserum 
ermöglichte,  die  Ätiologie  einer  gewissen  Gruppe  angeborener  Idiotien 
und  anderer  Schwachsinnsformen  sicherzustellen.  Forster  und 
Tomaszewski  konnten  durch  Hirnpunktion  lelxjnder  Paralytiker 
die  Spirochäten  in  fast  der  Hälfte  der  Fälle  nachweisen. 

Das  allgemeine  Wiederaufleben  humoralpathologischcr  Anschau- 
ungen endliih  ist  ebenfalls  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  pathogenetische 
Forschung  in  der  Psychiatrie  geblieben.  Aber  bezeichnenderweise 
waren  es  auch  hier  neue  Metiiodon,  deren  Anwendung  auf  die  Psy- 
chiatrie aus  anderen  Gebieten  üljornommen  wurde.  An  das  Abder- 
haldensche  Verfahren  des  Nachweises  von  Abwehrfermenten  gegen 
die  Abbauprodukte  einzelner  Organe  knüpften  sich  zunächst  große 
Hoffnungen,  direkte  Ik'ziehungen  zwischen  Organfunktionen  und  be- 
stimmten Formen  funktioneller  Geistesstörung  auffinden  zu  köimen. 
Freilich  hat  dieses  Verfahren  sich  als  noch  nicht  zuverlässig  genug 
erwiesen,  um  jene  Hoffnungen  zu  rechtfertigen.  Sein  leitender  Ge- 
suhtspunkt  aber  hat  auf  zwei  Forschungseinstellungen  Einfluß  aus- 
geübt :  er  hat  den  Blick  l)efreit  von  der  aus^schließlichen  Einstellung 
auf  die  anatomisch  nachweisbaren  Veränderungen  im  Zentrahierven- 
system,  er  hat  ihn  hingelenkt  auf  die  Wechselwirkung,  in  welcher 
dieses  mit  dem  Gesamtorganismus  steht ;  und  zweitens  hat  er  ihn  in 
ganz  besonderem  Maße  hingelenkt  auf  die  endokrinen  Drüsen, 
die  ihrerseits  als  Bremsen  und  als  Aktivatoren  einzelner  Anteile 
von  ihm  im  (icsamtorganismus  einen  eigenen  Kreis  von  Weihsel- 
wirkungen  darstellen.     Es  ist  aber  charakteristisch,  daß  e»  trotz  der 


96  Ein  Rundbück  über  Gegenwartsströmimgen  usw. 

ungeheuren  Wichtigkeit  dieses  neuen  Gesichtspunktes,  der  vom 
Gehirn  zurück  auf  die  biologische  Struktur  des  Gesamtorganisnius 
geführt  hat,  nicht  gelungen  ist,  bisher  greifbare  Einzelergebnisse 
zu  zeitigen.  Wo  er  sich  an  einzelnen  Materien  hat  realisieren  lassen, 
wie  bei  der  Durchforschung  der  beiden  Hypophysenanteile  in  ihrem 
Einfluß  auf  den  Diabetes  insipidus,  bei  der  vertieften  Erkenntnis 
der  Basedowschen  Krankheit  und  bestimmter  Wachstumsanomalien, 
da  haben  diese  Ergebnisse  immer  nur  dazu  gedient,  die  betreffenden 
Gebiete  ausserhalb  der  Nervenlehre  zu  stellen  und  ihre  Wurzeln 
innerhalb  der  rein  somatischen  Organpathologie  aufzuweisen.  Die 
Neurosen  und  Psychosen  spotten  noch  jeder  realen  und  genau  be- 
stimmbaren Anwendung  dieses  Gesichtspunktes.  Was  hier  vor- 
gebracht wird,  ist  mehr  oder  weniger  geistreiche  Konjektur.  Und 
es  ist  interessant,  daß  dies  nur  an  dem  Mangel  geeigneter  spe- 
zifischer Methoden  liegt,  den  dieses  Gebiet  aufweist.  Die  Psy- 
chiatrie muß  hier  warten,  bis  ihr  die  Sonderforschung  der  Lehre  von 
der  Inneren  Sekretion  neue  methodische  Waffen  schmiedet.  Erst 
dann  kann  sich  zeigen,  ob  nicht  der  Zeitgeist  den  Einfluß  der  Ano- 
malien dieses  Organsystems  auf  das  Zustandekommen  von  Geistes- 
störung am  Ende  stark  überschätzt. 

Neben  diesen  der  eigentlichen  Medizin  sehr  angeglichenen  Me- 
thoden pathogenetischer  Forschung  kennt  die  Psychiatrie  eine  solche, 
welche  ihrem  Wesen  nach  anders  orientiert  ist.     Sie  betrifft  die  Zu- 
sammenhänge   zwischen    den  Formen   von  Geistesstörung  und   so- 
zialen Faktoren.     Hier  haben  neuere  Arbeiten  über  die  Psychosen 
des  Strafvollzuges  und  der  Untersuchungshaft  zur  Aufstellung  neuer 
Krankheitsbilder  geführt.     Der  Begnadigungswahn  der  lebensläng- 
lichen Strafgefangenen  von  Rüdin  gehört  hierher.    Rüdin,  Siefert, 
Birnbaum,  Wilmans  und  Homburger  haben  wertvolle  Einzel- 
beiträge zu  diesen  Fragen  geliefert.     Die  Umgekehrte  Fragestellung, 
der  Einfluß  psychotischer  Elemente  auf  die  soziale  Lage  des  Indi- 
viduums, hat,  abgesehen  von  einer  sehr  umfangreichen  kriminologi- 
schen Literatur,  in  der  Psychiatrie  vor  allem  die  Arbeiten  von  Bon- 
höffer,   Joerger  und  Wilmans  über  die  Landstreicher  und  von 
Gregor  über  jugendliche  Verwahrloste  gebracht.     Die  Studien  zur 
Heredität  der  Geisteskranken  sind  —  abgesehen  von  grundsätzlichen 
Klärungen   des   Konstitutionsbegriffes   durch   Martins   und   Birn- 
baum   —    mit   den   Methoden   der   Lorenz  sehen   Ahnentafel   vor- 
wiegend von  Rüdin  weitergeführt  worden.     Im  allgemeinen  hatten 
sie,  wie  ein  kritischer  Überblick,  den  Moeli  gab,  beweist,  eine  Klärung 
der  äußerst  schwierigen  Problemlage  nicht  zur  Folge.    Der  Mendelis  - 
mus  läßt  sich  eben,  nach  Martins'  geistvollen  Darlegungen,  nicht 
auf  den  Menschen  übertragen;  und  damit  fehlt  wiederum  der  metho- 
dische Hebel,  um  die  Forschung  zu  bewegen. 


Da»  ttutolojiiHthü  Lbiioh  in  clor  gi»gfnwartij;<n  l^ycLiatrif,  und  der  Autweg.     97 


2.  Das  autolo^lsilic  Clia«»  in  «Irr  ^c;::»!!^  iiiii^cn  l*>y(  liiatrie, 

iiiiii  «Irr  Ausw«'^. 

Wir  sahen  hislur  in  m'(lrüiigte«tcr  Form  di-n  Kort8chritt  der 
Wis.sensthafl  m'iiuu  nnm-palit  an  die  .Möglich keil ,  die  einzelnen  Ma- 
terien nach  strenger  Metliodik  adui^uat  zu  klären.  Wir  .sahen,  daß 
der  Fortschritt  um  »o  größer  war,  je  Ix-'stimniter,  alxjr  auch  gegen- 
ständlich in  ihrer  Anwenduni;  lx«grenzter  die  lx«l reffende  BearlxMtungs- 
incthodc  war.  und  dali  es  auf  den  Zusanunenhang  der  einzelnen  Ma- 
terien in  der  Kinlu'it  des  wi.s.senschaft  liehen  Ganzen  und  «eine  Be- 
achtung auch  nicht  entfernt  so  ankam,  wie  auf  die  Sjxjzialisierung 
der  Methode.  Ein  paradoxer  Zustand:  die  Psychiatrie  muU,  um 
praktisch  im  einzelnen  ülx'r  die  Kraepelin.Hche  Ära  vorlxjreitender 
Sammlung  hinauszukommen,  auf  ihre  »autologische«  Einheit  aU 
(Jcsamt Wissenschaft  verzichten.  Sie  muß  il»re  einzelnen  Materien 
gewissermaßen  aufteiK-n  und  aiuh-ren  Disziplinen  mit  gesicherteren 
Methoden  jeweils  zur  Hparl)eitung  zuweisen.  So  resultieren  die  ihren 
Fortschritt  verbürgenden  Methoden,  ganz  heterogen  untereinander, 
aus  einer  lieiho  von  »Hilfswissenschaften«  verechiedenster  Prove- 
nienz, während  die  Psychiatrie  selber  in  einer  gewissen  Sterilität  und 
Tatenlosigkeit  auf  den  Zeitpunkt  zu  warten  scheint,  wo  weitere  der- 
artige Methoden  aus  anderen  Gebieten  auch  auf  weitere  Einzel- 
nuiterien  anwendbar  werden.  Man  kann  die  heutige  Ära  Xarh- 
krae|H'linscher  Psychiatrie  nicht  bloß  die  metho<lischc,  man  kann  sie 
auch  die  heterologischo  nennen,  wenn  man  damit  zum  Ausdruck 
bringen  will,  wie  wenig  sie  8ell)er  Herrin  im  eigenen  Wi.sscnschafts- 
hau.se  ist,  wie  sehr  sie  mit  erl)orgten  Kapitalien  arlwitet.  Kehren 
wir  auf  ihr  eigenstes  Gebiet  zurück,  so  finden  wir  die  UntersuchuiK'i-n 
über  die  Verlauf »formon  der  verschiedenen  Arten  von  G» 
Störungen  gegenwärtig  ii\  einem  ziendich  chaotischen  Stande,  l  ao 
auch  hier  ist  eines  iK'Zcichnend :  soweit  es  möglich  war.  die  viTschio- 
<lciu'n    Enlwicklungswciscn   psychischer  S'  auf  di>-  o 

l-^igeiuirt     und    auf    liesiuulcrheiten    der    i'  .  iien    K»>:  -u 

richtiger  wohl  der  Cliaraktcrologie)  des  befallenen  Typ.."»  zurück- 
/.ubeziehen  und  gleichsam  die  erstcren  aus  den  letzteren  zu  dedu- 
zieren, ergalH'ii  sich  alsbald  wertvolle  Gesichtspunkte  Wissenschaft- 
li<licr  Syiit  licsc,  wclclu-  nidit  rein  äußerlich  bli«'b,  sondern  ihr  Problem- 
gchici  wirklich  klarte.  Hier  dürfen  wir  die  Arl)eit  Birnbaums 
üUt  die  Psychosen  mit  degenerativer  Wahnbildung  bei  Psycho- 
pathen und  die  ArIxMt  von  Roiss  ülxr  da«  manischdepressive  Irr- 
sein  nennen.  Natürlich  waren  die  Mittel  dieser  Ableituncen  solche 
angewandter    Psychohigie.      Andere    Arl»eiten    i  '  "     "      >.    l>ei 

allem  ihren  Uubniteiulen  Wert,  im  .XußtMlichen  .  \  izung 

stecken,  elx-n  weil  sie  ihre  psycluilogischen  .Mökjbchkeiten  nicht  voll 
ausnützten.  Hierher  gehören  unter  anderem  Bonhöffers  und  auch 
Schröders  Studien  über  exogene  und  «ymptomatiacho  Psychogen. 

Krönte  Id.  PtychUtrUcbo  KrkenntoU.  7 


98  Ein  Rundblick  über  Gegenwartsströmungen  usw. 

Kraepelin,  der  auf  diesem  Gebiet  psychologische  Forderungen 
wenigstens  stellt,  wenn  er  sie  auch  nicht  realisiert,  ist  grundsätzlich 
moderner  als  diese  Späteren.  Aber  Kraepelin  hat  gegenüber  einer 
anderen  Gruppe  von  Psychosen  psychologisch  resigniert,  die  klinisch 
sein  eigenstes  Geisteskind  ist:  den  von  ihm  als  Gruppe  der  De- 
mentia praecox  zusammengefaßten  Verlaufsgruppen.  Hier  liegt 
recht  eigentlich  die  wahre  Forschungsdomäne  für  eine 
autologisch  gerichtete  Psychiatrie.  Aber  Kraepelin  selber, 
welcher  seine  Stellung  zur  Abgrenzung  dieser  Gruppe  nach  außen 
bin  und  innerhalb  ihrer  Einzeltypen  mit  jeder  Auflage  seines  großen 
Werkes  aufs  neue  modifizierte,  betrachtet  die  psychologische  Analyse 
der  ungeheuren  individuellen  Mannigfaltigkeit  von  Zustandsbildern, 
die  hier  bestehen,  als  vergebliches  Beginnen.  Der  Verlauf  dieser 
Formen  allein  ergibt  ihm  ein  sicheres  Kriterium  ihrer  Ordnung  und 
Abgrenzung.  Er  studiert  ihn  an  den  Endzuständen.  Als  ob  dies 
nicht  auch  »Zustände«  wären,  und  als  ob  diese  Zustände  vor  irgend- 
welchen früheren  grundsätzlich  in  irgendeiner  Hinsicht  ausgezeichnet 
wären!  Urstein  hat  versucht,  gestützt  auf  ein  großes  Beobachtungs- 
material, nachzuweisen,  daß  auch  die  Mehrzahl  der  Fälle  von  manisch- 
depressivem Irrsinn  zu  Zuständen  führt,  welche  diesen  Endzuständen 
der  Dementia  praecox-Gruppe  gleichen.  Er  schließt  daraus,  daß  das 
manisch-depressive  Irrsein  nur  eine  Sonderentwicklung  dieser  Gruppe 
darstellt,  daß  es  also  psychologisch  nicht  aus  dem  Charakter  der  be- 
fallenen Persönlichkeit  herleitbar  ist,  sondern  eine  progrediente 
Persönlichkeitsveränderung  involviert.  .  .  Wir  würden  nur  den 
Schluß  für  berechtigt  halten,  daß  die  Endzustände  kein  aus- 
reichendes Kriterium  für  den  Ordnungstypus  einer  Psychose, 
für  eine  Krankheitseinheit,  darstellen.  Die  bloße  klinische 
Analogisierung  von  Verlaufsformen,  ohne  ein  inneres  Kriterium  ihrer 
Analogisierbarkeit  —  etwa  nach  gleichen  seelischen  Strukturen 
präponderanter  Art  oder  gleichen  Entwicklungsbedingungen  — 
würde  letzten  Endes  zur  Einheitspsychose  von  Neu  mann  und  Arndt 
zurückführen,  deren  verschiedene  Sonderformen  nur  bedeutungslose 
individuelle  Variationen  darstellen.  Gebieterisch  erhebt  sich  hier 
die  Forderung  vertieften  psychologischen  Eindringens  in 
Symptome  und  Symptomzusammenhänge,  Um  hieraus  das  innere 
Kriterium,  von  dem  wir  sprachen,  zu  gewinnen. 

Und  so  war  es  ein  großer  Fortschritt,  als  Bleuler  es  versuchte, 
für  diese  Gruppe  von  Psychosen  ein  generelles  psychologisches  Funda- 
ment zu  suchen,  welches  sich  auf  ihnen  gemeinsame  seelische  Struk- 
turen und  Dynamien  zurückführen  ließ.  Wir  werden  in  dem  folgenden 
Bande  noch  auf  diese  Schöpfung  Bleulers,  die  im  autologischen 
Gebiete  der  Psychiatrie  den  größten  Fortschritt  seit  Kraepelin 
darstellt,  oftmals  zurückzugreifen  haben.  Es  ist  dies  seine  Lehre 
von  der  schizophrenen  Störung  der  Persönlichkeit.  Wir 
verzichten  daher  an  dieser  Stelle  auf  ihre  ausführliche  Darstellung. 
Bleuler   hat   sie   vom   psychologisch-theoretischen   Gesichtspunkte 


Das  ftutologischo  Chao3  in  der  gegenwärtigen  Psychiatrie,  und  der  AuBwog.     99 

aus  unzulänglich  begründet,  und  sie  weist  viele  Lücken  auf;  vor  allem 
aber  dient  sie  uns  weniger  dazu,  eine  klinische  Ordnung  von  Krank- 
heitseinheiten aufzustellen,  als  vielmehr  dazu,  bestimmte  CJruppen 
psychopathologischcr  Beziehungen  in  ihrer  Sonderstruktur  zu 
begreifen.  Es  ist  aber  noch  ein  weiter  Weg  von  der  psychopatholo- 
gischen  Symptomatik  bis  zu  den  Kriterien  nosologischer  Entität. 
Und  diese  hat  Bleuler  methodisch  nicht  über  Kraepelin  hinaus 
entwickeln  künnen.  Immerhin  ist  ein  gewaltiger  Fortschritt  darin 
erzielt,  daß  man  nicht  mehr,  wie  noch  Kraepelin,  gleichsam  an  der 
äußeren  Oberfläche  symptomatischer  Bilder  dieser  Kranken  zu 
bleiben  braucht,  sondern  an  Bleulers  Hand  in  die  Tiefen  ihres  Seelen- 
lebens eingeführt  wird. 

Mit  Bleulers  Forschung  auf  diesem  Gebiet  ist  grundsätzlich  ein 
entscheidender  Schritt  geschehen:  die  Autologie  klinischer  Ordnungs- 
bestrebungen ist  von  ihrem  vagen  Krankheitsbegriff  zu  den  strengeren 
Kriterien  psychologisch  faßbarer  Symptomatik  zurückgekehrt.  Auch 
darin  hat  sich  Griesingers  Forderung  erfüllt.  Hier,  im  Gebiete 
der  Symptomatologie,  werden  wir  den  Schlüssel  suchen  müssen, 
der  uns  zukünftig  den  Aufschluß  des  Problems  der  Krankheits- 
einheiten und  ihres  inneren  Gesetzes  ermöglicht.  Dazu  muß  man  sich 
von  dem  Dogma  befreien,  welches  heute  fast  gänzlich  verschwunden 
ist,  wonach  seelische  Phänomene  nur  zufällige  und  bedeutungslose 
Epiphänomene  sind,  aus  denen  eine  Belehrung  über  die  zugrunde- 
liegenden Gehirnstörungen  nicht  zu  erwarten  ist.  Als  Arbeitsmaxime 
für  die  gesamte  Somatologie  mag  dieses  Dogma  seinen  vollen  Wert 
behalten.  In  einer  autologischen  Psychiatrie  aber  wird 
die  exakte  psychologische  Symptomanalyse  allein  im- 
stande sein,  zum  Kriterium  des  jeweiligen  Krankheits- 
typus hinzuführen.  Auch  dieser  Gedanke  liegt  im  Keim  bereits 
in  manchen  Zügen  Kraepelin  sehen  Forschens.  Aber  der  Weg, 
den  es  einzuschlagen  gilt,  muß  mit  weit  größerer  methodischer  Strenge 
besciiritten  werden,  als  sie  das  Kraepelinsche  Durcheinander  von 
Vulgärpsychologie,  äußerlichen  Begriffsbildungen,  plastischer  Be- 
schreibung und  experimenteller  Trivialität  gewährleistete.  Es  gilt 
sich  Rechenschaft  darüber  zu  geben,  ob  und  wie  die  einzelnen  psychi- 
schen Phänomene  sich  psychischen  Funktionen  einfacher  und  kom- 
plexer Art  und  ihren  Anomalien  entbinden.  Und  die  gleiche  psycho- 
logische Forschungsmaxime  gilt  für  die  inneren  Zusammenhänge 
psychischer  und  psychotischer  Phänomene.  Das  Problem,  welches 
sich  hier  auftut,  ist,  nach  bestimmter  psychologischer  Methode  alle 
psychotischen  Einzelerscheinungen  auf  ihre  letzten,  typischen  und 
psychologisch  nicht  weiter  reduzierbaren  Wurzeln  zurückzuführen. 
Hat  man  auf  diese  Weise  die  einzelnen  seelischen  Sonderstrukturen 
hinsichtlich  der  bei  ihnen  beteiligten  Funktionen  aufgelöst,  hat  man 
ferner  die  möglichen  dynamischen  Beziehungen  ihrer  Inhalte  geklärt, 
hat  man  endlich  aus  diesen  Materialien  den  entsprechenden  closkrip- 
tiven  Typ  seelischer  Synthese  hergeleitet,  so  kann  bei  jeder  Gcistes- 

7* 


100  Ein  Rundblick  über  Gegenwartsströmungen  usw. 

Störung  der  Anteil  des  seelischen  Geschehens,  welches  auf  dem  Boden 
der  befallenen  Persönlichkeit  erwächst,  gesondert  werden  von  dem 
strukturell  und  genetisch  nicht  aus  ihr  Herleitbaren.  Und  letzteres 
wird  seinerseits  wieder  funktional  und  dynamisch  aufgespalten  werden 
müssen.  Die  hierin  erkennbaren  Sonderzüge  aber  werden 
sein  symptomatologisches  Gesetz  ausmachen,  als  ein  Kri- 
terium autologischer  Art  neben  den  vielen  und  unentbehrlichen 
heterologischen,  welches  zur  Synthese  der  Krankheitseinheit  bei- 
trägt. So  werden  in  künftiger  Zusammenarbeit  zu  diesem  autologi- 
schen Ziel  der  Psychiatrie  doch  wieder  alle  ihre  Einzelzweige  sich 
zusammenfügen  müssen.  Freilich  wird  dies  alles  ohne  eine  exaktere 
logische  Zergliederung  des  Krankheitsbegriffes,  welcher  speziell  für 
die  Psychiatrie  gilt,  und  der  Beziehungen  von  Symptom  und  Krank- 
heit in  ihr  nicht  möglich  sein. 

Die  symptomatologische  Forschung  vermag  nicht  sich  experi- 
menteller Methoden  zu  bedienen  —  oder  doch  nur  in  geringem 
Umfang.  Denn  der  Träger  geistiger  Störungen  ist  im  allgemeinen 
nicht  fähig,  den  Forderungen  zu  genügen,  welche  an  eine  Versuchs- 
person zu  stellen  sind.  Immerhin  haben  die  experimentellen  Me- 
thoden und  insbesondere  die  Testverfahren  der  normalen  Psycho- 
logie in  zweckmäßiger  Umformung  sich  bei  Intelligenzprüfungen, 
aber  auch  vereinzelt  bei  anderen  seelischen  Leistungsprüfungen 
Geisteskranker,  in  gewissen  Grenzen  bewährt.  Jedoch  ergibt  die 
seelische  Einzelanalyse  der  Symptome  weit  wichtigere  Resultate,  so- 
bald es  sich  nicht  um  seelische  Leistungsstörungen  handelt,  sondern 
um  krankhafte  seelische  Erlebnisse.  Hinsichtlich  der  Erforschung 
dieser  letzteren  gab  es  zwei  Wege,  denen  gefolgt  wurde:  der  eine 
ging  zur  genetischen  Reduktion  der  Inhalte  krankhaften  Erlebens 
auf  die  pathogene  Wirkung  seelischer  Ereignisse  des  Vorlebens.  Der 
zweite  führte  zur  phänomenologischen  Zergliederung  der  Formen, 
Seins  weisen  und  Strukturen  pathologischen  Erlebens.  Den  ersten 
dieser  Wege  beschritt  die  dynamische  Psychologie  unter  der 
genialen  Führung  ihres  Vorkämpfers  Freud.  Von  ihm  und  seinem 
Werke  wird  in  den  folgenden  Studien  noch  so  oft  und  so  ausführlich 
die  Rede  sein,  daß  wir  uns  hier  mit  der  Zuweisung  der  Stelle  be- 
gnügen können,  an  welcher  seine  Lebensleistung  im  Ganzen  der 
wissenschaftlichen  Psychiatrie  steht.  Es  ist  auch  bekannt,  daß  um 
sein  Werk  sich  noch  gegenwärtig  ein  ungeklärter  Meinungskampf 
auswirkt,  der  zwar  einen  Teil  seiner  früheren  Regner,  darunter  auch 
mich,  in  erheblichem  Umfang  zu  Auffassungen  geführt  hat,  die 
wenigstens  in  mancher  Hinsicht  den  seinigen  nicht  fern  stehen  (wie 
man  in  den  folgenden  Studien  begründet  finden  wird),  andererseits 
aber  seine  eigenen  Schüler  ihm  teilweise  entfremdet  hat.  Jung  hat 
neuerdings  eine  Lehre  von  der  Libido  aufgestellt,  welche  als  dyna- 
misches Prinzip  seelischen  Geschehens  eigentlich  bloß  noch  einen 
Begriff  von  seelischer  Vitalität  im  allgemeinen  übrig  läßt  und  zu 
einem  philosoj)hischen  Voluntarismus  eigenartiger  Bildung  geführt 


Das  autologisoho  Chaos  in  der  gegenwärtigen  Psycliiatrie,  und  d<r  Ausweg.     101 

hat.  Adler  —  woiil  der  giünzciuLste  Verl  reter  der  dynamisch- 
psychologischen  Richtung,  sieiit  die  aeeli.sclie  Triebkraft  in  dem 
Geltungs-  und  Bestätigungsbedürfnis,  welches  im  Gegensatz  zur 
Übermacht  der  Umwelt  die  kindliche  Seele  mit  Notwendigkeit  in 
einen  Konflikt  bringt,  dessen  Überwindungsformen  eine  lieihe  sym- 
bolischer Protest reuktioiien  und  Schutzmaßnahmen  darstellt,  als 
deren  eine  Gruppe  er  die  Neurosen  zu  verstellen  gelehrt  hat.  Alle 
diese  Lehren  sind  noch  nicht  frei  von  Mängeln  im  einzelnen  und  im 
prinzipiellen,  Sie  zeigen  noch  eine  gewisse  dogmatische  Unnach- 
giebigkeit  gegen  die  Individualität  des  seelischen  Geschehens.  Das 
hindert  nicht  anzuerkennen,  daß  sie  zum  Verständnis  der  gesunden 
und  kranken  Persönlichkeit  und  der  Dynamik  ihrer  seelischen  Einzel- 
phänomene gewaltig  beigetragen  haben. 

Der  zweite  Weg  moderner  Symptomatologie  ist  der  der  phäno- 
menologischen und  pathopsychologischen  Forschung.  Sie 
führt  zur  Piüfung  der  Seinsweisen  und  Strukturen  psychotischer 
Phänomene.  Angesichts  der  wechselnden  und  individuellen  zu- 
fälligen Inhalte  psychotischen  Erlebens  können  die  generischen 
Elemente,  die  diesem  Erleben  gemeinsam  sind  und  eine  gegebene 
Störung  seelischer  Funktionen  charakterisieren,  nur  in  der  formalen 
Struktur  dieses  Erlebens  gesucht  werden;  in  der  Weise,  gemäß  welcher 
die  Inhalte  vom  Kranken  erlebt  werden  und  sich  auseinander  her- 
leiten. Diese  neue  Art  der  Untersuchungen  unterscheidet  sich  sehr 
beträchtlich  von  früheren  sj'mptomatologischen  Arbeiten,  und  zwar 
dadurch,  daß  sie  wirklich  in  die  Tiefe  seelischen  Ablaufens  hincin- 
dringt,  so,  wie  sich  dieses  Ablaufen  vor  dem  subjektiven  Be- 
wußtsein des  Erlebenden  vollzieht.  Es  bestehen  hier  recht 
enge  Verbindungen  zur  Psychologie  der  Einfühlung  und  zur  Aus- 
druekspsyciiologie.  Diese  Forsciiungswcise  ist  vor  allem  ermöglicht 
worden  durch  die  logische  und  phänomenologische  Vorarbeit  von 
Husserl  und  seiner  Schule,  obwohl  sie  sich  in  Met  hodenfragen  zum 
Teil  von  diesem  Vorbild  entfernt,  Specht,  Österreich,  Hirt, 
Schilder,  Kretschmer  und  vor  allem  Jaspers  sind  die  Ver- 
treter dieser  Arbeitsweise.  Insbesondere  die  Beiträge,  die  letzterer 
zur  Theorie  der  Trugwahrnehmungen,  zum  Begriff  und  zum  Wesen 
des  schizophrenen  Prozesses  als  psychologischer  Einheit  geliefert 
hat,  bilden  eine  Grundlage  für  den  Weiterbau  dieser  vertieften  Sym- 
l)tomatologie.  Was  die  Forschung  hier  braucht,  um  eines  Tages 
zu  einer  vollendeten  Synthese  psychologischer  Krankheitsbilder  zu 
gelangen,  ist  die  exakte,  eindeutige  und  strenge  Methode, 
logisch  orientiert  an  einem  klaren  Begriff  von  systematisch-psycho- 
logischer Theorie.  Wir  wollen  sehen,  ob  die  gegenwärtige  Psycho- 
logie ihr  diese  Waffen  bereits  zu  liefern  vermag. 


102  Ein  Rundblick  über  Gegenwartsströmungen  usw. 


3.  Die  Problematik  in  den  Fundamenten  der  gegenwärtigen 

Psychologie. 

Man  spricht  zurzeit  i)  viel  von  einer  Krise  der  gegenwärtigen 
deutschen  Psychologie.  Und  mit  Recht,  wenn  man  damit  meint, 
daß  gegenwärtig  zwischen  ihren  einzelnen  Sonderzweigen  unüber- 
brückte  Gegensätze  bestehen;  mit  Unrecht  aber,  wenn  man  den 
Schluß  daraus  zuläßt,  als  ob  der  Wert  der  Psychologie  selber  und 
ihrer  großen  Entdeckungen  auch  nur  im  mindesten  angetastet 
werde. 

Die  bisher  von  einer  kleinen  Zahl  von  Forschern  vertretene  Über- 
zeugung, daß  sich  die  experimentellen  Methoden,  die  introspektive 
Einzelanalyse  und  die  logische  Zergliederung  zu  einem  Zusammen- 
wirken in  der  Einheit  eines  Systems  sollten  verbinden  lassen,  welches 
der  Zukunft  der  Wissenschaft  die  gleiche  Ertragsfülle  sichert,  wie  sie 
die  Vergangenheit  aufwies,  diese  Überzeugung  ist  berufen,  von  Tag 
zu  Tag  an  Tragweite  zu  gewinnen.  Freilich  stehen  sich  gegenwärtig 
noch  die  verschiedenen  Forschungsrichtungen  isoliert  und  fast  gegen- 
sätzlich gegenüber:  die  experimentelle  Psychologie,  die  Assoziations- 
psychologie, die  Funktionspsychologie,  die  Phänomenologie  und  die 
historisch  orientierte,  beschreibende  Individualpsychologie.  Und 
dieses  Auseinanderfallen  war  nach  der  ganzen  Entwicklung  der  Dinge 
unvermeidlich.  Wir  brauchen  hier  nur  dieser  Entwicklung  in  größter 
Kürze  zu  folgen;  und  da  die  Entwicklung  einer  Wissenschaft  in  der 
Umbildung  ihrer  Leitideen,  Prinzipien  und  Methoden  besteht ,  so 
sind  es  diese  letzteren,  die  Leitideen,  Prinzipien  und  Methoden, 
welche  uns  den  Ariadnefaden  liefern,  um  uns  in  dem  Labyrinth  der 
gewaltigen  Literatur  zurechtzufinden.  Freilich  besteht  dabei  das 
Bedenken,  daß  wir  bei  der  Zeichnung  unserer  Skizze  die  Bearbeitung 
wichtiger  Einzelfragen  Und  Tatsachen  zugunsten  des  Gesamtbildes 
zu  vernachlässigen  gezwungen  sind. 

Vor  wenigen  Jahren  noch  war  Psychologie  synonym  mit  Experi- 
mentalpsychologie.  Die  außerordentliche  Wirksamkeit  Wundts 
und  der  von  ihm  eingeführten  Methoden  beherrschte  das  Feld.  Im 
Laufe  der  Jahre  aber  schien  es  allmählich,  als  ob  die  Ernte  an  neuen, 
wahrhaft  psychologischen  Tatsachen  nicht  mehr  recht  dem  Aufwand 
an  Mitteln  und  Apparaten  zu  entsprechen  vermochte.  So  lagen  die 
Dinge  vor  allem  hinsichtlich  der  psychischen  Tatbestände  höherer 
Ordnung,  welche  der  Bearbeitung  nach  experimenteller  Methodik 
zu  trotzen  schienen.  Und  zugleich  mit  dem  Zweifel  daran,  diese 
Phänomene  experimenteller  Forschung  zu  unterziehen,  mußte  not- 
wendig der  weitere  Zweifel  sich  regen,  ob  es  gelingen  könne,  sie  nach 
den  von  Wundt  übernommenen  und  weitergebildeten  Lehren  der 
Assoziation  und  Apperzeption  erschöpfend  zu  erklären.    Im  Jahre  1895 

1)  1913! 


Die  Problematik  in  den  Fundamenten  der  gcgr'nwärtigen  Ptychologie.       103 

fonnulicrle  ziiiu  ersten  .Nfule  Lipps  in  klarer  Weise  dicson  Zweifel 
gegenüber  Wundt  im  Hinblick  auf  gewisse  Gruppen  ästhetischer 
Gefühle.  Und  dieser  Denker,  der  als  Anhänger  der  experimentellen 
Richtung  begoiuien  hatte,  hat  sich  in  der  Folge  melir  und  mehr  nicht 
nur  von  der  exj)eriincntellen  Methodik,  sondern  auih  von  den  inlialt- 
lichen  (Jrundlagen  der  Wundt  sehen  Lehre  abgewandt.  Zwar  Ixj- 
hielt  er  eine  Reihe  von  Annahmen  aus  der  Assoziationstheorie  bei, 
jedoch  bemühte  er  sich,  sie  zu  einem  Zusammenstimmen  mit  der 
älteren  idealistischen  Psychologie  der  Seelen  vermögen  zu  bringen. 
Aber  er  übernaiim  diese  letzteren  nicht  etwa  in  ihrer  primitiven 
früiieren  Formulierung;  an  ihrer  Stelle  bildete  er  die  Konzeption  der 
psychischen  Kraft  als  des  Mittels  seelischer  Bildungen  durch.  Es 
lassen  sicli  von  hier  aus  gewisse  Analogien  zu  der  Her  bar  tschon 
und  von  Dro bisch  übernommenen  Lehre  vom  Ablauf  und  der  gegen- 
seitigen, dem  exakten  Kalkül  unterworfenen  Hemmung  der  Vor- 
stellungen vor  dem  Bewußtsein  ziehen  i). 

In  ähnlicher  Weise  standen  auch  die  methodologischen 
Neuerungen  Lipps',  die  wir  noch  für  bedeutsamer  halten  als  die 
theoretischen,  in  bestimmtem  Gegensatz  zu  dem  Erbe  Wundts. 
Zunächst  vom  ästhetischen  Eindruck  ausgehend,  analysierte  er  so- 
dann generell  \ind  nach  allen  Riclitungen  die  Erkenntnis  durch 
Einfühlung,  deren  Begriff  schon  zur  Zeit  der  Romantiker  gebildet 
und  von  R.  Vischer  und  Lotze  einer  gewissen  Durcharbeitung 
unterzogen  worden  war.  Er  wird  in  den  folgenden  Blättern  noch 
in  besonderer  Weise  nachgeprüft  werden.  Lipps  als  erster  benützte 
ihn  in  methodischer  Weise  zur  Durchforschung  komplexerer  seeli- 
sclier  Tatbestände  und  Zusammenhänge.  Naturgemäß  mußte  eine 
Untersuchung  des  Problems  der  Gegebenheit  von  Psychischem 
und  des  Wesens  seelischen  Zusammenhängens  vorangehen.  Lipps 
blieb  sie  nicht  schuldig,  und  auch  diese  Lösung  wird  uns  noch  zu  be- 
schäftigen haben.  Daß  sie  nicht  restlos  befriedigte,  geht  daraus 
hervor,  daß  seine  Schule,  der  wir  vortreffliche  Analysen  der  ein- 
fühlenden Vollzüge  und  des  ästhetischen  Eindrucks  verdanken 
(Worringer,  Prandtl),  gegenwärtig  in  ihren  hervorragendsten 
Vertretern,  Pfänder,  Geiger  und  Scheler,  zum  Lager  der  Phäno- 
menologen")  abgeschwenkt  ist.  Dort  werden  wir  ihnen  wieder 
begegnen. 

Lipps'  Beispiel  der  Trennung  von  der  Lehre  Wundts  hatte 
anfänglicli  keine  nierkliehen  Folgewirkungen.  Noch  trug  die  Be- 
arl)eitung  der  Probleme  der  Sinnespsychologie  und  Raumpsychologie 
reiche  Früchte.     Und  Meinungsverschiedenheiten,  wie  die  zwischen 


*)  Auch  Benoke  und  Fortlagc  haben  unter  den  älteren  Psychologen  bereits 
einen  dem  Lippsschen  sehr  nfthostohcnd«'n  Begriff  von  psychischer  Kraft. 

2)  Inwiefern  Lipps  .selber  ein  Mitschöjifer  der  Phänonienologie  als  psycho- 
logischer Sonderdisziphn  ist,  allerdings  in  einem  g.inz  anderen  Begriffe  als  di« 
moderne  Phiinoinenologie,  davon  wird  in  spateren  l'ntcrsuehungen  noch  die  Rtxle 
sein  (vgl.  8.  :U8ff.). 


104  Ein  Rundblick  über  Gegenwar tsstrümuugen  usw. 

Wundt  und  Stumpf  hinsichtlich  mancher  Fragen  der  Tonpsycho- 
logie, hatten  nicht  prinzipiellen  Charakter,  welcher  die  Art  psycho- 
logischer Theorie  und  Erkenntnis  im  allgemeinen  betroffen  hätte. 
Als  Dilthey  1894  neben  die  erklärende  Psychologie  nach  natur- 
wissenschaftlicher Methode  eine  beschreibende  und  zei^gliedernde 
Individualpsychologie  gestellt  wissen  wollte,  welche  an  den  Me- 
thoden der  Geisteswissenschaften  sich  orientieren  müsse,  fand  er 
im  Lager  der  Psychologen  keinerlei  Beachtung.  Die  Forschungs- 
methoden Wundts  wurden  immer  weiter  verfeinert;  Wirths  experi- 
mentelle Analyse  der  Bev/ußtseinserscheinungen,  Schumanns  Ar- 
beiten, Untersuchungen  von  Ebbinghaus  und  G.  E.  Müller  sind 
an  Präzision  in  methodischer  Hinsicht  nicht  zu  überbieten.  Zweifellos 
schuldet  man  diesen  Gelehrten  auch  beträchtliche  materiale  Ergeb- 
nisse des  Forschens;  so  wird  die  grundlegende  Arbeit  von  Müller 
und  Pilzecker  über  das  Gedächtnis  oder  das  Werk  von  Erdmann 
und  Dodge  über  das  Lesen  von  bleibender  Bedeutsamkeit  sein  und 
für  den  Wert  experimenteller  Forschungsweisen  in  der  Psychologie 
zeugen.  Und  hierher  gehören  noch  eine  größere  Zahl  ausgezeichneter 
Einzeluntersuchüngen  verschiedener  jüngerer  Forscher.  Aber  in 
bezug  auf  all  das,  was  die  prinzipielle  Stellungnahme  zum  Wesen 
und  der  Methode  der  psychologischen  Forschung,  ihren  theoretischen 
Grundlagen  und  ihren  Zielen  ausmacht,  blieben  diese  Forscher  in 
organischem  Anschluß  an  die  Wirkensspur  Wundts,  ohne  sie  je 
zu  überschreiten  und  sich  in  Gegensatz  zu  ihm  zu  stellen.  Gab  es 
zeitweise  einen  derartigen  Gegensatz  bei  führenden  Forschern,  so 
bestand  dieser  niemals  im  Sinne  der  gegenwärtig  herrschenden  Ten- 
denzen, sondern  höchstens,  wie  bei  Mach  oder  Ziehen,  in  einem 
noch  radikaleren  erkenntnistheoretischen  Empirismus;  und  dieser 
prinzipielle  Standpunkt  veränderte  die  Forschungsweise  hinsichtlich 
ihrer  methodischen  Beschaffenheit  in  keiner  Weise.  Im  Gegenteil, 
er  begünstigte  den  Versuch,  die  experimentellen  Methoden  der  Psycho- 
logie dazu  zu  benutzen,  um  diese  Wissenschaft  der  Physiologie 
gleichsam  als  ein  Anhängsel  oder  Zwischengebiet  mindestens  metho- 
disch weitmöglichst  anzugleichen. 

Die  Spaltung,  v/elche  in  der  Psychologie  heute  den  Meinungs- 
kampf beherrscht,  entstand  vielmehr  in  ihrer  grundlegenden  Be- 
deutung mitten  in  dem  Schülerkreise  Wundts  selber.  Sie  knüpft 
sich  an  die  Arbeiten  von  Külpe,  der  mit  seinen  Schülern  der  ex- 
perimentellen Analyse  der  Urteilsvollzüge  und  des  Denkens 
neue  Wege  wies.  Die  grundlegenden  Arbeiten  Külpes,  Messers, 
Bühlers,  Marbes  und  anderer  können  hier  ebensowenig  geschildert 
werden  wie  die  glänzende  Methodik  Achs.  Wir  müssen  uns  damit 
bescheiden,  hier  die  Aufmerksamkeit  auf  zwei  grundsätzlich  bedeut- 
same Neuerungen  zu  lenken,  welche  diese  Arbeiten  mit  sich  brachten. 
Die  erste  dieser  Neuerungen  ist  methodologischer  Art.  Alle 
diese  Forscher  nämlich  gehen  zwar  von  experimentellen  Versuchen 
aus:  aber  die  Versuchsperson  hat  bei  ihnen  nicht  mehr  lediglich  die 


Dio  Problematik  in  den  Fundamonton  der  gegenwärtigen  PBychoIogie,       105 

duicli  dio  Versuchsanordnung  gegebene  Aufgabe  zu  erfüllen;  «ie  muß 
vielmehr  vor  allem  zugleich  systematische  {Selbstbeobachtung 
üben,  dio  sich  a\if  alle  inneren  Phänomene  und  Veränderungen  er- 
streckt, die  die  Aufgalx)  bis  zu  ihrem  vollendeten  Vollzuge  mit  sich 
bringt.  Diese  systematischen  Selbstbeobachtungen  überwiegen  an 
Wichtigkeit  die  Leistung  selber  im  Versuch;  ihre  Auswertung  er- 
möglichte erst  die  Resultate  der  genannten  Arbeiten.  Man  kaini  sich 
leicht  Rechenschaft  davon  geben,  wie  sehr  mit  dieser  Neuerung  die 
Stellung  des  Experiments  sich  geändert  hat.  Früher  diente 
es  zum  Mittel,  die  innere  Selbstbeobachtung  möglichst  auszu- 
schalten, als  eine  (Quelle  von  Irrtümern  und  Subjektivitäten.  Zu 
diesem  Zweck  war  das  Experiment  ja  eingeführt  worden,  als  objek- 
tives, willkürlicii  reproduzierbares  und  extensiv  meßbares  Geschehen. 
Hier  aber  wird  das  Experiment  gänzlich  dieser  Bedeutung  beraubt; 
es  dient  nicht  mehr  zur  Ausschaltung  und  Vcrtretiing  der  inneren 
Wahrnehmung,  sondern  ganz  im  Gegenteil  zu  ihrer  Auslösung 
und  Anregung.  Es  wird  zur  bloßen  Gelegenheit,  introspektive 
Analyse  zu  ermöglichen  unter  möglichst  gleichförmig  variier- 
baren und  begrenzbaren  Bedingungen.  Damif  war  zum  ersten  Male 
zugegeben,  daß  die  frühere  Stellung  des  Experimentes  in  der  psycho- 
logischen Methode  auf  einem  grundsätzlichen  Irrtum  beruhte.  Es 
ist  ein  Trugschluß,  daß  die  matcriale  psychologische  Lage  beim  Ex- 
perimentieren es  ermöglichen  könne,  um  die  innere  Selbstbeobachtung 
jemals  völlig  herumzukommen.  In  gewissem  Grade  wird  sie  immer 
unvermeidbar  sein.  Gewiß  ist  es  leicht,  während  des  einzelnen  Ver- 
suchs, besonders  wenn  er  so  angeordnet  ist,  die  Aufmerksamkeit  von 
jeder  Ablenkung  introspektiver  Art  frei  zu  halten.  Nach  Conxtes 
berühmten  Ausführungen  ist  sogar  ein  psychologisches  Selbstbeob- 
achten während  irgendeines  seelischen  Leistens  eine  unmögliche 
Absurdität.  Aber  schon  Mill  und  später  Lipps  haben  darauf  hin- 
gewiesen, daß  die  Selbstbeobachtung  in  unmittelbarem  Anschluß  an 
den  gerade  beobachteten  Bewußtseinsvorgang  recht  wohl  möglich 
sei.  Sei  dem  wie  ihm  wolle:  ganz  sicher  ist  vorher,  um  ül)erhaupt 
die  experimentelle  Aufgabe  jeweils  stellen  und  ft)rmulieren  zu 
können,  Selbstbeobachtung  unumgänglich  notwendig.  Man  muß 
doch  wissen,  welche  Bewußtseinsvorgänge  oder  welche  Kompo- 
nenten derselben  man  experimentell  untersuchen  will;  und  dazu 
bedarf  es  einer  Kenntnis  dieser  Bewußtseinsvorgänge  durch  Selbst- 
beobachtung, mag  diese  aiich  noch  vorläufig,  inigeklärt  und  »sub- 
jektiv« sein. 

Im  Hinblick  auf  diese  Erwägungen  schloß  also  der  Umbau  des 
experimentellen  Verfahrens  bei  Külpe  mul  den  genannten  Forschern 
keine  Inkonseciuenz  in  sich.  In  der  Praxis  ergab  sich  \uiter  anderem, 
dank  der  Aibeiten  von  Watt  und  Westphal,  welch  erheblichen 
EinfluL)  die  Determination  der  Aufgabe  auf  die  seelischen  Funktionen 
inid  ihre  aktive  Anteilnahme  an  der  Leistung  ausübt.  Vor  allem 
aber  begünstigte  dies  neue  methodische  Prinzip  die  Ausbildung  jener 


106  Ein  Rundblick  über  Gegenwartsströmungen  usw. 

Forschungsrichtung,  welche  sich  nicht  mehr  damit  begnügt,  psychi- 
sche Vorgänge  wie  ein  objektives  Geschehen,  einen  abge- 
schlossenen Vollzug  aufzufassen  und  zu  erklären,  sondern 
welche  sie  ihren  Seinsweisen  nach,  als  ein  lebendiges  Sich- 
vollziehen und  Werden,  als  ein  Erlebtwerden  erfaßt  und 
zergliedert. 

So  hat  die  experimentelle  Forschung  in  der  Psychologie  zwar 
ihre  unum.schränkte  Herrschaft  eingebüßt  und  ist  ein  Mittel  neben 
anderen  geworden,  um  zur  Erkenntnis  zu  gelangen;  als  ein  solches 
Mittel  aber  ist  sie  nicht  des  Wertes  gänzlich  beraubt.  Liegt  in  Rich- 
tung dieses  methodologischen  Gedankenganges  die  eine  Neue- 
rung, von  der  wir  sprachen,  so  ist  die  zweite  durch  die  Denkpsycho- 
logie gebrachte  Neuerung  theoretischer  Natur.  Um  die  objek- 
tiven psychischen  Abläufe  darzustellen  und  theoretisch  zu  erklären, 
hatte  die  Assoziationstheorie  in  Verbindung  mit  hirnphysiologischen 
Hypothesen  ausgereicht.  Zwar  hatte  W  und  t  in  seiner  Apperzeptions- 
lehre  noch  jenseits  ihrer  Grenzen  eine  theoretische  Basis  für  die  Phä- 
nomene seelischer  Aktivität  aufgestellt,  welche  ihm  assoziativ  nicht 
auflösbar  erschienen.  Er  hatte  hierbei  an  Begriffsbildungen  der 
älteren  spekulativen  Psychologie  angeknüpft,  diese  aber  wesentlich 
vereinfacht  und  schematisiert.  Jedoch  eine  Anzahl  hervorragender 
Forscher,  besonders  Ziehen,  hatte  sich  dem  »Rückfall  ins  Meta- 
physische«, der  ihnen  hierin  zu  liegen  schien,  scharf  widersetzt. 
Und  es  ist  tatsächlich  nicht  aufrecht  zu  halten,  daß  die  Apperzeptions- 
lehre  Wundts  theoretisch  genügend  fundiert  sei,  und  daß  sie  allein 
ausreiche,  um  die  psychischen  Phänomene  besser  als  eine  beliebige 
Assoziationstheorie  zu  erklären.  Beides  sind  gedankliche  Verein- 
fachungen, welche  auf  willkürlichen  Abstraktionen  beruhen  und 
das  Wesen  psychischer  Abläufe,  wie  jede  Vereinfachung,  auf  schema- 
tische und  dogmatische  Art  zur  Darstellung  bringen.  Mit  den  neubn 
Methoden  und  Fragestellungen  der  Psychologie  des  Denkens  griff 
plötzlich,  vor  allem  dank  der  Erziehung  zur  inneren  Selbstbeobach- 
tung, ein  Wissen  um  die  reiche  Mannigfaltigkeit  seelischer 
Zustände  um  sich.  Die  alten  Formeln  erschienen  diesem  neuen 
Wissen  gegenüber  ärmlich  und  ungenügend.  Es  fand  sich,  daß  neue 
Formeln  für  neuentdeckte  seelische  Tatbestände  umschriebener  Art 
notwendig  wurden,  welche  dem  einfachen  Spiel  der  Assoziation  und 
Konstellation  nicht  überlassen  werden  konnten.  So  erklärt  sich  die 
Einführung  und  Konzeption  des  Aktbegriffs,  des  Begriffs  der 
»Bewußtseinslage«,  der  weder  sensuell  noch  reflexiv  erfüllten 
»Bewußtheiten«,  der  »determinierenden  Tendenzen«  und 
anderer,  ähnlicher  Begriffe.  Diese  zerstörten  zunächst  die  bisherige 
Systematik  in  ihrem  Schematismus.  All  diese  Konzeptionen  be- 
zeichnen auf  mehr  oder  weniger  exakte  Weise  Bewußtseinszustände, 
welche  als  Wirkung  assoziativer  Bildungen  nicht  auflöslich  waren, 
welche  funktionaler  Art  sind,  oder  sie  bezeichnen  den  Bildungs- 
prozeß dieser  Seelenzustände  selber  oder  Sonderteile  an  ihm.     Dem 


Die  ProbKinatik  in  den  rundamonteii  der  gegtiiw Artigen  Puj'chologie.       107 

sei  hier  nicht  gefolgt ;  es  wird  notwendig  sein  im  folgenden  noch  auf 
sie  ziirückzukoimm'i»  ^). 

Um  die  waclisendo  Wichtigkeit  dieser  Forschungsrichtung  ab- 
schätzen zu  können,  müssen  wir  auf  das  Bestellen  einer  psycho- 
logischen Schule  zurückgreifen,  welche  anfänglich  neben  der  VVundt- 
Bchon  ein  wenig  im  Schatten  geblieben  war,  dann  aber  mehr  und 
mehr  eine  wichtige  Rolle  zu  spielen  Ijegann  und  beispielsweise  einen 
Schüler  Wundts,  Messer,  gänzlich  in  ihr  Lager  zog.  Es  ist  dies 
die  Schule  Franz  Brentanos.  In  seiner  Psychologie,  die  unter 
dem  Einfluß  der  Gedanken  Aristotelischer  und  Tho mistischer 
Prägung  stand,  aber  echte  empirische  Forschung  war,  war  stets  das 
zentrale  Problem  gewesen:  Wie  bildet  sich  das  Bewußtsein  seine 
Gegenstände  mit  Hilfe  psychischer  Vollzüge?  Der  in  dieser  Frage- 
stellung liegende  Begriff  des  objektivierenden  Aktes  realisiert 
sich  psychologisch  in  drei  generisch  verschiedenen  Vollzugsweisen, 
welchen  alles  psychische  Geschehen  eingeordnet  werden  kann:  dem 
Vorstellen,  dem  Urteilen  und  dem  »Lieben  und  Hassen«.  Er  umfaßt 
also  vor  allem  immer  auch  das  Urteil  mit.  Hierin  bot  sich  ein  naher 
Berührungspunkt  zu  den  neuen  Errungenschaften  der  experimen- 
tellen Denkpsychologie.  Das  Urteil  ist  in  der  Tat  nicht  eine  rein 
assoziative  Verknüpfung  von  Vorstellungen,  sondern  ein  Akt,  durch 
dessen  Vollzug  ein  Sachverhalt  vor  dem  Bewußtsein  gesetzt  und  als 
gültig  anerkannt  oder  verworfen  wird,  und  zwar  so,  daß  diese  Gültig- 
keit nach  Meinung  dieser  Schule  entweder  evident  ist  oder  auf  Evi- 
denzen zurückgeführt  zu  werden  vermag  2).  Es  handelte  sich  nun 
darum,  alles  seelische  Geschehen  auf  seine  es  fundierenden  Funktions- 
klassen analytisch  zurückzuführen;   und  diese  spezifischen  Klassen 

*)  Die  außcrordcnthch  schwerwiegende  Kritik,  welche  G.  E.  Müller  an  den 
experimentellen  Arbeiten  dieser  »Würzburger  Schule«  geübt  hat,  wird  hier  nicht 
in  ihrer  vollen  Bedeutung  gewürdigt,  weil  sie  unseres  Erachtens  gerade  diejenigen 
Momente,  die  wir  hier  als  prinzipiellen  Gewinn  dieser  Forschungsrichtung 
betrachtet  haben,  nicht  berührt.  Müller  übt  experimcntale  Kritik;  und  er  be- 
hauptet ( —  oder  weist  vielleicht  auch  nach):  erstens,  daß  die  psychologischen 
Deutungen  durch  determinierende  Tendenzen  und  Bewußt seinslagen  dem  eigent- 
lichen experimentalen  Ergebnis  nicht  gemäß  seien  —  und  zweitens:  daß  die  asso- 
ziative Deutung  für  dieses  ausreiche.  Nun  mag  man  beides  für  die  in  Frage  stehen- 
den Experimente  zugestehen:  so  folgte  daraus  doch  weder:  daß  die  nicht -asuozia- 
tivo  Deutung  prinzii)ieli  unmöglich,  noch,  daß  sie  für  eindeutigere  Versuchs- 
anordnungen nicht  einwandfrei  durchführbar  sei;  noch  endlich  folgte  aus  dem 
Wesen  der  Fragestellungen  selber  die  grundsätzliche  Notwendigkeit  der  asso- 
ziativen Deutung.  Mehr  also  erreicht  Müllers  Kritik  selbst  im  besten  Falle  nicht. 
Sie  zeigt  höch.stens,  daß  die  vorliegenden  Ergebnisse  dieser  Forschungsrichtung 
auch  —  und  vielleicht  sogar  besser  —  assoziationstheoretisch  deutbar  sind. 
Nicht  aber  ist  davon  der  grundlegende  neue  Gesichtspunkt  dieser  ganzen  For- 
schungseinstelhmg  .selber  berührt,  selbst  wenn  man  an  seiner  zulänglichen  ReaU- 
Bierung  nach  dem  bisherigen  Verfahren  zweifelt:  die  Einstellung  auf  den  Akt- 
charakter, und  die  Wandlung  in  der  Holle  des  Experiments.  Die»<'>8 
prinzipiell  Neue  bleibt  unangetastet  bestehen:  wo  nicht  als  Gewinn,  so  doch  ala 
Hoffnung  und   .Maxime  der  Forschung. 

*)  l  ber  die  Psychologie  des  L'rteila  und  der  Urteilscvidenz  handelt  kritisch 
u.  a.   meine  .\rbeit  .Vrchiv  f.  d.  ges.  PaychoL,  Bd.  29,  Lit.-Ber.  S.  i — 20- 


108  Ein  Rundblick  über  Gegenwartsströmungen  usw. 

standen  wieder  im  Rahmen  der  generisclien  Hauptklassen  und  konnten 
in  ihrer  Einheitlichkeit  jeweils  abgeleitet  werden  an  der  Hand  des 
Gesichtspunktes,  es  müsse  so  viele  Klassen  seelischer  Funktionen 
geben,  als  es  Weisen  gibt,  in  denen  sich  Objekte  vor  dem  Bewußt- 
sein konstituieren.  Unter  Brentanos  bedeutendsten  Schülern  seien 
hier  genannt:  Meinong,  der  die  grundlegenden  Gedanken  Bren- 
tanos in  seinen  Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  in  bestimm- 
ter Weise  umformte,  in  seinem  Werke  über  Annahmen  eine  neue 
Grundklasse  derartiger  objektivierender  Akte  zur  Darstellung  brachte 
und  auch  methodologisch  die  Lehre  vielfach  bereicherte ;  fernerMarty , 
der  in  seiner  Sprachphilosophie  als  strengster  Anhänger  Brentanos 
mit  Meinong  in  vielfachen  Gegensatz  geriet;  Witasek,  der  die 
Psychologie  durch  scharfsinnige  materiale  Einzelforschung  förderte; 
Höfler  u.  a.  Jedoch  wäre  diese  Schule  kaum  zu  so  allgemeiner  Gel- 
tung gelangt,  wenn  ihr  nicht  der  Weg  durch  zwei  hervorragende 
Forscher  gebahnt  worden  v/äre:  durch  Stumpf  in  seiner  Abhand- 
lung über  psychische  Erscheinungen  und  Funktionen,  und  durch 
Husserl  in  seinem  großen  Werke:  Logische  Untersuchungen.  Hier- 
mit fand  die  durch  die  Denkpsychologie  eingeführte  funktionale 
Betrachtung  psychischer  Vollzüge  ihr  logisches  luid  theoretisches 
Fundament. 

Stumpf  in  seiner  Arbeit  stellt  allerdings  nur  die  Wesensver- 
schiedenheit der  Phänomene  und  Funktionen  im  Psychischen  fest 
als  etwas  prinzipiell  Hinzunehmendes;  er  präzisiert  diese  Differenz 
begrifflich,  ohne  sie  zu  erklären.  Husserl,  dessen  Werk  in  den 
folgenden  Blättern  noch  eine  besondere  Rolle  zu  spielen  berufen 
ist,  gibt  mit  einer  unvergleichlichen  Eindringlichkeit  und  Begriffs- 
schärfe eine  Psychologie  der  objektivierenden  und  aktbildenden 
Vollzüge,  der  ihnen  zugrunde  liegenden  Funktionen  und  insbesondere 
des  Urteils.  Er  macht  sich  vom  Schematismus  Brentanos  in  er- 
heblichem Umfang  frei,  indem  er  der  Mannigfaltigkeit  funktionaler 
Bewußt  Seinsbeziehungen  auf  potentielle  Gegenstände  in  weit  ad- 
äquaterer Weise  gerecht  wird.  Er  zeigt,  wie  einem  jeden  dieser  Akte, 
durch  deren  Vollzug  sich  auf  irgendeine  Weise  ein  Gegenstand  für 
das  Bewußtsein  konstituiert,  eine  Intention  dieses  Bewußtseins  zu- 
grunde liegt,  welche  sich  in  dem  gegenstandsbildenden  Akte  realisiert. 
Die  Möglichkeit  weiterer  sachlicher  Deskriptionen  ergibt  sich  ihm 
aus  einer  Zergliederung  des  »intentionalen  Wesens «  dieser  Funk- 
tionen i).  Wir  werden  das  später  noch  zu  verfolgen  haben.  Seine 
gesamte  Arbeit  ist  tatsächlich  der  Versuch  einer  Psychologie  der 
Logik,  und  zwar  der  erste,  welcher  seit  zwei  Generationen  unter- 
nommen wurde.  Hier  ist  es  unmöglich,  auch  nur  ihre  wesentlichsten 
Züge  zu  berühren. 

Dies  Werk  Husserls  war  von  mächtigem  Einfluß.     Von  ihm  an 


1)  Vgl.  S.  337  ff.,  wo  diese  vorläufige  Darstellung  noch  gewisse  Korrekturen 
erfährt. 


Die  Problematik  in  den  Fundamenten  der  gegen  wart  igen  Psyc  bologie.       109 

(laliert  der  Ausl)aii  der  Funktioiispsychologie  in  Deutseliland. 
Es  übertraf  alle  früheren  Werke  an  »Scharfsinn  und  Gründlichkeit; 
aber  es  entfernte  die  Funkt ionspsychologie  mehr  als  je  zuvor  von 
den  experimentellen  Methoden  zugunsten  analytischer  Spekulation. 
Zugleich  aber  geriet  mit  diesem  an  Anregungen  so  reichem  Werk  die 
neue  psychologische  Lehre  in  eine  andere  grundsätzliche  Gefahr. 
Diese  lag  in  einem  Irrtum  Husscrls,  welchen  wir  an  früherer  »Stelle') 
bereits  gestreift  halben,  hinsichtlich  der  .Methode  seiner  Untersuchun- 
gen. Er  betrachtet  diese  Methode  nicht  als  einen  Bestandteil  der 
Psychologie,  sondern  er  konstruiert  aus  ihr  eine  grundsätzlich  anders- 
artige und  neue  Forschung:  der  Phänomenologie.  Und  obwohl 
Külpe,  Cornelius,  Ziehen,  Messer  und  Nelson,  letzterer  mit 
besonders  triftigen  Argumenten,  den  psychologischen  Charakter 
seiner  Untersucliungen  betont  und  seine  eigenen  Ausführungen  ül>er 
das  Wesen  dieser  Phänomenologie  angefochten  haben,  hat  er  seinen 
Gesichtspunkt  festgehalten  und  in  einer  neuen  großen  Arbeit  noch 
strenger  systematisiert:  den  Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie 
und  phänomenologischen  Pliilosophie.  Die  Phänomenologie  ist 
nach  ihm  nicht  empirische  Beschreibung,  insofern  sie  auch  vom  Sein 
ihrer  Objekte  absieiit,  sie  ist  reine  Wesensschau,  ein  unmittelbares, 
apriorisches  Erfassen  des  reinen  Wesens  in  einer  Art  von  intellek- 
tueller Intuition.  Ihre  Abstraktionen  sind  sodann  etwas  Sekundäres, 
für  die  Darstellung  Erzwungenes,  welches  vom  Boden  dieses  »eide- 
tischen  Wissens«  aus  formuliert  wird.  Es  handelt  sich  also  niciit  um 
eine  Art  von  innerer  Wahrnehmung,  sondern  um  eine  vom  empi- 
rischen Boden  gänzlich  sich  loslösende  Erkenntnisweise,  welche  sich 
auf  der  Basis  einer  kategorialen  Anschauung  systematisiert,  genau 
ebenso,  wie  sich  die  alte  Metapliysik  auf  der  Basis  der  Kategorien 
des  reinen  Denkens  erhob,  nur  daß  diese  nicht  anschaulich  gegeben 
waren. 

Husserl  wollte  offenbar  mit  dieser  Annahme  sich  der  Gefahr 
des  Psychologismus  entziehen;  einer  Gefahr,  in  der  seine  Lehre  tat- 
sächlich schwebte,  weil  sie  die  gesamte  objektive  Erkenntnis  und 
die  Gründe  ihrer  Geltung  aus  empirisch-psychologischen  Bedingungen 
ableitet.  Deswegen  leugnet  er  die  empirische  und  psychologische 
Natur  der  letzteren.  Dieser  methodologisch-theoretische  Irrweg  ist 
aber  nicht  untreimbar  und  organisch  mit  der  Natur  deiner  großen 
Entdeckungen  selber  verwachsen  2).  Jedoch  sieht  man  sogleich, 
welche  Bande  diese  methodologischen  Annahmen  mit  den  plato- 
nischen Abstraktionen  und  allen  intuitiven  Piülosophien  verl)inden. 
Und  weiter  sieht  man,  wie  gefahrvoll  diese  Verbindung  für  den  Ciia- 
rakler  der  Psychologie  als  Naturwissenschaft  ist,  weloho 
durch  sie  das  Wagnis  läuft,  von  neuem  durch  die  geisteswissenschaft- 
liche Spekulation  beschlagnahmt  zu  werden.    Und  tatsächlich  scheinen 


1)  Vgl.  S.  29. 

«)  Genaueros  hierzu  vgl.  S.  360 ff. 


110  Ein  Rundblick  über  Gegenwartsströmungen  usw. 

die  so  sorgsamen  Abgrenzungen  Husserl  heute  bei  einigen  seiner 
Schüler  zu  einer  völlig  entgegengesetzten  Forschungsweise  umge- 
schlagen: eine  intuitive  Individualpsychologie,  welche  sich  fast  aller 
empirischen  Kontrolle  begeben  hat,  scheint  sich  ausgestalten  zu 
wollen.  Wenn  diese  Tendenzen  von  einzelnen  Schülern  Husserls 
bis  jetzt  noch  zu  verwertbaren  und  teilweise  interessanten  Ergeb- 
nissen geführt  haben,  so  sind  diese  Ergebnisse  nicht  etwa  der  an- 
geblichen Methode  einer  von  allem  Empirischen  losgelösten  Intuition, 
sondern  im  Gegenteil  der  wissenschaftlichen  Gewissenhaftigkeit  der 
Forscher,  die  sich  in  der  Lippsschen  Schule  gebildet  hat,  zuzuschrei- 
ben. Dies  gilt  von  den  Arbeiten  Oesterreichs  über  die  Phäno- 
menologie des  Ich,  von  denen  Geigers  über  das  Bewußtsein  von 
Gefühlen  und  die  Phänomenologie  des  ästhetischen  Genusses,  und 
ebenso  von  den  Arbeiten  Schelers  über  Ressentiment  und  mora- 
lisches Werturteil  Und  über  Sympathiegefühle  und  Liebe.  Freilich 
streift  die  Apodiktizität  manches  Schelerschen  Urteils  die  Grenze 
des  wissenschaftlich  Diskutierbaren,  und  der  wertvollste  Teil  findet 
sich  in  einem  Anhang  seiner  letztgenannten  Arbeit  über  den  Grund 
unserer  Kenntnis  von  fremden  Ichen.  Auch  diese  Untersuchung 
ist  übrigens  nur  in  ihrem  negativen  und  kritischen  Teile  fehlerfrei. 
Dasjenige,  was  diese  psychologische  Strömung  charakterisiert  und 
was  bei  einem  Meister  des  Experimentes  wie  Wundt  auf  völliges 
Unverständnis  stoßen  muß,  ist  ihre  Tendenz  zur  Individualpsycho- 
logie. Andererseits  verschließt  sich  heute  wohl  auch  ein  Anhänger 
der  experimentellen  Methodik  kaum  mehr  vor  der  durch  die  letzt- 
genannte Forschungsrichtung  lebendig  gewordenen  Erkenntnis,  daß 
hier  erst  die  wahrhaft  wichtigen  Aufgaben  psychologischer  Wissen- 
schaft anfangen,  und  daß  alles  Bisherige  mit  seinen  experimentellen 
Trivialitäten  nur  unumgängliche  Vorarbeit  war.  So  haben  auch 
die  Versuche  experimenteller  Art,  eine  Psychologie  der  individuellen 
Differenzen  zu  ermöglichen,  in  letzter  Zeit  sich  stark  bereichert. 
Aber  so  wertvoll  auch  Arbeiten  wie  die  differentielle  Psychologie 
von  Stern,  wie  die  mannigfachen  Eignungs-  und  Begabungsprüfungen 
genereller  oder  auf  einzelne  Berufe  zugeschnittener  Art,  wie  die  Ar- 
beiten von  Krüger  und  Spearman,  Betz  u.  a.  über  psychische 
Korrelationen  oder  die  Aufstellung  psychologischer  Profile  in  der 
So  m  mer sehen  Schule  sein  mögen,  so  liegt  es  andererseits  in  der  Natur 
der  Sache,  daß  sie  die  individuellen  Differenzen  immer  nur  an  ein- 
zelnen Leistungen  zu  erfassen  und  zu  bezeichnen  vermögen,  und 
daß  dies  unwesentlich  ist  angesichts  des  Problems  der  Individualität 
selber.  Keine  dieser  Arbeiten  vermag  das  eigentliche  Wesen  des 
Individuums  und  seines  Erlebens  in  seiner  jeweiligen  spezifischen 
Bestimmtheit  zu  erfassen.  Hierfür  sind  experimentelle  Methoden 
als  Leistungsmessungen  ihrer  eigensten  Art  nach  unbrauchbar.  Und 
es  kostet  nur  einen  Schritt,  von  dieser  Erkenntnis  aus  die  grundsätz- 
liche Unzulänglichkeit  aller  naturwissenschaftlichen  Methoden  hin- 
sichtlich einer  Begründung  der  Individualpsychologie  zu  behaupten. 


Die  rroblciuatik  in  deu  Fundamentou  der  gtgc-nw Artigen  l'Hychologie.       Hl 

Die  phünomenologi.scho  Lehre  Huasorls  dient  hier  wider  Willen 
zur  Stütze  einer  bedenklichen  Sache.  Der  InipulM  zur  Individuali- 
sierung psychologischer  Materien  wird  auch  durch  die  neuen  Ten- 
denzen begünstigt,  welche  wir  in  der  dynamischen  Psychopathologie 
an  die  Namen  Freuds  und  Adlers  geknüpft  fanden.  Diese  breiten 
sich  auch  über  das  normale  Seelenleben  aus.  Nimmt  man  hierzu 
eine  Theorie  wie  die  Husserls,  propagiert  durch  einen  der  scharf- 
sinnigsten Denker,  welche  laut  die  unfehlbare  Sicherheit  reiner  In- 
tuitionen verkündet  :  darf  man  sich  da  wundern,  wenn  gegenwärtige 
Strömungen  der  Geisteswissenschaften  freudig  diese  Abkehr  von 
den  Methoden  der  naturwissenschaftlichen  Psychologie  l>egrüßen, 
um  die  letztere  als  gleichsam  technische  Disziplin,  als  Psycho - 
teehnik  im  Sinne  Münsterbergs,  in  ihren  praktisciien  Anwen- 
dungen der  Pliysiologie  anzugliedern,  selber  aber  auf  die  Prinzipien 
und  Grundlegungen  psychologischen  Forschens  den  früheren  philo- 
sophischen Einfluß  zurückzugewinnen? 

Die  Geisteswissenschaften  sind  in  der  Tat  an  der  Arbeit,  sich 
dieser  Tendenzen  in  der  Individualpsychologie  zu  ihren  Gunsten  zu 
bemächtigen.  Ebenso  wie  sie  früher  mit  dem  Sciireckgespenst  des 
Psychologismus  die  Psychologen  daran  zu  hindern  suchten,  empi- 
rische Deduktionen  an  Stelle  der  apsychologischen  fiktiven  Kon- 
struktionen zu  setzen,  welche  damals  im  Gebiet  der  Geschichte  und 
der  Werttheorien  herrschten  (Meinong  hat  in  einer  interessanten 
Arbeit  für  die  Psychologie  und  gegen  den  Psychologismus  in  der 
Theorie  der  Werte  erst  kürzlich  darauf  hingewiesen),  ebenso  schieben 
sie  heute  Husserl,  den  geistvollen,  aber  unzuverlässigen  Simmel 
und  den  so  außerordentlich  überschätzten  Bergson  vor,  um  die 
speziellen,  methodisch  exakten  und  sachlich  begrenzten  psychologi- 
schen Einzelarbeiten  zugunsten  ihrer  allgemeinen  erfassenden  In- 
tuition zu  diskreditieren.  Schelling  ist  der  Philosopli  des  Tages. 
Selbst  bewährte  Psychologen  sind  durch  diese  philosophische  Wand- 
lung so  desorientiert  worden,  daß  beispielsweise  Münsterberg  in 
einer  neueren  Arbeit  über  die  Werttheorie,  aus  Furcht  für  einen 
Psychologisten  gehalten  zu  werden,  in  das  Lager  der  Ricker t  und 
Windelband  abgeschwenkt  ist  und  als  seine  frülieren  Assoziations- 
studien gleichsam  stillschweigend  übergelit.  Kickerts  glänzend 
geschriebene  Werke  über  den  Gegenstand  der  Erkenntnis  und  über 
die  Grenzen  naturwissenschaftlicher  Begriffsbildung  haben  eine 
geisteswis.senschaft liehe,  den  historischen  Forschungsweisen  ange- 
paßte Methodik  mit  dem  Schein  einer  Berechtigung  grundsätzlicher 
Art  zu  umgeben  gewußt,  welcher  sie  gerade  auch  für  das  Erfassen 
der  Individualität  weit  über  alle  Naturwissenschaft  stellt.  Wir 
werden,  da  es  sich  hier  um  eigenstes  Gut  der  Psychologie  handelt, 
darauf  noch  näher  einzugehen  haben.  Hier  sei  nur  gesagt,  daß 
Rickerts  Aufstellungen  im  psychologischen  Lager  selber  bereits 
hervorragende  Anhänger  Ix'sitzen:  Jonas  Cohn,  der  Ästhetiker 
und  Pädagoge,  und  Max  Wober  seien  hier  genannt,  welch  letzterer 


112  Ein  Rundblick  über  Gegenwartsströmungen  usw. 

bereits  seine  vermeintliche  »idealtypische  Begriffsbildung«,  von  der 
noch  zu  sprechen  sein  wird,  in  die  Sozialpsychologie  hineingetragen 
hat.  Hier  und  in  der  Kriminalpsychologie  lassen  sich  schon  jetzt  die 
Spuren  geisteswissenschaftlicher  Arbeitsweisen  erkennen. 

So  läßt  sich  in  dem  krisenhaften  Zustande  der  gegenwärtigen 
Psychologie  klar  ein  inneres  Entwicklungsprinzip  erfassen,  und 
dieses  stellt  uns  nun  selber  wieder  vor  ein  Problem.  Wir  sahen,  als 
wir  die  Aussichten  einer  Fortbildung  der  Psychiatrie  besprachen,  daß 
diese  fürs  nächste,  soweit  es  sich  um  ihren  autologischen  Stand  handelt, 
geknüpft  sein  müßte  an  eine  methodisch  und  systematisch  vertiefte 
Durchbildung  der  pathopsychologischen  Bestände  ihrer  Sympto- 
matik. Die  Waffen  und  Mittel  dieser  Durchbildung  müßten  der 
Psychologie  entnommen  werden.  Unser  Rundblick  über  die  letztere 
hat  uns  nun  gezeigt,  daß  diese  Erkenntnis-  und  Forschungsmittel 
dort  in  fast  allzureicher  Weise  vorhanden  sind:  experimentelle  Me- 
thoden, assoziationspsychologische  und  dynamische  Vorarbeiten, 
funktionspsychologische  Klärung  komplexerer  Strukturen  und  selbst 
Methoden  individualpsychologischer  Analyse  bietet  sie  uns  in  reicher 
Fülle  dar,  und  wir  müssen  sie  nur  zu  gebrauchen  lernen.  Aber  trotz 
alledem  ist  die  Psychologie  selber  in  einer  Gährung  und  Ungeklärtheit, 
welche  eine  systematische  Vereinheitlichung  alles  dieses  wissen- 
schaftlichen Werkzeuges  dauernd  an  fundamentalen  Widersprüchen 
über  die  Prinzipien  des  Forschens  überhaupt  auf  diesem  Gebiete 
scheitern  läßt.  Die  Anwendung  jeder  einzelnen  methodischen  Klasse 
bringt  es  mit  sich,  das  gesamte  Arbeitsgebiet  gleichsam  in  einen  be- 
stimmten philosophischen  und  einseitigen  Gesichtswinkel  hineinzu- 
stellen, nämlich  den,  unter  welchem  diese  Methodenklasse  selber 
begründet  wurde.  Dadurch  entsteht  ein  Widerspruch  und  Gegen- 
satz zu  andersartigen  psychologischen  Methoden,  welcher  wider  den 
Willen  des  Einzelforschers  grundsätzlicher  und  philosophischer  Art 
ist.  Der  inneren  Vielgestaltigkeit,  welche  der  Psychiatrie  ohnehin 
anhaftet,  scheint  auf  diese  Weise  nicht  abgeholfen  werden  zu  können. 

Was  bleibt  uns  zu  tun  übrig?  Wir  müssen  versuchen,  die  Trag- 
weite der  einzelnen  psychologischen  Methoden  im  Rahmen  eines 
systematischen  Ganzen  gegeneinander  abzugrenzen.  Auf  diese 
Weise  werden  wir  sie  zu  gemeinsamer  und  einheitlicher 
Arbeit  vereinigen  können.  Dies  wird  die  notwendige  Vor- 
arbeit sein,  welche  der  Übertragung  des  so  gewonnenen  ein- 
heitlichen psychologischen  Gesamtsystems  auf  diePatho- 
psychologie  vorangehen  muß.  Wie  aber  diese  Arbeit  zu  voll- 
ziehen ist,  unter  welchen  Sicherungen  und  unter  welcher  Gewähr 
gegen  Einseitigkeit,  Dogmatik  und  unfruchtbare  theoretische  Spe- 
kulation, dies  wird  in  den  folgenden  Untersuchungen  die  Grund- 
frage sein. 


über    die     wisscnscliaftsthciUM'tisolHMi     Gruiidlao^eii 

der    Psycliolo«;!«'.    inshrsoinh'n'    die    Probleme    der 

psycbiscben   Kausalität. 

1.  Einführung  in  die  psycliiatriscli-praktische  Notwendigkeit 
psychologischer   Theorie. 

Die    klinische    Praxis    der     Psyclnutrie    ist    psychologisch 

fundiert. 

An  der  Psychiatrie,  wie  sie  historisch  geworden  vorliegt,  lassen 
sich  zwei  Gebiete  psychologischer  Arbeit  sondern.  Das  eine  Gebiet 
ist  das  der  Klinik,  das  zweite  das  der  symptomatologischen  Analyse. 
Die  Klinik  wird  ihren  psychologischen  Charakter  nur  ungern  ein- 
gestelien;  und  doch  ist  er  ihr  wesentlich.  Hier  werden  Einzelfälle 
in  beziig  auf  ihre  wechselnden  Zustand-sbilder  und  die  Verlaufsart 
ihrer  geistigen  Störung  beobachtet,  mit  ähnlichen  bereits  lx>kannten 
Fällen  zusammengestellt,  unter  ein  typisches  Artschema  gebracht 
und  somit  den  für  dieses  Schema  bekannten  prognostischen  und 
therapeutischen  Erwägungen  unterstellt.  Prognose  und  Therapie, 
also  praktische  Zwecke,  sind  es,  nach  denen  die  Arbeit  der  Klinik 
orientiert  ist;  ihre  psychologische  Leistung,  die  Stellung  der  Dia- 
gnose, dient  nur  der  Erreichung  dieser  Zwecke,  Die  Diagnose  der 
Psychiatrie  ist  also  nichts  anderes  als  ein  Schema  des  Praktikers; 
und  die  Diagnostik  besteht  aus  zwei  Akten,  der  Auffindung  der  Sym- 
ptome und  ihrer  Verbindung. 

Bereits  hier  stoßen  wir  nun  auf  eine  Reihe  außerordentlich  schwie- 
riger Fragen.  Die  nächstliegende  ist  diejenige,  welche  sich  aus  der 
vorwiegend  seelischen  Natur  dieser  »Symptome«  und  der  Tatsache, 
daß  sie  eben  Symptome  sind,  d.  h.  auf  eine  Krankheit  hindeuten, 
ers^ibt.  Noch  vor  Griesinger  hat  der  scharfsiiuiige  Spiel  mann*) 
hierfür  den  Ixjfriedigenden  nietiiodologischen  Standpunkt  gefunden: 
»Der  Geistoskranke  ist  ein  Kranker,  wie  jeder  andere  Kranke.  Er 
ist  hirnkrank,  aber  nicht  die  Symptome  gestörter  Sensibilität  oder 
Motilität  charakterisieren  ihn,  sondern  er  fällt  durch  die  Störung 
seiner  psychischen  Leistungen  in  die  Klasse  der  Kranken.  Wir 
haben  es  also,  doch  nicht  allein,  mit  psychischen  Störungen  zu  tun  .  .  . 
Die  zeitgemäße  und  eigentliche  Aufgabe  einer  Diagnostik  der  peychi- 


1)  Diagnostik  der  Gcistoskrankhciton.     Wien  1855.     Vff. 
Kronfcld,  rsychlAtritcho  KrkcDDtak. 


114      Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

sehen  Störungen  wäre  die  Beantwortung  der  Frage:  welche  Hirn- 
veränderungen bedingen  die  Erscheinungen  am  Geisteskranken?  .  .  . 
Aber  so  schwer  sich  die  stoffliche  Diagnose  entbehren  läßt,  das  Ver- 
ständnis des  Irren  hinge  doch  von  der  sichersten  noch  lange  nicht 
ab.  Besäßen  wir  eine  solche,  wir  würden  aus  der  Hirnstörung  allein 
doch  nicht  folgern  und  erklären  können,  warum  der  Kranke  eben  diese 
Wahnvorstellungen  hatte  oder  jene  blutige  Tat  verübte,  Und  warum 
der  andere  nicht  mit  dem  gleichen  Hirnbefund?  Alle  Fragen, 
welche  die  Verfassung  der  psychischen  Vorgänge  angehen, 
finden  ihre  Lösung  nur  in  der  Erkenntnis  der  inneren 
Gesetzmäßigkeit  derselben.  .  .  Nur  eine  symptomatische 
Diagnose  als  Phänomenologie  der  Störungen  ist  möglich. 
Wir  beobachten  am  Irren  Erscheinungen;  sie  gehen  von  psychischen 
Vorgängen  aus,  wir  schließen  von  jenen  auf  diese,  und  finden  sie 
gestört. « 

Ist  die  psychologische  Diagnostik  heuristisch  oder  theo- 
retisch begründet? 

Hiermit  wäre  bereits  betont,  daß  schon  zur  praktischen  Dia- 
gnostik in  der  Psychiatrie  psychologische  Arbeit  auf  der  Basis  eines 
psychologisch-theoretischen  festen  Besitztums  (»Erkenntnis  der 
inneren  Gesetzmäßigkeit «)  unumgänglich  ist,  ja  daß  diese  das  Wesen 
der  Diagnostik  ausmacht.  Es  ließe  sich  zwar  —  und  das  ist  seit 
Westphal  die  unausgesprochene  Regel  —  die  Meinung  vertreten, 
als  wäre  das  der  Diagnostik  unterliegende  psychische  Material  hin- 
sichtlich dessen,  was  Spielmann  sein  »inneres  Gesetz«  nannte, 
praktisch  völlig  bedeutungslos.  Es  käme  dann,  bei  der  epiphäno- 
menalen Stellung  des  psychischen  Materials,  lediglich  darauf  an, 
wie  weit  sich  an  ihm  Merkmale  heraussondern  lassen,  welche  An- 
zeichen für  diese  oder  jene  Prognose,  diesen  oder  jenen  ferneren 
Krankheits verlauf  sind,  Anzeichen  rein  äußerlicher  Art,  bei  denen 
der  Grund  ihres  Zeichenseins  nicht  einsichtig  ist.  Die  Diagnose  be- 
stände dann  in  der  Auswahl,  Zusammenfassung  und  Ordnung  der- 
artiger Zeichen  unter  ein  adäquates  vorgegebenes  Schema. 

Indessen  vermag  der  Grund  der  Geltung  und  Berechtigung  eines 
derartigen  diagnostischen  Schemas  selber  und  seiner  einzelnen  Krank- 
heitsabgrenzungen seinerseits  wieder  ein  Problem  zu  bilden,  welches 
noch  in  einem  anderen  und  tieferen  Sinne  besteht,  als  er  durch  die 
äußerlich-zweckhafte  und  so  wandelbare  Heuristik  der  klinischen 
Forschung  beantwortet  wird.  Man  kann  nämlich  fragen,  ob  die  ein- 
zelnen seelischen  »Symptome  «  und  »Symptomkomplexe  «  ihrer  Seins- 
weise, Struktur,  Dynamik,  kurz  ihrem  Wesen  i)  nach  aus  dem  Cha- 
rakter der  betroffenen  Persönlichkeit  und  deren  individueller  Sonder- 


1)  Wesen  ist  hier  wie  überall  kantisch  verstanden:  als  »das  innere  Prinzip 
alles  dessen,  was  zur  Möglichkeit  eines  Dinges  gehört«  (Metaphys.  Anfangsgr.  d. 
Naturwiss.  1786,  Vorrede). 


Einführung  in  die  psychiatr.-praktiHcho  Notwendigkeit  pHychol.  Theorie.      115 

aitung  als  Erlebcn.sfonnen,  Entwirkhmgeii  ocIlt  Ilciiktioii-sweiBcn 
sich  restlos  psycjiologisch  herleiten  lassen,  oder  ob  sie  ihrem  psycho- 
logischen Wesen  nach  einen  Ausdruck  für  das  Vorliegen  eines  die 
Persönlichkeit  zerstörenden,  destruktiven  Prozesses  seelisch -geistigen 
Abbaus  bilden.  Liegt  ein  solcher  Prozeß  vor,  so  vermag  auch  auf 
dessen  Außorungsweisen  und  die  Weisen  ihres  Erlebens  der  Ixjreits 
veränderte  Persönlichkeitsrest  noch  adäquat  mit  seinem  eigenen 
seelischen  Besitzstande  zu  reagieren;  und  so  kompliziert  sich  die 
Frage:  was  an  den  psychischen  Vorgängen  in  einem  Kranken  er- 
wächst primär  aus  der  Artung  der  Pereönlichkeit  ?  Was  ist  Prozeß- 
symptom? Was  ist  sekundäre  Reaktion  der  veränderten  Persön- 
lichkeit auf  die  subjektiven  Auswirkungsweisendes  Prozesses?  Fragen 
dieser  Art  zum  ersten  Male  bewußt  gestellt  und  zur  Aufklärung  des 
inneren  Gesetzes  in  einem  Teilgebiet  von  Prozessen,  welches  er  ald 
Paranoia  zusammenfaßt,  gemacht  zu  haben  ist  eines  der  Verdienste 
von  Wernickci).  Xeuerdings  hat  Jaspers«)  diese  Fragestellung 
in  modifizierter  und  allgemeinerer  Form  wieder  aufgenommen. 

Das  Kriterium  des  Symptomatischen  ist  nicht  zufällig. 

Nimmt  man  nämlich  an,  daß  ein  Gesetz  bestehe,  wonach  sich 
der  prozeßartige,  destruierende  Abbau  der  Persönlichkeit  —  mag 
er  nun  somatisch  bedingt  sein  oder  nicht  —  an  der  Struktur  der  durch 
ihn  gesetzten  seelischen  Bildungen,  und  damit  auch  an  der  Weise 
ihrer  Bcwußtwerdung,  ihres  Erlebnischarakters,  mit  psychologischer 
Notwendigkeit  auswirken  müsse,  —  so  wird  hiernach  grundsätzlich 
zum  rein  psychologischen  Problem,  was  aus  der  individuellen  Mannig- 
faltigkeit psychotischer  Bilder  zum  Symptom  zu  machen  sei;  und 
Kriterium  dafür  wird  eben  der  Charakter  der  Bedeutsamkeit  und  des 
Hinweises  irgendwelcher  vorkommender  psychischer  Bildungen  auf 
ihre  psychologisch  notwendige  Ableitung  aus  der  prozeßhaften  Natur 
psychischen  Abbaus.  Dabei  bleibt  eine  zunächst  offene  Frage,  ob 
sich  das  innere  Gesetz,  welches  wir  hier  zwischen  destruktivem  Prozeß 
und  psychischem  Symptom  supponieren,  erkennen  und  bestimmen 
läßt,  oder  ob  wir  nur  hinreichende  Merkmale  für  sein  Bestehen  haben, 
ohne  es  selbst  zu  kennen.     Und  ganz  genau  ebenso  liegen  die  Dinge 

1)  Grundriß  d.  Psych.  Leipzig  1896.  S.  112ff.,  S.  140.  Die  —  bei  ihm  assozia- 
tionsthooretisch  fundierte  —  Sojunktion  in  der  akuten  Ceistesstörung  ist  das 
psychologische  Wesen  des  Ausfalls,  des  »Zerfalls  dtr  Individualität«.  Von  ihr 
hängen  »nach  innerem  Gesetz«  ab  die  gest«>rte  »sekundäre  Identifikation«  und 
die  als  »Reizersoheinungen«  aufzufassenden  Halluzinationen,  »autochthonen«  und 
beziehungswahnhaften  Ideen.  Der  »Erkläningswahn«  ist  hingegen  »nur  als  die 
Reaktion    eines    normal    funktionierenden    Cehirnmechanismus    auf    die    einmal 

f;egebene  inhaltliche  Veränderung«  aufzufassen  (S.  137),  wogegen  die  Krinnerun^s- 
älschungen  und  der  »retrospektive  Beziehuncfmahn«  zwar  an  sich  normale 
reaktive  Korrektur%-orgänge,  aber  auf  der  Basis  der  bereits  krankhaft  veränderten 
Persönlichkeit  (S.  141)  sind.  Alle  Einzelheit<?n  hieran  sind  irrig;  da«  Prinzip  ist 
richtig. 

«)  Ztschr.  f.  d.  ges.  Neur.  u.  Psych,     1910.    S.  602—615. 


116      Über  die  ■wissenschaftstheoretißchen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

für  diejenigen  Symptome,  welche  aus  dem  inneren  Gesetz  der  sie 
produzierenden  Persönlichkeit  notwendig  ableitbar  sind.  Daher 
wir  umgekehrt  aus  der  wirren  Mannigfaltigkeit  eines  psychotischen 
Bildes  dasjenige  herausheben  und  zum  Symptom  machen  werden, 
was  uns  ein  Hinweis  auf  die  Sonderartung  der  Persönlichkeit  ist, 
aus  welcher  es  gesetzmäßig  erwuchs. 

Es  ist  nur  aus  psychologischer  Theorie  zu  entwickeln. 

Diese  Probleme  setzen  zu  ihrer  Lösung  die  Möglichkeit  der  Fest- 
stellung des  Vorliegens  derartiger  innerer  Gesetze  voraus.  Damit 
fordern  sie  psychologische  Theorie.  Um  deren  Notwendigkeit 
zu  erweisen,  wurden  diese  Fragen  gestreift.  Der  reine  Kliniker  steht, 
wenn  er  wirklich  einmal  das  Verhältnis  von  Symptom  und  Krankheit 
im  Psychischen  so  durchdenkt,  wie  dies  vor  60  Jahren  Spielmann 
tat,  vor  einer  ihm  paradox  erscheinenden  Umkehrung  lieb  geworde- 
ner Gedankengänge:  nicht  mehr  irgendein  unbewiesener  und  dog- 
matisch aus  oberflächlicher  heuristischer  Sammelarbeit  abgeleiteter 
klinischer  Begriff  von  Krankheiten  i)  bestimmt,  was  am  seelischen 
Bilde  Symptom  zu  sein  hat,  ohne  daß  diese  Bestimmung  einsichtig 
wäre.  Sondern  umgekehrt:  das  psychotische  Gesamtbild  tritt  in 
das  Zentrum  der  Beobachtung;  und  psychologische  Arbeit  holt 
aus  ihm  heraus,  was  mit  psychologischer  Notwendigkeit 
zum  Hinweis  auf  das  Zerstörtwerden  oder  das  Erhalten- 
bleiben der  geistigen  Persönlichkeit  zu  dienen  vermag. 
Und  danach  teilen  sich  dann  symplomatologische  Zusammenfassungen 
einsichtiger  Art  ab.  So  gelangen  wir  in  denkerisch  undurchbrochener 
Folge  bis  zu  echten,  wenn  auch  nur  symptomatischen,  Krankheits- 
bildern, welche  wir  dann  ihrerseits  an  pathogenetischen  und  anders- 
artigen nosologischen  Erfahrungen  zu  verankern  die  Aufgabe  haben, 
um  so  zu  realen  Krankheitseinheiten  zu  streben. 

Das  Problem    des  Wissens    von  fremdem  Psychischen. 

Aber  nehmen  wir  diese  hier  gestreiften  Fragen  nach  den  Kriterien 
des  Symptomcharakters  und  den  Rechtsgründen  symptomatischer 
Bedeutsamkeit  für  die  einzelnen  Klassen  psychopathologischer  Struk- 
turen hier  einmal  als  gelöst  an.  Damit  sind  die  Probleme  der  Dia- 
gnostik noch  keineswegs  aus  der  Welt  geschafft.  Gegeben  sind  uns 
doch  nur  Äußerungen  und  Handlungen  unserer  Kranken.  Allein 
jene   Äußerungen    und   Handlungen   sind  der  Ausdruck  eines   vom 

1)  »Paranoia«,  »Dementia  praecox«;  oder  mit  völlig  gleicher  Berechtigung 
auch  frühere:  »die  Verwirrtheit  oder  allgemeine  Verrücktheit  (Dem?nce)«,  »die 
Tobsucht«,  »der  Wahnsi  in«  —  Griesinger,  »d^'uteropatliisch?  Encephalopathie  « 
—  Flemming,  »dämonomane  Form  d-s  attonischjn  Wahnsinns«,  »degenera- 
tiver hysterischer  B  ö  Isinn  «  —  Schule,  »Diirium  acutum«  der  Franzosen  — 
und  viule  andere,  gleich  »wortvolle«  Erfindungen  wohl  gemerkt  unserer  hervor- 
ragendsten Forscher  —  was  ist  von  ihaen  übrig  geblieben? 


Einfübrong  in  dio  fsychiatr-praktiBcbe  Notwendigkeit  psychoL  Theorie.     117 

unseren  abweiclienden  Seelenlebens;  und  es  ist  eine  grundsätzliche 
Frage,  inwiefern  wir  ihnen  seelisches  Gesclielien  zugrunde  legen  dürfen, 
das  wir  nach  Anah)gio  unseres  eigenen  strukturieren.  Andererseits 
haben  wir  kein  .Mittel  zum  psychologischen  Verständnis  unserer 
Kranken  als  unsere  eigene  innere  Erfahrung,  obwohl  wir  wissen, 
daß  ilir  Gegenstand,  das  eigene  Ich,  grundsätzlich  anders  geartet 
ist  als  das  fremde  Ich,  dessen  kranke  Äußerungen  es  auf  ein  adäquates 
Gescheiicii  zurückzufüiiren  gilt.  Es  liegt  also  schon  in  der  tatsäch- 
lichen Feststellung  des  seelischen  Geschehens  in  jedem  einzelnen 
Fall  —  der  von  unwicderholbarer  Individualität  ist,  eine  Schwierig- 
keit, deren  Überwindung  die  Lösung  zweier  Fragen  voraussetzt: 
Was  kann  ich  von  fremden  Ichen  wissen?  und  wo  liegt  der  Rechts- 
grund dieses  Wissens?  und  ferner  inwieweit  ist  dio  Krankheit  oder 
das  was  wir  so  nennen,  eine  einschränkende  Bedingung  für  dieses 
Wisscnkömien  ?  Welche  seelischen  Ablaufgesetze  sind  allgemein 
gültig  und  übertragbar?  Welches  sind  die  Kriterien  dieser  Über- 
tragbarkeit ? 

Wir  halten  diese  beiden  Fragen  für  lösbar,  geben  aber  ihre  syste- 
matische Lösung  nicht  hier,  sondern  an  späterer  Stelle').  Auch  ihre 
Beantwortung  ist  Sache  einer  psychologisch -theoretischen 
Untersuchung. 

Psychologisches  Gesetz    und    symptomatische  Analyse. 

Das  zweite  Problem,  welches  den  Weg  bis  zur  Diagnostik  ver- 
sperrt, liegt  in  folgendem:  haben  wir  uns  der  individuellen  Vorgänge 
in  einem  Kranken  versichert,  so  muß  die  Aufklärung  ihres  Mecha- 
nismus, ihrer  inneren  Gesetzmäßigkeit,  oder  doch  mindestens  dessen, 
was  an  ihr  bedeutsam  und  symptomatisch  ist,  folgen.  Hierbei  ist 
völlig  verschieden,  was  im  Erleben  für  die  Individualität  des 
Kranken  wichtig  ist,  und  was  im  Hinblick  auf  die  oben  als 
gültig  vorausgesetzten  Kriterien  des  Symptomatischen  wichtig 
ist.  Es  trennt  sich  also  hier  die  gleichsam  menschliche  Seite  psycho- 
logischer Analyse  von  der  diagnostischen  Symptomanalyse.  Beides 
sind  aber  ärztliche  Aufgaben  und  beide  sind  ärztlich  notwendig; 
beides  sind  zugleich  wissenschaftliche  Aufgaben.  Beide  setzen 
ebenfalls  psychologische  Theorie  voraus;  die  erste  Aufgabe 
erfordert  eine  Dynamik  psychischer  Inhalte  und  Zusammenhänge, 
die  zweite  eine  Typik  und  Analytik  phänomenologischer  Strukturen. 

Wir  sehen  also,  daß  die  einfachste  Arbeit  klinisch-diagnostischer 
Praxis  und  ärztlich  miterlebender  und  beeinflussender  Einstellung 
bei  den  Geistesstörungen  eine  psychologisch  theoretische  Bestimmung 
der  psyihischen  und  pathopsychischen  Phänomene  erwünscht  und 
notwendig  erscheinen  läßt.  Und  die  gesamte  Lage  der  gegenwärtigen 
Psychiatrie  zeigt  deutlich,  daß  eine  solche  theoretische  Grundlegung 

»)  Vgl.  S.  396  ff. 


118      Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

für  sie  höchst  wertvoll  sein  könnte.  Die  Unsicherheit  im  heutigen 
Betriebe  unserer  Wissenschaft  entspricht  zum  nicht  geringen  Teil 
der  Unsicherheit  der  logischen  und  theoretischen  Grundlagen  der 
symptomatologischen  Psychologie.  Mag  der  einzelne  Psychiater 
der  Kenntnis  dieser  Grundlagen  entraten  können:  er  benützt  doch 
die  auf  ihr  beruhenden,  durch  sie  erst  sichergestellten  Begriffe  fort- 
während, wenn  sie  ihm  gleich  nicht  deutlich  und  in  ihrem  theoretischen 
Zusammenhange  gegenwärtig  zu  sein  brauchen.  Es  ist  daher  ge- 
boten, im  folgenden  diese  theoretische  Fundamentierung  einmal 
gedanklich  vorzubereiten  i ) . 

Praktische  Grenzen   der  Tragweite   theoretischer  Psycho- 
logie. 

Von  einer  solchen  vorbereitenden  Grundlegung  der  psychologi- 
schen Theorie  dürfen  wir  andererseits  auch  nicht  zu  viel  erwarten. 
Vergessen  wir  nie,  daß  es  sich  in  unserem  Wissensgebiet  um  eine 
Er fahrungs Wissenschaft  handelt;  jeder  Erkenntnisfortschritt  wird 
hier,  soweit  er  materialer  Art  ist,  immer  nur  von  der  Einzelforschung 
kommen.  Aber  es  wird  nicht  gleichgültig  für  die  Bewährung  ihrer 
Leistungen  als  wirklicher  Fortschritte  und  Wissensbereicherungen 
sein,  einen  Maßstab  dafür  zu  besitzen,  an  welchen  Grundsätzen  das 
wissenschaftliche  Erfahren,  dem  die  angeblichen  Einzelfortschritte 
zu  verdanken  sind,  orientiert  und  mit  welchen  Methoden  und  unter 
welchen  Kaute len  es  errungen  wurde.  Von  den  vorbereitenden 
Grundlegungen  einer  psychologischen  Theorie  dürfen  wir  die  ab- 
strakte Aufstellung  der  im  psychologischen  Erfahrungsgebiet  gültigen 
Grundsätze  erwarten,  sowie  eine  prinzipielle  und  formale  Klärung 
der  Rechtsgründe  und  Tragweite  der  einzehien  in  ihm  anwendbaren 
Methoden.  Wir  dürfen  ferner  allgemeine  Kriterien  einschränkender 
Art  von  ihr  erwarten,  welche  sich  auf  die  Richtigkeit  irgendwelcher 
niaterialer  H3rpothesen  erstrecken  und  diese  sowohl  hinsichtlich 
ihrer  formalen  und  logischen  Zulässigkeit  als  auch  ihrer  inhaltlichen 
Vereinbarkeit  mit  dem  wissenschaftlichen  Ganzen  unseres  Erfahrungs- 
gebietes prüfen. 

Die  Zersplitterung  der  psychologischen  Theoretik  ist  kein 
Argument   gegen   deren  Notwendigkeit. 

Die  Grundlegung  psychologischer  Theorie,  welche  es  aufzustellen 
gilt,  kann  nur  entwickelt  werden  als  folgerichtiger  Ausbau  einer 
philosophischen  Gesamtanschauung.  Die  Zersplitterung  der  gegen- 
wärtigen Psychologie,  welche  wir  in  der  vorigen  Abhandlung  skizziert 

1)  Wir  setzen  uns  für  die  Psychiatrie  also  die  gleiche  Aiifgabe,  welche  sich 
etwa  Natorp  (Allgemeine  Psychologie.  Tübingen  1912)  für  die  Psychologie  ge- 
stellt hat;  die  einer  »Revision  der  Fundamente«  »nach  kritischer  Methode«,  einer 
»Philosophie  der  Psychologie«  (1.  c.  S.  IV). 


Einführung  in  die  psychiatr.-praktiuche  Notwendigkeit  p«ychol.  Theorie.     119 

haben,  entspringt  großentoilä  aus  dein  Widerstreit  der  auf  sie  an- 
gewandten allgemeinen  philosophischen  Grundsätze  einzelner  Schulen. 
Der  idealistische  Transzendent alisnuis  bildet  andere  psychologische 
Theorien  (Natorp,  Rickert)  als  die  Aristotelisch-Thoniistischen 
Piiilosophenschulen,  die  aiich  wieder  untereinander  abweichen 
(Husserl,  »Stumpf,  Brentano);  die  Spielarten  des  verschleierten 
einpiristischen  Realismus  (VVundt,  Külpe)  bilden  andere  Theorien 
als  der  empiristische  Panpsychismus  (Mach,  Ziehen)*).  Und 
innerhalb  der  einzelnen  philusopiiischen  Grundansciiauungen  gibt  es 
dann  noch  individuelle  Variationen  in  den  Formulierungen  und  Be- 
gründungen der  einzelnen  Forscher.  Das  wäre  nun  belanglos,  wenn 
es  nicht  in  schwerwiegendster  Weise  auch  auf  die  Gesichtspunkte 
und  Methoden  des  Forschcns  überstrahlte.  Die  methodologischen 
Rechtsgründe  Husserlscher  Behauptungen  aus  »eidetischer  In- 
tuition« sind  natürlich  vqjlig  andere  als  die  angeblich  apriorischen 
Befunde  reinen  Denkens  in  der  Lehre  voni  Ich  und  Bewußtsein  eines 
Natorp;  die  Ableitungen  etwa  des  Ziehenschen  empiristischen 
Positivismus  über  »^-Bestandteile«  und  »r-Komplexe«  der  »v  und 
t'- Komponenten«,  die  zur  Leugnung  von  Ich,  Wille,  Akt,  Bewußtsein 
und  zur  Leugnung  des  Unterschiedes  von  Materiellem  und  Psychi- 
schem führen  und  bei  aller  ihrer  positivistischen  Vorsicht  und  Exakt- 
heit in  ihren  Ergebnissen  nichts  anderes  sind  als  ein  verklausulierter 
Nominalismus,  sind  etwas  völlig  anderes  als  die  Ergebnisse  der  me- 
thodischen Prinzipien  Wundts  oder  Brentanos.  Und  selbst  im  Ge- 
biete experimenteller  Einzelforschung,  wo  es  anscheinend  gar  keine 
Uneinigkeiten  geben  dürfte,  beginnt  der  Streit  der  Grundsätze,  sobald 
es  sich  um  die  Voraussetzungen  und  die  Deutung  der  Befunde  handelt. 

Eine  psychologische  Theorie  aber  muß  die  richtige  sein.  In  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis  eines  Gegenstandsgebietes  kann  es 
nur  eine  Wahrheit  gel)en;  eine  aber  muß  es  geben. 

So  scheint  es  denn,  als  ob  wir  die  Aufführung  einer  psj'chologischen 
Tlieorie  dadurch  vorbereiten  müßten,  daß  wir  alle  übrigen  bestehenden 
und  möglichen  Theorien  dieser  Art  zunächst  zu  widerlegen  hätten. 
Die  materiale  Einzelforschung,  welche  diese  Zersplitterung  sieht, 
kommt  zu  der  Konsequenz,  alles  »theoretische  Gerede«  überhaupt 
zu  verwerfen  als  unfruchtbare  und  nie  zu  Ende  führende  Streiterei. 
Die  Notwendigkeit  einer  psychologisclien  Tlieorie  ist  al>er  von  der- 
artigen vulgären  Meinungen  völlig  unabhängig.  Wer  sie  nicht  ein- 
sieht, wer  sich  nicht  bemüht,  seine  Einzelarbeit  in  den  Rahmen 
des  Ganzen  an  die  ihr  zukommende  Stelle  einzuordnen  und  sich  den 
Rieht  massen  dieses  Ganzen  zu  unterwerfen,  der  leistet  unersprießliche 
Arbeit.  Die  Notwendigkeit  der  Theorie  lehren  \ins  zwei  Worte  Kants  : 
»Wo  die  Schranken  unserer  möglichen  Erkenntnis  sehr  enge,  der 
Anreiz  zum  Urteilen  groß,  der  Schein,  der  sich  darbietet,  sehr  be- 

>)  Für  dio  Psychiatrie  denke  man  hier  übcrdioa  noch  an  die  Unzahl  krauser 
►  psychophysiologischer«,  »hirndynamischcr«,  >iuolckuluriuechanischcr4  Theo- 
rien des  Psychischen. 


120      Über  die  wissenschaftstheoretisclien  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

trüglich,  und  der  Nachteil  aus  dem  Irrtum  erheblich  ist,  da  hat  das 
Negative  der  Unterweisung,  welche  bloß  dazu  dient,  um 
uns  vor  Irrtümern  zu  verwahren,  noch  mehr  Wichtigkeit 
als  manche  positive  Belehrung «i).  Und  ferner:  »Es  ist  schon 
ein  großer  und  nötiger  Beweis  der  Klugheit  oder  Einsicht  zu  wissen, 
was  man  vernünftigerweise  fragen  solle  .  .  .  denn  sonst  .  .  . 
hat  die  Frage  bisweilen  noch  den  Nachteil  .  .  .  den  belachenswerten 
Anblick  zu  geben,  daß  einer,  wie  die  Alten  sagen,  den  Bock  melkt, 
der  andere  ein  Sieb  unterhält «2).  Nur  eine  kritische  Unter- 
suchung über  die  Möglichkeit  und  Kriterien  dessen,  was 
man  »fragen  dürfe«,  was  in  einer  Wissenschaft  gewußt  zu  werden 
vermag  und  zur  Erlangung  des  Wissens  notwendige  Voraussetzung 
zu  sein  hat,  also  die  kritische  Klärung  der  Grundsätze  und  Methoden, 
der  Geltung  und  der  Forschungsmaximen  enthebt  die  Wissenschaft 
der  Gefahr  dieses   »belachenswerten  Anblicks  «... 


Philosophischer   Ausgangspunkt   der   psychologischen 

Theorie. 

Wir  denken  nun  gar  nicht  daran,  das  Geschäft  einer  Widerlegung 
sämtlicher  anderen  allgemein-philosophischen  Anschauungen  hier 
auch  nur  zu  versuchen.  In  den  Abhandlungen  des  ersten  Teiles 
haben  wir  die  verschiedenen  prinzipiell  möglichen  allgemeinphilo- 
sophischen Stellungnahmen  zum  Erkenntnisproblem  überhaupt 
systematisch  durchgeprüft.  Wir  sind  zu  dem  Schlüsse  gekommen, 
daß  nach  unserer  Überzeugung  das  Fundament  des  kritischen 
Idealismus,  welches  Kant  und  über  ihn  hinaus  Fries  gelegt  und 
ausgebaut  hat,  die  allein  mögliche  Basis  sein  kann,  auf  welcher  jedes 
wissenschaftliche  und  systematische  Erkennen  zu  stehen  hat.  Und 
wir  berufen  Uns  auf  das  dort  Gesagte,  wenn  wir  unsere  theoretischen 
Erwägungen  auf  diesem  Fundamente  aufzurichten  Unternehmen. 
Ein  Versuch  dazu  ist  bereits  einmal  von  Meyerhof  gemacht  worden^). 
Gegen  seine  ausgezeichnete  Arbeit,  der  wir  vieles  verdanken,  läßt 
sich  vielleicht  nur  das  Eine  einwenden,  daß  sie  sich  allzu  enge  an  die 
psychologischen  Meinungen  unserer  philosophischen  Führer  anschließt, 
auch  da,  wo  wir  dies  im  folgenden  nicht  tun,  und  daß  infolgedessen 
materiale  und  auch  grundsätzliche  Errungenschaften  der  modernen 
Forschung,  wie  die  Phänomenologie  und  die  Funktionspsychologie, 
nicht  voll  zu  ihrem  Recht,  nämlich  zu  einer  Einbeziehung  unter  die 
theoretischen  Obersätze  Kant -Friesscher  Lehre,  gelangen. 

Wir  unsererseits  glauben,  durch  eine  Reihe  genau  begründeter 
theoretischer  Erwägungen  und  Feststellungen  wirklich  zum  ersten 
Male  eine  Synthese  vollziehen  zu  können  zwischen  den  Errungen- 
schaften der  modernen  Forschung  und  den  alten  Kantischen  Grund- 

1)  Kritik  d.  r.  V.     1781.     S.  737. 

2)  Kritik  d.  r.  V.     1781.     S.  82. 

^)  Beiträge  zur  psychologischen  Theorie  der  Geistesstörungen.  Göttingen  1910. 


Allgemeine  Crundlegxuig  der  WiBaenBchaftotheorie  dea  pHychiflchen  usw.     121 

lagen.  Erslere  verlieren  dabei  ihre  tlieoretisehcn  Feiiler,  letztere 
ihren  unp.4ychologi.sehen  Intellektualiamus  und  ihre  leero  logiHche 
Schematik.  An  »Stelle  der  früiieren  Kluft  zwi.schen  kla.s.si«eher  und 
moderner  pHyehologie  wird  eine  Kinheit  angestrebt,  in  weleher  beide 
ihre  8tütze  und  Verankerung  finden.  Damit  glauben  wir  in  der  Tat 
Neues  zu  geben,  welehes  nocii  jenseits  alles  »unfruclitbaren  .Scharf- 
sinns« für  den  Fortgang  der  praktischen  Forschung  von  Gewinn 
zu  werden  vermag.  Besonders  hoffen  wir  dies  von  un.seren  neuen 
Erörteiungen  des   Problems  der  psychischen  Kausalität. 


2.  AllgeiiR'iiie  (iiuiHllcgiiiig  der  Wissenschaftstheorie  des  Psy- 
chiseheii.    Beginn  der  Kategorienlehre  für  die  Psyehologie. 

Wisaeuschaftstheorie   und  Kritik  der  Erkenntnis   von 

Psychischem. 

Theoretisch  nennen  wir  alle  Bestimmungen,  welche  sich  in  einem 
Erkenntnisgebiet  nicht  auf  die  in  ihn  erkannte  gegenständliche 
Materie  erstrecken,  sondern  auf  die  Art  und  Weise  des  Er- 
kenn ens  dieser  Materie.  Wir  unterscheiden  hierbei  die  Untersuchun- 
gen über  die  zum  Zweck  der  Erkenntnis  angewandten  Metlioden 
der  Beobachtung  und  die  Untersuchungen  der  gedanklichen 
Bearbeitung  des  Beobachteten  auf  ihre  Richtigkeit  und  Trag- 
weite. Diese  muß  in  einer  nicht  bloß  durch  den  Gegenstand,  sondern 
auch  durch  die  Natur  des  Denkens  selber  und  ihre  Gesetze 
gegebenen  Grundlage  wurzeln,  und  aus  ihr  begründet  werden.  Die 
Gesetze,  welche  aus  der  Form  des  Denkens  selber  notwendig  ent- 
springen, sind  die  der  Logik;  und  insofern  sich  die  Denkvollzüge 
ihrer  Form  nach  an  die  Natur  der  jeweils  bearbeiteten  Materie  an- 
zupassen haben,  gehört  die  Untersuchung  der  angewandten  Logik 
oder  der  Methodologie  in  einem  weiteren  iSinne,  als  es  der  oben 
gegebene  Begriff  von  Methodenlehre  war.  Ihre  Voraussetzung  ist 
aber  eine  Untersuchung  über  die  allgemeinen  Grundlagen 
und  die  Gültigkeit  des  Erkenn  ens  in  dem  betreffenden  Gegen- 
standsgebiete überhaupt. 

Die  Psychologie  nun  ist  eine  Erfahrungswissenschaft  und  unter- 
liegt, im  Hinblick  auf  die  zuletzt  genannte  Untersuchung  ihrer  Er- 
kenntnisgrundlagen überhaupt,  den  Bestimmungen,  welche  für  alle 
Erfahrungswissenschaft  zu  gelten  haben.  Den  Gegenstand  der  Er- 
fahrung —  und  zwar  jeder  möglichen  Erfahrung  —  nennen  wir  mit 
Kant  Natur,  und  verstehen  darunter  den  Zusammenhang  der 
Erscheinung  ihrem  Dasein  nach  unter  notwendigen  Gesetzen. 

Nun  haben  wir  bereits  in  der  ersten  Abhandlung  dieses  Buches 
darauf  hingewiesen,  daß  eine  metaphysikfreie  Naturwissenschaft  un- 
möglich ist.  Nach  unserer  Definition  der  Psychologie  ist  diese  eine 
Naturwissenschaft:    Sie    sucht    das    Dasein    der    ihren    Gegenstand 


122      Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

bildenden  Erscheinungen  unter  notwendigen  Gesetzen  zu  begreifen. 
Mithin  muß  zur  theoretischen  Bestimmung  der  Grundlage  und  der 
Geltung  ihrer  Erkenntnisse  eine  Metaphysik  für  sie  vorausgesetzt 
werden. 

Wir  verstehen  unter  dieser  Metaphysik  nicht  irgendwelche 
mystischen  oder  transzendentalen  Bestimmungen  etwa  über  das 
Wesen  der  Seele  als  übernatürliches  Dasein,  als  »Absolutes«  oder 
als  »reines  Sein«  o.  dgl.  Indem  wir  eine  theoretische  Bestimmung 
der  Psychologie  als  Wissenschaft  versuchen,  wollen  wir  vielmehr 
gerade  derartigen  phantastischen  Träumereien,  die  aller  gesunden 
Naturforschung  Hohn  sprechen  würden,  den  wissenschaftlichen 
Boden  völlig  entziehen.  Wir  gehen  von  der  bereits  in  der  genannten 
ersten  Abhandlung  festgestellten  Tatsache  aus,  daß  die  Notwendig- 
keit und  Gültigkeit  der  allgemeinen  Gesetze  und  Bestimmungen 
nicht  in  der  Beobachtung  wurzeln  kann,  denn  diese  zeigt  immer  nur 
einzelnes  und  dem  Dasein  nach  Zufälliges.  Sie  ist  aber  auch  nicht 
bloß  formal-logischer  Art.  Sie  enthält  vielmehr  auch  materiale 
Bestimmungen  allgemeiner  Art,  welche  den  Charakter  der  Not- 
wendigkeit und  allgemeinen  Gültigkeit  erst  an  die  Materie  herantragen. 
Diese  stammen  aus  rationalen  Grundsätzen,  welche  den  aufgestellten 
Gesetzen  zugrunde  liegen  und  durch  ein  regressives  Abstraktions- 
verfahren faktisch  aus  ihnen  nachgewiesen  werden  können.  Kant 
hat  dieses  Verfahren  in  seinei  transzendentalen  Analytik  zuerst  in 
heute  noch  unwiderlegter  Weise  für  alle  mögliche  Erfahrungserkennt- 
nis durchgeführt.  Er  nennt  diese  Grundsätze  synthetische  Urteile 
a  priori  aus  Begriffen,  und  ihre  Darstellung  Metaphysik. 

Nun  ist  mit  dem  Terminus  Metaphysik  bei  den  bekanntesten 
Nachfolgern  Kants,  insbesondere  bei  Fichte,  Schelling  und 
Hegel  ein  derartiger  spekulativer  Mißbrauch  getrieben  worden,  daß 
der  eigentlich  kantische  Begriff  der  Metaphysik  von  diesen  »Kan- 
tianern « in  unerhörter  Weise  entstellt  uns  überkommen  wird.  Hinzu- 
kommt, daß  auch  der  vorkantische  Rationalismus  jenen  spekula- 
tiven Begriff  von  Metaphysik  hat,  welcher  ihm  an  sich  methodisch 
nicht  anzuhaften  brauchte.  Dies  hat  auf  das  Bewußtsein  der  gegen- 
wärtigen Forschung  einen  solchen  Einfluß  gehabt,  daß  der  Begriff 
Metaphysik  bei  der  exakten  Forschung,  mit  welcher  allein  wir  uns 
bei  unserem  Unternehmen  verbunden  fühlen,  in  Mißkredit  gekommen 
ist.  Um  unseren  Begriff  des  hier  gemeinten  Problemgebiets  in 
dem  Sinne,  den  wir  ausschließlich  damit  verbinden  würden,  von 
allen  jenen  spekulativen  Belastungen  zu  befreien,  werden  wir  im 
folgenden  den  entwerteten  Terminus  Metaphysik  vermeiden i).  Das- 
jenige, was  wir  oben  als  besonderes  Problemgebiet  aufgezeigt  haben, 
werden  wir  durch  den  Terminus  »Wissenschafts theorie«  zusam- 


^)  Wir  machen  damit  nur  eine  sprachliche,  keinerlei  theoretische 
Konzession  an  einen  positivistisch  verbogenen  Zeitgeist,  wie  wir  ausdrücklich 
betonen.  Wir  tun  das  aus  didaktischen  Gründen,  um  nicht  durch  ein  (freilich 
zu  unrecht)  verpöntes  Wort  der  Sache  zu  schaden. 


AUgcmeine  Grundlegung  der  Wissenflchaftatheorio  de«  PsychiBcbcD  usw.     123 

nienfasson.  Mit  diesem  meinen  wir  al«ü  in  ganz  exakter  und  ein- 
deutiger Weise  das  Gebiet  synthetiHcher  Urteile  a  priori  aus  Begriffen. 
Aus  der  Zergliederung  des  Begriffes  der  Natur  ergeben  sich  also 
zweierlei  Elemente  der  Nat  urerkeiuitnis :  empirische  und  raticjnale. 
Diese  worden  in  der  Theorie  verbunden.  Theorie  ist  Erklärung 
von  Tatsachen  aus  allgemeinen  Gesetzen.  JSio  setzt  also  zweierlei 
voraus:  die  Tatsachen  und  die  allgemeinen  Gesetze.  Die  Verbindung 
beider  hat  in  der  Theorie  stattzufinden.  Die  Tatsachen,  und  alles, 
was  in  bezug  auf  ihre  theoretische  Bestimmung  ihnen  immanent  ist, 
aus  ihnen  hergeleitet  wird,  ergeben  den  CJehalt  der  Psychologie  ala 
Wissenschaft.  Alles  andere  gehört  der  Form  der  Wissenschaft  au. 
Diese  Form,  oder  richtiger  diese  Formen,  lassen  sich  auf  jene  Grund- 
sätze allgemeinster  rationaler  Art  zurückführen,  welche  aus  einer 
Wissenschaftstheorie  des  Psychischen  entnommen  werden  müssen. 
])ie  l^arstellung  dieser  Grundsätze  für  die  Erkenntnis  des  Psychi- 
Hchen  ist  die  besondere  Aufgabe  einer  Wissenschaftstheorie  des  Psy- 
chischen, welche  nicht  eigentlich  mehr  zur  Psychologie  als  Erfahrungs- 
wissenschaft gehört,  aber  von  dieser  zu  ihrer  eigenen  Möglichkeit 
vorausgesetzt  wird.  Die  Auffindung  und  Begründung  dieser  Grund- 
sätze in  ihrem  Grundsatzcharakter  ist  das  Geschäft  der  Vernunft- 
kritik, eines  Teilgebietes  der  Kritik  psychologischer  P]rkenntnis  über- 
haupt. Die  Erkenntniskritik  aber  ist  eine  Erfahrungswissenschaft: 
ihr  (iegenstand  ist  das  Erkennen,  so  wie  es  wirklich  ist  und  in  der 
Erfalirung  vorliegt.  In  dieser  Feststellung  sehen  wir  die  wichtigste 
methodologische  Leistung  von  Fries.  Und  wir  wiesen  im  ersten 
Teile  dieses  Buches  schon  nach,  wie  die  rationale  Geltung  mancher 
Erkenntnisse  mit  der  Tatsache,  daß  diese  Erkenntnisse  zu  Gegen- 
ständen eines  Erfahrens  zu  werden  vermögen,  nicht  in  Widerspruch 
gerät  ^). 

Theorie    und    Phänomenologie.      Arten    der  Theorie. 

Wir  müssen  hier  noch  etwas  genauer  werden,  um  ganz  klar  zu 
maciien,  was  wir  uns  für  Aufgalx;n  setzen,  wenn  wir  von  theore- 
tischen Bestimmungen  in  der  Psychologie  handeln  und  die 
Grundlegung  dieser  theoretischen  Bestimmungen  hier  in  Angriff 
nehmen  wollen. 

Das  Material  einer  Wissenschaft  vom  Psychischen,  »die  Tat- 
sachen«, von  welchen  vorher  die  Rede  war,  stellt  sich  uns  als  ein 
Geschehen  und  Sichoreignen  in  der  Zeit  dar.  Ob,  wie  und  wodurch 
wir  dies  Geschehen  in  seiner  Vereinzelung  und  Mannigfaltigkeit  so, 
wie  es  sich  wirklich  ereignet,  zu  erfassen  vermögen  —  diese 
Frage  berührt  ein  Gebiet  von  Problemen,  welches  einer  besonderen 
Behandlung  und  Durcharbeitung  bedarf.     Fassen  wir  den  Inbegriff 

*)  Vpl.  hicr/.u  und  zum  folRcndon  außer  Mi-yorhof  1.  c.  iusbosondorc  Fries, 
System  d«T  M(>taphysik.  1824.  S.  :W2ff..  Neut-  Kritik  dor  Vernunft.  Bd.  2.  ferner 
Heinrich  Scliinid,  V<rsurh  einer  Metaphysik  der  inneren   Natur.      )S:M. 


124      Über  die  wissenschaftstheoretisclien  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

dieses  Geschehens  in  der  Weise,  wie  es  für  dies  Erfassen  gegeben  ist^ 
dessen  Art  und  Geltung  jenes  Problemgebiet  in  sich  schließt,  unter 
dem  landläufigen  Begriff  der  psychischen  Phänomene  zu- 
sammen, so  gehört  jenes  Problemgebiet  zur  Lehre  von  den  psychi- 
schen Phänomenen  oder  zur  psychischen  Phänomenologie. 
Unter  dieser  wird  also  zunächst  nur  die  Untersuchung  darüber  ver- 
standen werden  dürfen,  wie  und  wodurch  uns  psychische  Tatsachen 
gegeben  werden.  Diese  Untersuchung  ist  ein  Teilgebiet  der  Unter- 
suchung psychologischer  Erkenntnis  überhaupt.  Sie  wird  zwar  vor- 
wiegend mit  den  Mitteln  der  Selbstbeobachtung  in  Angriff  zu  nehmen 
sein,  läuft  aber  ihrem  eigentlichen  Ziele  nach  auf  allgemeine  Sta- 
tuierungen darüber  hinaus,  ob  und  inwieweit  unseren  Erfassen  psy- 
chischer Tatsachen  als  solcher,  welches  ja  ihre  eigentliche  Frage- 
stellung ausmacht,  Erkenntnischarakter  zuzuschreiben  ist.  Hierzu 
kommt  nun  noch  ein  zweites  Problem:  das  Problem  der  Beschreib- 
barkeit  dieser  psychischen  Tatsachen,  das  Problem  unserer  Fähig- 
keiten und  Möglichkeiten,  Weisen  und  Gültigkeiten  einer  Beschreibung 
dieser  psychischen  Tatsachen,  das  Problem  der  Angemessenheit  dieser 
Beschreibung  an  die  Tatsächlichkeit  dieser  Tatsachen,  sowie  der 
Kriterien  für  diese  Angemessenheit. 

Dieses  ganze  Problemgebiet  handelt  also  nicht  von  den  psychi- 
schen Tatsachen  selber,  nicht  sie  sind  seine  Gegenstände,  sondern 
es  handelt  von  unserer  »Erkenntnis«,  von  den  in  uns  gegebenen 
Möglichkeiten  und  Weisen,  psychische  Tatsachen  zu  haben,  zu  er- 
fahren und  zu  beschreiben.  Wir  klären  die  Termini  Erfahren  und 
Beschreiben  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  begrifflich :  daß  das  genannte 
Problemgebiet  tatsächlich  besteht,  dies  aufzuweisen  ist  der  einzige 
Zweck  dieser  Ausführungen. 

Wir  sagten  vorhin :  die  Tatsachen  werden  von  der  Theorie  voraus- 
gesetzt. Dies  Problemgebiet,  welches  wir  eben  umschrieben  haben, 
wird  also  für  eine  Theorie  des  Psychischen  als  gelöst  vorweggenommen. 
Es  fällt  außerhalb  der  eigentlichen  Theorie  des  Psychischen,  deren 
Grundlegung  wir  hier  allein  intendieren. 

Wir  schoben  die  Bearbeitung  dieses  Problemgebiets  der  psycho- 
logischen Phänomenologie  zu.  Wir  sagen  über  deren  Beschaffenheit, 
Methode  und  Geltungsfundament  vorerst  nichts  aus,  was  präjudi- 
zierend  wirken  könnte.  Wir  halten  uns  an  den  oben  angegebenen 
Zweck,  den  wir  für  die  Phänomenologie  bezeichnet  haben;  und  wenn 
wir  daher  im  folgenden  von  Phänomenologie  reden  oder  auf  die  von 
uns  gemeinte  Disziplin  Phänomenologie  verweisen,  so  meinen  wir 
immer  eine  »an  das  immanent  Wesentliche  sich  bindende  Deskription 
psychischer  Phänomene «i). 

Wir  sagen  damit  nicht,  daß  diese  vorausgesetzte  Phänomeno- 
logie,  welche  wir  in  einem  späteren  Hauptabschnitt  dieses  Buches 

1)  Also  nur  das,  was  Husserl  »empirisch  gerichtete«,  »psychologische« 
Phänomenologie  nennt,  Ideen  usw.  Jahrbuch  f.  Philos.  u.  phänomenolog.  For- 
schung.    Bd.  I.     1913.     S.  171. 


Allgemeine  Grundlegung  der  Wiascnflcbaf tat  h^    i  Psycbiüchcn  usw.     125 

behandeln  werden,  von  der  Theorie,  deren  Grundlegung  wir  hier 
unternelinien  wollen,  völlig  übt  rennbar  ist.  Es  liegt  Hchon  im  Wesen 
der  Beschreibung,  daß  die  zu  beschreibenden  Tatbestände  in  ge- 
wisser Weise  modifiziert  werden  müssen,  um  Ixjschrieben  werden 
zu  können.  Diese  Modifikationen  bestehen  in  der  »Heraushebung« 
des  »Wesentlichen«,  im  »Absehen «  vom  »Unwesentlichen«.  Letzten 
Endes  führt  der  Vollzug  dieser  Modifikationen  zur  Reduktion  der 
Phänomene  auf  »Begriffe«.  Die  modifizierenden  Maßnahmen,  welche 
wir  hier  als  Herausheben  und  Absehen  bezeichnet  halx?n,  sind  be- 
sondere psychische  V^ollzüge,  sie  bedürfen  besonderer  Klärung;  man 
faßt  sie  unter  den  landläufigen  Namen  der  Abstraktion  zusammen. 
Wenn  wir  im  folgenden  diesen  Ausdruck  Abstraktion  gebrauchen 
werden,  so  meinen  wir  die  genannten  modifizierenden  Vollzüge,  ohne 
uns  hinsichtlich  ihrer  umstrittenen  Art  und  Natur  festzulegen.  Es 
ist  klar,  daß  diese  Vollzüge,  um  zu  Erkenntnissen  zu  führen,  um  den 
Phänomenen,  in  bezug  auf  die  sie  vollzogen  werden,  hinsichtlich  ihrer 
»Wesentlichkeit «  zu  entsprechen,  nach  besonderen  Kriterien  zu  er- 
folgen haben.  Diese  Kriterien  und  Gesichtspunkte  müssen  erst 
aufgefunden  werden.  Wir  werden  später  sehen,  daß  sie  von  den 
wissenschaftstheoretisch  dargestellten  Grundsätzen  des  betreffenden 
Erkenntnisgebiets  als  regulative  Maximen  geliefert  werden.  Es  ist 
jedenfalls  soviel  einleuchtend,  daß  hier  an  die  phänomenologische 
Disziplin  sich  eine  zweite  Disziplin  anzuschließen  hat.  Diese  hat 
die  beschreibende  Ordnung  der  erfaßten  psychischen  Tatbestände 
zum  Gegenstand.  »Sie  beschäftigt  sich  mit  den  Weisen  der  Abstraktion, 
ihren  Kriterien  und  den  Geltungsgrundlagen  dieser  Kriterien.  Wir 
erhalten  durch  ihren  Ausbau  eine  systematische  und  klassifikatorische 
ontologische  Theorie  der  psychischen  Phänomene.  Wir  bezeichnen 
diese  Disziplin  als  abstraktive  oder  analytische  oder  deskrip- 
tive oder  ontologische  Theorie  des  Psychischen. 

Auch  hierbei  ist  zu  betonen,  daß  man  sorgfällig  zu  unterscheiden 
hat  zwischen  der  Untersuchung  unserer  Erkenntnismittel  in 
bezug  auf  die  in  dieser  Richtung  liegende  Bearbeitung  psychischer 
Phänomene,  und  andererseits  der  Bearbeitung  der  psychischen 
Phänomene  zur  ontologischen  Theorie  selber.  Gegenstand  der  erst- 
genannten Fragestellung  sind  nicht  die  psychischen  Pliänomene, 
sondern  unsere  Erkenntnis  von  ihnen.  Im  kantischen  Sinne  wäre 
dies  eine  kritische  Wissenschaft,  und  erst  nach  ihrer  Bearbeitung  ist 
die  analytische  Theorie  der  Phänomene  selber  möglich.  Nun  ist 
allerdings  in  der  Praxis,  worunter  wir  hier  die  Sicherung  von  Er- 
kenntnis des  Psychischen  verstellen,  sehr  schwierig,  diese  beiden 
versoliifdenen  Fragestellungen  völlig  getrennt  abzuiumdeln.  Die 
Verwirklichung  der  Erkenntnis  selber,  also  der  Theorie,  ist  ja  die 
eigentliche  Aufgabe.  Wenn  wir  also  auch  die  kritische  Einstellung 
stets  in  den  Vordergrund  unserer  Untersuchungen  zu  stellen  haben, 
so  werden  wir  doch,  um  »praktisch«  nicht  völlig  steril  zu  bU-ibon, 
in  der  Darstellung  nicht  umhin  können,  die  grundsätzlich  geforderten 


126      Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

scharfen  Grenzlinien  zwischen  kritischer  und  theoretischer  Frage- 
stellung an  vielen  Orten  zu  verwischen.  Unser  Hauptziel  bleibt 
immer,  die  Ergebnisse  der  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen  in 
ihrem  Erkenntnischarakter  zu  sichern  und  zu  begründen.  Wir 
können  dabei  nicht  nur  von  Sicherung  und  Begründung  reden,  ohne 
auch  einen  Blick  auf  die  Ergebnisse  selber  fallen  zu  lassen. 

Die  deskriptive  Theorie  ist  aber  nicht  Selbstzweck,  sondern  nur 
vorbereitende  Stufe  der  eigentlichen  Erklärung,  d.h.  der  voll- 
ständigen Bestimmung  der  Bedingungen,  welche  zur 
Wirklichkeit  der  zu  erklärenden  psychischen  Materie  voraus- 
gesetzt werden.  Soweit  diese  Bestimmungen  allgemeiner 
Natur  sind,  soweit  sie  mit  Notwendigkeit  gelten,  bezeichnet  man 
sie  als  Gesetze.  Das  System  der  Gesetze  wird  durch  die  eigent- 
liche Theorie  im  engeren  Sinne  gegeben.  Die  rationalen  Grund- 
lagen der  gesetzlichen  Formen  entwickelt  die  Wissenschafts- 
theorie in  dem  früher  genannten  Sinne  als  eine  der  eigentlichen 
Theorie  vorausgesetzte  Disziplin.  Die  Erkenntnismittel,  welche 
zur  Aufstellung  von  Gesetzen  hinreichend  und  notwendig  sind,  ent- 
wickelt die  Kritik  der  theoretischen  Erkenntnis. 

Die  Gesetze  eines  materialen  Geschehensgebietes  bestimmen  dessen 
Wirklichkeit  als  eine  notwendige;  sie  sind  insofern  die  Gründe  der 
Möglichkeit  dieses  Geschehens,  welches  sie  durchherrschen.  Eine 
besondere  Untergruppe  dieser  Gesetze  erstreckt  sich  auf  die  Be- 
dingungen des  Eintritts,  der  Verwirklichung  eines  durch  sie 
bestimmten  Geschehens;  sie  bestimmt  die  Bedingungen  der  »Aus- 
lösung« und  »Veranlassung«  dieses  Geschehens;  sie  wird  unter  dem 
Begriff  der  genetischen  Theorie  zusammengefaßt.  Wir  lassen 
uns  hier  auf  die  nähere  Bestimmung  dessen,  was  mit  Veranlassung 
und  Auslösung  gemeint  ist,  ebenfalls  noch  nicht  ein.  Diese  Begriffe 
werden  ebenso  wie  alle  anderen  theoretischen  Begriffe  sich  aus  dem 
Aufbau  der  Theorie  selber  entwickeln  lassen  müssen.  Wir  zeigen 
hier  nur  die  Stellung  der  genetischen  Theorie  im  Rahmen  theoretischer 
Bestrebungen  überhaupt  auf,  schon  um  das  naturwissenschaftliche 
Vorurteil  zu  bekämpfen,  als  sei  alle  Theorie  immer  nur  genetische. 
Deskriptive  und  genetische  Theorie  müssen  sich  unter  den  all- 
gemeinen Grundsätzen  der  Wissenschaftstheorie  zur  Systemform 
der  allgemeinen  Theorie  überhaupt  vereinigen  lassen,  so  daß 
die  deskriptive  Theorie  die  geordneten  Formen  des  Seins,  die 
genetische  Theorie  die  geordneten  Bedingungen  des  Werdens, 
die  Wissenschaftstheorie  die  notwendigen  Geltungsgrund- 
lagen der  Wirklichkeit  für  die  bearbeitete  psychische  Materie  in 
gedanklicher  Allgemeinheit  bestimmt. 

Die  bearbeitete  Materie  selber  ist  ihrerseits  phänomenologisch 
adäquat  gegeben. 

Dieses  allgemeinste  Schema  der  Theorie,  welches  sich  noch  völlig 
frei  hält  von  allen  präjudizierenden  logischen  und  methodischen, 
materialen  und  formalen  Bedingungen,  sollte  nur  vorausgeschickt 


AUgemeino  Grundlegung  der  WLisenschaftsthcoric  de«  Psychiachen  wrw.     1U7 

werden,  um  den  verscliiedencii  Richtungen,  in  welchen  «ich  unworo 
theoretischen  Untersuchungen  bewegen  werden,  eine  erste  Walir- 
scheinlichkeit  immanenter  Berechtigung  für  diejenigen  zu  verleihen, 
welche  noch  immer  glauben,  Naturforwchung  oder  Psychologie  treiben 
zu  können,  ohne  sich  um  theoretische  Bemühungen  kümmern  zu 
brauchen.  Außerdem  sollte  unser  Sprachgebrauch  für  die  folgenden 
Untersuchungen  durch  die  obigen  Ausführungen  eine  vorläufige 
Festlegung  erfahren.  Ik'zeichnungen  wie  »Phänomenologie«,  »Ab- 
straktion«, »Deskription«,  »Erklärung«,  »Genese«  usw.  sind  durch 
die  ungeheure  Literatur  derartig  mit  der  Möglichkeit  von  Mißdeu- 
tungen behaftet,  daß  es  uns  notwendig  schien,  wenigstens  vorläufig 
festzustellen,  in  welchem  Sinne  sie  in  diesen  Blättern  allein  zur  Ver- 
wendung gelangen  sollen. 

Die  Kategorienlehre  als  Inhalt  der  Wissenschaftatheorie. 

Nach  diesen  Vorausschickungen  wenden  wir  uns  nunmehr  den 
Fragestellungen  der  psychologischen  Wissenschaftstheorie 
zu,  welche  den  eigentlichen  Gegenstand  dieser  Abhandlung  darstellt. 

Mit  ihr  hat  die  Darstellung  der  Psychologie  als  Wissenschaft 
notwendigerweise  zu  beginnen,  obwohl  dies  seit  50  Jahren  tatsäch- 
lich fast  niemals  geschieht.  Wir  müssen  es  auf  uns  nehmen,  un- 
aktuell und  sogar  antiquiert  zu  erscheinen;  wesentlich  ist  ausschließ- 
lich die  sachliche  Richtigkeit. 

Es  kann  nun  aber  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  an  dieser  Stelle  die 
riesenhafte  Geistesarbeit  von  Kants  transzendentaler  Analytik  zu 
wiederholen.  Dort  findet  man,  wenn  man  sich  die  Mühe  eindringenden 
Studiums  und  nicht  oberflächlicher  Lektüre  macht,  den  tatsäch- 
lichen Nachweis  der  Grundsätze  und  der  aus  den  Formen  des 
Urteils  vermittels  des  »transzendentalen  Leitfadens«  hergeleiteten 
Grundformen  denkender  Erkenntnis,  der  Kategorien  des  Ver- 
standes. Ebensowenig  beabsichtigen  wir  eine  derartige  Wieder- 
holung für  den  Rechtsnachweis  der  Geltung  dieser  Kategorien. 
Ihn  hat  zum  ersten  Male  in  unangreifbarer  und  eindeutiger  Weise, 
mit  psychologischen  Mitteln,  Fries  ^)  in  seiner  Deduktion  derselben 
aus  der  Grundform  der  reinen  Vernunft  selber  geliefert.  Wir  setzen 
diese  gewaltigste  Leistung  aller  Erkenntniskritik  hier  als  gegeben 
und  gültig  voraus  und  berufen  uns  auf  unseren  Standpunkt  an  der 
Seite  joner  großen  deutschen  Denker.  Wir  betonen  hier  nur  noch- 
mals aufs  Entschiedenste  die  im  ersten  Teile  dieses  Buches  nach- 
gewiesene logische  und  psychologisch -e  mpirischo  Geltung 
dieser  und  niler  folgenden  Deduktionen.  In  dieser  Hinsicht  sind  wir 
völlig  einig  mit  dem  psychologischen  Empirismus.  Es  besteht  hier 
sogar  eine  enge  Verständigungsmöglichkeit;  die  grundsätzlichen 
Gegensätze   werden  praktisch  recht  wesenlos:  so  nahe  können  «ich 


»)  Neue  Kritik  der  Vernunft.     Bd.  II. 


128      Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

methodisch  und  sachlich  die  Forschungsrichtungen  kommen.  Marty 
z.  B.  stellt  (Unters,  z.  allg.  Grammat.  u.  Sprachphilosophie,  Halle 
1908,  S.  434ff.)  die  in  der  Brentanoschule  gültigen  Lehren  über 
Begriffsbildung  auf,  und  da  finden  sich  auch  die  »reflexiven«  Be- 
griffe, die  ihrer  theoretischen  Stellung  nach  den  Kategorien  der 
kantischen  Lehre  überaus  nahe  kommen.  Sie  entstehen  durch  Re- 
flexion auf  den  »Urteilsinhalt«  Martys;  ihre  »Leitbegriffe«  sind 
Begriffe  einer  Klasse  von  Formen  der  Beziehung  auf  Gegenstände, 
die  reflexioneil  bewußt  werden;  sie  erwachsen  aus  Abstraktionsakten 
von  diesen  reflexionellen  Beziehungen.  Wo  Marty  nun  von  der 
Geltung  und  Evidenz  von  Urteilen  handelt,  führt  er  aus:  welche 
Formen  des  Urteils  diese  Evidenz  enthalten,  müßte  durch  Unter- 
suchung der  auf  den  Urteilsinhalt  reflexen  Leitbegriffe  festgestellt 
werden.  Es  müsse  soviel  Modi  evidenter  Urteile  geben,  wie  leitende 
Reflexionsbegriffe.  Und  die  Analyse  dieser  Begriffe  erfolgt  denn 
auch  tatsächlich  an  der  Hand  der  Urteilsformen. 

Also  ein  dem  kantischen  transzendentalen  Leitfaden  und  der 
Kategorienlehre  ganz  entsprechend  durchgebildetes  Verfahren,  und 
zwar  auf  rein  empirischem  und  logischem  Boden!  Es  zeigt  eben, 
daß  der  Charakter  der  kantischen  Kritik  tatsächlich  ein  empi- 
rischer ist.  Die  Kategorienlehre  läßt  sich  also  nicht  von  vornherein 
als  überempirische  Doktrin  aus  der  Forschung  ausschalten. 

Ähnliche  Gedankengänge  finden  sich  auch  bei  Hugo  Bergmann 
(Logos  V,  S.  79ff.),  der  im  Wege  bloßer  Empirie  zu  den  kategorialen 
Formen  und  zu  dem  völlig  kantischen  Schlüsse  gelangt:  »es  muß 
eine  Reflexion  auf  unsere  psychische  Tätigkeit,  auf  die  nicht 
direkt  durch  das  vorstellungsmäßig  Gegebene  bedingte  Stellung- 
nahme eintreten,  wir  müssen  gewissermaßen  unsere  Seele  belauschen, 
wie  sie  zwischen  sich  und  der  Objektivität  der  Gegenstände  Ver- 
bindungen herstellt,  um  die  sogenannten  kategorischen  Begriffe  zu 
gewinnen. « 

Die  Anwendung   der  Kategorien    in   der  Psychologie. 

Aber  weder  Kant  noch  Fries,  welche  die  Anwendung  der  Kate- 
gorien auf  das  raumzeitliche  Geschehen  zwecks  Grundlegung  der 
mathematisch-physischen  Naturwissenschaft  systematisch  durch- 
geführt haben  1),  haben  einen  vollständigen  Gebrauch  von  diesen 
Kategorien  in  der  Psychologie  entwickelt.  Diese  von  uns  nach- 
zuholende Entwicklung  muß  sich  im  Geiste  ihrer  Lehre  in  völlig 
analoger  Weise  dazu  vollziehen  lassen,  wie  dies  für  die  äußere  Natur 
durchgeführt  worden  ist.  Wir  wollen  diese  Entwicklung  im  An- 
schluß an  ihren  Schüler  Schmid^)  hier  kurz  andeuten.     Die  Kate- 


1)  Kant,  Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft.  1786. 
Fries,  Mathematische  Naturphilosophie  nach  philosophischer  Methode.  Heidel- 
berg 1822. 

2)  a.  a.  0.,  besonders  zum  Folgenden  S.  llOff. 


AUgomclnc  Clrundlcgiing   der  WiBBcnachaftsthcorir  de»  IVyehiuchen  luni-.     129 

goricn,  als   »Stamm begriffe  des  reinen  \'erstandes «,  werden  dadurch 
zu  Gesetzen  der  Natur,  daß  sie  auf  anschauliche  Gegenstände  an- 
gewendet  werden.      Denn   für  sich  sind  sie   leere   Formen;   Gesetze 
können  sie  erst  werden,  wenn  sie  auf  Gegenstände  angewendet  werden, 
die  den  Gesetzen  unterworfen  werden  sollen,  wenn  also  anschauliche 
Bestimmungen  der  Gegenstände  als  »Subjekte  zugrunde  gelegt  werden, 
zu  denen  sie  als  Prädikate  hinzutreten.     Denn  in  bloßen   Begriffen 
wird  nichts  erkannt,  Erkenntnis  entsteht  erst,  wenn  der  Begriff  durch 
Verbindung  mit  einem  Subjekt   in  ein   Urteil  als   Prädikat   hinein- 
tritt.     Dies   muß  auch    iUckcrt  entgegengehalten   werden,   welcher 
das  Ziel  der  Naturerkenntnis  in  ilelationslwgriffen  sucht').     Es  läßt 
sich  nun  tatsächlich  konstatieren,  daß  bei  jedem  physikalischen  oder 
naturwissenschaftlichen   Urteil  eine   Kategorie  zur   Anwendung  auf 
anschauliches   Material  gelangt,   wenn   auch   nur  in  sehr  entfernter 
Ableitung.     Nun  suchen  wir  hier  die  allgemeinen  und  notwendigen 
Gesetze  für  alle  Naturerkenntnis  überhaupt.     Die  anschaulichen  Be- 
stimmungen, welche  als  Subjekte  dieser  Urteile  mit  den  Kategorien 
verbunden   werden,    müssen   daher  selbst   für  alle   Naturerkenntnis 
allgemein    und   notwendig  gelten.      Nun   gibt  es   aber,   wie   Kants 
transzendentale  Ästhetik  nachgewiesen  hat,  für  unsere  anschauliche 
Erkenntnis    keine    anderen    allgemeinen    und    notwendigen    Bestim- 
mungen als  die  der  reinen  Anschauung.     Alle  empirischen   Bestim- 
mungen der  Anschauung  müssen  ausfallen;  sie  sind  nicht  allgemein 
und  nur  zufällig.     Prädikate  zu  allgemeinen  und  notwendigen  Ge- 
setzen der  Natur  können  also  die  Kategorien  nur  werden,  wenn  sie 
mit    den    Bestimmungen    der    Dinge    durch    die    rein    anschaulichen 
Formen  von   Raum  und  Zeit   zu  Urteilen   verbunden   werden.     Die 
80  gebildeten  Naturgesetze  sind  ganz  aus  apriorischen  Bestimnningen 
dieser    Erkenntnis    zusammengesetzt;    sie    gelten    folglich    selbst    a 
priori  und  sind  synthetische  Urteile  aus  Begriffen;  sie  sind  also  die 
rein  wissenscliaftstheoretischen  Grundlagen  aller  Naturwissenschaft. 
Kant  hat   dieses  transzendentale  Schema  der  Anwendung  der  Kate- 
gorien klar  entwickelt  2). 


*)  Grenzen  iiatiirwisscnscliaftlichcr  Begriffsbildung.  1902.  S.  GTff.,  75 ff. 
Vgl.  hierzu  dies  IJueh  S.  198. 

*)  Einstein  hat  an  allen  herrschenden  Bestimmunpen  de.s  Raum-  und  Zeit- 
bejjriffes  eine  bis  an  die  prinzipiellen  Kundainente  hinabgehende  außerordentliche 
und  revolutionierende  Kritik  geübt  (Über  «lie  si)e7.ielle  und  die  allpenieine  Reln- 
tivitätatheorie.  ßraunschweig.  .'{.  Aufl.  1918.  Vgl.  auch  Freundlich.  Die  Grund- 
lagen der  Einsteinschen  Gravitationstheorie.  Berlin  1917.  und  Schlick,  Raum 
und  Zeit  in  der  gegenwärtigen  Physik.  Berlin  1917).  Dieses  .'scharfsinnigste  Gedan- 
kenwerk  der  letzten  .Jahrzehnte  läßt  sieh  nicht  in  Anmerkungen  »diskutieren« 
oder  »erledigen«.  Auch  steht  mir  ein  geniigendis  Urteil  über  die  behandelte  Frage 
nicht  zu.  Hiermit  ist  denn  Kants  transzendentale  Ästhetik  und  die  durch  sie 
verbürgte  Xewtonsche  Physik  hinsichtlich  ihrer  (Geltung  zu  einer  bloßen  B«.>- 
kcnntnis-  oder  (<laulx<ns8ache  geworden.  Wenn  sich  für  das  physikalische  G«»- 
Bchehen  die  Verluiltnis.se  der  räumlichen  Anoninung  und  zeitlichen  .Abfolge  nicht 
eindeutig  bestimmen  las-st'n,  so  können  diese  keine  unmittelbaren  Ik-stinnnungon 
des  Naturgeschchens  sein.      Raum-   und  ZcitbestimmungcD  crbUten   dann  den 

Krunft'ld,  rüyrhUtrUcho  Erkcnntnli.  9 


130     Über  die  wissenschaftstheoretiechen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Die  Temporalität   als   kategoriales  Schema. 

Hiermit  sind  wir  zu  dem  Punkte  gelangt,  von  wo  aus  sich  die 
verschiedenen  Gebiete  der  Natur  ihrer  wissenschaftstheoretischen 
Grundlage  nach  unterscheiden  lassen  müssen.  Rein  anschauliche 
Bestimmungen  aller  möglichen  Gegenstände  der  Erfahrung  sind 
nämlich  nur  die  der  Zeit.  Der  Raum  gilt  nur  als  anschauliche  Be- 
stimmung für  die  äußere  Wahrnehmung;  der  Bestimmung  der  Zeit 
hingegen  ist  jede  Anschauung  ohne  Ausnahme  unterworfen,  Gesetze 
für  die  Natur  überhaupt  lassen  sich  also  nur  aus  der  Verbindung 
der  Kategorien  mit  den  reinen  Zeitbestimmungen  bilden.  Neben 
den  allgemeinen  Zeitbestimmungen  können  wissenschaftstheoretisch 
bedeutsam  nur  noch  die  räumlichen  Bestimmungen  für  alles  äußere 
Naturerkennen  sein.  So  trennt  sich  also  ein  System  wissenschafts- 
theoretischer Grundgesetze  für  die  äußere  Natur,  die  Körperwelt, 
von  denen  des  seelischen  Lebens,  welches  keinen  anderen  anschau- 
lichen Bestimmungen  unterworfen  ist,  als  denen  der  Zeit.  Und  da- 
mit ist  uns  die  Stelle  angewiesen,  von  der  aus  wir  eine  Wissenschafts- 
lehre der  inneren  Natur  zu  entwickeln  haben.  Das  raumzeitliche 
Greschehen  ist  anderen  anschaulichen  Bedingungen  unterworfen  als 
das  nichträumliche  Geschehen,  welches  wir  psychisch  nennen.  Wir 
nennen   die  Funktion  des   Erfahrenkönnens  auf  diesem  Gebiet  im 


Charakter  von  bloßen  Hilfsgrößen  zur  Darstellung  von  physikalischen  Zusammen- 
hängen. Der  Unterscheidung  des  Kinematischen  vom  Dynamischen  wird  die 
prinzipielle  Bedeutung  genommen,  und  das  Kausalgesetz  verliert  seinen  ursprürg- 
lichen  Sinn,  wenngleich  es  formal  seine  Bedeutung  behält.  Der  Erkenntniskritiker 
wird  sich  fragen,  welche  neue  Erkenntnis  denn  vorliegt,  auf  Grund  deren  eine 
derartige  prinzipielle  Umwälzung  sich  mit  Recht  statuieren  dürfe.  Der  Nachweis, 
daß  das  Zeitverhältnis  nicht  ohne  weiteres  physikalisch  bestimmbar  sei,  und  daß 
daher  die  Feststellung  zeitlicher  Beziehungen  als  gleichzeitig,  früher  und  später 
ihren  Sinn  verliere,  scheint  einen  derartigen  Umsturz  nicht  zu  involvieren.  Bernays 
(Über  die  Bedenklichkeiten  der  neueren  Relativitätstheorie.  Göttingen  1914. 
S.  18 ff.)  weist  darauf  hin,  daß  aus  der  Unmöglichkeit  einer  Bestimmung  zeitlicher 
Beziehungen  nicht  auf  die  Unmöglichkeit  dieser  zeitlichen  Beziehungen  selber 
geschlossen  werden  dürfte.  Dieser  Schluß,  den  das  Relativitätstheorem  zieht,  ent- 
springt aus  einer  irrtümlichen  Gleichsetzung  eines  Kriteriums  für  die  Anwendbar- 
keit eines  Begriffes  mit  seiner  Definition.  Der  Begriff  der  Gleichzeitigkeit  erhält 
seinen  Inhalt  nicht  erst  durch  die  Möglichkeit  der  Bestimmung  seines  Vorliegens 
in  der  Erfahrung.  Das  Problem  dieser  Bestimmung  hätte  gar  nicht  entstehen 
können,  wenn  der  Begriff  nicht  bereits  vorher  vorhanden  gewesen  wäre.  Ähnlich 
liegen  nach  Bernays  die  Dinge  auch  hinsichtlich  der  Unmöglichkeit  absoluter 
Lagebestimmungen  im  Raum  und  des  daraus  gezogenen  Schlusses,  es  habe  keinen 
Sinn,  von  zwei  zu  verschiedenen  Zeiten  stattfindenden  Ereignissen  zu  sagen,  daß 
sie  an  demselben  Orte  oder  daß  sie  an  verschiedenen  Orten  geschehen.  Der  hier 
vorliegende  Analogieschluß  zwischen  Zeitlichem  und  Räumlichem  ist  nach  Bernays 
logisch  unerlaubt.  »Während  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  der  Zustände  dy- 
namisch deren  kausaler  Zusammenhang  entspricht,  gibt  es  für  die  räumliche  Neben- 
ordnung der  Ereignisreihen  keine  zugehörige  physikalisch  reale  Verknüpfung. 
Denn  dasjenige,  was  einer  räumlichen  Nebenordnung  physikalisch  korrespondiert, 
nämHch  die  Gesamtheit  der  Wechselwirkungskräfte,  durch  welche  in  einem  Augen- 
bhck  die  Art  der  materiellen  Erfüllung  des  Raumes  gekennzeichnet  ist,  entspricht 
nicht   der   Nebenordnung   der   Ereignisreihen,   sondern   der   Nebenordnung   der 


Allgemeine  Grundlegung  der  WisuenuchaftBtheone  den  Puythiüchen  u«w.     131 

Anschluß  IUI  Kant  innere  Anschauung  oder  inneren  Sinn, 
und  überlassen  die  Ilechlfertigung  dieses  Erfahrenkörwiens  als  be- 
sonderer psychischer  Funktion  gegen  die  zahlreichen  Angriffe  hier- 
wider  späteren  besonderen  Untersuchungen,  die  zur  Phänomeno- 
logie des  Psychischen  gehören»).  Hier  genügt  es  uns,  aus  den 
besonderen  Bedingungen  des  so  umschriebenen  Gebiets  möglicher  Er- 
fuhrung in  reiner  Temporalitüt  lx*sondere  wissjenschaflstheoretisehe 
Gesetze  als  apriorische  Bestimmungen  der  Möglichkeit  dieser  Er- 
fahrung abzuleiten. 

Hieraus    ableitbare    Kriterien    des    Psychischen. 

Wir  haben,  um  dies  hier  einzuschalten,  mit  diesen  Feststellungen 
bereits  einige  Merknuile  des  Psychischen  überhaupt  als  konstitutiv 
und  notwendig  entwickelt.  Diese  Merkmale  sind  bereits  für  eine» 
Definition  des  Psychischen  hinreichend.  Es  sind  dies  die  reina 
Temporalität  seines  Geschehens  und  die  —  noch  näher  zu  beschrei- 
bende und  zu  begründende  —  besondere  Weise  des  Erfahrenkönnens, 
dies«,  innere  Anschauung.  Die  Notwendigkeit  beider  Merkmale  haben 
wir  durch  die  Aufzeigung  des  Ortes  nachgewiesen,  in  dem  sie  erkennt-f 
niskritisch  ihren  Ursprung  haben.    Brentano  benutzt  zur  Definition. 

Massenpunkte.  Demnach  bildet  von  den  beiden  Darstellungen  der  physikalischeni 
Wirklichkeit,  einerseits  durch  eine  kontinuierliche  Aufeinanderfolge  von  momen- 
tanen Zuständen,  andererseits  durch  ein  Kontinuum  von  räumlich  ausgedehnten 
Kreignisroihcn,  nur  die  erste  den  Ausdruck  für  eine  der  physikalischen  Natur  ob- 
jektiv zukommende  Beschaffenheit;  und  es  ist  einfach  der  mathematische  Aus- 
druck für  diese  Tatsache,  daß  nur  die  erste  der  beiden  Darstellungsweisen  unab- 
hängig i^t  von  der  Wahl  eines  Bezugsystems;  daß  also  zwar  das  Verhältnis  der 
Qleichzeitigkeit,  nicht  aber  das  der  ürtsgleichheit  zweier  Ereignisse  invariant  ist 
gegenüber  den  Transformationen,  welche  die  Beziehung  zwischen  physikalisch 
gleichberechtit;ten  Koordinatensystemen  vermitteln. « 

Diese  einfachen  Erwägungen  werden  wiedergegeben,  nicht  etwa  in  dem 
Glauben,  daß  damit  in  der  Erörterung  des  Relativitätstheorems  irgend  etwas 
Definitives  gesagt  sei,  sondern  zur  Rechtfertigung  des  Standpunktes,  daß  der 
philosophische  Erkenntniskritiker  keinen  tJnind  habe,  sich  durch  die  glänzenden 
physikalischen  und  astronomischen  Erklänmgsmögliehkeiten  der  Relativitäts- 
theorie in  seinem  grundsätzlichen  Standpunkt  vorschnell  beirren  zu  lassen.  So  weit 
wir  es  von  uns  weisen,  der  mathematischen  l'hysik  in  ihr  Geschäft  hineinzureden, 
so  geboten  erscheint  es,  sich  auch  durch  ihre  bestechendsten  Argumente,  sofern 
sie  nicht  der  gleichen  modalischen  Quelle  entstammen  wie  die  eigenen  prinzipiellen 
Feststellungen,  nicht  widerstandslos  zur  Mitwirkung  an  der  Zertrümmerung  ihrer 
Errungenschjiften  fortreißen  zu  lassen  und  eine  sj-stenuitische  und  immanente 
Widerlegung  in  Ruhe  zu  erwarten.  So  rechtffrticen  wir  subjektiv  unser  Festhaltfn 
an  der  transzendentalen  Ästhetik  und  Analj'tik  Kants  auch  wider  diesen  8tärkst*'n 
Ansturm,  di-m  sie  sich  ausgesetzt  sah.  Gegen  alle  übrigen  möglichen  Einwendunp-n 
aber  hat  diese  Lehre  Kants  es  nicht  schwer  gehabt,  sieh  siegreich  zu  behaupten. 
Hierüber  vgl.  »Bemerkungen  über  die  Nicht- Euklidische  Geometrie  und  den 
Urspmng  der  mathematischen  Gewißheit«  von  Nelson,  Abhandl.  d.  Friesschen 
Schule.  Bd.  I.  \9(M\.  S.  37;Uf.,  39;Hf.  Ferner,  von  einem  keineswegs  Friesschen 
Standpunkte  aus,  Victor  Henry,  »Das  erkenntnistheoretische  Raumproblem  in 
seinem  gegenwärtigen  Stande«.     Kantstudien,  Erg.-Heft  34.     Berlin  1915. 

»)  Vgl.  dieses  Buch  S.  369  ff. 

9* 


132      Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

des  Psychischen  ebenfalls  diese  beiden  Merkmale,  fügt  ihnen  aber 
noch  andere  hinzu.  Von  diesen  anderen  werden  wir  später  zu  handeln 
haben,  i) 

Das  reine  Selbstbewußtsein  als  kategoriales  Schema. 

Damit  aber,  daß  wir  etwas  nur  in  der  Zeit  erkennen,  erhält  es 
noch  nicht  positive  Merkmale  des  Psychischen.  Es  tritt  zur  Tem- 
poralität  noch  eine  andere  Form  hinzu,  durch  welche  die  nichträum- 
lichen Abläufe  erst  positiv  als  psychische  bestimmt  werden:  Diese 
Form  besteht  nicht  in  der  Anschauung,  sondern  im  Denken  und 
läßt  sich  umschreiben  als  die  reine  Form  der  Ichvorstellung. 
In  der  Tat  liegt  formal  das  »Ich  bin«,  ohne  zu  bestimmen  was  ich 
bin,  allem  inneren  Wahrnehmen  zugrunde,  in  völlig  analoger  Weise 
wie  die  Form  des  Raumes,  ohne  zu  bestimmen  was  der  Raum  ent- 
hält, den  äußeren  Wahrnehmungen  zugrunde  liegt^).  Durch  diese 
Form  des  »Ich  bin«  wird  ein  Gegenstand  als  psychisch  erkannt. 
Psychisch  ist,  was  dem  Ich  gehört.  Diese  aller  inneren  Selbster- 
kenntnis zugrundeliegende  Ich-Form  nennen  wir  mit  Kant  das 
reine  Selbstbewußtsein,  und  trennen  davon  ihre  inhaltlichen 
Modifikationen,  welche  den  Gegenstand  innerer  Wahrnehmung 
bilden,  als  empirisches  Selbstbewußtsein  ab.  Also :  allem  empirischen 
Selbstbewußtsein  liegt  ein  reines  Selbstbewußtsein  zugrunde,  worin 
wir  uns  selbst  als  identisches  Subjekt  aller  inneren  Wahrnehmung 
vorstellen.  Abstrahieren  wir  von  allem  empirischen  Gehalt  seelischer 
Vorgänge,  so  bleibt  uns  als  reine  Form  dieses  Gehalts  die  Vorstellung 
von  einem  Ich,  welches  als  identisches  Subjekt  von  ihnen  allen  exi- 
stiert. Die  Form  für  alle  psychologischen  Erkenntnisse  ist  hiermit 
gefunden;  diese  Form  des  reinen  Selbstbewußtseins  ist  ursprünglich, 
sie  ist  die  Bedingung  der  Möglichkeit  psychologischer  Erfahrung; 
sie  gilt  a  priori. 

Allein  wenn  wir  nun  durch  Verbindung  dieser  apriorischen  Form 
des  reinen  Selbstbewußtseins  mit  den  Kategorien  die  Wissenschafts- 
lehre des  Psychischen  bilden  wollen,  so  tritt  uns  die  Schwierigkeit 
entgegen,  daß  wir  in  ihr  keine  anschauliche  Form  haben,  sondern 
daß  wir  das  reine  Ich  nur  hinzu  denken.  Als  eine  bloß  gedachte 
Form  aber  gibt  sie  uns  eigentlich  nicht  Gegenstände  der  Erfahrung, 


1)  Brentano  (Psychologie  vom  empirischen  Standpunkte.  1874.  S.  101  ff., 
126 ff.)  nennt  außer  den  beiden  hier  deduzierten  Merkmalen  noch  das  ihrer  realen 
Existenz  im  Gegensatz  zum  Phänomenalismus  räumlicher  Erfahrung.  Ferner 
definiert  er  Psychisches  dadurch,  daß  es  entweder  auf  Vorstellungen  beruhe  oder 
Vorstellung  sei.  Hierzu  ausführlich  im  2.  Bande,  Endlich  macht  er  den  Ein- 
heitscharakter und  damit  die  intentionale  Inexistenz  zum  Definitionsmerkmal. 
Hierüber  S.  139,  148  dieses  Buches. 

2)  Man  wird  uns  hoffentlich  nicht  im  Verdachte  haben,  als  glaubten  wir  mit 
dieser  allgemein  gehaltenen  Bestimmung  eine  Psychologie  des  Ich  zu  geben  oder 
auch  nur  etwas  darüber  zu  prä judizieren.  Davon  wird  an  späterer  Stelle  (Bd.  2) 
noch  die  Rede  sein. 


Allgemeine  Grundlegung  der  WioseniJchuflhtljeorif  di*«  PHychi»chen  uhw.      133 

worauf  die  Kategorien  anwendbar  wären.  Wir  halxjn  darin  immer 
nur  ein  (Jedachlcs,  nicht  ein  Wirkliclie.s  und  CJegenwärliges.  Wir 
müssen  also  die  Mangelliaftigkeit  der  bloßen  Zeitbestimmungen,  die 
ihrerseits  zum  Ansatz  der  Kategorien  allein  auch  nicht  voll  aus- 
reichen, durch  die  Form  des  reinen  Selbstbewußtseins  reflexionell 
ergänzen.  »So  können  wir  mittelbar  durch  üenkakte  eine  voll- 
ständige Entwicklung  der  Kategorien  zustande  bringen.  Sie  werden 
dann  niciit  mehr  unmittelbar  und  konstitutiv  anwendbar  .sein,  wohl 
aber  als  regulative  Prinzipien  ihren  Wert  behalten.  Denn  wenn  auch 
das  bloße  Denken  für  sich  gar  nichts  wirkliches  enthält,  so  ist  es  doch 
andererseits  dieselbe  Realität,  welche  in  der  Zeit  als  Wirkliches 
ersclieint,  und  welche  in  die  gedachte  Form  des  reinen  Selbstbewußt- 
seins fällt.  Mithin  wird  auch  durch  diese  gedachte  Form  ein  Gegen- 
stand der  Natur  bestimmt;  und  sie  reicht  daher  zur  mittelbaren 
Bildung  von  Gesetzen  über  diese  Gegenstände  zu. 

Ableitungen  aus  dem  Moment   der   Qualität. 

Aus  dem  Kantischen  Moment  der  Qualität  ergeben  sich  für 
das  Psychische  folgende  kategorialen  Anwendungen:  Qualitäten 
werden  anschaulich  erkannt.  Mit  Allgemeingültigkeit  und  Not- 
wendigkeit können  nach  Kant  nur  die  Begriffe  ausgesagt  werden, 
durcli  wclclie  jede  Qualität  a  priori  bestimmt  wird.  Denken  wir  uns 
aus  einer  jeden  Qualität  allen  empirischen  anschaulichen  Gehalt  fort, 
abstraliiercn  wir  ganz  davon,  wie  wir  die  Objekte  anschauen,  so 
bleibt  uns  außer  der  Vorstellung  der  Qualität  selber  nur  der  Begriff 
von  Realität.  Ich  muß  notwendig  von,  jeder  wahrgenommenen 
Qualität  denken,  daß  sie  existiert,  Realität  hat.  Das  bloße  Wie  einer 
Existenz,  die  bloßen  Eigenschaften  lassen  sich,  für  die  Erkenntnis 
(nicht  etwa  für  problematische  Vorstellungen),  gar  nicht  denken, 
ohne  auch  die  Existenz  selbst  der  Objekte,  denen  die  Qualitäten  zu- 
kommen, zu  denken. 

Mit  dieser  Feststellung  bestätigt  sich  ein  weiteres  Kriterium 
des  Psychischen,  wie  es  Brentano  aufgestellt  hat.  Zugleich  ist  sie 
eine  grundsätzliche  Widerlegung  der  reinen  eidetischen  Wesens- 
schau Husserls,  welche  versucht,  bei  ihrem  Geschäft  von  der  Exi- 
stenz zu  abstrahieren.  Hierüber  werden  wir  noch  in  der  Phäno- 
menologie handeln. 

Nun  enthält  jede  wahrgenommene  Qualität  den  Begriff  der  Rea- 
lität in  besonderer  empirischer  Bestimmung.  A  priori  ist  die  Realität 
nur  rein-anscha\ilich  bestimmbar.  Als  solche  liest imnumg  des  Psy- 
chischen hatten  wir  bereits  die  Zeitlichkeit.  Ferner  bestimmt  sich 
die  Realität  des  Psychischen  a  priori  noch  durch  die  gedachte  Form 
des  reinen  Selbst In'wußtseins.  Jede  psychische  Erscheinung  erfüllt 
diese  Form  des  »Ich  bin«  durch  eine  Qualität,  durch  ein  Wie  des 
Daseins.  Aber  die  Qualitäten  existieren  real  nur  dadurch,  daß  sie 
diese   Form    des   Ich  erfüllen,  daß  sie  als  seine   Eigenschaften  oder 


134     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Tätigkeiten  gedacht  werden.  Nun  erkennen  wir  das  reine  Ich  un- 
mittelbar, als  Naturrealität,  nur  in  seinem  wechselnden  zeitlichen 
Erscheinungen,  zu  denen  es  erst  als  ihr  Subjekt  hinzugedacht  wird. 
In  ihm  selber  erkenne  ich  unmittelbar  gar  keine  Naturwirklichkeit, 
weil  es  keine  anschauliche  Form  ist,  in  welcher  etwas  Wirkliches  er- 
scheinen könnte.  In  der  Psychologie  also  erkenne  ich  gar  nicht  das 
Ich  an  sich,  sondern  nur  seine  Tätigkeiten  oder  Funktionen,  weil  nur 
diese  anschaulich  bestimmt  sind.  Diese  Qualitäten  des  Ich  sind  nun 
aber  nicht,  wie  die  physikalischen  Qualitäten,  auflöslich,  d.  h.  objektiv 
auf  quantitative  Verhältnisse  reduzierbar.  Sie  werden  unmittelbar 
vom  Ich  ausgesagt,  ohne  daß  sich  etwas  weiteres  über  ihre  objektive 
Bedeutung  bestimmen  ließe.  D.  h.  für  die  Psychologie  besteht  die 
Forderung,  in  der  Beschreibung  alles  Zuständlichen  auf  diese  unauf- 
löslichen Qualitäten  abstraktiv  zurückzugehen.  Diese  werden  als- 
dann auf  das  Ich  als  ihr  Subjekt  als  Eigenschaften  und  Funktionen 
bezogen,  so  daß  das  Ich  als  ihr  inneres  Prinzip  erkannt  wird.  Hier- 
mit liegen  zwei  Aufgaben  als  wissenschaftstheoretisch  (in  unserem 
Sinne)  gefordert  fest:  die  Phänomenologie  —  welche  den  ersten 
Teil,  die  Reduktion  psychischer  Phänomene  auf  ihre  unauflöslichen 
Qualitäten  zum  Gegenstande  hat,  und  die  Funktionspsychologie 
oder  Aktpsychologie,  welche  der  zweiten  Aufgabe  genügt,  diese 
Qualitäten  ihrer  Realität  nach  aus  dem  Ich  als  ihrem  inneren  Prinzip 
als  dessen  Tätigkeiten  und  Äußerungs weisen  zu  bestimmen.  Beide 
Teilgebiete  der  Psychologie  haben  also  hier  ihren  grundlegenden  Ort 
in  der  Systematik  des  Wissenschaftsganzen.  Dies  sei  hier  nur  an- 
gedeutet. 

Ableitungen  aus  dem  Moment  der  Quantität. 

Aus  dem  Kantischen  Moment  der  Quantität  folgt  folgendes. 
Eine  Vielheit  gleichartiger  Dinge  wird  durch  das  Moment  der  Quan- 
tität zu  einer  Einheit  bestimmt.  Für  das  Psychische  findet  die  Viel- 
fältigkeit der  Phänomene  ihre  Gleichartigkeit  durch  die  gleichen 
apriorischen  Bedingungen  ihrer  Erkenntnis,  also  durch  die  reinen 
Formen  der  Zeit  und  des  Ichbewußtseins.  Abstrahieren  wir  nämlich 
von  allen  verschiedenen  Qualitäten,  so  bleibt  für  alle  das  gleich- 
artige Erleben  einer  Qualität  überhaupt  zurück.  Indem  wir  für  dies 
Erleben  einen  gewissen  Grad  des  Bewußtseins  i)  einer  jeden  solchen 
Qualität  erteilt  denken  können,  ist  damit  die  Möglichkeit  einer 
quantitativen  Bestimmung  des  Psychischen  gegeben.  Freilich 
ist  diese  quantitative  Bestimmung  eine  völlig  andere  als  die  in  der 
materiellen  Natur.  Die  Möglichkeit  zeitlicher  Größenbestimmungen 
ist  für  beide  Erfahrungsgebiete  a  priori  in  analoger  Weise  gegeben. 
Während  aber  das  materielle  Geschehen  durch  die  Form  seiner  Räum- 


1)  Natürlich  ist  dieser  Gedanke  streng  durchführbar  erst  auf  Grund  einer 
entsprechenden  theoretischen  Bestimmung  des  Bewußtseinsbegriffes.  Diese  er- 
folgt in  der  Phänomenologie  und  im  2.  Bande. 


Allgemeine  Grundlegung  der  Wisaenflchaftstheorie  den  Psychischen  usw.     135 

lichkcit  und  das  Nebonoinander  .seiner  Teile  eine  extensive  Größon- 
beatiminung  und  damit  mathematische  konstruierbare  Formulierung 
dieser  Bestimmung  ermöglicht,  also  eine  mathematische  Naturwissen- 
schaft notwendig  macht,  trifft  die  Extensität  der  Größenbestimmung 
im  Psychis(;hen  nur  für  die  Zeitlichkeit  des  Ablaufen«  zu.     Im  Psy- 
chischen tritt  jedoch  an  die  iStello  der  Raumform  die  Form  des  reinen 
.Selbstbewußtseins.     In  ihm  sind  die  Qualitäten  intensiv  verbunden: 
«Mn  extensives   Nebeneinander   fällt    fort.       »Ich   kann  nicht  sagen, 
eine  Tätigkeit  erfüllt  einen  Teil  des  Ich,  wie  der  Körper  einen  Teil 
des  Raumes  erfüllt;   ebensowenig  kaim  ich  sagen,  daß  das  Ich  aus 
seinen   Tätigkeiten   oder  aus   den   Zeitteilen  seiner  Tätigkeiten   zu- 
sammengesetzt sei«  (letzteres  muß  auch  Bergson  hinsichtlich  seiner 
Konstruktionen  in    »Zeit  und   Freiheit«  entgegengehalten   werden), 
»wie  der  Körper  aus  seinen  Teilen  zusammengesetzt  ist;  sondern  zu 
jeder  Tätigkeit  wird  das  ganze  Ich  als  Subjekt  hinzugedacht,  und  das 
Ich  ist  dieses  Subjekt  auf  gleiche  Weise  in  jedem  Zeitpunkt  der  Tätig- 
keit.«*) Das  Psychische  und  seine  unauflöslichen  Qualitäten  kann  also 
nicht  mathematisch  quantifiziert  werden.  Das  Moment  der  Größen- 
bestimmung kann  sich  lediglich  auf  die  Qualitäten  selber  beziehen. 
Diese  sind  von  intensiver  Größenordnung  und  nach  Graden  meßbar. 
Die    Bestimmung    des    Psychischen    als    bloß    intensiver    Größe 
schließt  zunächst   die  Teilbarkeit  aus.      Das  Ich  ist  also  mit   Not- 
wendigkeit unteilbar  eine  Einheit  und  Einzelheit,  eine  Individualität; 
es  wird  nicht  erst  durch  Zusammensetzung  aus  seinen  Funktionen 
gebildet,  sondern  ist  deren  Subjektseinheit.     Auch  dies:  den  Indivi- 
dualitätscharakter   des    Ich    mit    wissenschaftlicher    Notwendigkeit 
einsichtig  zu  machen,  ist  ein  Gewinn  der  Theoretik.     Durch  die  Be- 
schränkung der  inneren  Natur  auf  intensive  Größe  entzieht  sie  sich 
ferner  größtenteils  der  mathematischen  Behandlung.     Lediglich  das 
Gesetz  der  Stetigkeit,   welches  besagt,   daß   Qualitäten  hinsichtlich 
ihrer  Intensität  stetig  abstufbar  sind,  ist  auch  im   Psychischen  an- 
wendbar.    Aber  aus  ihm  folgt  noch  keineswegs  ein  Gesetz,  wonach 
die  Größe  irgendeines    psychischen  Gegebenen   an  sich   bestimmbar 
wäre.     Intensive  Größen  können  nur  vergleichsweise  an  extensiven 
Maßstäben    gemessen    werden.      Für    die    psychischen    Intensitäten 
bieten   sich    zu    dieser    Messung    Zeitbestimmungen    und    physische 
Maßstäbe   räumliclier   Art    an.      Was   den    Zeitmaßstab   anlangt,   so 
beruht  auf  seiner  Anwendung  ein  großer  Teil  aller  experimentellen 
Verfahren.    Was  den  räumlichen,  physischen  Maßstab  anlangt,  so  ist 
eine  notwendige,  gesetzmäßige  Verbindung  physischer  Veränderungen 
mit  psychischen  Intensitätsveränderungen,  so  daß  die  erstere  zum  Maß 
der  letzteren  werden  können,  die  Voraussetzung  seiner  Anwendbarkeit. 
Hierzu  wäre  also  eine  Klärung  des  psychophysischen  Verhält nLsse.s 
in  seinen  Grundlagen  erforderlich,  ein  Problem,  dessen  Umfang  den 
Rahmen  der  eigentlichen  psychologischen  Theorie  überschreitet. 


»)  Schmid.  a.  a.  O.     S.  126. 


136     Über  die  wissenschaftstheoretisclien  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

3.  Das  Problem  der  Substantialität  des  Seelischen. 

Sonderstellung  der  Relationskategorien. 

Kants  Kategorien  aus  dem  Moment  der  Relation,  Substanz, 
Kausalität  und  Wechselwirkung,  sind  die  für  die  Ausbildung  der 
Naturwissenschaft  weitaus  bedeutsamsten.  Über  die  Realität  und 
die  mathematische  Zusammensetzung  derselben  hinausgehend,  be- 
stimmen die  aus  ihnen  gewonnenen  Grundsätze  die  Formen  der 
notwendigen  Verknüpfung  der  Existenz  der  Dinge,  und  in  dieser 
Bestimmung  liegen  die  eigentlichen  Gesetze  der  Naturnotwendigkeit 
beschlossen.  Kant  trennte  daher  die  aus  diesen  Relationskategorien 
sich  ergebenden  Grundsätze  als  dynamische  von  den  übrigen  ab. 
Indem  sie  zeigen,  wie  die  Existenz  der  Eigenschaften  notwendig 
verknüpft  ist  mit  der  des  Wesens  (des  inneren  Prinzips  der  Möglich- 
keit des  Objekts),  die  der  Wirkungen  mit  ihren  Ursachen  und  die 
der  Realitäten  untereinander  durch  Wechselwirkung, 
stellen  sie  Natur  als  ein  unter  notwendige  Gesetze  gestelltes  System 
dar.  Es  wird  also  auch  für  eine  Wissenschaftslehre  des  Psychischen 
entscheidend  sein,  inwieweit  die  Relationskategorien  eine  Anwendung 
hier  zulassen. 

Voraussetzung  dieser  Anwendung  ist,  daß  die  durch  die  Relations- 
kategorien zu  bestimmenden  Gegenstände  ihrer  Existenz  nach  bereits 
anschaulich  bestimmt  sind.  Für  das  Psychische  ist  die  Anschauung 
die  zeitliche  Ordnung.  Durch  die  Relationskategorien  soll  also  die 
zeitliche  Ordnung  des  Psychischen  gemäß  der  inneren  Verknüpfung 
des  in  ihm  Existierenden  und  Geschehenden  bestimmt  werden.  Die 
drei  möglichen  zeitlichen  Ordnungsverhältnisse  sind:  Beharrlichkeit 
in  der  Zeit,  Veränderung  in  der  Zeit,  Zugleichsein.  Diese  Verhält- 
nisse bilden  die  reinen  Schemata  für  die  Relationskategorien. 

Die  Kategorie  der  Substanz  und  der  Begriff  Seele. 

Die  Beharrlichkeit  in  der  Zeit  ist  das  Schema  für  die  Kategorie 
derSubstanz:  Substantiell  ist,  was  in  der  Zeit  dauert.  Veränderung 
ist  die  reine  Zeitbestimmung  für  die  Kausalkategorie:  Ursache  ist 
der  Grund  einer  Veränderung  in  der  Zeit.  Zugleichsein  ist  das  Schema 
für  die  Wechselwirkung.  Nun  ist  das  Beharrende  in  der  Zeit  im 
Psychischen  lediglich  das  reine  Selbstbewußtsein;  und  dieses  finden 
wir  nicht  etwa  anschaulich  in  der  psychischen  Materie  vor,  wir  müssen 
es  nur  mit  Notwendigkeit  als  das  identische  Subjekt  zu  dem  steten 
Wechsel  seelischer  Abläufe  hinzudenken.  Anschaulich  in  der  Zeit 
erscheint  uns  nur  dieser  stetige  Wechsel.  Der  allgemeine  Sprach- 
gebrauch bezeichnet  dieses  notwendig  hinzuzudenkende  Beharrliche, 
dem  aller  anschauliche  Wechsel  des  Psychischen  als  Eigenschaften 
oder  Äußerungen  zugeschrieben  wird,  mit  dem  Worte  Seele;  Seele 
ist    das  Ich,    insofern    es   zur  Erscheinung   wird,   insofern  es 


Daa  Problem  der  Substantialit&t  de«  fcjcolisehen-  137 

durch  seine  Zuständo  Gegenstand  der  Erfahrung  und  somit  der  Natur 
wird.  Diese  iSeclu  nun  erscheint  uns  gar  nicht  selbst  anschaulich; 
wir  erkennen  sie  also  gar  niciit  unter  der  Kategorie  der  »Substanz; 
nur  ihre  Tätigkeiten  haben  unmittelbar  ansciiauliche  Realität;  die 
Seele  denken  wir  nur,  durch  den  Begriff  der  Substanz  genötigt,  ab 
Subjekt  hinzu.  Der  Begriff  der  Substanz  im  Psychi.schen  gilt  alao 
niclit  unmittelbar  für  die  Natur,  da  es  keinen  unmittelbaren  Gegen- 
Btund  in  der  Anschauung  für  ihn  gibt.  Er  entsteht  nur  denkend  und 
kann  seine  (Jültigkcit  nur  für  eine  übernatürliche,  ideale  Weltansicht 
beanspruchen.  In  der  Naturwissenaciiaft  hat  er  keine  Stelle.  Des- 
halb ist  aller  Spiritualismus,  welcher  seelische  Äußerungen  aus  einem 
substantiellen  Seelenbegriff  abzuleiten  unternimmt,  dem  Wesen 
naturwissensciiaft lieber  Forschung  widerstreitend. 

Dies  iiindcrt  jedoch  nicht,  den  Substanzbegriff  im  Psychischen 
als  ein  regulatives  Prinzip,  um  mit  Kant  zu  sprechen,  anzuwenden»). 
Das  Bleibende,  Beharrliche,  welches  hinter  den  wechselnden  Tätig- 
keiten des  Psychischen  hiernach  anzusetzen  ist,  ist  eine  dauernde 
Form,  ein  dauerndes  Gesetz  dieser  Tätigkeit,  und  dieses  Gesetz  ist 
das  Wesen  der  Seele,  wie  es  in  der  Natur  erscheint.  Naturwissen- 
scliaftlich  läßt  sich  dieser  Scelenbcgriff  als  der  einer  gesetzmäßigen 
Form  und  Einheit  von  Tätigkeiten  nicht  treffender  vergleiciien,  als 
mit  dem  Begriff  eines  Organismus  in  der  äußeren  Natur.  Jeder 
Organismus  ist,  wie  auch  Schmid^)  schon  durchführt,  eine  solche 
Form  von  Veränderungen,  in  deren  materialem  Wechsel  sie  selber  ab 
Form  und  Einheit  die  gleiche  bleibt.  So  ist  es  auch  im  Psychischen; 
und  nur  dadurch  behalten  wir  in  allem  materialen  Wechsel  des  Psy- 
chischen den  einen  Gegenstand  für  die  Naturerkenntnis,  daß  wir  die 
eine  Form  und  das  eine  Gesetz  dieses  Wechseins  als  sein  identisches 
Subjekt  festhalten  und  seelisch  nennen.  Diese  Seele  ist  jedoch  keines- 
wegs ein  selbständiges  Wesen  für  die  Naturerkenntnis:  Form  ist 
immer  nur  etwas  an  einer  Realität;  niemals  selbst  Wesen.     Für  die 


1)  Man  hat  es  sich  neuerdings  ■ —  und  Wundt  ist  daran  besonders  schuld  — 
leicht  gemacht,  derartige  Unternehmungen  in  der  naturwissenschaftlichen,  d.  i.  em- 
piristischen  Seelcnatoniistik,  die  sich  für  Psychologie  ausgibt,  mit  dem  Schlag- 
wortc  »dogmatischer«  Deduktionen  abzutun.  Alle  Welt  weiß  es  besser  als  Kant  ! 
Und  man  vergißt,  daß  von  diesem  angebUch  iibenvundenen  »Dogmatiker«  das 
Wort  stammt:  »Wer  einmal  Kritik  gekostet,  den  ekelt  auf  ewig  alles  dogmatische 
Gewäsche  an.  «  Den  Naturforscher  bitten  wir  gerade  an  dieser  Stelle  um  vorurteils- 
lo.ses  Mitdenken.  Dogmatisch  sind  nicht  derartige  Deduktionen;  dogmatisch  ist 
vielmelir  das  Verfahren  der  herrschenden  psychologischen  Theoretiker  von  Wundt 
an  bis  auf  Xatorp  und  Münsterberg,  den  Seelenbegriff  als  ein  »primitivea 
D«>gma«  aus  der  Psychologie  auszuschalten  —  und  dann  das  P!*ychische  irgendwie, 
sei  i-s  direkt  oder  indirekt,  durch  das  Bewußtsein  zu  definieren,  d.  h.  alst),  anstatt 
in  ihm  n)ir  einen  reeUen  phänomenalen  Krlebnisbestandt«il  zu  sehen,  das  Wesen 
des  l'syehischen  in  ihm  zu  gründen.  So  wird  das  Bewußtsein  unmerklich  zu  einem 
neuen  Terminus  für  den  verjagten  Seelenbegriff,  mit  dem  einzigen  Unterschied, 
daß  daihmh  schwere  Fehler  gegen  tlie  Thet)rie  wie  gegen  die  Tatsachen  —  z.  B.  die 
Tatsachen  des  unbewiißten  Sei-lischen —  gezeitigt  w<rden.  zu  denen  der  alte  Seelen- 
begriff, den  wir  hier  wieder  aufnehmen,  keinen  Anlaß  bietet, 

2)  a.  a.  0.     S.  143. 


138     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Naturwissenschaft  besteht  daher  auch  kein  Unsterblichkeitsproblem 
für  diesen  Begriff  von  Seele:  vielmehr  ist  ihre  Existenz,  definiert 
als  beharrliche  Form  aller  psychischen  Äußerungsweisen,  durchaus 
nur  an  ihre  zeitliche  Erscheinung  geknüpft  und  eben  durch  diese 
an  ihre  Existenz  in  einem  körperlichen  Organismus.  Aufgabe  wissen- 
schaftlicher Psychologie  ist  es,  alle  psychischen  Tätigkeiten  aus  der 
Form  oder  dem  Gesetz  derselben  zu  erklären,  denn  diese  ist  der  Be- 
griff von  Seele  als  einem  Objekt  der  Naturwissenschaft. 

Tätigkeit  als  Wesensmerkmal  des  Seelischen. 

Läßt  sich  nun  diese  Form  und  dieses  Gesetz  mit  theoretischer 
Notwendigkeit  auch  noch  positiv  bestimmen?  Die  positive  Be- 
stimmung von  Substantiellem  erfolgt  nicht  bloß  durch  die  Existenz, 
sondern  auch  durch  die  Art  der  Existenz.  Denn  Substanz  ist  nicht 
bloß  Realität,  sondern  eine  durch  Eigenschaften,  Akzidenzen  be- 
stimmte Realität;  Wesen  und  Eigenschaft  sind  notwendige  Korrelate. 
Also  ist  auch  jene  notwendige  Formeinheit,  jenes  Gesetz  alles  Psy- 
chischen durch  die  Qualitäten  bestimmt,  durch  welche  sie  das  reine 
Selbstbewußtsein  erfüllt.  Diese  erscheinen  mit  Notwendigkeit  als 
ein  Nacheinander  in  der  Zeit.  Was  aber  als  zeitliches  Nacheinander 
von  einem  identischen  Subjekt  prädiziert  wird,  sofern  von  der  Modi- 
fikation dieses  Subjekts  durch  das  einzelne  zeitlich  Erscheinende 
abstrahiert  wird,  nennen  wir  Tätigkeit,  Wirken^).  Sehe  ich  in 
einem  Kausalverhältnis  allein  auf  den  Zustand  des  Wirkens  in  dem 
wirkenden  Gegenstande  und  berücksichtige  nicht  den  veränderten 
Zustand,  der  an  dem  Gegenstande,  worauf  eingewirkt  wird,  ent- 
steht, so  schreibe  ich  dem  wirkenden  Gegenstand  Tätigkeit  zu.  Tätig- 
keit also  ist  das  reine  Verhältnis  der  Ursächlichkeit,  ist  deren  reine 
Form  unter  Abstraktion  von  dem  Gehalt  derselben  in  der  Wirkung 
oder  dem  bewirkten  Zustande.  Dieser  Kausalbegriff  erhält,  wie 
später  ausgeführt  werden  wird,  Anwendung  auf  das  zeitliche  Nach- 
einander. Es  müssen  also  mit  Notwendigkeit  die  inneren  Erschei- 
nungen, insofern  sie  in  der  Zeit  als  Nacheinander  erscheinen,  denkend 
unter  dem  Ursachenbegriff  erfaßt  werden;  somit  erscheinen  sie  als 
Tätigkeiten  und  Wirken.  Ich  kann  aber  zu  diesem  Wirken  nicht 
auch  das  Bewirkte  hinzubringen,  weil  ich  kein  extensives  Neben- 
einander habe,  in  welchem  das  Bewirkte  zu  der  Wirkung  hinzuträte. 
Folglich  besteht  die  Nötigung,  durch  die  Natur  des  psychischen 
Gegebenseins,  alle  inneren  Erscheinungen  als  Tätigkeiten 
aufzufassen,  und  es  ist  unmöglich,  bloß  passive  Zustände, 
Zustände  des  Verändertwerdens  in  den  Erscheinungen 
des  Seelenlebens  zu  finden.  Hier  ist  der  wissenschaftstheoreti- 
sche Ort,  welcher  die  Notwendigkeit  der  Geltung  der  gesamten  Akt- 

1)  Natorp  (Allgem.  Psychol.  1912.  S.  40 — 45)  macht  Einwendungen  gegen 
die  Annahme  psychischer  Fähigkeiten  geltend,  welche  indes  schon  von  Husserl 
(Log.  Unters.  IL    S.  380ff.)  widerlegt  wurden. 


Da«  I'roblom  der  Rubstantialitat  des  S''«!!»«}!'*!!.  139 

Psychologie  rechtfertigt  und  l)ogründet ;  hier  liegt  auch  der  theoretische 
(Jrundfür  die  CJeltungdes  BrentanoHchen  Definitionsinerkniales  alles 
Paychischen:  die  intentionalo  Inexistenz.  Von  diesen  Dingen  wird 
noch  ausführlich  die  Rede  sein.  Vielleicht  al>er  ist  es  doch  inter- 
essant, schon  hier  festzustellen,  wie  die  alte  Kan tische  Psychologie 
in  ihrer  Friosschcn  8ysteniform  es  ermöglicht,  die  modernen  Hypo- 
tliesen,  soweit  sie  wirklichen  Wert  halx?n,  mit  Notwendigkeit  an 
ihrem  systematischen  Aufbau  zu  verankern,  während  sie  sonst  gleich- 
sam zufällige  Inventionen  blieben.  Es  gibt  hiernach  —  und  das 
muß  sowohl  gegen  die  Assoziationspsychologie  als  auch  gegen  so 
aufgeklärte  Aklionspsychologen  wie  Berze  betont  werden  —  keine 
psychischen  Pliänomene,  welche  nicht  Akte  sind  oder  involvieren. 
Die  assoziative  Verknüpfung  »impressionaler «  Daten  oder  »hyle- 
tischer«  Materien  (Husserl)  hat  nur  innerhalb  der  einzelnen  Akte 
und  Phänomene  ihre  psychologische  Stelle.  Auch  hiervon  später 
Genaueres. 

In  der  Tat  läßt  sich,  und  das  wird  noch  weiter  unten  erfolgen, 
auch  rein  deskriptiv  zeigen,  daß  das  psj'chische  Geschehen  niemals 
ein  bloß  passives  Erleiden  oder  Affiziertwerden  ist.  Damit  entfallen 
alle  sog.  elementar-analytischen  Theorien  vom  Bausteincharakter 
seit  Locke;  es  entfällt  die  Mehrzahl  der  zu  Unrecht  verallgemeinerten 
Assoziationshypothesen.  Wir  kommen  noch  darauf  zurück;  hier 
ist  wichtig,  den  Ort  aufgezeigt  zu  haben,  der  sie  mit  Notwendigkeit 
grundsätzlich  in  ihrem  Gcltungsanspruch  zugunsten  der  Aktions- 
psychologie einschränkt. 

Hiernach  erfüllt  also  die  Seele  als  Naturbegriff  das  reine  Selbst- 
bewußtsein mit  ihren  Tätigkeiten;  und  sie  ist  deren  Subjekt.  Jede 
Tätigkeit  erfordert  ein  Subjekt  des  Tuns,  was  auch  gegen  Fichte 
eingewandt  werden  muß,  der  die  Seele,  das  Ich  als  reines  Tun  defi- 
niert i).  Faßt  man  jede  Tätigkeit  als  besondere  Realität  auf,  so  ist 
die  Identität  ihrer  Subjekte  für  die  verschiedenen  psychischen  Tätig- 
keiten noch  nicht  gegeben.  Diese  folgt  aber  aus  der  hinzugedachten 
Form  des  reinen  Selbstbewußtseins. 


Spontaneität  und  Rezeptivität  des  Seelischen. 

Nach  diesen  Feststellungen  wäre  noch  die  Behauptung  möglich, 
daß,  wenn  auch  die  Seele  das  tätige  Subjekt  psychischen  Geschehens 
wäre,  doch  der  Grund  dieser  Tätigkeit  letztlich  außer  ihr  selber  läge, 
etwa  in  irgendeinem  Kausalne.xus  zu  außerpsychischen  Kräften, 
welche  jene  einheitliche  Form  der  psychischen  Tätigkeiten  zur  Wir- 
kung hätten.  Die  Diskussion  dieser  Möglichkeit  gehört  dem  psycho- 
physischen  Problemkroise  an  und  kann  daher  nicht  in  dieser  Unter- 
suchung erfolgen.  Sei  dem  wie  immer,  so  müssen  wir  für  die  Psycho- 
logie als  unabhängige  Wissenschaft  daran  festhalten,  daß  mit  wissen- 

»)  Vgl.  S.  39  ff.  dioHoa  Buche«.     Auch  Schmid.  a.  a.  O.    S.  137. 


140     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

schaftstheoretischer  Notwendigkeit  die  Seele  sich  in  Tätigkeit  und 
nur  in  Tätigkeit  äußert,  daß  sie  das  Subjekt  aller  psychischen  Tätig- 
keit ist;  und  ferner,  daß  es  in  diesen  Tätigkeiten  keine  bloß  passive 
Affektion,  kein  bloßes  Bewirkt  werden,  geben  kann.  Diese  Feststellung 
gilt  nicht  nur  für  die  einzelnen  Tätigkeiten,  sondern  auch  für  ihr  Sub- 
jekt. Mithin  läßt  sich  mit  logischer  Stringenz  kein  Grund  der  Tätig- 
keit über  dieses  Subjekt  hinaus  denken ;  dieses  ist  damit  tätig  schlecht- 
hin; es  ist  selbsttätig.  Die  Spontaneität  als  inneres  Gesetz 
alles  Psychischen  ist  damit  gegeben. 

Die  Spontaneität  besteht  nun  aber  nicht  unbedingt.  Sie  ist  an 
zeitliche  Bestimmungen  gebunden.  Diese  zeitliche  Bedingtheit: 
daß  Psychisches  gerade  jetzt  und  so  sich  vollzieht,  und  dann  nicht 
oder  in  anderer  Weise,  kann  nicht  aus  dieser  Spontaneität  allein 
abgeleitet  werden.  Es  setzt  dies  vielmehr  wiederum  ein  Verhältnis 
zu  etwas  außer  ihr  voraus.  Nach  der  Definition  der  Spontaneität  kann 
dieses  vorausgesetzte  Verhältnis  kein  kausales  sein.  Es  kann  mithin 
nur  in  der  Auslösung  der  Wirksamkeit  dieser  Spontaneität  durch 
veranlassende  Reize,  also  in  einer  rezeptiven  Erregbarkeit  der 
Seele  bestehen.  Diese  beiden  funktionalen  Grundformen  alles  Psy- 
chischen: Rezeptivität  und  Spontaneität,  sind  die  konstitutiven 
Merkmale  dessen,  was  hier  Seele  genannt  wurde;  sie  müssen  sich  in 
jedem  einzelnen  möglichen  psychischen  Phänomen  und  Vollzug  als 
gemeinschaftliche  letzte  Fundamente  notwendig  vorfinden. 

Parallele  Merkmale  des  Organismenbegriffs. 

Die  Abhängigkeit  seelischen  Funktionierens  von  zeitlichen,  außer 
ihm  bestehenden  Bestimmungen,  welche  zur  Fassung  der  Rezeptivität 
führte,  war  ein  Punkt,  in  welchem  sich  Psychisches  an  Physisches 
anknüpfte.  Dieses  Verhältnis  läßt  sich  in  Analogie  denken  der  Er- 
regbarkeit organischer  Funktionen  durch  Reize,  etwa  der  ontogene- 
tischen  Keimesentwicklung,  dem  Wachstum  o.  dgl.  (Wie  denn 
überhaupt  die  Theoretik  der  allgemeinen  Biologie  außerordentlich 
viele  Analogien  zur  Theoretik  des  Psychischen  aufweist  —  man 
denke  an  die  Bestimmung  des  Organismenbegriffes  und  ihre  Struktur- 
ähnlichkeit mit  dem  Seelenbegriff  i) ;  auch  in  der  gleich  zu  entwickeln- 
den Dynamik  bestehen  solche  prinzipiellen  Ähnlichkeiten.)  Tendenz 
und  Vollzug  derartiger  organischer  Funktionen  steht  ihrer  spezi- 
fischen Art  nach  schon  durch  ihr  eigenes  Gegebensein  potentiell  fest ; 


1 )  Sie  ist  von  den  biologischen  Theoretikern  oftmals,  mindestens  implizit,  aner- 
kannt worden,  wenngleich  die  Definition  des  Lebens,  des  Organismus  durch  Psychi- 
sches seit  den  Tagen  des  klassischen  Idealismus  nicht  mehr  aufgenommen  wurde. 
Statt  dessen  gerade  in  der  neovitalistischen  Literatur —  unter  stillschweigender 
Hinnahme  der  theoretischen  Strukturgleichheit  —  oftmals  herbeigezogene  Hilfs- 
begriffe: so  der  EntelechiebegrLff.  Bei  Driesch  einmal  »das  Psychoid«  als  Prinzip 
des  Organismus  ( »Der  Vitalismus  als  Geschichte  und  als  Lehre«.  1906.  S.  220ff.), 
Klarere  theoretische  Darstellung  der  Beziehungen  in  »Philosophie  des  Organischen« 
(Gifford  lectures  IL    S.  293 ff.).    Dagegen  schlägt  er  in  »Die  Seele  als  elementarer 


Da«  Problem  der  Substantialität  cIoh  Set-ÜHchen.  141 

ob  sie  sich  aber  aktualisiert  oder  nicht,  hängt  von  d<*ni  jeweiligen 
Vorhandensein  oder  Felilen  dos  äußeren  forniativen  Keizes  o.  dgl. 
ab.  Der  Unterschied  zum  Psychischen  ist  liier  nur  der,  daß  Ijcim 
Organismus  Reiz  und  irritable  Funktion  der  gleichen  Sphäre  raum- 
zeitlichen Ablaufens  und  materieller  Subsistenz  angehören;  Ijeim  Ver- 
hältnis psychischer  Rezcptivität  zu  auslösenden  Heizen  aber  gehören 
beide  Komponenten  unter  Umständen  verschiedenen  Natursphären 
an;  erstere  der  psychischen,  letztere  der  körperlichen.  Ein  Kausal- 
vcrhältnis  Vieider  zueinander  ist  dann  unbestimmbar  und  unein- 
sichtig für  unsere  theoretische  Erkenntnis.  Wenn  also  der  Begriff 
einer  Erregung  oder  eines  Reizes  unvermeidlich  zu  dem  Begriff 
einer  Abhängigkeit  des  Psychischen  vom  Physischen  führt,  so  sind 
wir  doch  genötigt,  bei  diesem  Begriff  der  Abhängigkeit  als  einer  nicht 
weiter  gesetzlich  bestimmbaren  Tatsache  stehen  zu  bleiben.  Die 
Erregung  iK'zcichnet  nur  den  zeitlichen  Anfangspunkt  der  psychischen 
Tätigkeit  und  weist  uns  damit  auf  eine  Schranke  der  Psychologie  hin, 
über  die  wir,  der  Natur  un.seres  Erkenntnisvermögens  nach,  nicht 
hinaus  können.  Wir  müssen  diese  Schranke  in  unseren  naturwissen- 
schaftlichen Seelenbegriff  selbst  aufnehmen  und  die  Tatsache  psy- 
chischer Erregung  von  außen  auf  diese  Weise  negativ  Ix'stimmen. 
Daß  die  Seele  zur  Tätigkeit  von  außen  bestimmt  wird,  ist  eine  psy- 
chologische Tatsache.  Bleiben  wir  unserem  Vorsatz  gemäß  bei 
ihr  stehen,  so  können  wir  gemäß  dem  Gesagten  den  Zustand  der  Er- 
regung nicht  rein  passiv  denken,  sondern  als  psychisches  Geschehen 
ist  auch  er  eine  Tätigkeit  und  als  solche  innerlich  wahrnehmbar. 
Hiernach  ist  die  Eigenschaft  der  Rezcptivität  psychologisch  zu  be- 
stimmen als  eine  Fähigkeit  zur  Tätigkeit;  sie  ist  Bestimmbarkeit 
der  Seele  zur  Tätigkeit  durch  etwas  außer  ihr;  dies  aber  ist  eine 
psychische  Eigenschaft,  denn  zu  dieser  Bestimmbarkeit  gehört  mög- 
liche Tätigkeit,  die  Bestimmung  zur  Tätigkeit  ist  unmöglich  ohne 
eigene  Tätigkeit.  Hiermit  ist  ein  Problem  geklärt,  welches  für  die 
Tlieorie  der  Wahrnehmung  besonders  große  Bedeutung  haben  wird. 
Das  Verhältnis  von  Rezcptivität  und  Spontaneität  in  der  Psyche 
bedarf  ebenfalls  noch  näherer  Bestimmung,  hinsichtlich  der  Art  und 
Wei.se,  ob  sich  in  innerer  Erfahrung  feststellen  läßt,  was  an  den  ein- 
zelnen psychischen  Funktionen  dem  einen  und  dem  anderen  angehört. 
Unabhängig  von  der  Rezcptivität  besteht  bloß  die  Möglichkeit  psy- 
chischer Spontaneität,  und  zwar  sowohl  üljerhaupt  als  auch  bereits 
in  l)estimn»ter  Art  und  Weise.  Abhängig  von  der  Rezcptivität  ist 
jedoch  die   Wirklichkeit   aller  psychischen   Tätigkeit    und  der  Grad 

Naturfaktor«  1903  methodisch  den  umpekehrton  Weg  ein:  nämlich  den,  wis.'^on- 
ßchaftstheoretischo  Be.stimiminpen  über  da.s  Psyehisehe  auf  der  heterolopen  Basia 
des  Orpaiiismenbegriffes  anzustreben,  unter  Ziirüekstellunp  psycholopi.selier  Sta- 
tuierunpen.  Über  derartige,  in  der  Biolopie  nicht  seltene  Tendenzen  sehr  fein 
Karl  (\  Schneider.  Tierpsycholopisches  Praktikum.  1912.  S.  Ul.r.^Off.  rnsor 
Standpunkt  dtvkt  sich  mit  den  .Ausfühmnpen  von  ('laßen  (Jahrbuch  d.  Hamburp. 
wisscnsch.  .Vnstaltcn.  XVllI.  1901)  und  vor  allem  den  trefflichen  Darlegungen 
von  K.   -Mbrecht,  Vorfragen  der  Biologie.    1899. 


142     Über  die  wissensohaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

der  Stärke  derselben.  Wir  müssen  daher  in  jeder  psychischen  Funk- 
tion beide  Fundamentalfunktionen  real  vorfinden,  und  zwar  zu  dieser 
Funktion  vereinigt.  Dies  hindert  keineswegs,  an  jeder  psychischen 
Funktion  ihren  Anteil  gesondert  zu  betrachten.  Es  ist  das  die  Aufgabe 
der  Abstraktion,  und  es  muß  nur  der  Irrtum  vermieden  werden,  diese 
abstraktive  Trennung  als  etwas  real  mögliches  zu  denken. 


4.  Einführung  in  die  Probleme  der  psychischen  Kansalität. 
Der  Begriff  der  psychischen  Funktion. 

Präzisierung  des  Standpunktes  zum  Kausalproblem. 

Das  Kausalproblem  im  Psychischen  ist  von  Kants  Zeiten 
an  das  schwierigste  und  umstrittenste  einer  jeden  theoretischen  Psycho- 
logie gewesen.  Soll  die  Sachlage  nicht  noch  mehr  verfahren  werden, 
als  sie  es  bei  der  unabsehbaren  Vielfältigkeit  der  Standpunkte,  von 
denen  dieses  Problem  schon  betrachtet  wurde,  allmählich  geworden 
ist,  so  tut  eine  möglichst  präzise  und  eindeutige  Gedankenführung 
not.  Dabei  muß  aber  auf  die  Begründung  jedes  einzelnen  ihrer  In- 
halte genau  geachtet  werden. 

Wir  lehnen  hier  von  vornherein  alle  Ableitungen  ab,  welche  zum 
Problem  der  psychischen  Kausalität  von  irgendeinem  empiristischen 
Standpunkt  gemacht  worden  sind  und  gemacht  werden  könnten. 
Das  Ergebnis  solcher  Ableitungen  könnte  an  sich  zwar  richtig  sein, 
jedoch  die  Ableitungen  selber  wären  durch  ihre  empiristischen  Vor- 
aussetzungen, die  wir  für  fehlerhaft  halten,  nicht  verbürgt.  Damit 
entfällt  für  uns  jede  im  weitesten  Sinne  konventionalistische  Auf- 
lösung der  Kausalität,  von  Hu  me  an  bis  auf  Mill  und  die  Modernen  i). 
Ferner  entfällt  der  neuerdings  gemachte  Versuch,  den  Kausalbegriff 
durch  den  Energiebegriff  zu  definieren,  denn  letzterer  ist  der  spe- 
ziellere und  nicht  der  allgemeinere  Begriffe).  Endlich  entfällt  die 
neueste  Schöpfung  logischer  Unreife  und  theoretischen  Dilettantis- 
mus, welche  gerade  in  der  Medizin  Anklang  gefunden  hat,  der  Kon- 
ditionalismus 3). 


1)  Hierüber  hat  Bergmann,  Der  Begriff  der  Verursachung  und  das  Problem 
der  individuellen  Kausalität  (Logos.  Bd.  5.  S.  83 ff.)  ganz  in  unserm  Sinne  triftige 
Argumente  beigebracht. 

2)  So  von  psychiatrischer  Seite  Fankhauser,  Ztschr.  f.  d.  ges.  Neurol.  und 
Psych.    Bd.  29.    S.  201  ff. 

3)  Es  ist  sehr  bedauerlich,  daß  diese  »strahlend  helle«  »Weltanschauung«  ' — 
als  die  sie  ihr  Autor  ausgibt  —  einem  so  hervorragenden  Fachforscher  wie  Verworn 
ihre  Entstehung  zu  verdanken  hat  (Die  Erforschung  des  Lebens.  Jena  1911. 
Kausale  und  konditionale  Weltanschauung.  Jena  1912).  Noch  bedauerlicher  ist 
die  Anmaßung,  mit  der  dieser  gewiß  hochverdiente  Physiologe  bei  der  Schöpfung 
seines  Geisteskindes  über  alle  Leistungen  der  philosophischen  Analyse  mit  hoch- 
fahrenden Redensarten  hinwegzugehen  sich  vermißt,  gleich  als  hätte  diese  Wissen- 
schaft, in  den  »mystischen«  Ursachen  Vorstellungen  aus  der  Zeit  »am  Ausgang 
des  Paläolithikums  und  Neolithikums«  befangen,  über  Aristoteles,  Hume, 
Kant  und  die  andern  kleinen  Geister  hinweg  erst  auf  ihn  gewartet,  um  endlich 


Einführung  in  diu  Problome  der  psychiiichen  KausaliUit  tuiw.  14.'^ 

Wenn  wir  nun  auch  von  einem  theoretischen  Standpunkt  »u«- 
gehen,  der  dem  Kanti.schen  überau«  nahe  kommt,  ho  mÜHHcn  wir 
andererseits  uns  gerade  hinsichtlich  der  Kausalität  und  Wechsel- 
wirkung —  beides  geliort  eng  zusammen  —  wie  sie  seine  rationa- 
listischen Schüler  vielfach  für  die  Psychologie  entwickelt  haben, 
tunlichst  unabhängig  halten.  Den  allgemeinpiiilosophischen  End- 
absichten dieser  Denker  genügte  es  in  der  Kegel,  grundsätzlich   »die 


mit  dem  Lichte  dfr  Wahrheit  beglückt  zu  werden.  Em  ist  nach  allzuvielen  trüben 
Erfahrungen  begreiflich,  wenn  der  Naturforscher  —  wenigstens  der  der  älteren 
Generation  -  auf  die  Philosophie  gleichsam  mitleidig  herabsieht.  Aber  wenn  er 
schon  nicht  zu  der  Einsicht  fähig  ist,  daß  dies  seiner  eigenen  Forschung  zum 
Schaden  gereicht  (wenngleich  vielleicht  nicht  sofort  und  unmittelbar):  so  sollte 
er  doch  dem  Argument  zugänglich  sein,  daß  viel  größer  als  die  Blamage  des  (imagi- 
nären !)  Philosophen,  der  spekulativ  die  Natur  korrigieren  will,  die  Blamage  des 
tüchtigen  Naturforschers  ist,  wenn  er  auf  das  philosophische  Eis  tanzen  geht  und 
sich  vor  den  verachteten  Philosophen  dabei  belachenswerte  Blößen  gibt.  Gerade 
für  Männer  vom  lYpus  Verworn  sind  die  Worte  Lotzes  geschrieben,  die  wir 
in  der  Einleitung  dieses  Buches  zitierten:  »Der  Genialität  unserer  Forscher  mag 
das  schöne  Verdienst  beschieden  sein,  den  Grundsätzen  durch  individuellen  .Scharf- 
sinn eine  Reihe  wichtiger  Anwendungen  abzugewinnen;  in  bezug  auf  die  Grund- 
sätze selbst  dagegen  müssen  sie  mit  Aufgebung  subjektiver  Neigungen  sich  zu  der 
aufrichtigen  Stellung  eines  Lernenden  verstehen. « 

Ich  schreibe  dies  nicht  um  Verworns  willen,  von  dem  die  Einnahme  dieser 
Stellung  gewiß  nicht  in  Aussicht  stünde,  auch  wenn  man  mit  Engelszungen  spräche. 
Er  ist  mir  nur  der  hervorragendste  Repräsentant  eines  Forschertypus,  gerade 
auch  hinsichtlich  seiner  Tendenz,  in  philosophicis  Stellung  zu  nehmen.  Unter  den 
Vertretern  dieses  Forschungstypus  aber  gibt  es  solche,  die  ihr  fachUcher  Ruf  noch 
nicht  mit  dem  Aberglauben  »weltanschaulicher«  Unfehlbarkeit  erfüllt  hat;  und 
unter  ihnen  sind,  wie  ich  hoffe,  viele  medizinische  und  psychiatrische  Fachgenossen. 
An  sie  ergeht  Lotzes  Mahnung,  zu  deren  Sprachrohr  diese  Zeilen  sich  machen, 
und  die  am  Beispiel  Verworns  ihre  warnende  Bestätigung  findet. 

Sachlich  ist  zur  Argumentation  Verworns  etwas  zu  bemerken  kaum  der 
Mühe  wort.  Er  behauptet,  wenn  ich  ihn  recht  verstehe,  der  philosophische  Ur- 
sachenbegriff schließe  die  Singularität  der  L^rsächlichkeit  im  Realfalle  als  konsti- 
tutives Merkmal  ein  ■ —  was  keinem  Philosophen  eingefallen  ist  zu  behaupten. 
Daher  ■ —  infolge  der  realen  Pluralität  von  Ursachen  —  substituiert  er  dem  Ur- 
sachenbegriff zwar  nicht  den  Begriff,  wohl  aber  das  Wort  »Bedingung«-  Denn 
um  diese  Substitution  zu  ermöglichen,  muß  er  den  Bedingungsbegriff  seiner  wesent- 
lichen Charaktere  entkleiden  —  wie  schon  der  als  Forscher  und  Denker  gleich 
geniale  W.  Roux  ihm  nachwies  (Über  kausale  und  konditionale  Weltanschauung 
und  deren  Stellung  zur  Entwicklungsmechanik.  Leipzig  1913).  Er  verwendet 
also  das  Wort  »Bedingung«  dann  für  denjenigen  Begriff,  den  man  bisher  mit  dem 
Worte  »Ursache«  bezeichnet.  Aber  auch  diese  terminologische  Leistung  verwischt 
er  wieder  durch  seine  Erfindung  von  der  Äquivalenz  aller  Bedingungen  eines  Vor- 
ganges: ein  Vorgang  ist  gleich  der  Summe  seiner  Bedingungen.  Er  verwechselt 
also  die  Gleichheit  der  Notwendigkeit  mit  der  Gleichheit  des  bewirkenden  Ein- 
flusses. Roux  hat  mit  der  nötigen  herzerfrischenden  Schärfe  sowohl  diese  Kon- 
fusion aufgedeckt  als  auch  gezeigt,  daß  die  Forschung  bei  dieser  Annahme  der 
Äquivalenz  ins  »absolute  Dunkel«  steuert,  »in  dem  nichts  erkennbar  ist«.  Er 
bedauert  »die  Gemeinde  der  Getäuschten,  durch  die  unrichtigen  Angaben  und 
Argumentationen  des  Autors  Irregeführten«. 

Vgl.  hierzu  auch  die  ausgezeichneten  Ausführungen  des  Mediziner»  Martin» 
in  »Konstitution  und  Vererbung  in  ihren  Beziehungen  zur  Pathologie«,  Berlin  1914, 
S-21ff.,  die  den  Konditionalismus  gerade  in  Biologie  und  Medizin  tu  erledigen 
berufen  sind. 


144     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Ursache«  zu  allem  Psychischen  als  auszeichnende  Eigenschaft  des 
Wesens  der  Seele  zu  deduzieren.  Damit  ist  für  sie  das  Kausalproblem 
im  Psychischen  erledigt,  und  sie  wenden  sich  dann  den  »höchsten« 
Wirkensweisen  desselben,  den  »vernünftigen«,  zu.  Dieser  unpsycho- 
logische Intellektualismus  hat  die  moderne  Forschving  aber  mehr, 
als  billig  war,  abgehalten,  sich  mit  den  scharfsinnigen  und  präzisen 
Studien  zur  Grundlegung  psychologischer  Theoretik  überhaupt  zu 
befassen,  welche  jenen  Denkern  zu  verdanken  ist. 

Ursache  und  Kraft. 

Zustandsänderungen  werden  kausal  erklärt.  Zustandsänderungen 
werden  durch  Vergleichung  der  zuständlichen  Beschaffenheiten  zweier 
Zeitpunkte  erkannt.  Das  Schema  des  Ansatzes  der  Kausalkategorie 
ist  die  Veränderung  in  der  Zeit.  Da  alles  psychische  Geschehen  eben 
ein  Geschehen  ist,  d.  h.  Vergleichung  der  zuständlichen  Beschaffen- 
heiten verschiedener  Zeitpunkte  im  Psychischen  immer  Verände- 
rungen ergibt,  so  folgt,  daß  zur  theoretischen  Erkenntnis  dieses  Ge- 
schehens die  Kausalkategorie  (und  die  der  Wechselwirkung)  an- 
gesetzt werden  muß.  Ob  es  psychische  Kausalität  gibt,  ist  also 
überhaupt  kein  Problem;  dies  beginnt  erst  mit  ihrer  näheren  Be- 
stimmung. Die  Bestimmung  ist  nun  eine  mehrfache  und  muß  vom 
allgemeinen  zum  besonderen  sukzessive  entwickelt  werden.  All- 
gemein sahen  wir  schon  vorher,  daß  die  fundamentale  Formeinheit 
alles  Psychischen,  die  wir  als  identisches  Subjekt  aller  erscheinenden 
veränderlichen  Abläufe  erkennen  und  mit  dem  Terminus  Seele  be- 
legen, als  Subjekt  von  Tätigkeiten  und  mithin  als  Wirkendes,  als 
Ursache  bestimmt  werden  muß.  Diese  Ursache  läßt  sich  in  über- 
tragenem Sinne  dem  Kraft  begriff  einreihen.  Die  schematisierte 
Ursache  nämlich,  also  ein  wirkliches  Dasein,  insofern  es  der  Grund 
einer  Veränderung  ist,  bildet  den  Definitionsinhalt  des  Begriffes  der 
Kraft  im  wissenschaftstheoretischen  Sinne.  Der  so  definierte  Kraft- 
begriff wäre  nun  auch  von  dem  inneren  Formprinzip  alles  Psychischen 
aussagbar.  Jedoch  nur  in  einem  in  mehrfacher  Hinsicht  übertrage- 
nen Sinne. 


Modifikationen  des  Kraftbegriffs  im  Psychischen. 

Einmal  nämlich  ist  im  Psychischen  die  mathematische  Bestimm- 
barkeit kausaler  Beziehungen,  Vergleich  und  Messung  von  Kräften, 
quantitative  Gesetze  zwischen  Kräften  und  Wirkungen,  und  Trans- 
formation der  Kraftformen  —  also  alles,  was  dem  Kraftbegriff  der 
physikalischen  Natur  seine  zentrale  Bedeutung  verleiht  —  unmöglich. 
Vom  Energiegesetz  bis  zu  Newtons  einfachen  Formeln  und  vielleicht 
sogar  dem  causa  aequat  effectum  sind  Aussagen  über  mathematisch 
konstruierbare  quantifizierende  Bestimmungen  wider  die  Natur  der 
Erkenntnis  vom  Psychischen  zuwiderlaufend  — ,  weil  es,  wie  schon 


Kinfubrun^  in  die  Probleme  der  paychischen  Kausalität  tuiw.  145 

mehrfach    betont,    kein   exlenHives    XebeiieinautlLr   aLs   Sclicnia    dti 
Anwendung  des  Kraft Ixjgriffes  im  Psychischen  gibt»). 

Ferner  werden  wir  für  den  Ursachenlxjgriff  im  strengen  Sinne, 
wie  wir  sehon  salien,  auf  den  der  Selbsttätigkeit  zurückgeführt.  Wir 
bezeichneten  diese  ja  Ix-reits  als  Ursache  des  ersclieinenden  Psychi- 
Hchen;  und  von  ihr  stellten  wir  ex  definitionc  fest,  daÜ  sie  psycho- 
logisch nicht  weiter  »verursacht «,  aber  in  ihrem  Ursächlichwerden 
an  die  Bedingung  von  erregenden  Reizen  gebunden  ist.  Diese  Bin- 
dung gibt  ihrerseits  weitere  Fragen  auf,  die  sich  für  eine  Dynamik 
des  Psychischen  als  entscheidend  herausstellen  werden,  aber  von 
der  Kant  ischen  und  Xaclikunt  ischen  Psychologie  in  ihrer  Bedeutsam- 
keit nicht  gesehen  worden  sind.  Wir  kommen  darauf  noch  in  dieser 
Abhandlung  ausführlich  zurück;  zunächst  verbleiben  wir  noch  bei 
dem  Ursächlichkeitscharaktcr  der  Spontaneitätsweisen  selber  stehen. 
Vom  physikalischen  Kraftbegriff  gilt,  daß  er  der  für  sich  zureichende 
(Jruiid  einer  Veränderung  ist;  wo  Kraft  ist,  muß  die  Veränderung 
folgen,  wenn  der  Gegenstand  der  Einwirkung  gegeben  ist;  wird  da.>- 
Dasein  der  Kraft  angenommen,  so  ist  auch  das  Dasein  der  durch  sie 
erwirkten  Veränderung  hinreichend  und  mit  Notwendigkeit  erklärt. 
Im  Psychischen  aber  ist  diese  Ursache  eine  bedingte  —  nämlich 
tlurch  ihre  Anregung  erst  zur  Aktualität  gelangende.  Mithin  wäre 
ein  hiernach  anzuwendender  Kraft  begriff  duroli  das  Merkmal  dieser 
Bedingtheit  und  Abhängigkeit  eingeschränkt.  Endlich  ist  —  als 
dritter  Unterschied  zum  Physischen  eine  Wirkung  dieser  Kraft  im 
Psychischen  über  die  inimittelbar  erwirkte  seelische  Tätigkeit,  näm- 
lich über  das  Funktionieren  der  psychischen  Funktion,  der  wir  diese 
Kraft  zuschreiben,  hinausgehend  psychologiscii  nicht  vorhanden. 
(Aber  freilich  kann  der  Vollzug  der  einen  Funktion  auslö-sende  An- 
regung zum  Vollzuge  weiterer  Funktionen  sein.) 

Der  Funktionsbegriff   im   Psychischen. 

Diese  grundlegenden  Unterschiede  im  Kraftbegriff  der  physischen 
und  psychisclien  Natur  legen  es  uns  nahe,  von  der  Anwendung  des 
Terminus  Kraft  auf  psychisches  Geschehen  sensu  stricto  keinen 
Gebrauch  zu  machen^).  Allerdings  liegen  diese  Unterschiede 
nicht  in  dem  wissenschaftstheoretischen  Merkmalen  des  Kraft l:)egriff es, 
sondern  nur  in  den  Bedingungen  seiner  psycltologischen  Schematis- 
men. Das  Korrelat  des  Kraft  begriffes  der  Physik  wies  im  Psychischen 
bei  den  Kantischen  Psychologen  bereits  diese  drei  Unterschiede  auf 


»)  Bleuler  (Psj'chischo  Kausalität  und  Willensakt.  Ztschr.  f.  P.\vchol.  1914. 
8.42)  behauptet  ilie  (Jeltung  des  Knerui' pe.sctzcs  im  Ps^ychischen  und  hält  dieeo 
Frage  fiir  »ine  solehe  von  einpiristber  Kntsrheidbarkelt.     Das  ist  irrig. 

*)  .Mit  dieser  Kinschränkung  stt-llcn  wir  uns  nicht  etwa  auf  den  Boden  der 
Nator])scluii  uTundsätzIichen  Ablehnung  tles  Begriffs  psychischer  Kräfte,  die 
auf  haltlosen  Dekreten  ohne  (Iründliebkeit  beruht  (Allgem.  Psychologie.  1.  1912. 
S.  266). 

KruQfeld,  FaychUtrUcbe  ErkenDtnla.  10 


146     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

lind  wurde  von  ihnen  als  Vermögen  der  Seele  bezeichnet.  Hier- 
unter wurde  verstanden:  die  bedingte  Ursächlichkeit  psychischen 
Ablaufens,  ferner  eine  Tätigkeit,  die  den  Grund  ihres  Vollzuges  in 
sich  selber  trug,  ferner  auch  die  selbsttätige  Veränderung  ihrerseits 
in  der  Weise  ihres  sich  Vollziehens.  Schon  diese  Unklarheiten  führten 
zu  heftigem  Streit  um  den  Begriff  Vermögen;  seine  Bedeutungen 
wurden  in  der  Folge  noch  verwaschener.  Um  dem  ganzen  Streit 
über  den  Vermögensbegriff  und  allen  hierauf  bezüglichen  Mißver- 
ständnissen aus  dem  Wege  zu  gehen,  ersetzen  wir.  ihn  durch  den  auch 
bisher  von  uns  schon  in  diesem  Sinne  verwendeten  Begriff  der  psy- 
chischen Funktion.  Wir  erklären  dabei  ausdrücklich,  daß  wir 
jede  andere  Bedeutung  des  Funktionsbegriffes  im  Psychischen  für 
unsere  ferneren  Darlegungen  ablehnen  i).  Wir  bezeichnen  also  mit 
dem  Terminus  Funktion  das  Ergebnis  unserer  bisherigen  Deduk- 
tionen: Funktion  ist  der  Inbegriff  der  psychologischen  Vorbedin- 
gungen des  Vollzuges  seelischer  Abläufe,  welche  ihrer  Seinsweise 
nach  jeweils  zu  gleichen  Klassen  gehören.  Also  nicht  das  Ablaufen, 
das  Funktionieren  selber,  das  was  wir  als  Akt  bezeichnen  wollen, 
sondern  den  Grund  seiner  Möglichkeit,  abgesehen  vom  Anlaß  seiner 
Verwirklichung,  nennen  wir  Funktion.  Und  wir  bestimmen  diesen 
Grund    der    Möglichkeit    seelischen    Funktionierens    wissenschafts- 


1)  Ganz  und  gar  nichts  zu  schaffen  hat  also  dieser  Funktionsbegriff  mit 
irgendwelchen  mathematischen,  logischen  und  »gegenstandstheoretischen«  Kon- 
zeptionen in  der  Literatur,  welche  ebenfalls  den  Terminus  s-Funktion«  bean- 
spruchen, in  einzelnen  Fällen  sogar  den  der  »intentionalen  Funktion«  (Russell). 
Aber  auch  innerhalb  der  eigentlichen  Sphäre  der  Psychologie  und  Phänomenologie 
ist  der  Funktionsbegriff  bereits  mannigfach  —  und  in  divergierenden  Richtungen  — 
durch  theoretische  und  fiktive  Konjekturen  belastet.  Er  bedeutet  etwas  anderes 
in  der  Brentanoschule,  etwas  anderes  bei  Stumpf,  etwas  anderes  bei  Husserl. 
Wir  lehnen  es  ab,  unsere  Fassung  mit  diesen  Konzeptionen  vermengt  zu  sehen. 
Dabei  verkennen  wir  die  weitgehende  Ähnlichkeit  nicht,  die  Husserls  Funktions- 
begriff mit  dem  unsrigen  aufweist  —  nur  daß  er  ihn  rein  phänomenologisch  ent- 
wickelt und  ständig  in  eine  ungeklärte  Relation  zum  »Bewußtsein  «  setzt,  von  der 
wir  hier  nichts  aussagen.  Auch  wir  halten  die  Durchbildung  des  Funktionsbegriffes 
für  ein  Zentralproblem  der  eigentlichen  Phänomenologie.  Hier  geben  wir  nur  den 
Ursprung  seiner  Notwendigkeit  im  Rahmen  rationaler  Wissenschaftstheorie  als 
Grund  der  Möglichkeit  psychologischer  Theorie  überhaupt  an,  entwickeln  aber 
noch  nicht  seine  Strukturen  und  Qualitäten.  Eine  derartige  zentrale,  »transzen- 
dentale «  Ableitung  und  Notwendigmachung  des  Funktionsbegriffes  für  alle  phäno- 
menologische Deskription  fehlt  bei  Husserl,  zum  Schaden  der  Systematik  seiner 
phänomenologischen  Aufstellungen,  die  auf  diese  Weise  den  Anschein  willkürlicher 
Inventionen  erwecken.  Zu  Unrecht  freilich  !  Er  hat  sachlich  völlig  unsern  Beifall, 
und  schwebt  doch  theoretisch  ganz  in  der  Luft  des  Dekretierens,  wenn  er  schreibt  — 
was  wir  nunmehr  zu  begründen  vermögen  — :  »Der  Gesichtspunkt  der  Funktion 
ist  der  zentrale  der  Phänomenologie,  die  von  ihm  ausstrahlenden  Untersuchungen 
umspannen  so  ziemlich  die  ganze  phänomenologische  Sphäre  .  .  .  An  die  Stelle 
der  an  den  einzelnen  Erlebnissen  haftenden  Analyse  und  Vergleichung,  Deskription 
und  Klassifikation,  tritt  die  Betrachtung  der  Einzelheiten  unter  dem  »teleo- 
logischen« Gesichtspunkte  ihrer  Funktion,  »synthetische  Einheit«  möglich  zu 
machen«  (Ideen  usw.  Jahrbuch,  a.  a.  O.  S.  176).  Wir  rechtfertigen  Husserls 
bloße  Behauptung  durch  die  Wissenschaftstheorie.  —  Im  übrigen  wird  der  Funk- 
tionsbegriff noch  in  der  Phänomenologie  seine  weitere  Erörterung  finden. 


Einführung  in  die  Probleme  der  pHychibclien  Kuumilitut  uhw.  147 

theoretisch  als  Bereitschaft  oder  Tendenz  oder  »Fähigkeit«  des  P«y- 
cliischen,  den  Grund  zu  ihrer  Verwirklichung  in  einem  durch  nie 
als  Tätigkeit  gewirkten  seelischen  Sichvollziehen  in  sich  sellx;r  zu 
tragen,  jedoch  hei  der  Verwirklichung  an  auslösende  Erregungen 
gebunden  zu  sein.  Der  Clrinid  der  Verwirklichung  des  durch  sie 
bewirkten  seelischen  Sichvollziehens  erstreckt  sich  nicht  nur  auf  da« 
Sein  und  Geschehen  dieses  Vollzuges,  sondern  auch  auf  seine  Be- 
schaffenheit, auf  das  Wie  seines  Seins.  Schon  hieraus  folgt  die  Not- 
wendigkeit einer  Vielzahl  hypostasierter  Funktionen. 

Das   Prinzip  der  Unterscheidung   von   psychischen 
Funktionen. 

Sie  zu  unterscheiden  und  aufzufinden,  ist  im  einzelnen  Sache 
des  seelischen  Erfahrens  selber.  Es  gibt  keine  apriorischeSyste- 
matik  der  möglichen  oder  der  vorhandenen  psychischen 
Funktionen.  In  derartigen  willkürlichen  Statuierungen,  die  den 
Charakter  der  materialen  Psychologie  als  Erfahrungs Wissenschaft 
übersehen,  bestand  ein  Grundfehler  nicht  nur  der  vorkantischen 
rationalen,  sondern  auch  der  nachkantischen  systematischen  und 
intellcktualistischen  Psychologie.  Eine  Funktion  muß  für  jede  in 
der  Erfahrung  aufgefundene  Klasse  von  psychischen  Abläufen  als 
Grund  ihrer  psychologischen  Möglichkeit  substituiert  werden.  Die 
Auffindung  derartiger  Klasseneinheiten  psychischer  Vollzüge  ist  eine 
methodologische,  später  besonders  zu  behandelnde  Frage,  bei  welcher 
es  das  Verliältuis  der  Abstraktion  zur  Induktion  und  beider  zu  ihren 
leitenden  Maximen  zu  erörtern  gilt.  Da  aber  die  einzelnen  leitenden 
Maximen  ihrerseits  aus  regulativen  Prinzipien  herstammen  müssen, 
welche  der  Wissenschaftslehre  des  Psychischen  und  ihren  Grund- 
sätzen entnommen  sind,  so  sind  wir  vor  der  Notwendigkeit,  das 
regulative  Prinzip  zur  Auffindung  von  Funktionen  schon  hier,  in  der 
Wissenschaftstheorie  selber,  zu  entwickeln.  Es  folgt  analytisch 
aus  dem  Begriff  von  Tätigkeit,  welcher  dem  Vollzuge  der  Funktionen 
insgesamt  als  konstitutives  Merkmal  angehört,  wie  wir  schon  be- 
gründet  haben. 

Tätigkeit  nämlich  erstreckt  sich  ihrem  Wesen  nach  immer  auf 
Etwas,  hat  ein  Ziel,  bezieht  sicli  auf  einen  Gegenstand.  Wenn  wir 
von  ziellosem  Tun  reden,  so  drücken  wir  uns  ungenau  aus;  in  solchem 
Falle  ist  uns  Dasjenige,  in  bezug  auf  welches  dieses  Tun  ein  Tun  ist, 
nicht  erkennbar  oder  bestimmbar.  Der  Begriff  des  Tuns  aber  ohne 
das  korrelative  Objekt,  in  bezug  auf  welches  das  Subjekt  des  Tuns 
in  jenem  Begriff  als  tätig  ausgesagt  wird,  hat  keinen  Sinn.  Von 
diesem  Objekt  ist  l>egrifflich  weiter  nichts  zu  fordern,  als  daß  es  durch 
den  Vollzug  der  Tätigkeit  für  das  tätige  Subjekt  zu  einer  durch  die 
Tätigkeitsweise  bestimmten  Gegebenheit  gelange.  Der  Tätigkeits- 
begriff erfordert  also  analytisch  den  eines  potentiellen  Objektes,  in 
bezug  auf  welches  die  sich  realisierende  Tätigkeit  ein  Tun  ist. 

lü- 


148     Über  die  wissenschaftstheoretisclien  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Ist  dies  eingesehen,  so  ergibt  sich  die  Anwendung  auf  die  psychi- 
schen Funktionen  leicht.  Es  liegt  dann  in  ihrem  Begriffe,  daß  die 
Verwirklichung  ihres  Vollzuges  dem  Subjekt  dieses  Funktionierens, 
dem  »Ich«,  die  Beziehung  auf  ein  Etwas  vermittle^).  Und  dieses 
Etwas  wird  zum  Etwas  durch  den  Vollzug  der  Funktion,  je  nach  der 
Weise,  in  welcher  sie  es  für  das  »Ich«  zum  Etwas  bestimmt.  Die 
potentielle  Gegenstandsbestimmung  ist  also  ein  Wesens- 
merkmal aller  psychischen  Funktionen,  dessen  wissenschaftstheore- 
tischer Grund  in  dem  Begriff  der  Spontaneität  selber  beruht.  Wir 
finden  hier  abermals  Brentanos  Definitionsmerkmal  alles  Psychi- 
schen, den  objektivierenden  Charakter,  die  intentionale  Inexistenz^), 
als  wissenschaftstheoretisch  notwendig  bestätigt.  Damit  haben  wir 
alle  Kriterien  Brentanos  für  das  Wesen  des  Psychischen,  welche 
er  nur  empirisch  gültig  sah,  der  Zufälligkeit  ihres  empirischen  Cha- 
rakters entkleidet  und  am  Wesen  des  Psychischen  wissenschafts- 
theoretisch  verankert  s). 

Dann  aber  folgt  weiter:  es  muß  so  viele  psychische  Funktionen 
geben,  als  es  Weisen  gibt,  durch  welche  dem  psychologischen  Sub- 
jekt ein  Objekt  gegeben  werden  kann.  Denn  die  Weisen  des  Ge- 
gebenseins von  Objekten  für  das  Ich  sind  ja  das  Ergebnis  des  Voll- 
zuges der  jeweils  realisierten  Funktion.  So  viel  Arten  also  in  der 
psychischen  Beziehung  des  Ich  auf  Objekte  auffindbar  sind,  so  viel 
verschiedene  Funktionen  sind  als  der  Grund  der  Möglichkeit  dieser 
jeweiligen  Beziehung  anzusetzen.  Auch  dies  Kriterium  rührt  in  etwas 
anderer  Fassung  von  dem  Genius  Brentanos*)  her;  Husserl  hat 
es  übernommen.  Die  Weisen  der  zu  fundierenden  Beziehungen  aufs 
psychologische  Subjekt  dürfen  ihre  Verschiedenheiten  nicht  den 
Verschiedenheiten  der  Objekte  verdanken,  welche  sie  dem  Subjekt 
geben;  sie  müssen  vielmehr  vmabhängig  von  ihnen  sein;  nur  dann 
entspricht  ihnen  jeweils  eine  besondere  Funktion.     Damit  ist  nicht 


1)  Von  »dem  Ich«  ist  hier  und  im  folgenden  vorläufig  bloß  in  dem  Sinne 
des  Subjektes  jeweiliger  funktionaler  Tätigkeit  als  einer  bloßen  Hypostasie - 
rung  ohne  weitere  psychologische  und  theoretische  Bestimmung  die  Rede. 

2)  Vgl.  oben  S.  132  dieses  Buches,  Anm.  1.  Über  den  Intentionsbegriff  später 
Genaueres  (vgl.  S.  339 ff.). 

3)  Mit  Ausnahme  seiner  Behauptung  vom  Vorstellungscharakter  des  Psy- 
chischen. 

*)a.  a.  O.  S.  248ff.,260ff.  Von  der  Klassifikation  der  psychischen  Phänomene. 
1911.  Kap.  1.  Die  Wichtigkeit  des  Brentanoschen  Klassifikationsprinzips  kann 
gar  nicht  hoch  genug  angeschlagen  werden. 

Kant  und  nach  ihm  Hamilton  und  Lotze  teilen  die  psychischen  Phäno- 
mene danach  in  Grundklassen  ein,  daß  die  einzelnen  Klassen  weder  auseinander 
ableitbar,  noch  auf  eine  dritte  gemeinsame  Klasse  zurückführbar  sein  dürfen 
(Kritik  der  Urteilskraft,  Einleitung,  III).  Hiergegen  wendet  Mill  ein,  diese  »Un- 
ableitbarkeit«  gelte  von  allen  unmittelbaren  Qualitäten.  Man  könne  auch  Rot- 
Bchen  nicht  auf  Blausehen  zurückführen.  Jede  einzelne  Farbe  sei  deshalb  letzte 
unabwendbare  Tatsache  (Deduktive  und  induktive  Logik.  Buch  III.  Kapitel  14. 
§  2).  Brentano  zeigt  nun  die  Ungereimtheit,  die  darin  liegt,  für  jede  einzelne 
Farbenquahtät  eine  besondere  unmittelbare  psychische  Grundfunktion  anzu- 
nehmen.    Der  an  sich  richtige,  aber  viel  zu  vage  Gedanke  der  Unableitbarkeit 


Einfühning  in  die  Probleme  der  psychischen  Kausalität  u»w.  149 

ausgeschlossen,  daß  es  nicht  im  Wesen  bcstiniinter  ()l)jekto  oder 
potentieller  Objekte  liegen  könnte,  dem  Ich  auch  nur  in  Vjcstimraten 
Weisen  gegeben  zu  werden,  also  die  Realisierung  adäquater  be- 
stimmter Funktionen  zu  erfordern. 

Alle  diese  Fragen  sind  Fragen  von  empirischer  Entscheidung; 
und  wir  werden  sie  später  in  der  Phänomenologie,  die  wir  für  eine 
empirische  Disziplin  halten  und  als  solche  rechtfertigen  werden, 
wieder  antreffen.  Hier  genügt  es,  die  allgemeine  Regel  zur  Auf- 
findung der  Funktionen  und  das  allgemeine  hinreichende  Kriterium 
für  die  besondere  funktionale  Fundierung  psychischer  Ablaufsweiseu 
wissenschaftstheoretisch  sichergestellt  zu  haben.  Wir  haben  damit 
den  einen  Weg  zur  riclYtigen  psychologischen  Anwendung  der  Kausal- 
kategorie gebahnt  1). 

Erörterung  von  Einwanden: 

Bevor  wir  aber  weiter  gehen,  ist  noch  eine  Klärung  des  bisher 
Erreichten  notwendig.  Durch  den  Einfluß  von  Herbart  und  Wundt 
ist  bekanntlich  die  Wolf f -Kantische  Vermögenstheorie  von  der 
gesamten  modernen  Psychologie  aufgegeben  worden.  Und  wenn  wir 
uns  auch  für  die  Bestimmung  und  Entwicklung  unseres  Funktions- 
begriffes frei  gemacht  haben  von  der  Vieldeutigkeit  des  alten  Ver- 
mögensbegriffes, so  treffen  doch  einige  Einwände,  welche  in  der 
Literatur  gegen  diesen  Vermögensbegriff  erhoben  worden  sind,  sach- 
lich auch  für  unseren  Funktionsbegriff  zu.  Solche  Einwände  können 
sich  richten  erstens  gegen  die  begriffliche  Fassung  selber,  zweitens 
gegen  die  Vielheit  der  Funktionen  und  drittens  dagegen,  daß  das 
unter  diesen  Begriffen  erfaßte  Psychische  eine  wirkliche  Realität, 
ein  einheitliches  psychisches  Gebilde  und  nicht  bloß  eine  willkürliche 
Abstraktion  darstellt. 


muß  mich  ihm  in  bestimmter  Weise  ausgebaut  und  eingeschränkt  werden;  die 
Einteihiiig  muU  aus  dem  Studium  der  psychischen  Phänomene  selbst 
hervorgehen.  Die  Einteihing  in  primitive  und  abgeleitete  Seelenerscheinungen 
(Bain)  ist  deshalb  unzweckmäßig,  weil  die  primitiven  Erscheinungen  da,  wo  sie 
selbständig  und  unabhängig  von  höheren  auftreten,  z.  B.  also  bei  Tieren,  nicht 
direkt  zu  beobachten  sind.  Nur  die  Klassifikation  wird  demnach  möglich,  welche 
die  verschiedenen  Beziehungen  zum  immanenten  Gegenstände  der 
psychischen  Tätigkeit  oder  die  verschiedem-n  Weisen  seiner  intentio- 
nalen  Existenz  zum  Einteilungsgrund  nimmt.  Die  innere  Erfahrung  i^t  hierbei 
Schiedsrichter,  der  im  Streit  über  Gleichheit  oder  Verschiedenheit  der  intentionalen 
Beziehung  allein  zum  Urteil  berechtigt. 

*)  Ähnliche  gnindi^ätzliche  Erwägungen  bei  Lotze,  Medizin.  Psychologie. 
I8ö2.  S.  151  ff.  Wenn  Hellpach  (Ztschr.  f.  Psychologie.  Bd.  18.  S.  338ff.),  der 
mit  Recht  die  Übertragbarkeit  der  Kausalgleichung  aufs  Psychische  venieint, 
daraus  auf  ein  Problematischwerden  der  Kausalität  selber  für  Psychisches  schließt, 
so  verwechselt  er  Kraftbegriff  und  Kausalbegriff.  Die  »Erfahningstatwche  des 
Zusaminenhängens«  seelischer  Erlebnisse  fordert  doch  irgendeine  notwendige  Er- 
kenntnisform, die  in  dir  Konstatiening  dieses  »Zusammenhängens«  schon  impliziert 
ist.  Welche  -  außer  der  kausalen  -  kennt  denn  Hellpach  noch  und  kann  ihren 
Rechtsgnuid  nachweisen? 


150     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

1.  Gegen  die  Konzeption  des  Begriffes  der  Funktion. 

Hinsichtlich  des  ersten  Einwandes  gegen  die  Konzeption  des 
Begriffes  der  Funktion  wiederholen  wir  nochmals  unseren  Ge- 
dankengang: Der  Kausalbegriff  ist  zur  Erklärung  der  psychischen 
Abläufe  eine  unvermeidliche  Notwendigkeit.  Seine  Abweisung  würde 
den  Anforderungen  aller  Naturwissenschaft  Hohn  sprechen.  An- 
dererseits fanden  wir,  daß  der  Kraftbegriff  aufs  Psychische  nicht  in 
seiner  wissenschaftstheoretischen  Bestimmung  anwendbar  ist.  Er 
muß  vielmehr  gemäß  dem  Wesen  psychischen  Ablaufens  umgeformt 
werden.  Für  das  Psychische  wurde  der  Begriff  einer  Kraft  erfordert, 
welche  unter  den  Bedingungen  der  Selbsttätigkeit  und  Anregbarkeit 
steht.  Ist  unsere  frühere  Deduktion  der  Sell^sttätigkeit  und  Anreg- 
barkeit richtig,  so  ist  es  auch  der  aus  ihr  abfolgende  Begriff  der  Funk- 
tion, welcher  den  einzig  möglichen  Kausalbegriff  für  seelische  Tätig- 
keiten darstellt,  für  die  kein  äußeres  Kausalverhältnis  möglich  ist. 
Unter  der  Substanzkategorie  fanden  wir  das  Formgesetz  des  Psy- 
chischen als  anregbare  Spontaneität,  unter  der  Kategorie  der  Ursache 
bestimmt  es  sich  näher  durch  den  Begriff  von  Funktionen.  So  läßt 
sich  Schritt  für  Schritt  die  Gültigkeit  des  Funktionsbegriffes  für  die 
Kausalerklärung  der  seelischen  Erscheinungen  aus  den  notwendigen 
Grundgesetzen  des  Psychischen  wissenschaftstheoretisch  entwickeln. 
Mithin  ist  dieser  Begriff  keine  Fiktion,  sondern  geht  auf  wohl  sub- 
stantierte  Realitäten. 

Wie  sich  aber  dieser  Funktions begriff,  der  als  wissenschafts- 
theoretische  Forderung  entwickelt  wurde,  zu  denjenigen  Begriffen 
von  Funktion  und  Akt  verhält,  deren  psychologische  Struktur  am 
sorgsamsten  von  Brentano,  Meinong,  Marty,  Husserl,  Messer 
und  V.  d.  Pfordten  und  ihren  Schülern  durchgebildet  wurde  — 
wenngleich  es  zu  einer  widerspruchsfreien  Klärung  nicht  kam  —  dies 
jniiß  späteren  Untersuchungen  dieses  Buches  vorbehalten  bleiben, 
welche  sich  auf  die  eigentliche  Funktionspsychologie  erstrecken. 

2.  Gegen  die  Vielzahl  psychischer  Funktionen. 

Der  zweite  Einwand  richtet  sich  gegen  die  behauptete  Vielzahl 
von  Funktionen.  Allerdings  muß  letzten  Endes  der  Funktions - 
begriff  auf  die  Einheit  alles  Psychischen  zurückbezogen  werden. 
Denn  diese  muß,  durch  den  Schematismus  des  reinen  Selbstbewußt- 
seins, als  das  Eine  Subjekt  aller  inneren  Tätigkeit  gedacht  werden. 
Somit  ist  dieses  Formgesetz  alles  Psychischen  letzten  Endes  in  der 
Tat  die  Eine  Grundquelle  aller  einzelnen  Funktionen.  Damit  ist 
aber  noch  nicht  entschieden,  daß  dieses  eine  Formgesetz  sich  nicht 
wieder  in  verschiedenen  vielfältigen  Funktionen  auswirken  könne, 
die  ihrer  jeweiligen  Qualität  nach  nicht  ineinander  überführbar  sind. 
Mit  ihrer  Annahme  braucht  andererseits  die  Einheitlichkeit  des  Psy- 
chischen durchaus  nicht  aufgehoben  zu  sein.  Wir  gehen  aus  von  der 
Verschiedenheit  der  psychisch  gegebenen  Tätigkeiten  mid  Vollzüge. 


Einführung  in  die  Probloine  der  psychischen  Kauiialität  u.-w.  I.'il 

Für  diese  suchen  wir  Krklürungsgründe.  Die  einzelneii  gefundenen 
Krklärungsgründe  werden  von  dem  genieinsurnen  identisclien  Subjekt 
alles  seelischen  (Jescheliens  als  dessen  Auüerungsweisen  ausgesagt. 
In  diesem  ganzen  Gedankengange  liegt  nirgends  eine  logische  Un- 
zulässigkeit, welche  einen  Zweifel  an  der  logischen  und  wissenschafta- 
theoretischeii  Bereclitigunj^  einer  Vielzahl  von  Funktionen  stützte. 
Es  liilit  sieh  aber  auch  direkt  nachweisen,  daß  es  eine  Vielzahl  solcher 
Funktionen  geben  muU.  liest  ünde  nämlich  das  psychische  Geschehen 
nur  aus  einer  einzigen  Funktion,  so  könnten  auch  deren  Wirkens- 
weisen immer  nur  von  einer  einzigen  Art  sein.  Es  könnte  keine 
(jualitativ  verschiedenen  inneren  Tätigkeiten  geben,  sondern  nur 
Verschiedenheiten  der  II^tensität.  Ferner  könnte  es  gar  keinen 
Wechsel  seelisclier  Tätigkeiten  in  der  Zeit  geben:  wäre  die  angebliche 
alleinige  Funktion  alles  Psychischen  einmal  zur  Tätigkeit  angeregt, 
so  könnte  sie  diesen  Tätigkeitszustand  nicht  aufgellen  oder  wechseln, 
solange  nicht  eine  andere  Ursache  einwirkt.  Diese  Ursache  könnte 
aber  nach  der  Definition  der  »Spontaneität  nur  wieder  eine  psychische 
sein.  Nun  besteht  aber  ein  derartiger  Wechsel  psychischen  Ge- 
schehens, Woher  sollte  dessen  psychische  Ursache  kommen,  wenn 
nicht  aus  einer  anderen  Funktion,  die  ja  als  Ursache  psychischer 
Veränderung  definiert  ist?  Die  vorausgesetzte  einzige  Funktion 
würde  psychologisch  nur  ganz  allgemein  bezeichnet  werden  können : 
als  die  allgemeine  Möglichkeit,  in  verschiedenen  und  immer  anderen 
Richtungen  zu  psj'chischer  Tätigkeit  bestimmt  zu  werden.  Dies 
wäre  aber  keine  wirkliche  psychologische  Beschreibung,  sondern 
nur  eine  leere  logische  Abstraktion,  aus  welcher  eine  reale  Erklärung 
der  verschiedenen  Arten  von  seelischer  Tätigkeit  nicht  möglich  wäre. 
Die  angebliche  Eine  Funktion  bestände  nur  in  dem  Begriff  der  Möglich- 
keit von  j)sychischer  Selbsttätigkeit  überhaupt,  denn  nur  dieser  bleibt 
nach  Abstraktion  von  allen  versciiiedenen  Qualitäten  der  Tätigkeiten 
übrig.  Aber  gerade  diese  verschiedenen  Qualitäten  sind  es,  die  durch 
die  Funktionen  erklärt  werden  sollen;  und  nur  durch  die  besondere 
Qualität  seiner  Tätigkeit  kann  der  Funktionsbegriff  jeweils  Realität 
erlialten.     Somit   nuiii  eine  Vielheit   von  Funktionen  bestehen. 

Welche  und  wieviele  Funktionen  in  Frage  kommen,  dies  freilich 
bestimmt  sich  nur  empirisch  nach  der  von  uns  angegebenen  Regel. 
Soweit  eine  Erklärung  psychischer  Tätigkeiten  aus  fundierenden 
anderen  Tätigkeiten  möglich  ist,  soweit  ist  auch  die  Annahme  berech- 
tigt, eine  V^ielzahl  von  Tätigkeiten  unter  der  Einheit  einer  funk- 
tionalen Erklärung  zusammenzufassen.  Und  nur  wo  Qualitäten  aL< 
unauflöslich  und  nicht  weiter  zurüekführbar  feststehen,  muß  eine 
Besonderheit  der  sie  fundierenden  Funktion  als  ursprünglich  ge- 
geben angenommen  werden.  Die  Funktionen  also  sind  die  Real- 
gründe und  Erklärungsgründe  für  die  inneren  Tätigkeiten:  diese 
letzteren  aber  sind  die  einzigen   Erkennt nisgründo  der  Funktionen. 

Die  Frage,  auf  welche  Weise  nun  die  einzelnen  Funktionen  in 
ihrer  Realität  erkannt  werden,  und  welches  die  Rechtsgründe  dieses 


152     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Erkennens  sind,  gehört  nicht  mehr  hierher;  sie  ist  eine  Teilfrage  der 
psychologischen  Analyse  und  ihres  Verhältnisses  zur  Phänomeno- 
logie. Hier  genügt  der  Nachweis,  daß  wissenschaftstheoretisch  nur 
eine  Vielzahl  von  Funktionen  der  psychischen  Realität  zu  genügen 
vermag. 

Über  die  Annahme   einer  einzigen  »psychischen  Kraft«, 

Unter  denjenigen,  welche  den  Kraftbegriff  im  Psychischen  auf 
eine  einzige  funktionale  Einheit  zugespitzt  haben,  übergehen  wir 
die  Rationalisten,  welche  dies  mit  der  Besorgnis  um  die  Einheit- 
lichkeit ihres  Seelenwesens  zu  rechtfertigen  suchten;  aber  eigen- 
artigerweise finden  wir  auch  einen  wirklichen  Psychologen  unter 
ihnen:  Lipps  hat,  im  Anschluß  an  Herbartsche  Gedankengänge, 
folgende  Formulierungen  entwickelt i):  »Die  psychische  Kraft  ist 
eine  einzige,  das  Eigentum  der  einheitlichen  Seele,  und  steht  jedem 
einzelnen  psychischen  Vorgang  in  gleicher  Weise  zur  Verfügung. 
Diese  Aneignung  aber  geschieht  jederzeit  auf  Kosten  der  anderen 
gleichzeitigen  psychischen  Vorgänge.  Es  gilt  die  Regel:  jeder  psy- 
chische Vorgang  hat  die  Tendenz  der  Aneignung  der  psychischen  Kraft 
auf  Kosten  aller  übrigen.«  Zu  dieser  Auffassung  kommt  Lipps 
von  einem  dem  unseren  nahe  verwandten  Ausgangspunkt.  Auch 
er  2)  sieht  in  dem  Kraftbegriff  das  theoretische  Mittel,  die  Gesetz- 
mäßigkeit seelischen  Geschehens  zu  bestimmen.  Auch  er  stellt  fest, 
daß  der  in  der  Seele  zurunde  liegende  Begriff  von  Tätigkeit  über  den 
KJreis  bloßer  Beobachtung  hinausgehe,  und  daß  man  berechtigt 
und  genötigt  sei,  darüber  hinauszugehen.  Aber  das  führt  ihn  weiter 
zu  dem  Schlüsse,  daß  wir  überhaupt  über  unsere  Akte  —  unsere 
psychischen  Vollzüge  —  nichts  aus  unmittelbarer  Beobachtung, 
sondern  nur  etwas  aus  ihren  Gegenständen  erfahren.  Mithin  sollen 
alle  Unterschiede  im  Psychischen  nur  solche  der  Gegenstände  sein; 
mid  damit  kommt  er  naturgemäß  nur  zu  einer  einzigen  psychischen 
Kraft.  Er  übersieht  aber  dabei,  daß,  wenn  wirklich  alle  Unterschiede 
an  psychischen  Vollzügen  nur  solche  der  Gegenstände  dieser  Voll- 
züge sind,  die  Psychologie  als  besondere  Wissenschaft,  aller  Inhalte 
beraubt,  aufhört  zu  bestehen.  Und  dabei  ist  diese  Behauptung  vom 
Grunde  des  Unterschieds  psychischer  Vollzüge  weder  von  Lipps 
praktisch  befolgt,  wie  Meyerhof  3)  ihm  nachweist,  noch  an  sich  selber 
richtig.  Beim  Denken  und  beim  Wahrnehmen  eines  und  desselben 
Gegenstandes  kann  doch  wohl  von  einem  bloß  intensivem  Unter- 
schiede des  Bewußtseins  nicht  die  Rede  sein;  und  da  der  Gegenstand 

1)  Leitfaden  der  Psychologie.     3.  Aufl.  1909.     S.  81. 

2)  Grundtatsachen  des  Seelenleben?.     1883.     S.  16.  25.  156ff. 

3)  Er  schreibt  (a.  a.  O.  S.  40):  »Lipps  sagt:  ,Unserer  Denkakte  sind  wir  uns 
nicht  bewußt  .  .  .  Aber  woher  weiß  Lipps  etwas  von  den  Denkakten?  Er  könnte 
doch  nur  von  ihren  Gegenständen  etwas  wissen,  wenn  er  außer  diesen  nichts 
wahrnähme. « 


Einführung  in  die  Probleme  der  psychischen  Kausalität  usw.  I,j3 

der  gleicho  ist,  mü.ssen  dio  phäuoinenalon  Untorschiedo  in  psychi- 
schen Qualitäten  beruhen.  Hiermit  fällt  aber  das  einzige  Argu- 
ment für  dio  Einzigkeit  der  psychischen  Kraft  in  sich  zusammen; 
alles  übrige  ist  Begriffsmythologio  konstruktiver  Art. 

Das  Wundt-Herbartsche  Argument:  den  Funktionsklassen 
entspricht  keine  konkrete  Wirklichkeit. 

Damit  kommen  wir  zum  dritten  der  möglichen  Einwände  gegen 
den  hier  geforderten  Funkt ionsbcgriff:  Daß  nämlich  das  unter  diesem 
Begriff  jeweils  zusanunengcfaßle  psychische  Geschehen  nicht  ein 
reales  psychisches  Einheitsgebilde  sei,  sondern  bloß  eine  willkürliche 
Abstraktion.  Wundt  hat  diesen  Einwand  dahin  formuliert,  daß 
man  sich  bei  Bildung  derartiger  Begriffe  »begnügt,  Erscheinungen 
auf  Grund  gewisser  übereinstimmender  Merkmale  in  ein  Wort  zu- 
sammenzufassen «i).  Sie  seien  nichts  anderes  als  »eine  abstrakte 
Generalbezeichnung  für  eine  Menge  von  einzelnen  Tatsachen,  die 
überall  nur  als  konkrete  Einzelinhaltc  des  Bewußtseins  vorkommen  «*), 
und  somit  nur  »Uberlebnisse  des  Nominalismus«').  Dieser  Einwand 
Wundts  stammt  bereits  von  Herbart^).  Herbart  führt  aus, 
daß  die  psychischen  Zustände  und  ihr  kontinuierliches  Fließen  gar 
nicht  in  festen  Abstraktionen  aufgefaßt  werden  könnten,  ohne  eine 
Entstellung  ihrer  eigentlichen  Natur.  Indem  wir  abstrahieren,  müssen 
wir  eine  Menge  Bestandteile  des  psychischen  Geschehens  aufgeben, 
eben  um  einen  festen  Begriff  zu  fassen.  Und  wenn  wir  nun  aus 
solchen  abstrakten  Begriffen  die  Zustände  des  Seelenlebens  erklären 
wollen,  treffen  wir  damit  die  Wirklichkeit  gar  nicht  mehr. 

a)  Die  Unvermeidlichkeit  der  Abstraktion    in  der 
Wissen8ch.aft. 

Bei  diesem  Einwände  von  Wundt  und  Herbart  gehen  zwei 
Tendenzen  durcheinander.  Erstens  nämlich  betont  er  die  Schwierig- 
keiten des  Abstrahierens  überhaupt  angesichts  der  Kontinuität  des 
Psychischen.  Diese  Schwierigkeit  besteht  nun  ganz  gewiß.  Wa-s 
vom  Verhältnis  der  Abstraktion  zur  Wirklichkeit  darin  behauptet 
wird,  gilt  aber  nicht  allein  von  der  psychischen  Wirkliclikeit  und  dt'V 
psychologischen  Abstraktion,  sondern  genau  so  auch  von  der  phy- 
ischen  Natur.  Es  besagt  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  die  alte 
Wahrheit,  daß  das  Abstrakte  niemals  eine  getreue  Wiedergabe  der 
vollen  Wirklichkeit  des  Konkreten  sein  kann.  Das  hat  die  Wissen- 
schaft nicht  gehindert,  auch  in  der  physischen  Natur  von  der  Ab- 


»)  Physiol.  Psyehol.     5.  Aufl.     III.  Bd.     S.  296. 

2)  a.  a.  O.     y.  24!. 

3)  a.  a.  ().     S.  219. 

*)  Handbuch  d.  empir.   Psychol.     S.  3,  7 ff.     Psychologie  als  WiaaenaolufC. 
S.  22  ff. 


154     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

straktion  stets  den  notwendigen  und  umfassenden  Gebrauch  zu 
machen  —  eben  um  Wissenschaft  zu  sein  und  Wissen  zu  verbürgen. 
Denn  unsere  Erkenntnis  ist  nun  einmal  so  beschaffen,  daß  dies  ein 
unvermeidliches  Verfahren  ist.  Alle  Naturwissenschaft  verfährt 
notwendig  so :  ihr  Weg  ist,  zur  Erklärung  der  konkreten  Anschauung 
der  Wirklichkeit  diese  in  das  wissenschaftliche  Bewußtsein  zu  heben, 
für  die  Reflexion  zu  formen.  Und  dazu  bedürfen  wir  der  Urteile 
und  Begriffe.  Letztere  aber  erhalten  wir  durch  Abstraktion.  Lehnen 
Wundt  und  Herbart  für  die  Psychologie  um  der  konkreten  Wirklich- 
keit willen  alle  Abstraktionen  ab  —  so  müssen  sie  der  wissenschaft- 
lichen Form  und  Bearbeitung  überhaupt  entsagen.  Aber  das  tun 
sie  natürlich  nichts).  Her  bar  t  z.  B.  in  seiner  mathematisch  be- 
handelten Lehre  von  der  Hemmungssumme  der  Vorstellungen  setzt 
als  Gegenstände  seiner  Berechnungen  doch  Kräfte  von  verschiedener 
Stärke  voraus;  und  was  sind  Kräfte  anders  als  »Abstraktionen«  in 
seinem  Sinne  ?  Sie  werden  doch  auch  erst  zu  den  Beobachtungen  der 
konkreten  Wirklichkeit  hinzugedacht. 

Die  erste  Interpretation  des  Her  bar  t -Wundt  sehen  Einwandes 
gegen  den  Abstraktionscharakter  psychologischer  Begriffe  trifft  also 
nicht  nur  den  Eunktionsbegriff,  sondern  jeden  psychologischen  Be- 
griff überhaupt,  also  auch  ihre  eigenen.  Und  ganz  besonders  sollte 
sich  der  Neuerfinder  des  psychologischen  Apperzeptionsbegriffes, 
dieses  Musterbeispiels  ungenügender  und  unzulänglicher  Abstraktion, 
davor  hüten,  aus  dem  Glashause  mit  Steinen  zu  werfen.  Ferner  aber 
trifft  diese  Tendenz  nicht  nur  die  Psychologie,  sondern  alle  Empirie  • 
überhaupt.  Und  endlich  erschwert  oder  behindert  der  Charakter 
der  Abstraktion  zwar  die  Wissenschaft,  macht  sie  aber  andererseits 
allererst  möglich.  Der  Einwand,  soweit  als  er  die  eben  angedeutete 
Tendenz  zum  Ausdruck  bringen  soll,  ist  also  nur  von  komparativer 
Gültigkeit;  er  fordert  methodische  Besonnenheit  in  der  Anwendung 
der  Abstraktion  und  einwandfreie  Maximen  für  dieselbe;  mehr  be- 
sagt er  nicht. 

Freilich  ist  die  Sache  damit  noch  nicht  ganz  erledigt.  Der  Wirk- 
lichkeits-  und  Konkretheitscharakter  psychischen  Geschehens  ist 
doch,  gegenüber  dem  der  körperlichen  Natur,  noch  von  besonderer 
Art.  Dies  liegt  an  dem  bloßen  Zeitkontinuum  und  der  Gegebenheits- 
weise der  psychischen  Wirklichkeit.  »Wir  können  uns  einem  Menschen 
vergleichen,  der  von  einem  dunklen  Zimmer  aus  durch  ein  kleines 
Fenster  die  sonnenbeschienene  Welt  betrachtet:  draußen  ist  alles 
leicht  unterscheidbar,  kehrt  er  sich  aber  um,  so  findet  er  sich  schwer 
in  seiner  dunklen  Behausung  zurecht.     Im  Inneren  finden  wir  einen 


1)  Ebensowenig  tut  dies  etwa  Heinroth,  der  noch  viel  schärfere  Worte  gegen 
»die  Vergötterung  der  sogenannten  Wissenschaft«  in  der  Psychologie  findet 
(Psychologie  als  Selbsterkenntnislehre.  1827.  S.  4);  oder  Moebius,  der  ähnlich 
argumentiert;  und  am  krassesten,  fast  wie  ein  Witz  der  Geistesgeschichte,  wirkt 
dieser  Widerspruch  zwischen  dem  antiwissenschaftlichen  Programm  und  der 
Methode  bei  Bergaon. 


Einführung  in  die  Probleme  der  psychischen  Kausalität  usw.  155 

Strom  nur  zeitlich  geordneter  Erlebnitjse,  die  nicht  nur  des  Maßes 
spotten,  sondern  auch  wie  ziehende  Wolken  zerfließen,  wenn  wir  wie 
festhalten  wollen.  Während  sich  das  Ereignis  vollzielit,  können  wir 
es  nicht  betrachten,  und  ist  es  vorüber,  so  verändert  es  sich  sofort 
in  der  Erinnerung  *).«  Es  liegt  daher  im  Wesen  der  Sache,  daß  die 
Schwierigkeiten  der  Abstraktion  und  der  Analyse  psychischer  Tat- 
bestände —  ja  auch  schon  der  Begriff  eines  psychisclien  Tatbestandes 
selber  —  besonderer  metliodologischer  Klärung  bedürfen.  Wir  geben 
diese  in  einem  späteren  Zusammenhang  dieses  Buches  ausführlich  *), 
und  verweisen  zum  Pioblem  der  Analyse  auf  Cornelius 3)  und  vor 
allem  auf  Meinongs-»)  grundlegende  Arbeit.  Als  Ergebnis  genügt 
hier,  daß  diese  Schwierigkeiten  nicht  unauflöslich  und  prinzipiell 
sind,  —  wären  sie  das,  so  gäbe  es  Psychologie  als  Wissenschaft  nicht. 
Sie  ändern  daher  am  grundsätzlichen  Gebrauche  der  Abstraktion 
nichts. 

b)  Verwechslung  von  Abstraktion  und  Induktion  beim 
Wundt-Herbartschen  Einwand. 

Die  zweite  Tendenz  des  Her  bar  t-W  und  t  sehen  Einwandes 
geht  dahin,  daß  den  abstrakt iv  gewonnenen  Begriffseiniieiten  in  der 
Wirklichkeit  keine  realen  psychischen  Einheiten  entsprächen,  sondern 
nur  künstliche  Gebilde  von  bloß  logischer  und  nominaler  Geltung. 
Auch  hierin  geht  richtiges  und  falsches  durcheinander.  Zunächst 
beruhen  die  Funktionen  gar  nicht,  wie  diese  beiden  Forscher  meinen, 
auf  Abstraktionen  allein;  sondern  sie  sind  das  Ergebnis  von  In- 
duktionen. Sie  stellen  Gesetze  für  den  Ablauf  von  bestimmten 
psychischen  Erscheinungsreihen  dar,  und  zwar  kausale  Gesetze.  Diese 
werden  niemals  durch  Abstraktion  erreicht,  welclie  immer  nur  eine 
einfache  logische  Klassenbildung  hervorbringt  und  Begriffe  erzeugt, 
aber  keine  Gesetze,  d.  h.  Urteile.  Solche  Gesetze  für  psychisches 
Gesciiehen  beanspruchen  aber  die  Funktionen  zu  sein.  Sie  sind  das 
Ergebnis  induktiver  Schlußweisen  aus  einem  —  durch  Abstraktion 
freilich  begrifflich  und  generalisiert  gestalteten  —  empirischen  Ma- 
terial. Diese  Induktionen  haben  natürlich  niemals  bloß  logische, 
sondern  reale  Geltung;  und  ebenso  die  aus  ihnen  gefällten  Gesetze. 
Es  liegt  also  im  Anspruch  der  Funktionen,  real  und  nicht  bloß  logisch- 
klassifikatorisch  zu  gelten.  Und  diese  Geltung  haben  sie  auch  in 
jedem  einzelnen  Falle,   wenn  sie  richtig  sind.     Sind  sie  aber  falsch, 


')  Mocbius,  Die  Hoffnungslosigkeit  aller  Psvchologie.    1907.    S.  12. 

2)  Vgl.  S.  :}81  ff. 

3)  Vierteljahrsschrift  f.  Wissenschaft!.  Philosophie.  1892.  S.  4lUff.  1893. 
S.  30ff.     Ztsclir.  f.  Psychol.     Bd.  24.     !S.  lITff. 

•*)  Htitrügc  zur  Theorie  psychischer  Analyse.  Ztschr.  f.  Ps^xhol.  1894.  S.  340 
und  421  ff.  Besonders  sei  betont,  daß  ich  mich  keineswegs  mit  allen  Darlegungen 
des  ausgezeichneten  Denkers  in  Übereinstimmung  befinde.  Dennoch  gebrauche 
ich  den  Ausdruck  ».Vbstraktion*  hier  nur  in\  synonymen  Sinne  mit  Analyse,  um 
das  psychologische  Problem  der  Zerlegung  gar  nicht  erst  anzuschneiden. 


156     Über  die  wissenschaftstheoretisclien  Grundlagen  der  Psychologie  ubw. 

so  haben  sie  gar  keine  Geltung:  weder  reale  noch  logische.  Dieser 
Teil  des  Einwandes  beruht  also  auf  einer  Verwechslung  von  Klassi- 
fikationen und  Induktionen. 


c)  Das  Kriterium  der  Realität    von    psychischen  Klassen 
liegt  in  der  leitenden  Maxime  ihrer  Bildung. 

Nun  ist  jedoch  etwas  richtig  Gemeintes  an  ihm,  wenngleich  in 
der  verfehlten  Formulierung,  die  wir  zurückwiesen.  Nämlich  ohne 
zuvor  erfolgende  Analyse  und  ohne  Abstraktion,  ohne  Klassenbildung 
aus  dem  empirischen  Material  wären  die  induktiven  Schlüsse  auf 
die  Funktionen  gar  nicht  möglich.  Und  diese  Klassifikationen  sind 
willkürlich  und  entstellen  die  Wirklichkeit.  Das  letztere  wurde  schon 
als  unvermeidliche  Voraussetzung  aller  wissenschaftlichen  Arbeit 
überhaupt  dargetan.  Es  führte  dazu,  ein  Kriterium  methodischer 
Art  für  die  Abstraktion  zu  fordern:  in  welchem  Falle  ist  das  Ab- 
straktionsergebnis sozusagen  induktionsreif?  In  welchem  hat  es 
nur  seinen  künstlichen  klassifikatorischen  Sinn,  ohne  Induktionen 
auf  reale  Einheiten  kausal  fundierender  Art  zu  gestatten?  Der 
Wundt-Herbartsche  Einwand  könnte  zum  Ausdruck  bringen  wollen, 
ein  solches  Kriterium  fehle  in  der  psychologischen  Theorie ;  und  daher 
habe  man  keine  Gewähr  dafür,  ob  eine  aus  derartigen  Abstraktionen 
gewonnene  induktiv  erfaßte  Funktion  wirklich  als  natürliches  Gesetz 
zu  gelten  habe  oder  nicht,  d.  h.  gar  kein  Gesetz  sei,  sondern  ein  Irrtum, 
der  sich  als  Gesetz  für  Psychisches  nur  fiktiv  und  künstlich  ausgebe. 

Hierzu  ist  zu  bemerken,  daß  dieses  Bedenken  fraglos  für  die  alte 
Vermögenspsychologie  in  weitem  Umfang  zutraf.  Es  geht  natürlich 
nicht  an  und  ist  unpsychologisch  im  höchsten  Grade,  irgendwelche 
komplexen  psychischen  Abläufe  unter  einem  willkürlich  heraus- 
gegriffenen Abstraktionsgesichtspunkt  zusammenzustellen,  —  ohne 
Rücksicht  auf  ihre  gesamte  sonstige  Struktur  —  und  von  diesem 
Abstraktionsprodukt  sodann  ein  funktionales  Gesetz  auszusagen. 
So  könnte  man  leicht  zu  beliebigen  unmöglichen,  ja  direkt  läppischen 
psychischen  »Funktionen«  gelangen,  die  in  der  Tat  nichts  anderes 
wären  als  ein  leerer  Nominalismus,  dem  keine  reale  psychische  Ein- 
heit entspräche.  So  könnte  man  beispielsweise  auch  eine  psychische 
Funktion  des  Rätselratens,  des  Violinspielens,  des  Wurzelziehens 
aufstellen  —  womit  denn  psychisch  einheitliche  Gesetze  des  Rätsel- 
ratenkönnens, des  Violinspielenkönnens,  des  Wurzelziehenkönnens 
oder  ähnliche  Gebilde  als  Realitäten  behauptet  würden. 

Ein  derartiger  Unsinn  wird  aber  für  die  hier  entwickelte  wissen- 
schaftstheoretische Ableitung  des  Funktionsbegriffes  im  Psychischen 
vermieden,  wie  wir  schon  früher  ausführten.  Einmal  nämlich  ist 
uns  die  Art  der  phänomenologischen  Analyse  und  Abstraktion  selber, 
so  wie  wir  sie  noch  entwickeln  werden,  durch  die  Allseitigkeit  ihrer 
Deskriptionsgesichtspunkte  eine  Gewähr  für  eine  größtmögliche 
Adäquation  der  Bearbeitung  an  das  Reale.     Sodann  aber  haben  wir 


Einführung  in  die  Problcmo  d<r  psychischen  Kausalität  usw.  Iö7 

ja  das  Kriterium  für  die  Rcclitsgründe  zur  Annahme  einer  Funktion 
als  wahrhafter  psycliologischer  P^ntität  an  der  Hand  der  Brentano - 
sehen  Formel  bereits  im  Voraus  entwickelt.  Wir  haben  damit  eine 
leitende  Maxime  gewonnen  sowohl  für  den  Gesichtspunkt  des  Ab- 
strahierens  als  für  die  Ausdehnung  der  abstraktiven  Regression. 
Wir  wissen  aus  ihm,  wie  wir  zu  abstrahieren  anfangen  und  wo  wir 
damit  aufhören  sollen.  Seine  Anwendung  besagt,  daß  das  psychische 
8ich vollziehen  als  Tätigkeit  aufgefaßt  werden  soll,  und  daß  von  allen 
temporalen,  quantitativen  und  gegenständlichen  Differenzierungen 
abgesehen  werden  soll,  um  die  reine  Weise  der  Tätigkeit,  die  rein 
qualitative  und  in  Relationscharakteren  bestehende  Komplexion 
herauszuschälen.  Was  unter  diesen  Leitgesichtspunkten  als  unauf- 
lösliche, psychologisch  nicht  weiter  zurückführbare  psychische  Qua- 
litätsklassen zurückbleiben,  welche  die  Tätigkeit,  die  Objektbeziehung 
des  Subjekts  in  ihrer  Sonderart  auszeichnen,  dies  ist  das  Abstraktions- 
material, aus  welchem  die  Induktion  auf  besondere  entsprechende 
Funktionen  sich  notwendig  ergibt.  Diese  sind  dann  die  Realgründe 
der  reinen  Qualitäten;  und  letztere  sind  notwendig  selber  real,  gemäß 
der  Definition  des  Qualitätsbegriffes.  W'ir  verbleiben  also  bei  diesem 
ganzen  Verfahren  jeden  Augenblick  in  innigster  Berührung  mit  den 
Sicherheiten  anschaulicher  Wirklichkeit. 


d)  Die  Möglichkeit  einer  natürlichen  Systematik  von 

Funktionen. 

Den  komplexeren  Qualitätsstrukturen  entsprechen  die  ihnen 
adäquaten  funktionalen  Komplexionen,  und  jedes  Merkmal  eines 
psychischen  Vollzuges  muß  auch  seinen  Realgrund  in  einer  Zusammen- 
setzung und  Komplizierung  fundierender  Funktionen  haben.  Diese 
kann  man  natürlich  nur  durch  abstraktive  Analj'se  der  Merkmale 
an  den  Vollzügen  selber  auffinden.  So  ergibt  sich  eine  doppelte 
Systematik,  deren  beide  Seiten  einander  entsprechen:  erstens  eine 
Systematik  der  Arten,  auf  die  sich  funktionale  Strukturen  kom- 
plizieren können  —  welche  Weisen  des  Verschmelzens,  Sichverbindens, 
Aufeinanderauf  bauens  vorkommen  können;  und  zweitens  dem- 
entsprechend eine  Systematik  der  so  entstehenden  funktionalen  Ge- 
bilde von  den  letzten  fundierenden  Grundfunktionen  an  bis  zu  den 
verwickeltsten  funktionalen  Grundlagen  seelischer  Spezialleist ungcn 
mid  Vollzüge.  Diese  abstraktive  Systematik  ist  immanent  und  ver- 
hält sich  zu  den  künstlichen  Systemen  der  alten  Vermögenspsycho- 
logie, wie  die  natürlichen  Systeme  der  Tiere  und  Pflanzen  sich  zu 
den  Linneschen  Systemen  verhalten.  Das  ganze  System  ist  von 
rein  empirischer  Geltung.  Seine  Aufstellung  ist  aber  nur  eine  ideale 
Forderung.  Sic  kann  nur  der  Abschluß  einer  auszubildenden  Phäno- 
menologie und  Funktionspsychologie  sein.  Bisher  sind  noch  nicht 
einmal  die  rohen  Grundmauern  dazu  gelegt.  Wissen  wir  doch  noch 
nicht  einmal  eindeutig,  welche  letzten  fundierenden  Grundfunktionen 


158     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

es  überhaupt  mit  Sicherheit  gibt.  Allein  die  Brentano  sehe  Schule 
glaubt  dies  zu  wissen.  Brentano  hat  nur  drei  generisch  verschiedene 
Weisen  der  Bewußtseinsbeziehung  auf  Gegenstände  anerkannt,  denen 
die  Phänomene  des  Vorstellens,  des  Urteilens  und  des  »Liebens  und 
Hassens«  entsprächen.  Bereits  Meinong  versuchte  diesen  Kreis 
auszugestalten,  wie  seine  Theorie  der  Annahmen  beweist.  Husserl 
ließ  noch  eine  Reihe  weiterer  Funktionen  als  möglich  zu,  ohne  aber 
bestimmte  als  Realitäten  aufzustellen.  Bei  Brentano  kommt  noch 
hinzu,  daß  er  die  letzten  beiden  Klassen  seines  funktionalen  Systems 
ihrerseits  wieder  auf  die  fundierende  Klasse  »Vorstellung«  zurück- 
bezog. Möbius  hat  sich  mit  sehr  scharfen  Worten  gegen  diesen 
Primat  der  vorstellenden  Funktionen  gewandt i),  und  schon  Fries 
hat  dargetan,  daß  das  Vorstellen  nur  alsabge leitete  Funktionsklasse  in 
Frage  kommen  kann,  —  wenn  es  überhaupt  eine  reale  psychologische 
Einheit  ist.  Wir  werden  den  alten  Streit,  der  nur  in  der  Phänomeno- 
logie und  ontologischen  Theorie  schlichtbar  sein  wird,  hier,  wo  es 
sich  nicht  um  materiales  Einzelerfahren,  sondern  um  dessen  wissen- 
schaftstheoretische Sicherung  handelt,  nicht  erneuern  2).  Es  liegt 
jedenfalls  kein  Grund  vor,  die  Brentanosche  Aufstellung  schon  als 
abgeschlossene  Systematik  der  fundierenden  Funktionen  und  ihrer 
Komplizierung  zu  allen  möglichen  seelischen  Vollzügen  zu  betrachten. 
Gibt  sie  selber  sich  doch  als  Produkt  der  Erfahrung  —  und  wann  wäre 
diese  je  abgeschlossen? 

Uns  genügt  es,  an  Brentanos  Leitmaxime  zur  Auffindung  von 
Funktionen  den  Ariadnefaden  für  alle  derartigen  Untersuchungen 
an  der  Hand  zu  haben.  Vorläufig  aber,  solange  wir  noch  am  Anfang 
aller  funktionspsychologischer  Arbeit  stehen,  bedürfen  wir  einer 
Systematik  noch  gar  nicht,  welche  erst  das  Ergebnis  derselben  sein 
kann.  Vorläufig  begnügen  wir  uns  damit,  die  gefundenen  realen 
Funktionen  in  Klassen  zusammenzufassen,  deren  Bezeichnung  wir 
dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch^)  entnehmen.  Wir  reden  in 
diesem  Sinne  vom  Erkennen,  der  Wahrnehmung,  dem  Urteil,  dem 
Gefühl,  den  Trieben  usw.  und  meinen  damit  die  unter  diesem  ge- 
wöhnlichen Sprachgebrauch  zusammengefaßten,  durch  Analyse  und 


1)  a.  a.  O.     S.  28. 

2)  Hierüber  handeln  ausführlich  der  folgende  Band  dieser  Untersuchung. 

3)  Auch  wir  schließen  uns  —  wie  Nelson  es  ohne  Kenntnis  desselben  tat  — 
dem  Bekenntnis  Moebius'  an,  für  die  in  der  Umgangssprache  niedergelegte 
Psychologie  »die  innigste  Verehrung  zu  fühlen«  (a.  a.  O.  S.  13).  Andererseita 
haben  wir  »  als  Psychologen  zu  sprechen  «,  und  die  Abnutzung  und  Verschwommen- 
heit der  vulgären  Termini  nötigt  dann  dazu,  daß,  wie  Moebius  sagt,  »dann  das 
Populäre  aufhören  muß  « ;  »es  müssen  die  Begriffe  mit  derselben  Sorgfalt  behandelt 
werden,  mit  der  der  Physiker  seine  Begriffe  behandelt;  ja  wegen  der  Schwierigkeit 
der  psychologischen  Begriffe  muß  die  Vorsicht  verdreifacht  werden  «.  Die  Termini 
der  Umgangssprache,  auf  die  wir  zurückgreifen  wollen,  bedürfen  also,  um  Klassen- 
begriffe zu  bezeichnen,  der  sorgsamsten  definitorischen  Abgrenzung.  Aber  es  ist 
törichter  Hochmut,  eine  Psychologie  nur  deshalb  als  »Vulgärpsychologie«  abzu- 
lehnen, weil  sie  sich  vulgärer  Termini  bedient  und  mit  dem  schönen  Wort  »Asso- 
ziation« nicht  fortwährenden  Mißbrauch  treibt. 


Einführung  in  die  Probleme  der  psychisehcn  Kausalität  usw.  159 

Induktion  aufgefuiuleiuMi  und  nach  bestininiten  Merkmalen  loginch 
vereinigten  einzelnen  Funktionen,  welche  wir  als  Realgrund  hierunter 
fallender  Vollzüge  erfaßt  haben.  Diese  Klassenbildungen  sind  künst- 
liche und  gelten  nur  logisch;  die  Funktionen  selber  aber,  welche  wir 
unter  ihnen  subsumieren,  gelten  real  und  sind  real  genau  bestimmt 
als  echte  Ergebnisse  psychologischer  Forschung.  So  machen  wir 
uns  ein  in  der  Tat  künstliches  System  zurecht,  auf  welches  wir  an 
sich  keinen  Wert  legen.  Wichtig  ist  allein,  daß  unter  diesem  System 
nicht  bloß  die  realen  Vollzüge,  sondern  die  sie  fundierenden  eigent- 
lichen psychischen  Kräfte,  die  Funktionen,  als  Wirklichkeiten  er- 
faßt und  zusammengestellt  werden  können.  Ob  es  uns  gelingt,  hinter 
diesen  logischen  Klassen  natürliche  aufzufinden,  ist  Sache  späterer 
Untersuclnnig. 

Vorläufiges  Ergebnis. 

Mit  den  bisherigen  Ausführungen  zum  Problem  der  psychischen 
Kausalität  haben  wir  die  eine  Hälfte  unserer  Lösung  abgeschlossen. 
Diese  bietet  den  Vorteil,  daß  die  ewig  lebendigen  und  wahren  Grund- 
lagen Kantischer  Kritik  und  W^issenschaftstheorie  nicht  verschüttet 
werden  mit  den  künstlichen  und  Intellekt ualistischen  Sj'stemen  der 
von  ihm  und  seinen  Nachfolgern  darauf  aufgerichteten  Psychologie. 
Wie  diese  durch  eine  hundertjährige  Forschung  in  ihrer  Überlebtheit 
verdrängt  worden  sind  und  werden  mußten,  so  ist  leider  in  der  Gegen- 
wart auch  die  Basis  der  Kan tischen  Lehre  gerade  hinsichtlich  dieses 
psychischen  Kausalproblems  in  Verfall  geraten.  Der  Erfolg  war, 
daß  die  größten  Bereicherungen  materialer  und  methodischer  Einzel- 
arbeit in  der  modernen  Forschung  grundsätzlich  in  der  Luft  hingen 
und  sich  widersprachen.  Ein  System  tat  sich  neben  dem  anderen 
auf,  jedes  mit  dem  Stigma  der  Vergänglichkeit  und  des  Irrtums  be- 
haftet; und  direktionslos  schwankte  die  psychologische  Einzelfor- 
schung als  ungeformtes  Gebilde  zwischen  ihnen  hin  und  her.  Hier 
wird  die  Möglichkeit  geboten,  die  Ergebnisse  dieser  Einzelforschung, 
ohne  sie  in  ihrem  wesentlichen  Wert  zu  modifizieren,  in  eindeutiger 
und  gerichteter  Weise  an  das  Bleibende  des  philosophischen  Gerüstes 
der  Kant-Friesschen  Lehre  anzuknüpfen,  ohne  aber  den  weiteren 
Fortgang  der  Arbeit  dadurch  systematisch  oder  methodisch,  formal 
oder  materiell  zu  präjudizieren^). 


*)  Man  wird  bisher  eine  Erörterung  der  geisteswissenschaftlichen,  kultur- 
wissenschaft liehen  und  geschichtsphilosophischen  Ansprüche  an  einen  besonderen 
Tjqnis  von  Begriffsbildung  an  psychischem  Material  und  eine  besondere  psychische 
Kausalität  vermißt  haben.  Wir  geben  sie  an  späterer  Stelle  (S.  194ff.),  um  hier 
erst  einmal  unsere  positiven  Entwicklungen  durchzuführen  —  ohne  jenem  An- 
spruch damit  vorgreifen  zu  wollen. 


160     Über  die  wissenschaftsfcheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 


5.  Weiteres  über  die  Probleme  der  psychischen  Kausalität. 
Der  seelische  Zusammenhang  und  das  Unbewußte. 

Kausalität   und   seelischer  Zusammenhang. 

Aber  mit  der  bisherigen  Bearbeitung  des  Kausalproblems  im 
Psychischen  haben  wir  erst  die  halbe  Arbeit  geleistet.  Um  dies  zu 
erkennen,  müssen  wir  uns  die  psychologische  Fragestellung  deutlich 
vor  Augen  halten,  welche  die  Erörterung  psychischer  Kausalität 
erst  erzeugt.  Wir  wollen  doch  feststellen,  ob  und  wie  wir  das  Wesen 
seelischen  Zusammenhängens  erkennen  können.  Wir  wollen 
begreifen,  wie  Seelisches  aus  Seelischem  hervorgeht,  und  ob  sich  für 
dieses  Auseinanderhervorgehen  Gesetze  aufstellen  und  bestimmen 
lassen.  Was  haben  wir  bisher  dieser  Fragestellung  gegenüber  für 
eine  Antwort  geben  können;  und  welche  weitere  Antwortmöglichkeit 
haben  wir  noch? 

Wir  haben  bisher  den  Ablauf,  das  SichvDllziehen  der  einzelnen 
Arten  seelischer  Phänomene  als  jeweils  durch  ein  funktionales  Gesetz 
bestimmbarer  Art  ursächlich  determiniert  erwiesen,  dessen  allgemeine 
Form  und  dessen  theoretisches  Fundament  wir  darstellten.  Dieses 
funktionale  Gesetz  erklärt  uns,  warum  der  einzelne  Vollzug  seiner 
formalen  und  qualitativen  Struktur  nach  so  erfolgt,  wie  er  erfolgt.  Es 
erklärt  uns  nicht,  warum  er  erfolgt.  Es  gibt  —  und  auch  dafür 
haben  wir  eine  allgemeine  Begründung  bezeichnet  —  den  Grund  der 
Möglichkeit,  nicht  den  der  Wirklichkeit  des  in  Frage  kommenden 
abhängigen  phänomenalen  Gebietes  wieder. 

Damit  ist  zur  Reduktion  psychischer  Strukturen  und  Qualitäten 
auf  ihre  psychologischen  Fundamente  und  zu  ihrer  Erklärung  aus 
diesen  als  ihren  Realgründen  zwar  schon  einiges  getan.  Aber  die 
Wirklichkeit  des  Eintritts,  des  Hervorgerufenwerdens,  der  Auslösung 
des  einzelnen  seelischen  Phänomens  ist  mit  diesen  theoretischen 
Grundlegungen  noch  nicht  gegeben.  Gerade  sie  aber  ist  es,  auf  welche 
das  Problem  seelischen  Zusammenhängens  sich  zuspitzt.  Die  For- 
mulierung dieses  Problems  hat  zwei  Seiten.  Gehen  wir  von  einem 
unmittelbar  erlebten  seelischen  Gegebensein  aus,  so  muß  gefragt 
werden :  wodurch  die  Verbindung  und  Zusammensetzung  der  Funk- 
tionen gerade  zu  dem  gegebenen  seelischen  Gebilde  in  seinem  kom- 
plexen Sosein  hervorgerufen  wurde.  Zweitens  aber  muß  man  nach 
den  Veranlassungen  der  jeweiligen  inhaltlichen  i)  Erfüllung  der  funk- 
tionalen Strukturen  fragen,  welche  das  gegebene  seelische  Gebilde 
zum  Bewußtseinsinhalt  machen.  Beide  Seiten  der  Frage  hängen 
eng  zusammen. 

1 )  Wir  gebrauchen  in  dieser  ganzen  Abhandlung  die  Begriffe  »Inhalt «,  »"Form  *, 
s>Struktur«,  »Materie«  noch  »naiv«,  ohne  jene  exakte  Klärung,  welche  nur  die 
später  behandelte  Phänomenologie  ihnen  zu  geben  vermag.  Wir  verwenden  an- 
dererseits diese  Termini  nur  dann,  wenn  über  die  Eindeutigkeit  ihres  »Sinnes« 
jeweils  ein  Zweifel  nicht  möglich  ist. 


Weiteres  über  die  Probk-me  der  psychischen  Kuusalitat  usw.  IGl 

Der  Begriff  des  Reizes. 

Nun  fanden  wir  bereits  in  der  Deduktion  der  Funktionen  als 
empfänglicher,  anreg barer,  auslösbarer  seelischer  Kräfte,  in  der  Eigen- 
Bchaft  ihrer  Bestimmbarkeit  als  Bedingung  ihrer  Aktualisierung  einem 
Fingerzeig.  Diesem  folgen  wir  weiter.  Wir  leiteten  jene  Merkmale 
deduktiv  aus  dem  Prinzip  der  rezeptiven  »Spontaneität  als  dem  Grunde 
der  Möglichkeit  alles  einzelnen  iSeelischen  überhaupt  her.  In  späteren 
Abhandlungen  zur  Phänomenologie  werden  wir  den  umgekehrten 
Weg  vom  unmittelbar  gegebenen  seelischen  Gebilde  aus  analytisch 
zu  gehen  haben,  und  auf  ganz  gleiche  Ergebnisse  stoßen.  Hier  ge- 
nügt die  Deduktion,  um  uns  an  dieser  Stelle  den  Begriff  des  Reizes 
für  die  Aktualisierung  seelischer  Phänomene  und  damit  die  Gewähr- 
leistung seelischen  Zusammenhängens  nahe  zu  bringen. 

Die  Bedeutung  des  Reizbegriffes  für  die  psychische  Kausalität 
wird  von  den  verschiedensten  Standpunkten  psychologischer  Denker 
in  gleicher  Weise  anerkannt  und  determiniert.  So  spricht  Lipps^) 
vom  Unterschiede  der  zuständlichen  und  der  aktuellen  psychischen 
Gründe  von  Bewußtseinsgegebenheiten  und  meint  mit  den  ersteren 
dasjenige,  welches  er  das  Reale,  Unbewußte  neimt,  mit  den  letzteren 
ausdrücklich  die  es  zum  Gebilde  bestimmenden  Reize.  Bei  Schopen- 
hauer^)  tritt  die  Kausalität  im  Psychischen  ebenfalls  als  Ursache 
und  daneben  als  Reiz  auf;  und  ein  derartigen  Spekulationen  völlig 
abgeneigter  Forscher  wie  Bleuler  schreibt  i^)  .»Wir  haben  es  in  der 
Psyche  wie  bei  organischen  Funktionen  überhaupt  meistens  nicht 
mit  direkten,  sondern  mit  auslösenden  Ursachen  zu  tun.  Der  Unter- 
schied zwischen  den  Fällen,  wo  wir  Äquivalenz  zwischen  Ursache  und 
Wirkung  haben,  und  den  anderen  ist  also  nicht  entsprechend  dem 
zwischen  Physisch  und  Psychisch,  sondern  er  ist  einer  der  Kompli- 
kation oder  wenn  man  will  des  Ursachenbegriffes  «...  Für  das  Psy- 
chische hat  er  die  Bedeutung  »der  Beeinflussung  eines  bestehenden 
oder  der  Auslösung  eines  neuen  Vorgangs  «. 

Potentielle  Bereitschaft  und  auslösende  Bedingung. 

Wir  haben  hier  abermals  die  Analogie  der  Psyche  mit  dem  Orga- 
nismus, dessen  Lebensäußerungen  als  eine  Spontaneität  definiert 
sind,  welche  sich  gemäß  veränderten  äußeren  Bedingungen  in  ver- 
änderter Weise  aktualisiert.  Und  wir  können  die  Definitionen  der 
pliysiologischen  Reizlehre  ziemlich  unverändert  auf  die  psychische 
Analogie  ülxirnehmen*).     Bevor  wir  dies  aber  tun  können   —  wie  es 

*)  Psychische  Vorgänge  und  psychische  Kausalität.  Ztschr.  f.  Psvchol. 
Bd.  25.    S.  177.  197  ff.  "       , 

2)  über  die  vierfache  Wurzel  usw.  Kap.  IV.  §20.  Die  Motivation  als  dritter 
Kausiilzusiimmenhang  bei  Schopenhaui-r  (s.  auch  Renouvior,  Los  dilemmes 
de  la  nietanhysique.  1901.  S.  130ff.)  kommt  hier  nicht  in  Frage.  Bergmann 
(I.e.  S.  80fi.)  hat  hierzu  ben-its  das  Notwendige  gesagt. 

3)  Psych.  KausaUtät  und  Willcnsakt.    Zeitschr.  f.  PsychoL    Bd.  69.    S.  44££. 
*)  Verworn.  Allgem.  Physiologie  1909.    S.  409 ff. 

KruDfeld,  PHyc'liiatrLsihc  ErkcantnU.  11 


162     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

weiter  unten  geschehen  wird  — ,  ist  freilich  notwendig,  den  Kraft- 
begriff im  Psychischen  noch  einmal  in  Vergleich  zu  dem  der  Physio- 
logie und  Physik  zu  stellen.  Wir  sagten,  der  Unterschied  des  physi- 
schen Kraftbegriffes  vom  psychischen  bestehe  darin,  daß  ersterer 
mathematisch  konstruierbarer  quantitativer  Gesetzbildungen  fähig 
sei,  letzterer  nicht.  In  dieser  Aussage  liegt  nicht,  daß  im  Psychi- 
schen derartige  Gesetze  nicht  bestünden.  Vielmehr  wird  nur  gesagt, 
ihre  Erkenntnis  sei  durch  die  nichtextensive  Art  psychischen  Ge- 
gebenseins unmöglich.  Die  mathematische  Bestimmbarkeit  physi- 
kalischer Kjräfte  führte  zum  Energiegesetz.  Aussagen  über  dessen 
Geltung  im  Psychischen  sind  unmöglich.  Diese  Unmöglichkeit 
besagt  nicht,  daß  dieses  Gesetz  nicht  gilt,  sondern  daß  wir  es  empi- 
risch nicht  zu  verifizieren  vermögen.  Nach  der  Kantischen  Lehre 
nun  ist  das  Energiegesetz  kein  induktiv  gefundenes  empirisches 
Gesetz,  sondern  ein  wissenschaftstheoretisches  Gesetz  a  priori  für 
die  physikalische  Natur.  Dem  steht  nicht  im  Wege,  daß  es  erst  durch 
Erfahrung  entdeckt  werden  mußte.  Es  ließe  sich  denken,  daß  dies 
Gesetz  in  der  allgemeineren  Form  causa  aequat  effectum  nicht  bloß 
für  die  äußere  Natur,  sondern  für  die  Natur  überhaupt  a  priori 
gilt.  Die  Ableitung  wird  freilich  immer  nur  für  das  Energiegesetz 
im  eigentlichen  Sinne  gemacht,  wozu  das  Prinzip  der  Extensität 
nicht  zu  umgehen  ist.  Bestimmung  als  gleich,  größer  und  kleiner 
ist  aber  auch  jenseits  der  Extensität,  jenseits  der  physikalischen 
Natur  für  alles  zeitliche  Geschehen  überhaupt  möglich.  Freilich 
wäre  eine  Bestätigung  an  psychischen  Intensitäten  schon  deshalb 
nicht  möglich,  weil  die  Intensität  der  causa,  nämlich  der  Funktion 
selber,  unabhängig  von  dem  als  Wirkung  gedachten  Funktionieren 
gar  nicht  bestimmbar  ist.  Die  Differenz  beider  Kraftbegriffe  bliebe 
also  bestehen.  Und  doch  ermöglicht  uns  diese  Überlegung,  den 
Energiebegriff  der  Physik  jenseits  der  mathematischen 
Theorie  auf  Grund  dieses  Gesichtspunktes  auch  ins  Psy- 
chische zu  übernehmen.  Wir  brauchen  ihn  hier,  um  die  Begriffe 
der  potentiellen  und  der  aktuellen  Energie  bilden  zu  können.  Dann 
können  wir  die  Funktionen  unabhängig  von  ihrem  Vollzuge  unter 
dem  Begriff  der  potentiellen  Energie  denken;  und  unter  den  Reizen 
können  wir  diejenigen  Bedingungen  verstehen,  welche  sie  aktuali- 
sieren. Es  wäre  dann  so,  daß  jedes  seelische  Geschehen  eine 
ihm  adäquate  Form  seelischer  Energie  beansprucht,  deren 
Größe  wir  aber  nicht  exakt  bestimmen  können.  Diese  Ener- 
gie ist  —  als  Funktion  —  potentiell  gegeben  und  wird  durch  aus- 
lösende Bedingungen  jeweils  aktualisiert.     Diese  nennen  wir  Reize. 

Die  Kategorie  der  Wechselwirkung  im  Psychischen. 

Es  sind  dann  immer  in  jedem  Augenblick  eine  große  Anzahl  vei"- 
schiedener  seelischer  Energien  in  einem  labilen  Gleichgewichtszustand 
in  potentieller  Bereitschaft;  und  es  hängt  ganz  von  den  jeweiligen 


Weiteres  über  die  Probleme  der  paychieehen  Kausalität  usw.  Iü3 

Reizen  ab,  welche  von  ihnen  aktualisiert  wird.  Diese  Bereitschaften 
bestimmen  sich  nach  einer  ganzen  Reihe  von  Gesichtspunkten,  deren 
Einzelheiten  hier  nicht  genauer  erörtert  werden  können,  in  indivi- 
duell und  momentan  besonderen  Weisen:  Erstens  in  den  Dispo- 
sitionen und  Anlagen  der  Persönlichkeit  zur  Beanspruchung  be- 
stimmter bevorzugter  Funktionen  und  Funktionsverbindungen; 
zweitens  in  den  Reproduktionsdispositionen  der  indivi- 
duellen Vergangenheit;  drittens  in  der  Konstellation  (worunter 
etwas  weiteres  gemeint  ist  als  der  Ziehensche  Begriff  der  Asso- 
ziationskonstellation) der  psychischen  Individualität  nach  Maßgabe 
der  verschiedensten  noch  zu  erörternden  äußeren  Bedingungen  jedes 
individuellen  Momentes;  viertens  in  dem  gewohnheitsmäßig  und 
dispositionell  vorgegebenen  Schema  zeitlichen  Aufeinander- 
folgens  der  einzelnen  Funktionskategorien  und  ihrer  Fundierungen 
durch  jeweils  andere,  von  denen  der  Wahrnehmung  an  über  die  des 
Vorstellens,  Urteilens,  Intcressehegens  und  Strebens  bis  zum  Ent- 
schluß, —  wovon  ebenfalls  noch  zu  sprechen  sein  wird,  also  auch 
wieder  einer  reproduktiven  Tendenz,  freilich  einer  ihrer  Stellung 
nach  ganz  besonderen i).  Dies  alles  als  Totalität  individueller  psy- 
chischer Bereitschaften  eines  Augenblicks  läßt  sich  unter  der  Kate- 
gorie der  Wechselwirkung  vereinigt,  als  energetisches  oder 
dispositionelles  Ganzes  psychischer  Spontaneität  erklären. 
Die  Art  der  Wechselwirkung  ist  hierbei,  weil  ebenfalls  ein  anschauliches 
Nebeneinander  nicht  besteht,  nicht  näher  bestimmbar.  Man  kann 
die  Tatsache,  daß  immer  nur  ein  Bereitschaftskomplex  in  einem 
Zeitmoment  aktualisiert  wird,  als  gegenseitige  Hemmung  der 
Bereitschaften  in  ihrer  Aktualisierung  deuten;  und  so  ge- 
schieht dies  ja  auch  von  Herbart  bis  Lipps.  Man  muß  sich  nur 
darüber  klar  sein,  daß  der  Ausdruck  Hemmung  hierbei  nichts  erklärt, 
sondern  nur  diese  denkbare  Wechselwirkung  allgemein  in  einem 
Worte  umschreibt;  eine  näliero  Bestimmung  oder  gar  ein  mathe- 
matisches Gesetz  dieser  Hemmung,  wie  etwa  das  Herbartsche,  läßt 
sich  aus  unseren  wissenschaftstheoretischen  Erwägungen  heraus 
nicht  aufstellen.  Macht  man  diese  Annahme,  so  liegt  es  ganz  bei  den 
jeweils  auftretenden  Reizbedingungen,  welche  Bereitschaft  aus  diesem 
labilen  Gleichgewicht  heraus  aktualisiert  wird 2);  und  die  Wirkung 

*)  Denn  es  bildet  ein  besonderes  Problemgebiet,  ob  die  Wirklichkeit  und 
Aktualität  einer  Funktionsklasse  durch  eine  andere  fundiert  wnrd:  das  Streben 
durch  Funktionen  des  Interesses,  diese  durch  vorstellende  Funktionen  usw.  —  und 
wie  dies  »fundiert  sein«  verstanden  werden  muß. 

2)  Hierfür  gibt  es  eine  ganze  Reihe  wertvoller  direkter  experimenteller  Hin- 
weise. Unter  den  experimentell  am  besten  durchgearbeiteten  hier  einschlägigen 
Auffassungsprüfungen  nenne  ich  nur  folgende: 

Ranschburg  (Ztschr.  f.  Psychol.  30,  1):  Über  die  Hemmung  gleichzeitiger 
Reizwirkungen.  Aall  (Ztschr.  f.  Psycho!.  47,  1):  Zur  Frage  der  Hemmung  usw. 
Schulz  (Ztschr.  f.  Psychol.  52,  Iff.):  Unters,  über  die  Wirkung  gleicher  Reize  usw. 

In  einem  mehr  indirekten  Sinne  lassen  auch  die  mannigfachen  Konstellations- 
versucho  der  verschiedenen  Autoren  die  oben  dargelegte  Gesetzmäßigkeit  als 
gültig  erkennen. 

11" 


164     Über  die  wiEsensibaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

dieser  Aktualisierung  muß  derart  beschaffen  sein,  daß  durch  sie 
das  labile  Gleichgewicht  dieser  Bereitschaften  selber 
wieder  hergestellt  wird,  sonst  wäre  ein  Fortgang  des  psychi- 
schen Geschehens  nicht  möglich. 

Die  weiteren  theoretischen  Probleme  des  seelischen 
Zusammenhanges. 

Hieran  knüpft  sich  nun  eine  Reihe  von  Fragen.  Wir  wollen  sie 
zunächst  kurz  formulieren,  um  sie  dann  einzeln  zu  besprechen.  Erstens 
nämlich  die  Frage  nach  der  Natur  dieser  aktualisierenden 
Bedingungen,  dieser  Reize.  Zweitens  aber  die  fast  noch  wich- 
tigere Frage  nach  der  Natur  des  nichtaktuellen  Psychischen, 
nach  der  Natur  dieser  Bereitschaf  ten  funktionalerArt,  und  drittens 
die  Frage  nach  ihrem  Verhältnis  zum  aktuellen  psychischen 
Gebilde  und  Geschehen.  Es  ist  klar,  daß  eine  Teilfrage  dieser  letzteren 
das  Bewußtseinsproblem  bilden  wird.  Es  ist  ferner  klar,  daß  die 
erste  und  zweite  Frage  unter  anderem  auch  auf  das  Problem  der 
psychophysischen  Beziehung  führen;  es  ist  endlich  auch  dies 
klar,  daß  die  zweite  Frage  und  auch  die  dritte  den  Begriff  des 
Unbewußten  in  die  Erörterung  hineinziehen. 

Bewußtsein  und  seelischer  Zusammenhang  bei  Lipps. 

Um  mit  dem  Bewußtseinsbegriff  anzufangen,  so  ist  mit  aller 
Entschiedenheit  zu  betonen,  daß  er  für  uns  ein  rein  empirischer 
Befund  am  Psychischen  ist.  Nirgends  ist  seine  apriorische 
Notwendigkeit  wissenschaftstheoretisch  verankert.  Keine 
kategoriale  Schematisierung  erzwingt  ihn,  und  es  ist  ein  Denk- 
fehler, Psychisches  durch  ihn  zu  definieren.  Ist  dies  fest- 
gestellt, so  gehört  seine  Erörterung  in  eine  phänomenologische 
Deskription.  Dort  und  nur  dort  kann  er  als  Wesensmerkmal  des 
phänomenalen  Bestandes  psychischer  Phänomene  erschöpfend  ge- 
klärt werden.  Wir  verweisen  daher  für  diese  Klärung  auf  spätere 
Arbeiten  dieses  Buches.  Hier  genügt  es,  ihm  seine  theoretische 
Stellung  angewiesen  zu  haben.  Das  unmittelbar  Gegebene, 
sofern  es  als  Meines,  als  mir  zugehörig  gegeben  ist,  defi- 
nieren wir  als  erlebt  oder  bewußt.  Bewußtsein  ist  mithin  — 
sofern  die  Analyse  einen  einheitlichen  Grund  dieses  unmittelbaren 
Gegebenseins  als  eines  Mir-Gegebenseins  aufzuweisen  vermag  —  der 
psychologische  Grund  dieser  unmittelbaren  Ichgegebenheit.  Schon 
Lipps  1)  hat  von  diesem  phänomenalen  Psychischen,  welches  er 
Bewußtseinsinhalt  nannte,  daß  nur  Hinzuzudenkende  unterschieden. 
Er  analogisiert  einmal  psychologische  und  physikalische  Erklärung 
darin,  daß  der  bloße  Phänomenbestand  in  beiden  Naturreichen  als 

1)  a.  a.  0. 


Weiteres  über  die  Probleme  der  psychischen  Kausalität  tuw.  165 

Zeichen  oder  Symbol  genommen  wird  für  eine  nur  denkbare  Wirk- 
lichkeit eigentlicher  Art,  in  der  die  notwendigen  Verknüpfungen  er- 
folgen, deren  symbolische  Gebilde  die  Pliänomene  sind.  Dieser  an 
sich  ja  uralte  Gedanke  findet  eine  originale  Auslegung  bei  ihm  im 
Hinblick  auf  das  psychische  Geschehen.  Bewußtseinsinhalte  im 
obigen  Sinne  sind  hiernach  nur  Epiphänomen  und  Symbol  für  eine 
nur  denkbare  psychische  Wirklichkeit,  für  das  unbewußte  psychische 
Reale,  in  dem  die  eigentlichen  notwendigen  Verknüpfungen  sich  voll- 
ziehen; es  besteilt  nicht  irgendeine  Art  von  Verknüpfung  zwisclien 
den  Bewußtseinsinhalten;  sie  besteht  vielmehr  ausschließlich  in  jenem 
psychisch  realen  Geschehen,  welches  jeden  Phänomenalitätscharakter 
und  damit  jedes  Bewußtsein  ausschließen  muß,  um  Anspruch  auf 
Realität  zu  erheben. 


Der  reale   psychische  Zusammenhang    im  Unbewußten  bei 

Lipps. 

In  der  psychologischen  Erklärung,  meint  Lipps,  werde  dieses 
zugrundeliegende  Reale  im  Sinne  des  Unbewußten  dreifach  heran- 
gezogen: die  Psyche  habe  bestimmte  Anlagen,  sie  trage  ferner  eine 
individuelle  Fülle  von  Gedächnisspuren,  endlich  stehe  sie  unter  der 
Wirkung  physiologischer  Reize.  Unbewußt  sind  alle  diese  Faktoren 
in  dem  Sinne,  in  welchem  alles  Reale  unbewußt  ist.  Sie  können  zwar 
gedacht  und  durch  dieses  Denken  Gegenstände  des  Bewußtseins 
werden,  jedoch  ist  ihr  Dasein  unabhängig  davon,  ob  ich  von  ihnen 
ein  Bewußtsein  habe  oder  nicht.  Das  reale  psychische  Leben  be- 
dingt seinerseits  die  Bewußtseinsinhalte  und  stellt  sich  dem  Erfassen 
nur  durch  diese  mittelbar  dar.  Der  psychische  Lebenszusammen- 
hang ist  aber  eigentlich  ein  solcher  dieser  realen  psychischen  Vor- 
gänge und  nur  mittelbar  ein  solcher  der  Bewußtseinsinhalte;  er  ist 
ein  Zusammenhang  des  Realen,  ein  Zusammenhang  des  Unbewußten. 
Das  folgt  bei  Lipps  aus  der  Definition  des  psychisch  Realen.  Lipps 
sagt  dann:  Wenn  mich  ein  Gesicht  an  einen  Bekannten  erinnert, 
so  ist  nicht  der  Inhalt  der  Wahrnehmung  es,  welcher  den  Inhalt  der 
Vorstellung  kausal  nach  sich  zieht,  sondern  der  Vorgang  des  Wahr- 
nehmens erzeugt  die  Vorstellung.  Das  Sich  erinnern  ist  nicht 
einfach  das  Dasein  des  Erinnerungsbildes,  nach  dem  dasselbe 
vorher  nicht  da  war,  sondern  ist  eine  Tätigkeit,  ein  reales  inneres 
Geschehen.  Diese  Auffassung  liegt  ganz  im  Sinne  der  von  uns  ge- 
gebenen psychologischen  Wissenschaftstheorie,  wenngleich  auch  die 
Inhalte  als  Reize  zur  Aktualisierung  produktiver  Tätigkeiten  ilire 
bedeutsame  noch  zu  erörternde  Rolle  spielen.  Lipps  verlegt  nun 
das  reale  innere  Geschehen  jenseits  des  Bewußtseins.  Er  bestreitet 
also  eine  psychische  Kausalität  der  Bewußtseinsinhalte,  »die  erst 
von  den  Psychologen  künstlich  geschaffen  ist«,  und  behauptet  da- 
gegen die  Kausalität  der  realen  psychischen  Vorgänge.  Er  warnt 
vor  der  Verraengung  beider  Begriffe.    Bewußtseinsinhalte  als  Phäno- 


166     Über  die  wissenschaftstheoretisohen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

mene  haben  kein  Dasein  als  das  Dasein  in  meinem  Bewußtsein.  Es 
hat  keinen  Sinn,  ihnen  Prädikate  zu  geben,  die  nicht  Merkmale  meines 
Bewußtseinsinhaltes  sind,  und  damit  nur  von  phänomenaler  Geltung. 
Der  psychische  Lebenszusammenhang  ist  aber  ein  realer.  Es  hat 
also  keinen  Sinn,  von  ihm  in  bezug  auf  Phänomene  zu  sprechen. 
Wir  unterscheiden  also  nach  Lipps  den  phänomenalen  und  den 
kausalen  Zusammenhang.  Der  phänomenale  Zusammenhang  be- 
steht nur  in  der  Beziehung  aller  gegenständlichen  Bewußtseinsinhalte 
auf  mich,  auf  das  unmittelbar  erlebte  phänomenale  Ich.  Es  finden 
sich  auch  hierbei  mannigfache  Bedingtheiten,  Tätigkeiten  und  Weisen 
des  Hervorgehens;  diese  sind  aber  nur  die  besonderen  Icherlebnisse 
und  die  Weisen  meines  unmittelbaren  seelischen  Bezogenseins  auf 
gegenständliche  Bewußtseinsinhalte.  Im  Gegensatz  hierzu  steht 
nach  Lipps  der  Kausalzusammenhang,  die  reale  Gesetzmäßigkeit 
des  Psychischen.  Zwischen  beiden  bestellt  eine  Beziehung,  insofern 
wir  den  phänomenalen  Zusammenhang  gedanklich  an  ein  Reales, 
speziell  an  die  entsprechenden  realen  psychischen  Vollzüge  anknüpfen. 
Dadurch  wird  der  phänomenale  Zusammenhang  gewissermaßen  real 
zeitlich  und  kausal  lokalisiert.  Tatsächlich  jedoch  sind  die  psychi- 
schen Vorgänge  das  seelisch  Substantielle  und  Einheitliche,  das  an 
sich  Unbekannte,  welches  den  positiven  und  aktuellen  psychischen 
Grund  für  das  Dasein  der  Bewußtseinsinhalte  in  sich  schließt.  In- 
dem Lipps  diese  realen  psychischen  Vorgänge  den  aktuellen  Grund 
des  Daseins  der  Inhalte  nennt,  stellt  er  sie  in  Gegensatz  zu  den  nicht- 
aktuellen zuständlichen  Bedingungen,  den  Beschaffenheiten  der 
Psyche,  den  in  ihr  ruhenden  Gedächtnisspuren  usw.  Zu  den  ak- 
tuellen psychischen  Gründen  treten  bei  Lipps  die  Reize.  Die  Pro- 
zesse, die  durch  einen  Reiz  ausgelöst  auf  das  Dasein  seines  Bewußt- 
seinsinhaltes abzielen,  passieren  auf  dem  Wege  zu  diesem  Ziele  eine 
Sphäre,  in  welcher  sie  untereinander  und  zugleich  mit  den  gleich- 
zeitigen Geschehnissen,  die  ohne  Wirkung  eines  äußeren  Reizes  in 
dieser  Sphäre  selbst  ihren  Ursprung  nehmen,  in  Wechselbeziehung 
treten.  Diese  Sphäre  nun,  dies  ist  die  von  der  Sphäre  des  Bewußt- 
seinslebens unterschiedene  Sphäre  des  realen  psychischen  Geschehens. 
Die  Reize  bedingen  die  gegenständliche  Beschaffenheit  der  Inhalte, 
die  subjektive  Seite  der  psychischen  Organisation  bedingt  ihre 
Struktur. 


Kritik  der  Lippsschen  Theorie. 

An  dieser  Lippsschen  Lehre  ist  ein  großer  Gesichtspunkt  richtig 
und  zu  einem  bleibenden  Gewinn  aller  psychologischen  Forschung 
geworden:  nämlich  der  der  akzidentellen  Natur  des  Bewußtseins, 
wie  wir  ihn  auch  vorhin  betont  haben.  Fast  alles  übrige  bei  Lipps 
ist  freilich  schief.  Schief  ist  erstens  sein  Begriff  des  Unbewußten. 
Zweitens  die  Vermengung  eines  erkenntnistheoretischeu  Phäno- 
menalismus   mit    der    psychologischen    Phänomenalität.      Drittens 


Weiteri-8  über  die  i'rüblume  der  paychiöchen  Kausalität  uhw.  1G7 

seine  Ansicht  von  den  Gegenständen,  auf  wekho  Naturgesetze  sich 
bezielien.  Was  seinen  ersten  Mangel  anlxjtrifft,  so  sind  in  dem  Bo- 
griff des  Unhewuüten,  den  er  hat,  mehrere  Bedeutungen  konfundiert. 
Kinmal  nämlicli  das  niclit  bewußte,  nicht  unmittelbar  erlebnismäßig 
Gegebene.  Sofern  er  dieses  als  psychisch  bezeichnet,  Ijehäh  e3  aber 
den  Charakter  der  Ichzugehörigkeit,  durch  welchen  bei  ihm  gerade 
sein  Bewußtseinsbegriff  definiert  war.  Diese  »Schwierigkeit  läßt  sich 
freilich  in  einer  wisscnschaftstheoretisch  richtigen  Psychologie  be- 
heben; sie  besteht  nur  in  der  Lippsschen  Konzeption.  Sodann  be- 
zeichnet sein  Begriff  vom  Unlxjwußten  das  eigentlich  psychisch 
Wirkliche,  die  psychisclie  Realität;  und  diese  wieder  in  einem  doppel- 
ten Sinne.  Erstens  nämlich  als  psychologische  Realität  —  wobei 
dann  ein  definitorischer  Gegensatz  besteht  zwischen  diesem  psychisch 
Realen  und  der  Natur  psychischer  Erkenntnis.  Denn  über  das 
psychisch  Reale  vermag  mit  den  Mitteln  psychologischer  Erkenntnis 
ex  definitione  nichts  ausgesagt  zu  werden,  da  es  ja  im  Moment,  wo 
€3  ins  Bewußtsein  gehoben  wird,  also  Gegenstand  psychischer  Wahr- 
nehmung wird,  seines  Realitätscharakters  entkleidet  ist  und  nur  noch 
phänomenal  gilt.  Zweitens  bezeichnet  sein  Unbewußtes  das  Reale  im 
Sinne  des  absolut  Wirklichen,  an  sich  Existierenden,  des  nur  rein 
denkend  als  Träger  der  gesetzlichen  Notwendigkeit  erkennbaren 
wahren  Seins.  Damit  ist  der  zweite  Irrtum  Lipps'  gegeben:  der 
erkenntnistheoretische;  der  Gegensatz  zwischen  Bewußt  und  Un- 
bewußt wird  zu  einem  solchen  zwischen  Erscheinung  und  Wesen, 
zwischen  Schein  und  Sein.  Und  es  ist  eine  fast  komische  Umkehrung 
der  platonisch-aristotelischen  Terminologie,  wenn  Lipps  von  dem 
E^hänomen  als  Ideellem,  von  dem  Wesen  als  Reellem  spricht.  Eduard 
V.  Hart  mann  war  in  seiner  Unbewußtseinsleiire  metaphysisch  und 
erkenntniskritisch  viel  konsequenter.  Wenn  man  den  Begriff  des 
Unbewußten  für  die  Psychologie  fruchtbar  machen  will,  muß  man 
sich  dieser  Vermengung  erkenntnistheoretischer  Gedankengänge  mit 
psychologischen  gänzlich  entschlagen.  Drittens  endlich  ist  Lipps 
Behauptung  über  die  Geltung  von  Naturgesetzen  im  Physischen 
wie  im  Psychischen  falsch.  Die  Gesetze  gelten  nicht  jenseits  der 
Phänomene,  sondern  für  die  Phänomene,  und  wenn  noch  Phänomene 
im  Psychischen  als  Bewußtseinsinhalte  bezeichnet  werden,  so  gelten 
notwendige  Verknüpfungen  für  diese  und  zwischen  diesen,  aber  nicht 
jenseits  derselben,  so  daß  sie  gänzlich  von  der  Geltung  dieser  Ver- 
knüpfungen losgelöst  und  ausgeschlossen  werden.  Denn  das  Bereich 
der  Phänomene  ist  das  Gebiet  möglicher  Erfahrung  überhaupt  im 
Sinne  Kants,  in  bezug  auf  welches  die  Naturgesetze  allein  Geltung 
beanspruchen.  Lipps  verwech.selt  hier  die  .Modalität  der  Geltung 
von  CJesetzen,  welche  notwendig  und  apriorisch  ist.  mit  der  empi- 
rischen Gegebenheit  der  Gegenstände,  auf  die  sich  die  Gesetze  be- 
ziehen. Die  Phänomene  in  ihrer  unmittelbaren  Gegelx?nheit  haben 
♦reale«  Existenz;  sie  sind  sogar  das  einzig  Gegebene,  dessen  Realität  un- 
mittelbar und  untrüglich  gegeben  ist.     über  die  Evidenz  der  äußeren 


168     Über  die  ■wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Wahrnehmung  mag  noch  Streit  zwischen  philosophischen  Schulen 
sein,  über  die  der  inneren  Wahrnehmung  kann  es  keinen  geben  und 
hat  es  nie  einen  gegeben.  Es  ist  gänzlich  unerfindlich,  wie  ein  Denker 
von  Lipps'  Range  auf  einen  derartig  abwegigen  Gedankengang 
kommen  konnte.  In  allen  übrigen  Formulierungen  steht  Lipps 
auf  dem  gleichen  Boden  wie  unsere  wissenschaftstheoretischen  Fest- 
setzungen; ganz  besonders  in  bezug  auf  den  Tätigkeitscharakter 
psychischen  Geschehens  und  die  zentrale  Stellung  des  Ich  als  der 
tätigen  Spontaneität.  Die  alte  Kantische  Wahrheit  fundiert  also 
auch  das  Richtige  in  der  psychologischen  Lehre  dieses  modernen 
Führers.  Wir  können  hier  hinzusetzen,  daß,  bei  aller  Irrtümlichkeit 
der  theoretischen  Formulierung,  der  Gedanke  Lipps',  die  phänome- 
nalen Zusammenhänge  des  Seelischen  von  den  angeblich  eigentlich 
kausalen  des  realen  Unbewußten  zu  sondern,  einen  wertvollen  Kern 
enthalten.  Natürlich  sind  auch  die  phänomenalen  Zusammenhänge 
nur  kausal  erfaßbar;  Lipps  selber  spricht  von  Bedingtheiten,  vom 
Hervorgehen  des  einen  aus  dem  anderen  usw.,  was  anders  soll  damit 
umschrieben  sein  als  eine  Kausalbeziehung?  Aber  freilich  werden 
Bewußtseinserlebnisse  gemäß  den  Weisen  ihrer  Erlebtheit  kausal 
aufeinander  bezogen,  und  zwar  vom  erlebenden  Ich,  und  zwar  auch 
solche,  deren  tatsächlicher  Kausalzusammenhang  durch  Zwischen- 
schaltung unbewußter  Glieder  ein  ganz  anderer  ist,  als  er  dem  Er- 
lebenden erscheint;  dieser  Kausalzusammenhang  kann  überhaupt 
fehlen  und  irrig  oder  problematisch  sein  und  dem  Erlebenden  nur  als 
solcher  erscheinen.  Man  muß  hier  trennen:  das  Erlebnis  des  Zu- 
sammenhängens für  den  Erlebenden  —  und  das  tatsächliche  Zu- 
sammenhängen. Wir  werden  noch  Gelegenheit  haben,  diese  Fragen 
im  Verlauf  unserer  Untersuchung  genauer  zu  klären.  Hier  denke 
man  nur,  um  ein  Beispiel  zu  bilden,  an  den  Unterschied  zwischen 
einem  Phänomen  als  Motiv  zu  einem  anderen,  und  einen  Vorgang 
als  Ursache  eines  seelischen  Phänomens.  Über  die  neuerdings  auf- 
gekommene Behauptung  einer  Sonderartung  von  »verständlichen 
Zusammenhängen«  von  Jaspers  im  Gegensatz  zu  kausalen  wird 
an  spätererstelle  gehandelt  werden i),  ebenso  über  den  Rickertschen 
Begriff  psychischer,  individueller  Kausalität  2). 

Wenn  wir  also  den  Begriff  des  seelischen  Zusammenhängens  er- 
klären wollen,  und  zwar  kausal  erklären,  so  ist  dasjenige,  was  zu- 
sammenhängt, im  Gegensatz  zu  den  Behauptungen  von  Lipps 
natürlich  das  Phänomenale,  so  wie  wir  es  immer  dargestellt  haben, 
also  dasjenige,  was  er  Bewußtseinsinhalte  nennt.  Wir  vermeiden 
den  Begriff  des  Bewußtseinsvorgangs  noch  wegen  seines  akziden- 
tellen Charakters  und  wegen  seiner  phänomenologischen  Schwierige 
keiten.  Wir  meinen  hier  mit  den  Gegenständen  des  Zusammen^ 
hängens,    mit    dem   was    zusammenhängt,    das   aktuelle   psychische 


1)  Vgl.  S.  359  ff.  dieses  Buches. 

2)  Vgl.  S.  191  ff.  dieses  Buches. 


WeitereB  über  die  Probleme  der  psychiachi-n  Kausalität  usw.  169 

Geschehen.  Wir  sind  uns  freilicli  darülxjr  klar,  daü  der  liewußt- 
seinscharakter,  das  Erlebtwerden  als  Merkmal  der  Ichqualität  vom 
Psychischen  diesen  Voll/aij^  modifizieren  kann,  so  daß  es  ein  anderer 
Gesichtspunkt  ist,  diesen  V'oUzug  als  Vollzug,  d.  h.  als  Funktionieren 
des  fundierenden  Funktionskomplexes  zu  analysieren,  ein  anderer 
ihn  als  Erlebnis  hinzunehmen.  Der  erste  Gesichtspunkt  gilt  für  allo 
theoretische  funktionspsychologische  Bestimmung,  der  letztere  für 
allo  phänomenologische. 

Der  Begriff  des  Unbewußten. 

Kommen  wir  nunmehr  auf  unseren  Gegensatz  zwischen  dem  ak- 
tuellen Psychischen  und  den  fundierenden  Bereitschaften  zurück, 
80  wird  uns  die  große  psychologische  Errungenschaft,  welche  vor 
allen  anderen  Lipps  durcli  seine  Verwendung  des  Unbewußten  in 
der  Psychologie  geschaffen  hat,  von  Gewinn.  Aktuell  psychisch, 
d.  h.  phänomenal  gegeben,  mit  Bewußtseinscharakter  Ijohaftet  ist 
uns  dann  dasjenige  Psychische,  welches  durch  Wirkung  irgend- 
welcher noch  zu  erörternder  Reize  aus  der  Totalität  potentieller 
psychischer  Energien,  die  sich  wechselseitig  hemmend  beeinflussen, 
ausgelöst  wird.  Der  Auslösungs Vorgang  selber  ist  funktionspsycho- 
logisch zu  erklären,  ist  phänomenologisch  zu  beschreiben.  Aber  die 
theoretische  Frage  bleibt  zu  klären:  Welcher  Natur  sind  jene  Bereit- 
schaften? 

Vergessen  wir  nicht :  Wir  haben  Psychisches  durch  die  Art  .«meines 
Gegebenseins  definiert.  Die  Art  dieses  Gegebenseins  schloß  Bewußt- 
sein logisch-analytisch  nicht  ein;  andererseits  ist  uns  alles  unmittel- 
bar gegebene  Psychische  bewußt.  Würden  wir  Psychisches  durch 
sein  unmittelbares  Gegebensein  definitorisch  begrenzen,  so  wäre  un- 
bewußtes Psychisches  nicht  möglich.  Wie  andererseits  ist  uns  Psy- 
chisches gegeben,  insoweit  es  nicht  unmittelbar  gegeben,  nicht  Phä- 
nomen in  diesem  Sinne  ist  ?    Welches  sind  dessen  Realitätsansprüche? 

Indem  wir  hier  von  unbewußtem  Psychischem  reden  und  die 
Natur  jener  Bereitschaften  in  dessen  Sphäre  verlegen,  vollziehen  wir 
zunächst  nur  eine  Forderung,  eine  Hypothese,  welche  durch  un- 
mittelbare Beobachtung  niemals  bestätigt  werden  kann;  denn  das 
unbewußte  Psychische  ist  ja  seinem  Wesen  nach  gleich  dem  nicht 
unmittelbar  Gegebenen.  Ferner  aber  verengern  wir  in  einer  Weise, 
deren  Zulä^sigkeit  noch  durchaus  strittig  ist,  den  Umfang  der  Mög- 
lichkeiten, aus  welchen  die  Natur  jener  Bereitschaften  noch  sonst 
erklärt  werden  könnte  (z.  B.  aus  physiologischen  Vorgängen  o.  dgl.). 
Und  endlich  fassen  wir  mit  unserer  Formulierung  den  Begriff  des 
Unbewußten  so,  als  wenn  seine  dem  unmittelbar  gegebenen  Psychi- 
schen wesensgleiche  Artung  —  als  eines  Psychischen,  so  wie  wir 
eben  Psychisches  zu  erfassen  vermögen  —  schon  feststünde,  was  aber 
zunächst  durchaus  noch  nicht  der  Fall  ist. 

Wir  müssen  also  die  Erörterung  über  den  Bogriff  des  Unl>owußten 


170     Über  die  wissenschaftstlieoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

ein  wenig  erweitern.  Freilich  beabsichtigen  wir  nicht,  dies  Problem 
in  seinem  ganzen  Umfang  auch  nur  aufzurollen.  Selbst  seine  psycho- 
logische Seite  wäre  erschöpfend  nur  zu  klären  an  Hand  von  Unter- 
suchungen über  die  Art  psychischer  Wahrnehmung,  psychischen 
Erfahrens,  psychischen  Gegebenseins  und  psychischer  Tatsächlichkeit. 
Eine  derartige  Untersuchung  kann  aber  hier  noch  nicht  ihre  Stelle 
haben.  Hier  handelt  es  sich  nur  um  diejenige  theoretische  und  logi- 
sche Abgrenzung,  welche  uns  den  Begriff  des  Unbewußten  im  Hinblick 
auf  unseren  theoretischen  Zweck  zu  bestimmen  erlaubt. 


Erste  Abgrenzungen  des  Begriffs. 

Hellpach  hat  einmal i)  auf  die  Begriffsverwirrung  hingewiesen, 
welche  dadurch  entsteht,  daß  der  Terminus  Unbewußtes  in  der  Psy- 
chologie in  allen  möglichen  Bedeutungen  gebraucht  wird.  Ähnliche 
Feststellungen  über  seinen  Bedeutungswechsel  und  die  dadurch  an- 
gerichteten Unklarheiten  hat  auch  Berze  gemacht 2).  Beide  Autoren 
nehmen  unabhängig  voneinander  entschiedene  Stellung  gegen  die 
neuerdings  zutage  tretende  Überschätzung  des  Unbewußten,  welches 
auf  diese  Weise  als  bequemes  Erklärungsprinzip  für  alle  möglichen 
psychologischen  Vorgänge  herhalten  muß.  Beide  sind  sich  freilich 
darüber  klar,  daß  sie  mit  ihrem  Verlangen  nach  möglichster  Ein- 
schränkung einer  derartigen  Verwendung  des  Unbewußten  nur 
einen  Gesichtspunkt  geben,  welcher  über  die  grundsätzliche  Natur 
des  Unbewußten  und  seine  Zulässigkeit  nicht  entscheidet.  Hellpach 
unterscheidet  —  ohne  Anspruch  auf  Vollzähligkeit  —  acht  ver- 
schiedene Bedeutungen,  in  denen  der  Ausdruck  Unbewußtes  ver- 
wandt wird.  Zum  Teil  liegt  in  dieser  Verwendung  eine  theoretische 
Erklärung  und  Deutung,  zum  Teil  aber  auch  bloß  eine  Benennung 
von  psychologischen  Tatbeständen.  Man  nennt  diese  Tatbestände 
unbewußt,  ohne  sich  viel  dabei  zu  denken,  und  bezeichnet  sie  damit 
bloß  als  erklärungsbedürftig,  ohne  daß  aber  diese  Erklärung  nun 
auch  wirklich  aus  einer  Theorie  des  Unbewußten  erfolgen  müßte. 
So  werden  Phänomene  der  Hypnose,  des  Traumes,  der  Dämmer- 
zustände als  unbewußt  bezeichnet,  aber  natürlich  ohne  jede  grund- 
sätzliche Berechtigung,  lediglich  auf  Grund  der  deskriptiven  Sonder- 
art ihres  aktuellen  Gegebenseins.  Ferner  heißen  manche  »Instinkt« 
Handlungen  und  Reaktionen  bei  Tieren,  selbst  dann,  wenn  sie  als 
kompliziert  und  zielgerichtet  auffallen,  wie  der  Nestbau  mancher 
Vögel,  unbewußt  —  ebenfalls  ohne  jede  zulängliche  Begründung. 
Unbewußt  heißen  ferner  oft  Triebhandlungen  im  allgemeinen.  Ferner 
wird  das  Unbemerkte  oder  Ununterschiedene  auch  als  Unbewußtes 
bezeichnet.  Es  handelt  sich  hierbei  meist  um  unbemerkte  Teilinhalte 
eines   komplexen   Gesamteindrucks,   welche   selber   nicht    besonders 

1)  Unbewußtes  oder  Wechselwirkung?    Ztschr.  f.  Psychol.    Bd.  48.    S.  238ff. 

2)  Die  primäre  Insuffizienz  der  psychischen  Aktivität.    Wien  1914.    S.  342 
biß  352. 


Weitores  über  die  Prublomc-  der  psychischen  Kausalit&t  usw.  171 

iKJWußtHoinsrepräöentiort  sind,  besonders  Äluskel-  und  Golenkenipfin- 
dungen,  aber  auch  Teiltöne  eines  Klanges;  ebenso  auch  um  die  »Wahr- 
nehmung, die  da  sein  muß,  weil  sonst  il»r  Vielfältiges  nicht  da  «ein 
könnte«  (Leibniz,  zitiert  nach  Hellpach):  Wenn  wir  das  Rauschen 
des  Regens  hören,  hören  wir  nicht  den  Fall  der  einzelnen  Tropfen, 
und  doch  ist  das  Rauschen  des  Regens  nur  ein  Vielfaches  der  einzelnen 
Tropfengeräusche.  Fechncr  iiat  für  diese  unljemerkten  Empfin- 
dungen den  Ausdruck  der  negativen  Empfindung:  sie  ist  als  Empfin- 
dung nicht  da,  sondern  nur  als  potentielle  Möglichkeit  für  den  Fall 
einer  intensiven  Reizsteigorung.  Berze  fügt  dieser  Aufzählung  noch 
einige  weitere  Klassen  von  Phänomenen  hinzu,  welche  der  Sprach- 
gebrauch ebenfalls  zuweilen  Unbewußt  nennt.  In  allen  diesen  Fällen 
ist  aber  die  Deutung  ganz  unabhängig  von  dieser  Benennung.  iSie 
ist  auch  aus  einer  Theorie  des  gradweises  abstufbaren  Bewußtseins, 
der  Aufmerksamkeit  oder  ähnlichen  Annahmen  möglich^).  Ja  es 
kommt  vor,  daß  diese  als  unbewußt  bezeichneten  Tatbestände  von 
denselben  Forschern,  die  sie  unbewußt  nennen,  durch  ein  Verhalten 
des  Bewußtseins  erklärt  werden.  Jedenfalls  liegt  in  ihnen  keine 
grundsätzliche  Nötigung,  ein  besonderes  Unbewußtes  heranzuziehen, 
wenngleich  natürlich  ihre  Erklärung  auch  aus  diesem  stattfinden 
könnte,  falls  ein  solches  Un))ewußtes  aus  anderen  Gründen  ab  Er- 
klärungsprinzip vorausgesetzt  werden  müßte. 

Wenn  aber  derartige  Konzeptionen  eines  Erklärungsprinzips  auf- 
gestellt werden,  so  muß  es  Tatbestände  geben,  welche  eine  andere 
Erklärungsmöglichkeit  nicht  oder  doch  nur  gezwungen  zulassen. 
Zu  derartigen  Tatbeständen  gehören  die  bisher  genannten,  dem  Be- 
griff des  Unbewußten  unterstellten  Tatbestände  nicht.  Gibt  es  nun- 
mehr auch  diese  Tatbestände? 


Das  Problem    der   Reproduktion    und    ihrer   theoretischen 

Möglichkeit. 

►Sogleich  denkt  man  an  den  Tatsachenkomplex,  welcher  für  die 
ganze  Psychologie  von  fundamentaler  Bedcutinig  ist  und  unter  dem 
Begriff  der  Reproduktion  zusammengefaßt  wird.  Die  Repro- 
duktion mit  iiirer  Unwillkürliclikeit,  Mechanität  und  dennoch  ge- 
staltenden und  schöpferischen  Wirkung  hat  denn  auch  die  Konzeption 
des  Unbewußten  zuerst  entstehen  lassen.  Hierher  gehört  ferner  alles, 
was  mit  dem  Problem  der  Reproduktion  in  näherem  Zusammenhange 
steht:  vor  allem  dies,  daß  sich  im  gegenwärtigen  Psychischen  Wirkun- 


1)  \fi\.  V.  Hurt  mann.  Der  Begriff  des  Unbewußten.  »Deutschland«.  1903. 
Heft  13.  Das  »  minder  Bewußte«  oder  nicht  gerade  auf  die  verlangte  Weise  Bewußte 
»kann  nur  mit  Unrecht  als  ein  Unbewußtes  bezeichnet  werden«.  Nach  v.  Hart- 
mann  hat  das  Bewußtsein  keine  tJrade,  sondern  was  man  so  nennt,  ist  auf  Unter- 
schiede im  Inhalt  des  Bewußtseins  zurückzuführen  ( Philos,  des  l'nbewußton. 
Teil  II.  S.  51 — COff.).  Jedenfalls  erkennt  er  grundsätzlich  zwischen  dem  Bewußt- 
sein und  Unbowußtscin  keinen  bloß  intensiven  Unterschied  nn. 


172     Über  die  wisseuschaftstheoretiechen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

gen  zeigen,  deren  auslösende  Ursache  ihrerseits  nicht  im  aktuellen 
Psychischen  gelegen  war.  Die  Phänomene  der  Übung  und  Erlernung, 
z.  B.  von  »automatischen«  komplizierten  Bewegungen  zweckvoller 
Art  unter  Ausschluß  »der  vorgängigen  Wahl«  (Wähle)  gehören  hier- 
her. Ebenso  Phänomene  des  sogenannten  Instinktes  und  der  Auto- 
matismen anderer  Art.  Ferner  die  vielfachen  Anzeichen  einer  schöpfe- 
rischen und  produktiven  Tätigkeit,  die  aber  im  Bewußtseinsleben 
nicht  auffindbar  ist:  zu  diesen  rechnen  die  sogenannten  Freudschen 
Phänomene.  Eine  Teilfrage  endlich  dieses  Problems  ist  nun  auch 
unsere  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  Erlebnisse  zu  den  fundierenden 
Funktionen. 

Es  dürfen  aber  hier  keine  Mißverständnisse  aufkommen  über 
dasjenige,  was  wir  denn  nun  eigentlich  fragen  und  was  uns  zur  Er- 
örterung des  Unbewußten  zu  zwingen  scheint.  Man  kann  fragen 
nach  dem  Verhältnis  eines  phänomenalen  Erlebnisses  zu  der  Ge- 
gebenheitsweise des  funktionalen  Vollzuges,  welcher  dies  Erlebnis 
konstituiert.  Man  kann  zweitens  fragen  nach  dem  Verhältnis  des 
phänomenalen  Psychischen  zu  den  es  fundierenden  Bereitschaften. 
Nur  diese  letztere  Frage  ist  von  prinzipieller  Art  und  nötigt  zur 
Hereinziehung  des  Unbewußten  in  die  Diskussion.  Diese  Frage 
läßt  sich  auch  so  stellen:  gibt  es  nichtaktuelles  Psychisches?  Die 
erste  Frage  hingegen,  welche  das  Verhältnis  der  Gegebenheit  von 
Erlebnissen  und  funktionalen  Vollzügen  behandelt,  ist  demgegenüber 
gleichsam  eine  Detailfrage  innerhalb  des  Bewußten.  Sie  ist  mit  der 
allgemeinen  Regel,  daß  Jemand,  der  Gegenständliches  erlebt,  nicht 
zugleich  auch  das  Erleben  des  Gegenstands  erlebt,  auf  das  Gleise 
des  Unbemerkten  im  Sinne  eines  auch  aus  dem  Bewußtsein  deutbaren 
seelischen  Tatbestandes  geschoben. 

Gleichviel  welcher  psychologischen  Gesamtanschauung  man  hul- 
digt, so  ist  unbestreitbar,  daß  es  seelische  Tatbestände  gibt,  die  aus 
dem  eigentlich  Bewußten  nicht  zureichend  erklärt  werden  können. 
Ihre  Erklärung  ist  auf  drei  Wegen  möglich :  aus  einer  Konzeption 
des  Unbewußten,  aus  Nichtpsychischem  (physiologischen  Konzep- 
tionen) und  aus  dem  Bewußten  unter  Zuhilfenahme  des  Nichtpsychi- 
schen. Dabei  schließen  sich  diese  Wege  der  Erklärung  keineswegs 
aus.  Es  ist  sehr  wohl  möglich,  zur  Erklärung  der  Verursachung 
eines  Vollzuges  eine  unbewußte  Bereitschaft,  zu  deren  Aktualisierung 
und  Gehaltsbestimmung  aber  Nichtpsychisches  und  Bewußtes  als 
auslösende  Bedingungen  heranzuziehen  i). 

Für  den  oben  unter  Reproduktion  im  weitesten  Sinne  zusammen- 
gefaßten großen  Komplex  ist  man  sich  allerseits  darüber  einig,  daß 
ihr  etwas  objektives  Überdauerndes  zugrunde  liegen  muß.    Der  eine 


1)  Die  scharfsinnigsten  Bedenken  gegen  die  Konzeption  des  Unbewußten 
äußert  Brentano  (Psychologie  usw.  1874.  S.  133 ff.).  Allein  er  geht  von  einem 
Bewußtseinsbegriff  aus,  den  wir  nicht  teilen  und  der  mit  Notwendigkeit  xur  Gleich- 
setzung des  Psychischen  mit  dem  Bewußten  führen  muß.  Wir  behandeln  Bren- 
tanos Einwendungen  daher  erst  in  der  Phänomenologie  des  Bewußtseins. 


WoiteroB  über  dio  Pfoblomc  der  psychischen  Kausalität  uüw.  173 

Weg  dies  zu  bestimmen,  der  am  häufigsten  Ix'gangene,  verwei->i  uns 
auf  dio  pliy.siologisehen  Hypostasierungen.  In  diesem  Sinne  ist  die 
ll^'do  von  .Spuren,  Dispositionen  usw.  als  unmittelbaren  physischen 
Korrelaten  von  aktuell  Psychischem.  Wir  äußern  uns  liier  nicht 
gegen  diese  Erklärungsmöglichkeit,  welche  durch  empirische  Veri- 
fizierung jederzeit  eine  Wirklichkeit  werden  kann.  Andererseits  ist 
es  weder  Kantisch  noch  psychologisch,  uns  sofort  und  restlos  zu  ihr 
zu  flüchten.  Psychologisch  gewinnen  wir  gar  nichts  mit  ihr.  Ihre 
Annahme  ist  geeignet,  das  Vorliegen  von  Kausalzusammenhängen 
im  Psychischen  überhaupt  in  PVage  zu  stellen:  sobald  man  nämlich 
nichts  anderes  gelten  läßt  als  die  zerebralen  Mechanismen  und  das 
aktuell  Psychische.  Damit  würde  denn  psychologische  Erklärung 
überhaupt  unmöglich  und  bedeutungslos,  und  das  Psychische  würde 
wieder  zum  bloßen  Epiphänomen.  Wir  haben  aber  in  unserer  Wissen- 
schaftslehre die  Funktionen  und  Grundfunktionen  des  Psychischen 
bereits  aus  dem  Wesen  des  Psychischen  abgeleitet,  aus  Qualitäten, 
welche  es  vor  dem  Nichtpsychischen  voraus  hat.  Wenn  wir  freilich 
das  Bewußtsein  zum  Definitionsmerkmal  des  Psychischen  machen, 
so  nutzt  uns  das  alles  nichts.  Wir  müssen  dann  auch  diese  eigent- 
lichen seelischen  Triebkräfte  aus  dem  Bereich  des  Psychischen  eli- 
minieren. Aber  wir  haben  ja  bereits  gesehen,  daß  wir  durchaus 
keinen  Grund  dazu  haben.  Psychisches  durch  das  Bewußtsein  zu  defi- 
nieren. Und  es  wäre  nahezu  lächerlich,  um  dieser  falschen  und  will- 
kürlichen Definition  willen  unsere  wissenschaftstheoretischen  Grund- 
legungen zugunsten  eines  materialistischen  Theorems  über  Bord  zu 
werfen.  Sind  sie  richtig,  dann  ist  auch  das  Unbewußte  an  dieser  Stelle 
gefordert.  Es  ist  dasjenige  Psychische,  welchem  das  zufällige  Merkmal 
nicht  konstitutiver  Art,  welches  wir  Bewußtsein  nennen,  nicht  zu- 
kommt. Endlich  spricht  hierfür  auch,  daß  das  Reproduzible  deutliche 
Wirkungen  im  Bewußtsein  ausüben  kann,  ohne  selber  reproduziert 
zu  werden. 


Widerlegung  von  Bedenken  gegen  die  Zulässigkeit  der 
Konzeption  des  Unbewußten. 

Welche  Schwierigkeiten  bietet  diese  Konzeption  des  Unbewußten? 
Hellpach,  der  diese  Frage  gründlich  geprüft  hat,  und  ein  Gegner 
des  Unbewußten  ist,  wendet  ein,  seine  Annahme  stelle  den  Kausal- 
zusammenhang innerhalb  des  Bewußten  in  Frage.  Diese  Folgerung 
ist  selbstverständlich  richtig.  Aber  was  schadet  das?  Das  wäre  doch 
nur  dann  bedenklich,  wenn  Bewußtsein  und  Psychisches  identisch 
wären.  Ein  lückenloser  Kausalzusammenhang  innerhalb  der  Bowußt- 
seinsphänomene  Iwsteht  doch  ohnehin  nicht.  Und  wir  haben  durch 
die  Konzeption  des  Unbewußten  die  Möglichkeit  gewonnen,  die  Un- 
abgesclilossenheit  der  Kausalreihcn  in  vielen  Fällen  zu  vormcidea 
oder  doch  zu  verringern. 

Zweitens  wendet  Hellpach  ein,  das  Eingreifen  des  Unbewußten 


174     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Reproduziblen  ins  Bewußte  sei  eine  Deutung.  Ganz  gewiß:  aber 
die  Annahme  eines  physischen  Ursachenprinzips  ist  das  nicht  minder. 
Drittens  meint  Hellpach,  das  Reproduzible  sei  in  dieser  Fassun«' 
nicht  bloß  Material,  sondern  indem  es  zu  den  Bedingungen  des  Be- 
wußtseins beitrage,  eine  mitbestimmende  Tätigkeit.  Auch  dies  ist 
richtig.  Aber  es  ist  uns  das  kein  Einwand,  sondern  eine  neue  Stütze 
unserer  wissenschaftstheoretischen  Grundanschauung  vom  Cha- 
rakter alles  Psychischen  als  eines  Tuns.  Indem  wir  das  Spontaneitäts- 
prinzip auch  auf  die  Reproduktion  ausdehnen,  erlösen  wir  sie  aus 
ihrer  toten  schematischen  Gebundenheit  an  die  Formeln  einer  miß- 
brauchten Mechanität,  in  welche  die  bloße  Assoziationspsychologie 
sie  allzulange  geschlagen  hat.  Wir  müssen  dies  auch  Berzei)  gegen- 
über betonen,  dessen  sonst  so  kritische  Ausführungen  in  diesem 
Punkte  den  Bereich  der  intentionalen  Psychologie  verlassen  und  in 
der  Reproduktion  durchaus  keine  geistige  Tätigkeit,  sondern  nur 
eine  passive  »Ekphorie  von  Engrammen  «  sehen  wollen  —  gleich  als 
ob  die  überflüssige  Semonsche  Terminologie  geeignet  wäre,  die  alte 
mechanische  Lehre  zu  verjüngen.  Bei  Berze  erklärt  sich  diese  Ein- 
schränkung aus  einem  Mißverstehen  des  Intentionalitätsbegriffes 
überhaupt,  den  er  in  der  Brentanoschen  Schule  vorgefunden  hat 
und  viel  zu  äußerlich  voluntaristisch  nimmt,  ohne  ihn  in  seinen 
richtigen  theoretischen  Fundierungen  klar  zu  erfassen  2). 

Hellpach  sieht  ferner  in  der  Konzeption  des  Unbewußten  noch 
eine  besondere  Schwierigkeit  und  wirft  Hirt,  der  diese  Schwierigkeit 

1)  Die  primäre  Insuffizienz  der  psychischen  Aktivität.  S.  349.  An  anderen. 
Stellen  freilich  stellt  sich  Berze  auch  zu  dem  Reproduktionsphänomene  ganz  so, 
wie  wir,  im  Sinne  der  Aktionspsychologie. 

2)  Über  den  Begriff  Intention  vgl.  S.  339ff.  dieses  Buches.  Was  Berze  an- 
langt, so  spricht  er  von  »intentionaler«  und  »impressionaler«  »Sphäre«  als  koor- 
dinierten Geschehensgebieten;  mit  letzteren  meint  er  nicht  bloß  die  »hyletischen 
Daten«  Husserls  als  unselbständige  Materialien  psychischer,  noetischer  Phäno- 
menalität,  sondern  das  ganze  Gebiet  der  Assoziationspsychologie,  in  welches  er 
die  Aktivität  gleichsam  als  eine  andere  Reihe  von  Elementen  (er  spricht  auch 
direkt  von  »intentionalen  Elementen«)  einschaltet.  So  liegen  die  Dinge  aber  nicht. 
Wir  werden  später  noch  die  möglichen  Bedeutungen  des  Intentionalen  dartun; 
schon  hier  aber  läßt  sich,  rückblickend  auf  unsere  wissenschaftstheoretischen 
Grundlegungen,  sagen:  Das  intentionale  oder  noetische  Moment,  als  das  konstitu- 
tive Wesensmerkmal  des  psychischen  Geschehens  als  einer  Tätigkeit,  ist  ganz 
inkommensurabel  mit  irgendeiner  anderen  Sphäre,  etwa  von  Impressionen  oder 
Elementen.  Diese  sind  unselbständige  Materien,  an  denen  die  Intentionen  sich 
realisieren.  Die  Intentionen  zer ''allen  nicht  in  intentionale  »Elemente«;  Elemente 
sind  nur  die  materialen,  gleichsam  stofflichen  Bausteine,  aus  denen  die  Intentionen 
Erlebnisse  bilden.  Nach  Husserls  schönen  und  klaren  Ausführungen  (Ideen  zu 
einer  reinen  Phänomenologie.  S.  174 ff.)  sind  die  Intentionen  die  eigentlich  »psy- 
chische Seite  der  Erlebnisse  «.  Elementaranalyse  im  assoziationstheoretischen  Sinne 
ist  nur  innerhalb  der  Erlebniseinheiten  an  den  psychologisch  unselbständigen 
Materien  derselben  möglich.  Und  die  »Assoziationen«  bilden  nur  insofern  einen 
Gegensatz  zur  »Aktion«,  als  sie  das  Wesen  des  intentionalen  Aktes  selber  nicht 
aufzulösen  vermögen.  Im  übrigen  bleiben  sie  als  Formen  der  Verknüpfung  von 
solchen  Erlebnissen  und  Akten  untereinander,  soweit  diese  Verknüpfungen  nicht 
eelber  urteilsartige  oder  sonst  intentionale,  noetische,  »determinierte«  sind,  be- 
stehen. 


Weitorca  über  die  Probleme  der  [Sychischon  KauBaliUit  usw.  175 

nicht  sieht,  weil  sie  nicht  besteht,  in  scliarfen  Worten  vor,  er  umgehe 
das  eigentliche  Problem.  Nicht  darin  liege  diese  Schwierigkeit,  daß 
das  Bewußte  ufxstiifbar  sei,  und  daß  nicht  alles  im  momentanen  Be- 
wußtsein anwesend  sei,  was  in  ihm  seine  Wirkungen  äußert.  Viel- 
mehr darin,  daß  iium  vom  Unbewußten  im  kSinno  eines  hypothetischen, 
keinem  Menschen  als  Tatbestand  gegebenen  Etwas  jenseits  des  Kör- 
perlichen und  des  Bewußten  spreche;  gerade  deshalb  sei  es  fraglich, 
ob  mau  jene  unbestreitbaren  Tatbestände  unbewußt  nennen  soll 
und  damit  der  Verwcchshing  mit  jenem  Etwas  preis  geben  dürfe. 
Hier  sclieint  uns  Hellpach  selber  die  »Scliwierigkeiten  künstlich  zu 
.schaffen.  Auch  wir  reden  nicht  davon,  daß  das  Bewußtsein  nach 
Graden  abstuf  bar  ist;  das  ist  selbstverständlich  und  hat  mit  dem 
Unbewußten  gar  nichts  zu  tun.  Ebensowenig  reden  wir  von  jenen 
psychologischen  Tatbeständen,  welche  fälschlich  unbewußt  genannt 
werden,  obwolil  sie  aus  einem  besonderen  Verhalten  des  Bewußtseins 
erklärbar  sind.  »Sondern  wir  reden  von  jenen  psychologischen  Tat- 
Ijeständen,  die  aus  einem  solchen  Verhalten  des  Bewußtseins  eben 
nicht  erklärbar  sind.  Daß  es  solche  Tatbestände  gibt,  hat  ja  Hell- 
pach selber  zugegeben,  sonst  brauchte  er  das  Physisclie  ja  nicht  zur 
Erklärung  heranzuziehen.  Zur  Erklärung  dieser  Tatbestände  ziehen 
wir  nun  das  Unbewußte  in  der  Tat  hypothetisch  iieran,  und  zwar 
ganz  im  Sinne  von  Hellpachs  Beschreibung.  Und  wenn  wir  diese 
Tatbestände,  welche  wir  durch  das  Unbewußte  erklären,  nun  auch 
als  Unbewußt  bezeichnen,  so  verhalten  wir  uns  logisch  völlig  ein- 
wandfrei. Richtig  ist  an  Hellpachs  Gedankengang,  daß  die  Deutung 
psychischen  Geschehens  aus  dem  Unbewußten  den  Tatbestand  dieser 
Deutung  jeder  möglichen  Verifizierung  durch  die  Wahrnehmung  ent- 
zieht. Denn  das  Unbewußte  ist  nicht  wahrnehmbar.  Hellpach 
hat  auch  darin  recht,  daß  er  die  Behauptung  ablehnt,  die  Hj'pnose 
bringe  das  Unbewußte  zum  Erleben.  Tatsächlich  erlebt  man  auch 
in  der  Hypnose  ein  Bewußtes,  welches  uns  aber  vorher  unbekannt 
war.  Bewußtseinscharakter  ist  das  Wesen  jedes  Erlebnisses;  wird 
also,  wie  behauptet,  unbewußfes  in  der  Hypnose  erlebt,  so  hat  es 
seine  Wesensart  damit  eingebüßt,  nämlich  die,  niemals  im  Erlebnis 
gegeben  sein  zu  können. 

Aber  in  dieser  grundsätzlichen  Unwahrnehmbarkoit  —  nicht 
Unerkennbarkeit,  wie  Hellpach  will,  —  liegt  doch  keine  grund- 
sätzliche Schwierigkeit.  Kräfte  können  wir,  um  ein  Beispiel  zu 
nennen,  ebenfalls  nicht  wahrnelimcn:  welcher  Mensch  wird  aber  die 
Aimahme  von  Kräften  deshalb  ablehnen? 

über  die  Möglichkeit   positiver  Bestimmung  des  Unbe- 
wußten. 

Viel  schwieriger  als  die  Begründung  der  Existenz  des  Unbewußten 
und  seiner  theoretischen  Zulässigkeit,  seines  Gefordortseins  ab  psy- 
chischer Sphäre  ist  es  nun  freilich,  positive  Bestimmungen  an  ihm 


176     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

zu  treffen.  Hier  gibt  es  zwei  grundlegende  Möglichkeiten.  Die 
erste,  der  wir  uns  anschließen,  geht  dahin,  genau  so,  wie  wir  den 
Bewußtseinscharakter  am  Psychischen  für  akzidentell  halten,  auch 
den  Unbewußtseinschai'akter  für  akzidentell  zu  halten.  Soweit  die 
Sphäre  der  Bewußtseinsgegebenheit  von  Psychischem  geht,  be- 
handeln wir  sie  beschreibend,  d.  h.  gewinnen  positive  Merkmale  und 
Bestimmungsstücke  aus  der  Wahrnehmung.  Das  übrige  Gebiet  des 
Psychischen  wird  durch  die  Wahrnehmung  nur  negativ  oder  ein- 
schränkend bestimmt;  seine  Bestimmungsstücke  werden  denkend 
entwickelt,  und  zwar  gemäß  den  regulativen  Gesichtspunkten,  welche 
uns  die  Wissenschaftslehre  für  das  Psychische  überhaupt  an  die 
Hand  gibt. 

Der  zweite  Weg,  das  Unbewußte  positiv  zu  determinieren,  ist  der 
einer  konstruktiven  theoretischen  Konzeption  über  dasselbe,  wobei 
die  Bestimmungsstücke  entweder  nach  Analogie  oder  aus  dem  Gegen- 
satz zu  denen  gebildet  werden,  welche  dem  phänomenalen  Psychischen 
der  Bewußtseinssphäre  konstitutiv  sind.  Hierbei  wird  das  bewußt- 
seinsgegebene Psychische  zu  einem  gewissermaßen  bloß  zufälligem 
Nebeneffekt  des  Unbewußten.  Die  Bestimmung  dieses  Unbewußten 
überschreitet  also  die  ihr  gezogenen  logischen  und  methodischen 
Erkenntnisgrenzen  im  Sinne  dieser  konstruktiven  Vereinheitlichung 
des  Psychischen  überhaupt,  und  seiner  Einbeziehung  in  das  Un- 
bewußte. 


Nochmals   Unbewußtes    und    psychische   Realität. 

So  ist  bei  Lipps  das  Unbewußte  zugleich  das  psychisch  Reale. 
Wir  haben  uns  hierzu  bereits  weiter  oben  geäußert.  Es  ist  gar  keine 
Frage,  daß  das  Psychische  in  seiner  Realität  gänzlich  unabhängig 
ist  vom  Bewußtseinscharakter;  somit  ist  auch  das  Unbewußte  real. 
Freilich  ist  seine  Realität  nicht  in  der  unmittelbar  evidenten  Weise 
gegeben  wie  die  des  bewußten  Psychischen.  Sie  wird  denkend  er- 
kannt. Der  Gegensatz,  den  Lipps  hier  hineinträgt,  ist  also  nicht 
ein  solcher  des  Gegenstandes,  sondern  ein  solcher  des  Erkennens. 
Im  übrigen  sehen  wir  in  den  Konzeptionen  von  Lipps  einen  frucht- 
baren Gewinn  auch  für  die  Weiterentwicklung  unseres  Problems  der 
psychischen  Kausalität.  Seine  Konzeption  des  Unbewußten  er- 
möglicht, wofern  nicht  andere  Hindernisse  noch  auftauchen  sollten, 
in  der  Tat  den  lückenlosen  Kausalzusammenhang  alles 
Psychischen.  Dieser  tritt  gleichsam  nur  an  einzelnen  Punkten 
in  der  Sphäre  der  bewußten  Phänomenalität  hervor,  spannt  sich 
aber  zwischen  ihr  und  dem  Unbewußten  kontinuierlich 
aus.  Wir  fragen  natürlich  nach-  der  Verursachung  und  nach  dem 
Zusammenhang  von  Phänomenen.  In  der  Antwort  aber 
werden  wir  auf  unbewußte  Bereitschaften,  auf  die  Mög- 
lichkeit unbewußter  auslösender  Bedingungen  und  Reize, 
auf  die  Möglichkeit  unbewußter  Wirkungen  und  Zwischen- 


Wpitrres  über  dir-  I'rohlrmf  der  paychinohcn  KauHnlität  urw.  177 

gliedfr  hingowicHcn.  Dadurch  liißt  sich  eine  dynamische 
Psychologie  von  der  Phänomenologie  aus,  aber  ihre  Gren- 
zen durchaus  überschreitend,  auf  Grund  unserer  Wissen- 
schaft ^theoretischen  Obersätze  auferbauen. 


Freud. 

Auf  Lippssohcm  Boden  stellt  auch  Freud  hinsichtlich  seiner 
Theorie  des  Unbewußten.  Aber  indem  er  die  schöpferische  Kraft 
dieses  Unbewußten  zu  erklären  sucht,  muß  er  ihm  Bestimmungs- 
stücke zufügen,  welche  bei  Lipps  noch  fehlen.  Er  entnimmt  sie, 
wie  Hcllpach  richtig  bemerkt,  dem  Bewußtseinsleben,  indem  er 
dessen  ziclgericiitetc  Bclierrscliung  durch  Verstand  und  Willen  auf 
das  Unbewußte  analogisierend  überträgt.  An  dieser  Stelle,  wo  es 
sich  um  reine  Theorie  handelt,  kann  dazu  nur  gesagt  werden:  als 
heuristische  Konzeption  ist  ein  derartiger  Gedanke  durchaus  möglich. 
Nur  muß  Freud  dann  auch  die  seelischen  Funktionen  angeben, 
welche  durch  ihren  Vollzug  diese  der  bewußten  Reflexionsarbeit 
analogen  Ergebnisse  im  Unbewußten  bewirken.  An  späterer  Stelle 
wird  sich  zeigen,  wieweit  er  dieser  Fordenmg  zu  genügen  vermag. 

Jedenfalls  besteht  zunächst  kein  Grund,  mit  Hellpach  in  dem 
Verfahren  Freuds  eine  Überschätzung  der  Analogieschlüsse  zu  er- 
blicken. Derartige  Hypothesen  sind  genau  so  berechtigt,  wie  alle 
anderen. 

Bedenklicher  ist  Lipps  Definition  des  Bewußtseins,  welche  Freud 
aufgenommen  hat,  als  Organ  zur  Wahrnehmung  von  psychischen 
Qualitäten.  Aber  hierüber  kann  erst  in  einer  Phänomenologie  des 
Bewußtseins  gehandelt  werden. 

Ergebnis  der  Untersuchungen  über  das  Unbewußte. 

Wir  betonen  also  nochmals:  eine  derartige  Konzeption  des  Un- 
bewußten, auf  welches  alle  von  uns  vorher  entwickelten  Definitions- 
merkmalc  des  Psychischen  überhaupt  zutreffen  und  welches  den  Ober- 
sätzen psychologischer  Theorie  genau  so  untersteht  wie  alles  Psy- 
chische, hat  keinerlei  theoretische  Schwierigkeiten.  Sie  ist'  nicht 
nur  heuristisch,  sondern  sogar  theoretisch  gefordert.  Daß  das  Be- 
wußtsein kein  konstitutives  Merkmal  des  Psychischen  ist,  ist  nicht 
ihre  Folge,  sondern  eine  völlig  unabhängige  Feststellung. 

Es  bliebe  noch  der  Einwand:  woher  wir  denn  wüßten,  daß  dieses 
Unbewußte  etwas  Seelisches  sei,  da  doch  die  Merkmale  des  Unbe- 
wußten auf  jedes  transzendierendo  Sein  paßten.  Man  sieht  aus 
dem  Vorangegangenen  leicht,  daß  dieser  Einwand  die  hier  ent- 
wickelte Konzeption  gar  nicht  zu  berühren  vermag.  Er  entsteht 
daraus,  daß  es  noch  immer  nicht  richtig  verstanden  wird,  wenn  die 
Definition  des  Psychischen  nicht  durch  das  Merkmal  des  Bewußt- 
seins erfolgt. 

Kronffld,  PsychUlrUi-he  ErkcnntnU  |2 


178     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Dennoch  muß  man  zugestehen,  daß  auch  die  erkenntniskritischen 
Schiefheiten  von  Lipps  den  genannten  Einwand  verständlich  machen. 
Wenn  Lipps  das  Unbewußte  als  das  eigentliche  psychisch  Reale,  als 
das  wahre  psychische  Sein  definiert,  so  muß  man  dem  entgegenhalten, 
daß  ein  so  definiertes  wahres  Sein  weder  etwas  Psychisches  ist,  noch 
etwas  Reales,  Der  Begriff  des  Psychischen  und  des  Physischen  um- 
faßt bereits  Phänomene.  Ein  Unbewußtes,  das  zur  Erscheinungs- 
welt in  Gegensatz  tritt,  ist  tatsächlich  nicht  mehr  Psychisch. 
Ebensowenig  ist  es  Physisch.  Es  ist  »wahres  Sein  «,  also  transzendent. 
Es  ist  auch  nicht  real,  denn  Realität  ist  eine  kategoriale  Prädikation 
von  Phänomenen.  Es  ist  ideal.  Damit  wären  wir  dann  beim 
Hartmannschen  Unbewußten  gleich  dem  Absoluten^). 


1)  Es  ist  natürlich  nicht  möglich,  den  Gedankenbau  eines  großen  philo- 
sophischen Denkers  über  sein  Zentralproblem  mit  ein  paar  Worten  zu  umschreiben, 
geschweige  denn  zu  diskutieren.  Eduard  von  Hartmann  hat  das  Problem 
des  Unbewußten  in  verschiedenen  Werken  behandelt.  Es  seien  zitiert:  Philo- 
sophie des  Unbewußten,  10.  Auflage,  besonders  Bd.  2,  S.  153—200,  482 ff.,  Bd.  3, 
S.  295—330;  Archiv  für  systematische  Philosophie,  Bd.  6,  S.  373 ff.  und  vor 
allem  die  moderne  Psychologie,  S.  75ff. ,  121  ff. ,  274 ff.  Hier  sei  nur  gesagt: 
Seine  Lehre  vom  Unbewußten  akzeptieren,  heißt  seine  gesamte  Philosophie  an- 
nehmen. Eine  Herauslösung  und  psychologische  Fruchtbarmachung  seiner  Un- 
bewußtseinslehre aus  ihrem  philosophischen  Gesamtrahmen  ist  unmöglich.  Bei 
Hart  mann  ist  es  dem  Unbewußtsein  wesentlich,  daß  es  etwas  Psychisches  ist, 
und  zwar  etwas  individuell  Psychisches.  Und  doch  ist  das  Unbewußte  kein  Teil 
oder  Bereich  der  Erscheinungen.  Die  Phänomenalität  des  Psychischen  wird  durch 
ihren  Bewußtseinscharakter  definiert.  Alles  was  unter  sie  fällt,  ist  vom  Begriff 
des  Unbewußten  ausgeschlossen.  Hart  mann  ist  sich  seines  Widerspruches  voll 
bewußt,  erklärt  ihn  aber  für  auflöslich.  Er  vollzieht  diese  Auflösung  etwa  folgender- 
maßen: Das  psychische  Urphänomen  ist  das  Gefühl.  Aus  Gefühl  wird  durch 
kategoriale  Funktionen  die  Empfindung,  aus  Empfindungen  durch  andere  kate- 
goriale Funktionen  die  Anschauung,  aus  Anschauungen  wieder  durch  andere  kate- 
goriale Funktionen  die  Vorstellung.  Aus  dieser  Begriffe  usw.  Alle  diese  Bildungen 
sind  psychische  Phänomene  und  als  solche  notwendig  auch  Inhalte  eines  Bewußt- 
seins. Sie  sind  psychische  Phänomene  nur  insofern  sie  für  irgendein  Bewußtsein 
bewußt  sind,  nicht  aber  insofern  sie  für  ein  anderes  Bewußtsein  unbewußt  sind. 
Er  unterscheidet  also  verschiedene  Bewußtseiue  in  demselben  Individuum,  ein 
oberstes  Bewußtsein  und  Bewußtseine  niederer  Individualitätsstufen.  Mit  Bezug 
auf  das  oberste  Zentralbewußtsein  können  die  genannten  Phänomene  relativ  un- 
bewußt sein.  Relativ  unbewußte  Bildungen  sind  aber  psychische  Phänomene 
nur  als  relativ  bewußte,  nicht  aber  als  unbewußte  Phänomene.  Das  Paradoxe 
an  ihnen  liegt  darin,  daß  sie  Phänomene  der  individualen  Seele  sind  und  doch 
nicht  im  obersten  Zentralbewußtsein,  welches  gewöhnlich  für  das  einzig  vor- 
handene Bewußtsein  schlechthin  gehalten  wird. 

Wollen  und  Denken  hingegen  gehen  über  den  Phänomenalitätscharakter  des 
Psychischen  hinaus.  Von  beiden  muß  anerkannt  werden,  daß  ihre  phänomenale 
Bewußtseinsrepräsentation  nur  Symbol  ist  für  eine  außerbewußte  psychische 
Tätigkeit.  Und  erst  diese  außerbewußte  psychische  Tätigkeit  ist  es,  die  mit  dem 
Worte  Wollen  eigentlich  gemeint  ist.  Dasselbe  gilt  für  das  Denken.  In  dem  Sinne, 
in  dem  diese  Tätigkeit  selber  gemeint  ist,  gehört  sie  dem  absolut  Unbewußten  an. 
Absolut  unbewußt  sind  psychische  Tätigkeiten,  die  als  Tätigkeiten  in  kein  Be- 
wußtsein fallen,  wenngleich  ihre  Produkte  als  psychische  Phänomene  bewußt  sind. 
Alle  psychischen  Tätigkeiten  müssen  als  Tätigkeiten  absolut  unbewußt  sein.  Alle 
Passivität  ist  irgendwie  bewußt,  alle  Aktivität  als  solche  unbewußt.  Alles  Bewußte 
ist  rein  passiv,  aktionsunfähig,  alles  Unbewußte  ist  aktiv  und  produktiv.     Daß 


Weiteres  über  die  Probleme  der  psychischen  Kausalität  uhw.  179 

Unsere  Korrektur  des  UiibewulJteii  befreit  dasselbe  von  der  Wir- 
kung dieses  Einwandes.  Es  umfaßt  ein  Bereich  potentieller 
Phänomene  und  phänomenal  wirkender  Kräfte.  Und  es 
ist  lediglicii  akzidentell,  daß  die  potentiellen  Phänomene, 
sobald  sie  aktuelle  werden,  nieht  mehr  dem  Unbewußten 
angehören.  Ks  liegt  dies  daian,  daß  die  VVahrneh  mung  selber, 
die  ja  nicht  nur  Erkenntnis,  sondern  zugleich  auch  immer  ein  psy- 
chischer Vollzug  ist,  zu  denjenigen  Vollzügen  gehört,  welche 
Bewußtseinscharakter  involvieren.  Daß  dies  so  ist,  ist  aber 
nicht  theoretisch  notwendig,  sondern  eine  phänomeno- 
logische Tatsache.  Damit  ist  denn  dies  ganze  Problem  seines 
grundsätzlichen  Charakters  entkleidet. 

wuch  das  Bewiißtsein  aktiv  sein  könne,  diese  Meinung  entspricht  einer  Verwechslung 
(lt'8  phänonu'nak'n  Ich  mit  dem  unbewußt  tätipen  Subjekt. 

Die  psyc'hischtn  Phänomene  dea  obersten  Zentralbewußtseins  sind  das  End- 
produkt einer  langen  Reihe  aufeinander  gebauter  funktionaler  Bildungen.  Die 
Inhalte  dieser  funktionalen  Bildungen  gehören  den  schichtenwei.se  einander  über- 
lagernden niederen  Bewußtseinen  (Unterbewußtseinen)  der  Individualität  an, 
ileren  CJnindlage  die  Tätigkeit  des  Zentralnervensystems  bildet.  Aus  ihnen  er- 
wirken die  Kategorialfunktionen  immer  höhere  aber  nur  unterbewußte  Produkte 
und  zuletzt  die  phänomenalen  Gegebenheiten  des  oberston  Zentralbe^-ußtseins. 
Die  Inhalte  der  Unterbewiißtseine  (elementare  Bestandteile  der  höheren  Bildungen) 
entziehen  sich  der  direkten  Analyse,  weil  sie  relativ  unbc^vußt  sind.  Die  Kategorial- 
funktionen entziehen  sieh  der  Beobachtung,  weil  sie  als  Tätigkeiten  dem  absolut 
L'nbewiißten  angehören.  Die  relativ  unbewußten  Phänomene  sind  eine  Vor- 
bedingung für  die  Bewußtseinsinhalte. 

Die  Di.spositionen,  welche  Hart  mann  rein  physisch  faßt,  und  die  Tätig- 
keiten dea  Zentralnervensystems  sind  mit  relativ  unbewußten  psychischen  Phäno- 
menen dauernd  verknüpft.  Um  dieser  Verknüpfung  willen  bezeichnet  er  die.se 
Tätigkeiten  selber  als  einen  Teil  des  relativ  Unbewußten  mit  dem  Begriff  des 
physiologischen  Unbewußten.  Bewußtseinsgegebenheiten  bauen  sich  also  auf 
aus  dem  physiologischen  Unbewußten  und  der  absolut  unbewußten  psychischen 
Tätigkeit.  Das  physiologische  Unbewußte  wäre  an  sich  ein  bloß  Bewußtloses  und 
nicht  Unbewußtes,  wenn  die  Materie  selber  etwas  durchaus  Unpsychisches  wäre. 
Nach  Hart  mann  jedoch  ist  die  Materie  ein  bloßes  Produkt  aus  dem  Zu.sammcn- 
wirken  individueller  Kräfte,  denen  sie  als  objektiv  reale  Erscheinung  entspricht. 
Diese  Kräfte  selber  sind  Individuen  unterster  Individualitätsstufe.  Ihre  Kraft- 
äußerungen sind  absolut  unbewußte  psychische  Tätigkeiten.  Ihnen  entsprechen 
jirimitivste  psychische  Pliänumcne,  Lust-  und  Unlustgefühle,  die  noch  nicht 
qualitativ  zusammengefaßt  sind,  aber  die  primitive  Bau.steine  zu  der  Synthese 
von  Individuen  der  nächst  höheren  Stufe  abgeben.  So  entfalten  die  Atome  sowohl 
absohit  unbewußte  Tätigkeit  als  auch  psychische  Phänomene,  welche  dem  Be- 
wußtsein höherer  Stufe  unbewußt  bleiben,  also  etwas  relativ  Unbewußtes  sind. 
Das  physiologische  Unbewußte  besteht  sonach  .selber  auch  seinerseits  wieder  im 
absolut  Unbewußten   und   relativ   Unbewußten. 

Das  absolut  Unbewußt<'.  welches  einerseits  das  physiologisch  Unbewußte  als 
einen  Teil  der  Natur  hervorbringt,  welches  f«'rner  das  relativ  Unbewußte  als  einen 
Teil  der  psyehi.schen  Phänomene  umfaßt,  ist  demnach  der  Grund  und  die  über- 
greifende Einheit  der  Natur  und  des  (Geisteslebens  überhaupt.  Das  absolut  Un- 
bewußte ist  der  metaphysi.sche  Urgrund  alles  Seins  hinter  Materie  und  Bewiißt- 
sein.  Es  ist  weder  material  noch  bewußt.  Es  ist  das  wahn»  Sein  der  Identitäts- 
philosophie, welche  ebenso  wie  sie  nur  als  Immateriulismus  mOglich  ist,  auch  nur 
als  Philosophie  des  l^nbe^\^^ßten  möglich  ist. 

Wir  geben  tliese  kurze  Darstellung  hier  wieder,  einmal  weil  wir  dies  dem 

12» 


180     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 


6.  Die  Reize  und  die  allgemeinen  Bedingungen  psychischer 

Dynamik. 

Der  Reizbegriff  und  seine  Merkmale. 

Nach  dieser  notwendig  gewordenen  Einschaltung  können  wir  zur 
weiteren  Auflösung  des  Kausalproblems  im  Psychischen  zurück- 
kehren. Die  psychischen  Vollzüge,  welche  sich  phänomenal  als  Er- 
lebnisse oder  Teile  von  solchen  im  weitesten  Sinne  darstellen,  sind, 
wie  wir  sahen,  die  Wirkung  von  Funktionen  und  Funktionskomplexen, 
welche  als  potentielle  Bereitschaften  im  Unbewußten  liegen,  und  zur 
Aktualisierung  der  Auslösung  durch  Reize  bedürfen.  Die  Reize, 
die  Erregungs-  und  Auslösungsbedingungen  sind  also  die  eigentlichen 
Gründe  der  Wirklichkeit  aller  seelischen  Vollzüge.  Von  ihnen  gilt 
im  Psychischen  das  Gleiche,  was  Verworni)  für  die  Reize  der  Phy- 
siologie ausgesprochen  hat:  »Wir  müssen  es  als  Charakteristikum 
des  Reiz  Vorgangs  betrachten,  daß  zwischen  Reiz  und  Reizwirkung 
überhaupt  kein  bestimmtes  Verhältnis  bezüglich  der  Energiegrößen 
besteht. «  Dies  würde  auch  für  denjenigen  Fall  gelten,  in  welchem 
sich  für  die  psychische  Kausalbeziehung  der  Satz  causa  aequat  effec- 
tum  als  zu  Recht  bestehend  erweisen  ließe.  Denn  die  Reize  sind  nicht 
die  causa,  sondern  diejenige  hinzukommende  Bedingung,  durch  deren 
Eintritt  die  causa  zur  causa  wird.  Alle  weiteren  Bestimmungen  über 
die  Wirkungsintensität  der  Reize  sind  demgemäß  heuristisch-empi- 
rische. Ihnen  entspricht  kein  theoretischer  Ordnungsgesichtspunkt 
als  leitende  Maxime.  Wir  wissen  es  von  der  empirischen  Forschung, 
daß  die  Reize  im  Psychischen  einen  Schwellenwert  ihrer  aktualisie- 
renden Eignung  haben,  und  daß  dieser  Schwellenwert  nach  der  Reiz- 
qualität und  den  subjektiven  Bedingungen  schwankt.  Wir  wissen 
weiter,  daß  unterschwellige  Reize  sich  zu  summieren  und  aufzu- 
speichern vermögen.  Die  große  Mehrzahl  der  als  Reize  in  Frage 
kommenden  Veränderungen   —  z.  B.  unserer  Wahrnehmungswelt,  — 


großen  deutschen  Denker  schuldig  zu  sein  glauben,  sodann  aber,  um  zu  verhüten, 
daß  seine  Konzeptionen,  soweit  sie  die  Psychologie  als  empirische  Forschung  be- 
treffen, aus  dem  philosophischen  Gesamtgebäude,  in  dem  sie  stehen,  herausgerissen 
und  auf  die  empirische  Materie  ohne  weiteres  übertragen  werden.  Hartmanns 
Konzeptionen  verlieren  außerhalb  seines  Systems  jeden  Sinn  und  jede  Berech- 
tigung. Dies  zeigt  sich  schon  an  seinen  besonderen  Begriffen  von  Phänomenalität 
und  seinem  Herausheben  der  Begriffe  des  Psychischen  und  des  Materialen  aus 
dem  Bereich  des  Phänomenalen  in  unserem  Sinne.  Es  zeigt  sich  ferner  an  seiner 
Definition  des  Bewußtseins  und  ihrer  konstitutiven  Geltung  für  den  Phänomenali- 
tätscharakter  des  Psychischen.  Wir,  die  wir  uns  nicht  zu  seinem  System  bekennen, 
müssen  die  in  diesen  Definitionen  liegenden  Konsequenzen,  die  zu  seiner  psycho- 
logischen Theorie  der  Bewußtseine  und  des  relativ  Unbewußten  geführt  haben, 
für  unsere  Arbeit  ablehnen. 

1)  Allgem.  Psychologie.  1909.  S.  419 ff.  Ausgezeichnete  Ausführungen  zum 
Reizbegrifif  bietet  auch  der  erste  Teil  von  Semons  »Mneme«  (1904);  freilich  ist 
vor  den  fehlerhaften  Konzeptionen  des  Engrammbegriffs,  des  nqöyxoy  tpeiSo^ 
seiner  ganzen  Lehre,  zu  warnen. 


Die  Reize  und  die  allgcmeincu  Bedingungen  psychischer  Dynamik.      181 

bleibt  unter  der  Schwelle  auslösender  Iiiton.sität  und  verHchwindet. 
Eine  Vielzahl  von  Reizen  strömt  ständig  der  Psyche  zu  oder  ent- 
steht in  ihr,  ohne  aber  deshalb  wirklich  alsbald  zu  Reizen  zu  werden, 
wenigstens  in  ilircr  unmittelbaren  und  isolierten  Gegebenheit.  Die 
ReizHummation  ist  nur  eine  Teilerscheinung  der  gegenseitigen  Be- 
einflussung überliaupt,  im  fördernden  summativen,  wie  im  hemmen- 
den, wie  endlich  auch  in  einem  die  Gesamtqualität  der  resultierenden 
auslösenden  Reizkomplcxion  modifizierenden  Sinne.  Die  Forschung 
hat  erstens  die  Bedingungen  in  der  Psyche  zu  studieren,  auf 
welche  die  Reize  in  ihrer  aktualisierenden  Tendenz  auf  treffen,  und 
zweitens    die  Natur    der  Reize   selber  ordnend  zu  bestimmen. 


Reiz   und  Disposition. 

Die  erste  der  beiden  Fragen,  nach  der  Natur  der  subjektiven  Be- 
dingungen für  die  Wirksamkeit  von  Reizen  überhaupt,  läßt  sich  als 
eine  Teilerscheinung  der  psychischen  Individualität  um- 
schreiben. Sie  umfaßt,  wie  schon  einmal  angedeutet,  die  Disposi- 
tionen und  Anlagen,  worunter  wir  insbesondere  solche  zur  Bean- 
spruchung bestimmter  bevorzugter  Funktionen  und  Funktions- 
komplexe verstehen,  unter  Zurückdrängung  und  Ausschaltung  an- 
derer. Ferner  gehören  hierhin  alle  Reproduktionsdispositionen  und 
Bereitschaften  der  individuellen  Vergangenheit  in  der  besonderen 
Anhäufung  und  Ordnung,  welche  sie  in  der  betreffenden  Individualität 
inne  haben.  Zu  diesen  beiden  Momenten  sei  hier  kurz  bemerkt:  wjr 
fassen  sie  nicht  als  physische,  sondern  als  psychische  Daten  auf. 
Nicht  daß  wir  ihre  physische  Repräsentanz  leugnen  oder  für  un- 
wesentlich halten.  Aber  unsere  Ausschaltung  des  psycho-phj'sisehen 
Problems  aus  der  eigentlichen  Psychologie  zwingt  uns  zu  dieser 
Stellungnahme.  Nicht  die  psychologischen  Forschungen  und  ihre 
theoretischen  Grundlegungen  werden  den  alten  Streit  über  die  Natur 
dieser  Dispositionen  und  reproduktiven  Spuren  darzustellen  und 
auszutragen  haben,  dessen  Ergebnis  sie  in  dem  eben  genannten  Sinne 
vorwegnehmen  müßten,  um  allererst  möglich  zu  werden.  Ferner 
gehören  hierher  die  im  Zeitmoment  der  jeweiligen  Reizwirkung  ge- 
gebene Konstellation  der  psychischen  Bereitschaften  des  betreffenden 
Subjekts.  Dieser  Begriff  soll  nur  besagen,  daß  der  labile  Gleich- 
gewichtszustand, in  welchem  sich  die  Bereitschaften  und  Funktionen 
in  jedem  Augenblick  psychischen  Lebens  befinden,  das  Ergebnis 
einer  Reihe  unübersehbarer  psychischer  Vollzüge  der  Vergangenheit 
ist,  welche  von  Individuum  zu  Individuum  anders  sind  und  die  Be- 
vorzugung ganz  bestimmter  Materien  und  Strukturen  für  die  Ak- 
tualisierung zu  dem  in  Frage  kommenden  Zeitpunkte  erwirken.  Zu 
diesen  Momenten  der  Konstellation  gehört  auch  der  Zeitpunkt,  in 
welchem  die  schematisch  vorgegebene  Abfolge  der  verschiedenen 
Funktionsvollzüge  aufeinander,  so  wie  wir  sie  noch  entwickeln  werden, 
von  dem  auftreffenden  Reize  jeweils  geschnitten  wird.     Es  ist,  um 


182     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grandlagen  der  Psychologie  usw. 

ein  Beispiel  zu  bilden,  für  den  Fortgang  psychischer  Vollzüge  ihrer 
Qualität  nach  nicht  gleichgültig,  ob  ein  Wahrnehmungsreiz  im  Mo- 
mente, in  dem  eine  Wahrnehmung  erwartet  wird,  oder  im  Momente 
eines  Entschlusses  oder  einer  Handlung  die  Psyche  berührt. 

Schwierig  wird  die  Übersicht  nun  durch  folgendes :  sowohl  in  den 
Dispositionen  zur  Beanspruchung  bevorzugter  Funktionskomplexe, 
als  auch  in  den  Dispositionen  zu  deren  reproduktiver  Erfüllung  mit 
bevorzugten  Materien,  als  auch  endlich  in  der  Konstellation  liegen 
ihrerseits  wiederum  Reizmomente,  welche  auch  ohne  äußere  Be- 
dingungen auslösend  auf  bestimmte  Funktionen  zu  wirken  vermögen. 
Und  ferner  sind  alle  diese  Faktoren  ihrer  Natur  nach  geeignet,  die 
Reiznatur  der  auftreffenden  Reize  gleichsam  elektiv  zu  beein- 
flussen, und  zwar  in  verschiedenen  Richtungen.  Diese  Fähigkeit  der 
Erregbarkeit  hängt  ab  von  einer  vorgegebenen  und  wiederum  nur 
individuell  faßbaren  Adäquationsbeziehung  zwischen  Reizen  und 
Bereitschaftszuständen  des  Ich,  welche  irrational  und  nur  empirisch 
heuristisch  feststellbar  ist.  Wenn  Bleuler^)  zu  ihrer  Auflösung  den 
Schaltungsgedanken  heranzieht,  so  ist  das  Bild  der  Schaltung  zwar 
ein  ganz  glückliches,  aber  viel  zu  einfaches  Symbol.  Monakows 
Diaschisis  ist  eine  Teilerscheinung  dieser  dispositionellen  Indivi- 
dualitätsdifferenzierung für  Reizreaktionen;  wenigstens  ist  ihre 
Erklärung  nur  auf  diesem  sehr  komplizierten  Unterbau  möglich. 

Arten  der  Reize. 

Was  nun  die  Arten  der  Reize  und  ihre  Natur  anbelangt,  so 
muß  auf  Grund  unserer  gesamten  theoretischen  Auffassung  betont 
werden,  daß  wir  sie  insgesamt  und  restlos  als  psychische  Reize 
auffassen.  Wir  erkennen  somit  eine  direkte  und  unmittelbare  Wir- 
kung physischer  Reize  oder  physiologischer  Reize  auf  die  Bestim- 
mung und  Aktualisierung  funktioneller  Bereitschaften  nicht  an. 
Diese  Frage  ist  eine  Teilfrage  des  psychophysischen  Problems,  dessen 
Behandlung,  wie  gesagt,  hier  auszuscheiden  hat.  Zum  Verständnis 
hier  nur  soviel:  es  fällt  uns  natürlich  nicht  ein,  die  Tatsachen  der 
zerebralen  Lokalisation,  soweit  dies  Tatsachen  und  nicht  Behaup- 
tungen sind,  zu  leugnen.  Ebensowenig  wird  die  Rolle  der  Hirn- 
tätigkeit und  der  Alteration  derselben  als  Bedingung  psychischen 
Geschehens  und  psychotischer  Prozesse  auch  nur  im  mindesten  an- 
getastet. Um  diese  Frage  handelt  es  sich  aber  bei  unserer  jetzigen 
Erörterung  gar  nicht.  Vielmehr  gehen  wir  von  der  psychologischen 
Fragestellung  aus,  welche  durch  die  Anregbarke it  der  psychischen 
Kräfte  zu  spontaner  Auswirkung  gestellt  ist.  Diese  Anregbarkeit 
ist  ein  psychologisches  Merkmal.  An  sich -würde  diese  Fest- 
stellung nichts  darüber  besagen,  daß  nicht  auch  solche  Bedingungen 
zum   Wirksamwerden   seelischer  Funktionen  gehören,   welche  nicht 


1)  a.  a.  O.  S.  50ff. 


Die  Reize  und  die  allgemeinen  Bedingungen  psychischer  Djmamik.       183 

psychisch  .sind;  und  wie  gesagt,  wir  halten  das  Vorliegen  solcher 
physischer  Bedingungen  sowohl  für  die  Möglichkeit  des  seolischen 
Geschehens  ül>erhaupt  als  auch  für  die  Möglichkeit  des  hie  et  nunc 
bestimmten  seelischen  (Jeschehens  für  eine  selbstverständliche  Tat- 
sache. Alx;r  diese  physischen  Bedingungen  stehen  zum  psychischen 
Geschehen  in  einem  ganz  anders  orientierten  theoretischen 
Verhältnis,  als  diejenigen  Bedingungen,  welche  durch  den  Begriff 
der  psychologischen  Anrcgbarkeit  gefordert  werden.  Jenes  theo- 
retische Verhältnis  geht  uns  hier  noch  nichts  an;  dieses  aus  dem 
Begriff  der  psychischen  Anrcgbarkeit  zu  Ijestimmonde  setzt  die  psy- 
chische Natur  des  anregenden  Reizes  voraus,  wenn  anders  ülxjrhaupt 
psychische  Kontinuität,  psychische  Kausalität,  psychologische  Wissen- 
schaft von  mehr  als  epiphänomenalen  Gegenständen  möglich  sein 
soll.  Die  psychische  Natur  der  Reize  folgt  zwar  nicht  analytisch  aus 
der  Definition  der  Anrcgbarkeit.  wohl  aber  aus  unserer  Hypostasierung 
vom  We.sen  des  Psychischen  überhaupt.  Und  diese  Hypostasierung 
hängt  nicht  in  der  Luft,  sondern  ist  an  wissenschaftstheoretischen 
Notwendigkeiten  verankert^). 

Wenn  also  physiologische  Vorgänge  zerebraler  Natur  als  psychi- 
sche Reize  imponieren,  so  beruht  dies  auf  einer  Aquivokation  in  der 
Anwendung  des  Reizbegriffes.  Nicht  ihr  Bedingungscharakter, 
sondern  ihr  Reizcharakter  in  dem  allein  hier  gemeinten  psy- 
chologischen 8inne  für  eine  Dynamik  des  Psychischen  wird  grund- 
sätzlich abgelehnt.  Und  was  die  Reize  der  Außenwelt  anlangt,  so 
kommen  sie  zu  psychischer  Auslösungswirkung  immer  nur  als  Be- 
standteile der  Wahrnehmung  oder  Empfindung,  also  als  Bestandteile 
der  Psyche  selber.  Im  übrigen  haben  auch  diejenigen  physiologischen 
Vorgänge  innerhalb  des  Organismus,  welche  man  sonst  erst  als  Reize 
in  dem  hier  gemeinten  Sinne  verwerten  wollte,  immer  eine  psychische 
Repräsentanz,  welche  jenen  erwähnten  andersartigen  psychophysi- 
schen  Bedingungen  unmittelbar  entspricht.  Und  diese  psychische 
Itepräsentanz,  Organgefühle,  vitale  Partial-  oder  Gesamtgefühle, 
Körpersensationen,  Empfindungen  und  unljemerkte  oder  unter- 
öchwellige  inhaltliche  Gegebenheiten,  sind  es  ihrerseits,  welche  als 
auslösende  Reize  fungieren. 

*)  Ri'ize  der  »Außenwelt«  sind  natürlich  auch  psychische:  nämlich  durch 
Empfindung  und  Wahrnehmung  er.><t  gegi-bone.  Dies  nur  zur  Abwehr  von  Miß- 
verstundni.sscn.  wie  sie  vor  allem  die  Tierpsychologie  vii-lfach  durchsetzen.  Die 
Bedingungen  des  Zustandekommens  die.siT  Rtize  bilden  einmal  ein  psycho- 
physisches  Problem  vom  oben  bezeichneten  Onlnungstypus  (Vt-rhältnis  der  Affek- 
tion der  Sinnesorgane  und  Zentren  zum  p.sychischen  Vorgang);  zweitens  ein  rein 
physiologisches  Problem  (Wirkung  der  jjhysischen  Reize  auf  dies»-  Sinnesorgane 
und  Zentrrn);  drittens  i>in  metaphysischts  Problem  (das  Problem  der  Möglichkeit 
und  des  Wesens  der  »Außenwelt  •).  welches  in  der  Regel  mit  dem  psychophysischea 
Problem  verwech.HcIt  oder  gar  erkenntnistheoretisch  umgel>ogen  wirtl.  Nur  da« 
psychophysisohe  Problem  hat  für  die  Psychologie  seine  Erltnligung  zu  finden. 
Wenn  die  Tierp.sychoIogie  das  begriffen  haben  wird,  wird  die  in  ihr  hcrr«chendo 
Konfusion  vielleicht  etwa«  nachlassen. 


184     Über  die  wissenschaftstheoretisclien  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Die  dynamische  Verknüpfung  des  psychischenGeschehens. 

Die  Natur  der  funktionsauslösenden  Reize  steht  uns  sonach  als 
psychische  fest.  Eine  weitere  Einteilung  derselben  wäre  nun  nach 
dem  Erfolge  ihrer  Auslösungswirkung  denkbar.  Wir  würden  dann 
solche  Reize  unterscheiden,  welche  die  Struktur  bestimmter  Voll- 
züge determinieren,  und  solche,  welche  die  inhaltliche  oder  mate- 
riale  Erfüllung  dieser  Struktur  bestimmen.  Indessen  wäre  diese 
Einteilung  an  sich  allein  unpsychologisch.  Denn  ob  ein  Reiz  größeren 
Einfluß  im  Sinne  der  einen  oder  der  anderen  dieser  beiden  MöglicTi- 
keiten  gewinnt,  hängt  erst  in  letzter  Linie  von  ihm  selber  ab.  In 
weit  höherem  Maße  hängt  dies  vielmehr  von  der  Gesamtheit  der  Be- 
dingungen ab,  unter  denen  er  aktuell  ist.  Immerhin  sind  die  In- 
haltsbestimmung und  die  Strukturbestimmung  psychischer 
Vollzüge  durch  Reize  wichtige  Gesichtspunkte  einer  Klassen - 
bildung. 

Ganz  besonders  ist  dies  der  Fall,  wenn  wir  uns  vergegenwärtigen, 
was  wir  mit  der  Feststellung  der  psychischen  Natur  von  Reizen  eigent- 
lich besagen.  Unter  Reiz  verstehen  wir  eine  Bedingungsvariation, 
eine  Veränderung;  und  hiernach  hat  jede  psychische  Veränderung 
Anspruch  darauf,  als  auslösender  Reiz  wirksam  werden  zu  können. 
Jede  psychische  Veränderung  hat  potentiellen  Reiz- 
charakter. 

Diese  Feststellung  ist  von  ungeheurer  Tragweite.  Durch  sie 
ist  allererst  die  Kontinuität  des  psychischen  Geschehens 
bestätigt.  Sie  ermöglicht  es  uns,  in  den  vorüberflutenden  Strom 
seelischen  Ablauf ens  die  Ordnung  des  Gesetzes  hineinzutragen.  Sie 
ermöglicht  uns  allererst,  auch  Individualpsychologie  nach 
naturwissenschaftlicher  Methode  zu  treiben.  Denn  sie 
macht  eine  Determination  des  einzelnen  psychischen  Geschehens 
nicht  nur  nach  seiner  allgemeinen  Ursache,  sondern  auch  hinsichtlich 
der  besonderen  Bedingungen  seines  wirklichen  Eintritts,  hinsichtlich 
seiner  individuellen  Genese,  möglich,  und  verbleibt  dabei  doch 
völlig  im  Rahmen  des  empirischen  und  induktiven  wissenschaftlichen 
Arbeitens. 

Über  den  Anteil  der  im  Unbewußten  liegenden  psychischen  Fak- 
toren an  der  Rolle  von  Reizen  haben  wir  bereits  weiter  oben  einiges 
gesagt;  und  beschränken  uns  an  dieser  Stelle  auf  das  dort  Gesagte. 
Wichtiger  ist  uns  hier  eine  andere  Folgerung,  eine  Folgerung  aus  dem 
Reizwerte  jeder  psychischen  Veränderung.  Psychische  Verände- 
rungen entstehen  nämlich  durch  den  Vollzug  von  Funktionen  und 
Funktionskomplexen.  Und  da  diese  Vollzüge  einander  kontinuier- 
lich folgen,  so  muß  jeder  Vollzug  eine  Reizbedingung  für 
den  nächstfolgenden  bzw.  dessen  Auslösung  sein.  Diese 
Forderung  ergibt  im  Zusammenhang  mit  unserer  Feststellung  von 
dem  labilen  Gleichgewichtszustand  der  Totalität  seelischer  Bereit- 
schaften, der  in  jedem  Augenblick  besteht  und  unter  allen  Umständen 


Die  Reize  und  die  allgemeinen  Bedingungen  paychiticher  Dynamik.       185 

durch  jeden  sceliychen  Vollzug  «ich  wiederherstellen  muß,  um  8celi- 
Hches  üoseliohen  ülx?riiaupt  zu  ermöglichen,  eine  weitere  regulative 
Maxime  für  die  Determination  der  Koihenfolgo  in  der  Auwlöaung 
pHychiöclier  Funktionen. 

Dies  läßt  wich  nämlich  so  denken.  Als  auslöwender  Ileiz  wirkt  der 
einzelne  Vollzug  einmal,  insofern  er  erlebt  wird,  als  Erlebnis.  Der 
Bewußtseinsciuirakter  von  Erlebnissen  haftet  nun,  wie  die  Phäno- 
menologie lehrt,  an  ihrer  materialen  Bestimmtheit  oder  Er- 
füllung. Diese  wirkt,  wie  sicii  heuristiscii  dartun  läßt  —  die  ge- 
samte Assoziationspsychologie  ist  nichts  weiter  als  ein  einziger  Be- 
weisversuch dafür,  —  auf  die  Inhaltsbestimmung  der  folgenden 
Vollzüge.  Freilich  wirkt  sie,  da  jede  Materie  auch  auf  die  Qualität 
iiirer  funktionalen  Gegebenheitsweise  von  Einfluß  ist,  mittelbar  auch 
strukturbestimmend  und  damit  ablaufbestimmend  und  zielrichtend 
auf  das  psychische  Geschehen  ein.  Wenn  der  psychische  Ablauf  bei 
einer  Reihe  von  Denkvollzügeu  stationär  bleibt,  statt  zur  Ent- 
schließung fortzuschreiten,  oder  wenn  er  sich  in  erinnerungsmäßigen 
Reproduktionen  ausbreitet,  so  ist  diese  Modifikation  der  Struktur 
und  des  Ablaufs  fast  immer,  soweit  sie  nicht  willkürlich  ist, 
einem  Überwegen  des  Reizwertes  der  materialen  Elemente,  der 
Inhalte,  zuzuschreiben.  —  Ferner  aber  wirkt  der  Vollzug  auch 
als  Vollzug  auslösend  auf  weitere  Funktionen.  Und  zwar  ist  seine 
Wirkung  ganz  vorwiegend  eine  ablauf  bcsti  mracnde  und  damit 
strukturbcstim  mende. 

Einfache  heuristische  Überlegungen  zeigen  dies  an  Beispielen 
ohne  weiteres.  Wahrnehmungsakte  ziehen  reproduktive  Akte  nach 
sich,  und  zwar  mit  Notwendigkeit.  Wissen  wir  doch,  daß  in  jeden 
vollständigen  Wahruehmungsakt  auch  reproduktive  Akte  mitein- 
gehen. Wahrnehmungsakte  sind  nicht  der  Grund  der  Möglichkeit 
von  reproduktiven  Akten,  diese  beruhen  vielmehr  auf  entsprechenden 
reproduktiven  Funktionen.  Diese  letzteren  sind  also  Ursache  der 
reproduktiven  Akte.  Aber  der  Vollzug  des  Wahrnehmungsaktes  ist 
der  Grund  des  Eintritts  der  Realisierung  reproduktiver  Akte.  Er 
ist  also  das  auslösende  Moment,  oder  wie  wir  sagen,  der  Reiz,  welcher 
reproduktive  Funktionen  und  Bereitschaften  aktualisiert.  Und 
zwar  tut  er  dies  als  bloßer  Vollzug.  Der  Vollzug  des  Wahrneh- 
mungsaktes aktualisiert  den  Vollzug  reproduktiver  Akte.  Er  ist 
mithin  strukturbestimmend  und  damit  die  Richtung  des  psychi- 
schen Ablaufs  bestimmend  (nämlich  auf  die  Reproduktion  hin).  Das 
materiale  W^ahrnehmuugscrlebnis  aktualisiert  als  Reiz  ent- 
sprechende andere  Materien.  Diese  Materien  erfordern  ihrerseits 
gemäß  ihrer  materialen  Natur,  in  Vorstcllungs(jualitäten  aktualisiert 
zu  werden.  Das  materiale  Wahrnehmungserlebnis  ist  also  ein  aktuali- 
sierender Reiz  für  die  weitere  mateiialeoder  inhaltliche  Bestimmt- 
heit oder  Erfüllung  der  folgenden  psychischen  Vollzüge;  ferner  aber 
ist  es,  da  diese  uuxterialo  Bestimmung  ihrerseits  ganz  bestimmte 
funktionale  Qualitäten  erfordert,  mittelbar  auch  strukturbestimmend 


186     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

und  damit  ebenfalls  ablauf bestimmend.  Mithin  werden  diejenigen 
reproduktiven  Bereitschaften  aktualisiert,  welche  erstens  Vorstellungs- 
qualitäten und  zweitens  die  erforderte  inhaltliche  Bestimmtheit  auf- 
weisen. Es  liegt  also  eine  mehrfache  Determination  des  psychischen 
Ablaufs  durch  den  vorangegangenen  vor.  Phänomenologisch  äußert 
sich  das  so,  daß  einer  Wahrnehmung  ein  Erinnerungserlebnis,  welches 
»innerlich  zu  ihr  gehört «,  folgt ;  oder  wie  man  sagt,  daß  aus  der  Wahr- 
nehmung ein  Erinnerungserlebnis   »hervorgeht«. 

An  Hand  dieses  Beispiels,  welches  sich  für  jeden  einzelnen  Teil 
des  psychischen  Gesamtablaufs  leicht  wiederholen  ließe,  wird  wohl 
klar  geworden  sein,  wie  sich  mit  Hilfe  unserer  theoretischen  Grund- 
legungen die  Abfolge  eines  psychischen  Vollzuges  auf  den  anderen  als 
eine  psychologisch  notwendige  kausale  Determination  darstellt.  Zu- 
gleich ist  deutlich,  daß  dieser  Zusammenhang  auch  zwischen  den 
Erlebnissen  besteht  und  hier  nichts  anderes  ist,  als  eine  Teilerschei- 
nung der  gesamten  Determination i). 

Hier  sfi  noch  folgendes  eingeschaltet:  Der  Reizcharakter  kann 
bei  einem  psychischen  Vollzuge  mit  dem  Erlebnisse  des  Vollzuges 
zugleich  miterlebt  werden.  Dies  gehört  eigentlich  in  die  Phänomeno- 
logie. Also  nicht  nur  das  Erlebnis  hat  tatsächlichen  Reizwert,  sondern 
das  Erlebnis  dieses  Reizwertes  geht  als  Teil  in  das  Erlebnis  des  Voll- 
zuges selber  mit  ein.  Dies  ist  insbesondere  in  der  Phänomenologie 
der  Aufmerksamkeit,  der  Erwartung  usw.  der  Fall.  Ebenso  kann 
das  Hervorgegangensein  eines  Erlebnisses  aus  einem  anderen  erlebt 
werden.  Freilich  liegen  die  phänomenologischen  Verhältnisse  hier 
viel  schwieriger.  Dem  wird  später  gefolgt  werden.  Der  Zusam- 
menhang selber  kann  niemals  unmittelbar  erlebt  werden. 
Sofern  er  überhaupt  eine  Bewußtseinsrepräsentanz  hat,  ist  es  eine 
den  zusammenhängenden  Erlebnissen  folgende  und  in  reflektionellen 
Sonderakten  vollzogene.  Der  Begriff  des  »verständlichen  Zusammen- 
hangs« im  Sinne  eines  unmittelbar  erlebten  ist  sinnlos.  Im  Begriff 
des  Zusammenhangs  stecken  weder  anschauliche  noch  inhaltliche 
Momente,  die  ein  Erlebnis  unmittelbar  erfüllen  könnten. 

Hiernach  kämen  wir  nun  zu  den  näheren  Bestimmungsstücken, 
welche  für  die  Regeln  der  Inhaltsbestimmung  und  der  Struktur- 
bestimmung (oder  Ablaufbestimmung)  psychischer  Vollzüge  gelten. 
Mit  großer  Entschiedenheit  muß  nochmals  betont  werden,  daß  die 
Heraussonderung  von  jeder  dieser  beiden  Reihen  von  Regeln  eine 
durchaus  künstliche  ist  und  der  wahren  Determination  des  Psy- 
chischen, so  wie  sie  im  Einzelfalle  vorliegt,  psychologisch  nicht  ent- 


1)  Natürlich  ist  dies  nur  ein  Gesichtspunkt  allgemeinster  Art  für  die  psychische 
Dynamik.  Daneben  stehen  die  intentionalen  Richtkräfte  des  Psychischen.  Werden 
sich  die  erstgenannten  Faktoren  zu  den  assoziativen  und  perseverierenden, 
so  werden  sich  die  intentionalen  zu  den  determinierenden  Tendenzen  aus- 
gestalten lassen.  Dies  ist  Sache  der  später  zu  gebenden  psychologischen  Dy- 
namik als  Teildisziplin  genetischer  Theorie  des  Psychischen,  wovon  noch  ge- 
handelt werden  wird. 


Dio  Reize  und  die  allgemeinen  Bedingungen  psychischer  Dynamik.       187 

Kpricht.  Wir  wiesen  schon  oben  darauf  liin;  und  unser  Beispiel  vom 
Zusammenliang  zwischen  VValirnehmung  und  Erinnerung  zeigte  es 
auch:  der  lebendige  Zusammenhang  erfordert  immer  ein  Ineinander- 
greifen und  Verschmelzen  der  beiden  künstlich  gesonderten  Be- 
trachtungsweisen zu  einer  Einheit.  Diese  ist  das  wahre  psycholo- 
gische Konstituens  psyciiischer  Kausalität.  Nur  zu  Darstellungs- 
zwecken zerlegen  wir  uns  diese  determinierende  Einheit  unter  unseren 
beiden  Gesichtspunkten. 

Dio  Rolle  der  Assoziation. 

Die  inhaltliche  Determination  der  psychischen  Vollzüge  durch 
einander  ist  der  eigentliche  Gegenstand  der  Assoziationstheorien 
gewesen.  Wir  werden  noch  an  sp<äterer  Stelle  Gelegenheit  haben, 
uns  mit  den  Leinen  von  der  Assoziation  ausführlicher  zu  beschäf- 
tigen^). Hier  sei  nur  folgendes  gesagt:  Die  Assoziationstheorie  als 
einzige  Fundierung  seelischen  Zusammenhängens  ist  falsch.  Sie 
Übersicht  den  später  zu  erörternden  Einfluß  der  Willkür;  sie 
übersieht,  wenigstens  in  ihrer  bisherigeia  Fassung,  ferner  den  Einfluß 
der  Struktur  psychischer  Vollzüge  auf  den  psychischen  Ablauf. 
Wenn  sie  überhaupt  etwas  erklären  kann,  so  kann  es  höchstens  der 
Einfluß  der  Inhalte  aufeinander  sein.  (Auch  die  sogenannten 
äußeren  Assoziationen  und  Klangassoziationen  sind  solche  der  Ma- 
terien oder  Inhalte.)  Ihr  Erklärungsanspruch  ging  aber  bisher  viel 
weiter.  Er  erstreckte  sich  auf  das  gesamte  Psychische.  Tut  er  aber 
das,  so  besagt  er  nicht  mehr,  als  daß  alles  Psychische  unter  sich  zu- 
sammenhängt. Das  wissen  wir  aber  auch  so.  Die  Weise  des  Zu- 
sammenhängens klärt  der  Assoziationsbegriff  nicht;  höchstens  be- 
zeichnet er  den  der  Willkür  entzogenen  Charakter  dieses  Zusammen- 
hängens, und  für  diesen,  aber  auch  für  ihn  allein  ist  der  Begriff  der 
Assoziation  von  Inhalten  brauchbar.  Die  bisherige  Ausbildung  der 
Assoziationsichre  liat  nun  zwei  allgemeine  Gesichtspunkte  geliefert, 
nach  welchen  das  Zusammenhängen  von  Inhalten  beurteilbar  wird: 
die  Kontiguität  und  die  Ähnlichkeit.  Beide  sind  aber  weder  er- 
schöpfend noch  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  eine  wesentliche  psycho- 
logische Aussage,  mit  der  sich  im  Einzelfalle  etwas  anfangen  ließe. 
Es  kommt  noch  hinzu,  daß  die  Assoziation  neben  den  Weisen  tem- 
poriiler  Al)folge  auch  die  ganz  andersartigen  Btv.iehungen  erklären 
soll,  die  unter  den  Begriffen  Verschmelzung,  Verflechtung,  Ver- 
webung, Assimilation,  Komplikation  usw.  zusammengefaßt  werden. 
Diese  gehen  nicht  auf  die  temporale  Abfolge  von  Inhalten;  sie  haben 
damit  nicht  das  geringste  zu  tun.  Sie  bezeichnen  vielmehr  die  ver- 
schiedenen Weisen,  wie  sich  einfache  Funktionsvollzüge  nach  Qualität 

>)  Vgl.  S.  330 ff.  Was  hier  in  Kürze  gesagt  wird,  ist  nur  prinzipieller  und  theo- 
retischer N'atvir:  alles  das,  was  di-n  Assoziationshegriff  mit  jMiychischem  Ix'bon 
erfüllt  und  in  seinen  Eigenarten  von  anderen  Verknüpfungsweisen  abhebt,  kann 
er-;t  in  der  psychologischen  Dynamik  entwickelt  werden. 


188     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

und  Materie  zu  komplexeren  seelischen  Gebilden  simultan  ver- 
einigen können.  Sie  bezeichnen  also  die  Simultaneität  einer  Mannig- 
faltigkeit von  seelischen  Vollzügen  in  der  Form  einer  Ganzheit.  Es 
ist  bezeichnend  fiir  die  Leere  des  Assoziationsbegriffes,  daß  er  in 
ganz  gleicher  Weise  für  die  temporalen  Beziehungen  in  der  Form 
des  Zusammenhanges  und  für  die  simultanen  Verbindungen  zum 
seelischen  Gebilde  einstehen  muß.  Eine  solche  leere  Formel  umfaßt 
dann  eben  alles  psychische  Geschehen  und  überhebt  die  Psychologie 
jeder  weiteren  Bemühung.  Und  tatsächlich  ist  es  in  der  Assoziations- 
psychologie auch  so:  es  gibt  nur  Inhalte  und  Assoziationen.  Da  wir 
aber  der  Mannigfaltigkeit  und  dem  Reichtum  seelischen  Geschehens 
nicht  mit  leeren  Formeln,  sondern  adäquat  gerecht  werden  wollen, 
reden  wir  lieber  weiter  von  Auslösung  und  Determination  der  psy- 
chischen Abfolge ;  und  überlassen  die  Formen  und  Weisen  der  simul- 
tanen Komplexion  zum  Gebilde  den  Untersuchungen  der  Phäno- 
menologie und  Funktionspsychologie.  Den  Assoziationsbegriff  be- 
nützen wir  nur  zur  Erklärung  willkürfreier  temporaler  Verknüpfung 
von  Inhalten. 

Gegenüber  dem  leeren  Schema  der  Assoziation  nach  Kontiguität 
und  Ähnlichkeit  stellen  die  modernen  Lehren  von  Freud,  Jung, 
Bleuler  und  insbesondere  Adler  den  Assoziationsbegriff  in  einer 
weitaus  reicheren  Ausgestaltung  dar.  Sie  erstreben  eine  echte  Deter- 
mination der  Inhalte  durch  besondere,  den  individuellen  Inhalten 
gemeinsam  zugrunde  liegende  dynamische  Tendenzen.  Der  Einzel- 
ausbau dieser  Lehre  gehört  nicht  zu  den  Gegenständen,  welche  eine 
theoretische  Grundlegung  der  Psychologie  überhaupt  in  ihrer  AU- 
gemeinheit  an  diesem  Orte  zu  erörtern  hätte.  Jedoch  kann  schon  hier 
gesagt  werden,  daß  das  gesamte  Forschungsgebäude  dieser  Forscher, 
wofern  es  sich  empirisch  und  durch  die  Tatsachen  verifizieren  läßt, 
mit  Leichtigkeit  erhalten  bleiben  kann,  wenn  man  ihre  Assoziations- 
lehre in  die  hier  gegebenen  theoretischen  Grundlinien  transformiert. 

Der  psychische  Ablauf. 

Von  ähnlicher  Ärmlichkeit  wie  die  näheren  theoretischen  Be- 
stimmungen der  inhaltlichen  Dynamik  sind  auch  die  desStruktur- 
zusammenhangs  und  Ablaufszusammenhangs  psychischer 
Vollzüge.  Wir  wissen  hier  nur:  es  gibt  ein  vorgegebenes  Schema  des 
psychischen  Ablaufens.  Es  beginnt  mit  Wahrnehmungsvollzügen, 
diese  bedingen  die  Auslösung  reproduktiver  Akte  und  Vorstellungs- 
weisen. Letztere  fundieren  Urteilsakte  und  Bewertungsakte  im  Sinne 
eines  »Gefühls«,  denen  individuale  Interessen  entsprechen.  Gemäß 
diesen  finden  sich  sodann  Akte  des  Strebens,  Begehrens,  Sichent- 
schließens  bis  zur  motorischen  Innervation,  der  Handlung.  Wir 
nannten  dieses  Schema,  das  nur  vorläufig  ist  und  auf  psychologische 
Genauigkeit  noch  keinen  Anspruch  erhebt,  vorgegeben.  Und  in  der 
Tat  ist  es  als  eine  nicht  weiter  zurückführbare  Tatsache  des  Psychi- 


Die  Reize  und  die  allgemeinen  Bedingungen  psychischer  Dynamik.       189 

sehen  hinzunehmen.  E.s  ließe  flieh  zwar  denken,  daß  es  «einer  Natur 
nach  aus  dem  Wesen  der  P.sycho,  nämlich  aus  Ilczeptivität  und  Spon- 
taneität, irgendwie  deduzierbar  Hein  müßte,  indem  nämlich  diese 
beiden  Funktionen  der  Pöychc  in  ihm  z,u  vollem  Ausgleich  gelangen; 
aber  andererseits  fehlen  alle  Bestimmungsstücke  für  eine  solche 
Deduktion;  und  wir  wollen  nicht  künstlich  konstruieren.  Auch 
kommen  die  genannten  beiden  Grundfunktionen  ja  nicht  nur  im 
Ganzen  dieses  Ablaufes,  sondern  in  jeder  einzelnen  Funktion  bereits 
zum  aktuellen  Ausgleich.  Es  ließe  sich  ferner  denken,  daß  das  Prinzip 
von  der  Erhaltung  des  labilen  Gleichgewichts  seelischer  Kräfte  und 
Bereitschaften  sich  nur  aufrecht  erhalten  läßt,  wenn  das  Ganze  dos 
seelischen  Ablaufs  der  Regel  nach  so  beschaffen  ist,  wie  er  uns  von  der 
Wahrnelimung  bis  zur  Handlung  gegeben  ist.  Aber  auch  dies  wäre 
eine  künstliche  —  zum  mindesten  unbeweisbare  —  Konstruktion. 
Genau  solche  künstlichen  Konstruktionen  sind  übrigens  alle  gene- 
tischen und  biologischen  Erklärungsversuche  dieser  Ablauftendenz 
von  der  Wahrnehmung  bis  zur  Handlung,  etwa  aus  dem  Reaktions- 
prinzip der  Biologie,  oder  aus  dem  Reflexmechanismus  der  Nerven- 
physiologie, wie  in  er  Psychiatrie  z.  B.  erstere  von  Arndt,  letztere 
von  Wernicke  am  deutlichsten  und  folgenreichsten  versucht  wurden 
und  vor  allem  in  der  Tierpsychologie  am  Platze  sind.  Es  steht  der 
Forschung  in  der  menschlichen  Seele  aber  besser  an,  die  Tatsache 
der  Beschaffenheit  des  psychischen  Gesamtablaufs  als  etwas  Letztes 
hinzuneheran,  als  gegebene  reale,  geordnete  Mannigfaltigkeit,  für 
welche  der  Grund  der  Wirkliclikeit  nicht  weiter  bestimmbar  ist. 
Diese  Beschaffenheit  wird  dadurch  zum  empirischen  Ausgangs- 
raaterial,  gerade  so,  wie  dies  für  die  Physik  die  gegebene  Außenwelt 
mit  diesem  gegenwärtigen  Stande  der  Energieverteilung  bedeutet, 
zum  Ausgangspunkt  für  die  Forschung,  der  als  vorgegeben  einfach 
hingenommen  wird  und  die  Bildung  allgemeinerer  Gesetze  seiner- 
seits faktisch  fundiert,  aber  in  der  unendlichen  Vielzahl  seiner  Be- 
dingungen als  Mannigfaltigkeit  nicht  restlos  auflösbar  wird. 

Soviel  ist  an  diesem  psychischen  Ablauf  jedenfalls  sicher,  daß 
jeder  einzelne  Vollzug  in  ihm  der  Grund  der  Wirkliclikeit  des  nächst- 
folgenden ist,  daß  es  sich  also  nicht  um  eine  Aufreihung,  sondern  um 
einen  dynamischen  Zusammenhang  handelt;  und  zwar  um 
einen  solchen,  der  in  sich  eine  gewisse  Abgeschlossenheit  und  Ganz- 
heit aufweist.  Innerhalb  dieses  Ablaufs  müssen  dann  an  der  Hand 
der  Brcntanoschen  Regel  die  einzelnen  Funktionskategorien  auf- 
gesucht werden;  ihr  Zusammenbau  zu  komplexeren  Gebilden  ergibt 
ein  weiteres  empirisches   Problem. 

Hiermit  wäre  das  Wesen  der  seelischen  Kausalität  seiner  allge- 
meinen Art  nach  so  bestimmt,  wie  dies  aus  reiner  Theorie  möglich 
ist.  Wir  haben  damit  das  theoretische  Gerüst  gewonnen,  welchea 
uns  die  gesetzmäßige  Erklärung  seelischen  Zusammenhängons  seinen 
Grundlagen  nach  in  jedem  Einzelfalle  formal  ermöglicht. 


190     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 


7.  Die  Erkenntnis  der  Individualität  und  ihre  wissenschafts- 
theoretischen Grundlagen.    Erster  Teil. 

Übersicht  über  die  Problemlage. 

Was  haben  die  bisherigen  Erörterungen  für  Ausblicke  gezeitigt, 
hinsichtlich  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung  psychologischer  Ma- 
terien; und  was  bleibt  zu  klären  übrig? 

Viel  ist  bereits  gewonnen.    Wir  haben  die  universale  Geltung  des 
Kausalgesetzes    im    Psychischen    begründet    und    seinen    Cliarakter 
näher  bestimmt.     Wie  wir  mit  unseren  wissenschaftstheoretischen 
Feststellungen  bereits  die  Grundlage  der  deskriptiven  Theorie  des 
Psychischen  geschaffen  haben,  so  ermöglichten  uns  unsere  bisherigen 
Ausführungen  über  das  Kausalgesetz  nun  auch  die  der  genetischen 
Theorie  des  Psychischen.     Wir  haben  diese  genetische  Theorie  des 
näheren  als  eine  dynamische  bestimmt,  haben  die  psychische  Natur 
der  in  ihr  wirksamen   funktionalen  Kräfte  bestimmt,  haben  ferner 
die    Lückenlosigkeit    des    Kausalzusammenhanges    durch    die    Kon- 
zeption des  Unbewußten  begründet,    und  haben  die  Reizmomente, 
welche  den  Fortgang  des  psychischen  Geschehens  regelnd  bestimmen, 
innerhalb  des  psychischen  Geschehens  als  eines  Ganzen  determiniert. 
Es  ist  nunmehr  lediglich  Aufgabe  der  empirischen  Einzelforschung, 
diese    wissenschaftstheoretischen    Erklärungen    und    Begründungen 
nun  auch    anzuwenden:    Phänomenologie    und    deskriptive   Theorie 
zu   produzieren,    genetische   und  dynamische   Theorie   zu   gestalten, 
und  beides  zu  den  gesamttheoretischen  Typen  psychologischer  Per- 
sönlichkeit  zu   synthetisieren.      Haben   wir  hierfür  in   der   psycho- 
logischen Empirie  erst  einmal  die  Regeln,  Materialien  und  Formen  ge- 
schaffen, so  bedarf  es  zur  Anwendung  in  der  allgemeinen  Psychiatrie 
dreier  weiterer  Untersuchungen:    Erstens  muß  festgestellt  werden, 
inwieweit  diese  psychischen  Materialien  und  Formen  auf  »krankes« 
Seelenleben  übertragbar  sind.      Hierbei  wird  an  das    Problem   des 
Wissens    vom  fremden  Ich  und  seiner  Grenzen  anzuknüpfen  sein. 
Zweitens  müssen  die  ganz  andersartigen  Gesichtspunkte,  welche  für 
das  »kranke  «  Seelenleben  gelten,  avis  den  Kriterien  heraus  entwickelt 
werden,    die    sich    aus    den    Grundlegungen    möglicher    Krankheits- 
begriffe im  Psychischen  gewinnen  lassen.    Und  drittens  wird  es  not- 
wendig sein,  die  Gesichtspunkte  aufzufinden,  unter  welchen  sich  die 
Ei'gebnisse  dieser  beiden  Untersuchungen  miteinander  an  ein  und 
demselben  Erfahrungsmaterial,  nämlich  dem  »kranken  Seelenleben« 
verschmelzen  lassen,  welches  also  sowohl  Seelenleben  ist  und  damit 
psychologisch-theoretischen   Kriterien  gehorcht,   als   auch    »krank« 
ist,  und  damit  den  ganz  heterogenen  Kriterien  untersteht,  die  sich 
gerade    aus    seiner  Divergenz    vom  eigentlichen  Seelenleben  er- 
geben.     Xfer  Gang  der  weiteren  Untersuchungen  ist  uns  damit  für 
das  Folgende  klar  vorgezeichnet. 


Die  Erkenntnis  d.  Individualität  u.  ihre  wissfnschaftstheuret.  Grundlagen.     191 

Der  Begriff  der  Persönlichkeit  als  Naturobjekt. 

Aber  bevor  wii-  sie  in  Angriff  nehmen,  ist  es  notwendig,  hier 
gleichsam  anhangsweise  nt)ch  ein  Problemgebiet  zu  behandeln, 
welches  an  den  Begriff  der  psychischen  Persönlichkeit  oder 
Individualität  anknüpft.  Wir  sagten  vorhin,  dali  ihre  theoretische 
Bestimmung  eine  Synthese  sei  aus  den  Ergebnissen  der  deskriptiven 
und  der  genetischen  Forschung.  Und  wir  haben  kein  Hehl  daraus 
gemacht,  dali  diese  beiden  Forschungsreihen  entsprechend  ihrer 
wissenschaftsthcorctischen  Fundamentierung  ins  Gebiet  der  Natur - 
forschung  zu  fallen  hätten.  Wir  sind  bei  unseren  wissenschafts- 
theoretischen Untersuchungen  von  einem  Begriff  von  Natur  aus- 
gegangen»), welcher  diese  Konsequenz  zu  einer  Notwendigkeit  er- 
hebt. Die  Art  der  Synthese  von  deskriptiver  und  genetischer  For- 
schung haben  wir  aber  mit  einer  gewissen  Absicht  völlig  unbestimmt 
gelassen.  Sie  ist  nicht  wissenschaftstheoretisch  fixierbar,  höchsten« 
ihre  Voraussetzungen  sind  auf  diesem  Wege  bestimmbar.  Und  in 
dieser  Bestimmung  läge  nur  eine  negative  und  einschränkende  Ab- 
sicht für  die  Synthese  selber.  Die  Synthese  ist  ihrerseits  ganz  ab- 
hängig von  dem  Persönlichkeitsbegriff,  den  man  ihr  substi- 
tuiert; von  den  Seiten  und  Kriterien  der  Persönlichkeit,  gemäß  denen 
man  ihr  Wesen  bestimmen  will.  Persönlichkeit,  Individualität  ist 
an  sich  ebensowenig  ein  naturwissenschaftlicher  Begriff  wie  der  des 
Organismus.  Lediglich  die  Bestimmungsstücke  beider  Begriffe, 
welche  man  für  jeweils  konstitutiv  hält,  sind  naturwissenschaftlich 
zu  fundieren  und  zu  erforschen. 

Wie  gesagt,  in  der  Phänomenologie,  Dynamik,  der  Normen-  und 
Typenpsychologie  wird  an  späteren  Stellen  dieses  Werkes  von  diesen 
Fragen  noch  gehandelt  werden.  Hier  werden  sie  nur  gestreift,  um 
daraus  die  Berechtigung  dafür  herzuleiten,  daß  es  zum  Problem  ge- 
macht werden  kann,  ob  der  Persönlichkeitsbegriff  selber 
mit  den  Methoden  der  Naturforschung  restlos  zu  erschöp- 
fen  ist. 

Problematik   dieser  Auffassung.    Individuelle  Kausalität? 

Ist  diese  Problematik  einmal  zugegeben,  so  ist  auch  die  Berechti- 
gung anerkannt,  das  bisherige  wissenschaftstheoretische  Fundament 
aller  Psychologie  (und  damit  auch  der  Individualpsychologie)  für 
nicht  ausreichend  zu  halten,  uni  das  Wesen  der  Persönlichkeit  unter 
den  Obersätzen  unserer  Wissenschaftstheorie  als  theoretisch  deter- 
minierbar anzusehen.  Und  es  erscheinen  Versuche  verständlich, 
ein  Korrektiv  für  diese  behauptete  Unzulänglichkeit  an 
den  Formulierungen  der  Wissenschaftstheorie  selber  an- 
zubringen. Soweit  sich  derartige  Versuche  auf  die  Wissenschafts- 
theorie des  Psychischen  selber  unmittelbar  beziehen,  haben  v^nr  ihrer 

»)  Siehe  S.  121. 


192     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

hier  noch  anhangsweise  zu  gedenken.  Diese  Versuche  wissenschafts- 
theoretischer  Fundierungen  der  Individualität  neben  und  jenseits 
der  bisher  gegebenen  Wissenschaftslehre  vom  Psychischen  erstrecken 
sich  gerade  auch  auf  das  Kausalproblem  des  Psychischen 
überhaupt.  Sie  lassen  sich  zuspitzen  auf  die  Fragen  der  indivi- 
duellenKausalität  und  der  Persönlichkeitsfreiheit,  auch  Willens- 
freiheit genannt. 

Diesen  wissenschaftstheoretischen  Fragen  soll,  bevor  wir  unserer 
Aufgabe  gemäß  weiter  schreiten,  noch  eine  Erörterung  zuteil  werden. 
Wir  bemerken  aber  sogleich,  daß  wir  uns  nicht  einlassen  werden  auf 
mehr  oder  weniger  spekulative  und  schöngeistige  Ausführungen, 
welche  sich  mit  den  Prätentionen  der  »Philosophie  «  oder  der  Geistes- 
wissenschaft nur  allzuoft  in  der  Erörterung  dieser  Probleme  breit 
gemacht  haben.  Die  Kriterien  strenger  Wissenschaft  werden  auch 
hierbei  für  uns  maßgebend  bleiben. 

Das  Problem  der  individaellen  Kausalität  —  oder  besser  der 
wissenschaftstheoretischen  Möglichkeiten  der  Erkenntnis 
des  Individuellen  —  ist  neuerdings  herausgewachsen  aus  dem 
von  Windelband  aufgestellten  Gegensatz  der  idiographischen 
und  nomothetischen  Wissenschaften.  Die  letzteren  gehen  auf 
allgemeine  Gesetze.  Die  ersteren  suchen  das  individuelle  Wirkliche 
in  der  Ganzheit  dieser  Wirklichkeit  zu  erfassen.  Der  behauptete 
Gegensatz  dieser  beiden  wissenschaftlichen  Richtungen  ist  ihm 
identisch  mit  dem  der  Naturwissenschaft  und  der  Geisteswissenschaft. 


Die  Erkennbarkeit  des  Individuellen  als  Problem. 

Daß  das  Individuelle  etwas  Einmaliges  ist,  in  seinem  Sosein  nicht 
wieder  als  dies  eine  Mal  erfahren  wird,  liegt  bereits  in  seiner  Nominal- 
definition. Zur  Annahme  und  Ausgestaltung  einer  besonderen,  auf 
die  Individualität  des  Individuellen  gerichteten  Wissenschaftstendenz 
nötigt  diese  Feststellung  nicht.  Erst  wenn  es  im  Wesen  des  Indi- 
viduums liegt,  einzig  und  einmalig  zu  sein,  wenn  das  Individuum 
etwas  grundsätzlich  Unwiederholbares,  Nicht-Identifizierbares 
darstellt,  erst  dann  ist  das  Problem  einer  idiographischen  Forschungs- 
tendenz wirklich  gegeben.  Denn  alles  Geschehen  ist  einmalig. 
Jedes  wirkliche  einzelne  Geschehen  ist  die  Folge  einer  unüberseh- 
baren Zahl  von  .Bedingungsreihen.  Die  unübersehbare  Mannigfaltig- 
keit der  empirischen  Natur  bleibt  bestehen  bei  einem  jeden  beliebigen 
Zeitschnitt  durch  dieselbe;  wir  können  den  Zeitschnitt  beliebig  weit, 
ja  ins  Unendliche  zurückverlegen;  immer  treffen  wir  auf  diese  unüber- 
sehbare Mannigfaltigkeit.  Die  Verfolgung  dieses  Gedankens  führt 
zur  ersten  K an  tischen  Antinomie  und  damit  zu  den  übrigen.  Denn 
diese  unendliche  Mannigfaltigkeit  ist  Wirkung  und  ist  auch  wieder 
Ursache  für  das  weitere  Geschehen.  In  der  realen  Wirklichkeit  ist 
also  jedes  einzelne  Sein  und  Sichereignen,  das  physikalische  sowohl 
als   das   organische,   unter  den   Bedingungen  des   Gesamtzustandes 


Die  Erkoruitnis  d.  InHividualitiit  u.  ihrf  wisscnsoliaftstl»(K>ret.  Cnindlagen.      193 

dieser  unülK-rsehbaicn  Mannigfaltigkeit  erwirkt  und  damit  einmalig. 
Es  ist  zugleich  damit  aueh  empirisch,  d.  h.  in  der  Natur  nicht  wieder- 
holbar, wenngleich  die  Wiederholbarkeit  denkluift  nicht  auszu- 
schließen ist.  Es  fragt  sich,  wieweit  diese  Tatsache  unser  Wissen- 
können einengt  und  begrenzt.  Es  fragt  sich  weiter,  ob  eine  Methode 
denkbar  ist,  welche  diesem  Tatbestande  zum  Trotz  gerade  das  in- 
dividuelle Wirkliciie  in  seinem  Einzelscin  wesenhaft  zu  erfassen 
vermag. 

Diese  Feststellung  über  die  Einmaligkeit  des  Individualen  seinem 
Sein  nach,  also  des  Individuums  als  einer  Form^)  des  Seins,  ist  so 
alt  wie  die  aristotelische  Philosophie  selber.  Sie  gilt  in  gleicher 
Weise  von  der  anorganischen  und  der  organischen  Natur.  Und  es 
bedurfte  der  Müiie  gar  nicht,  welche  Bergson  darauf  verwendet 
hat,  um  diese  Cieltung  für  das  lebendige  Geschehen  und  das  seelische 
Ablaufen  nochmals  in  besonders  eindringlicher  Weise  darzutun  2). 
Wo  er  einen  Gegensatz  der  Welt  des  Organischen  zur  physikalischen 
Welt  unter  diesem  Gesichtspunkt  herauskonstruiert,  er  mag  ihn  Ixj- 
gründen  wie  er  wolle,  ist  dieser  Unterschied  kein  grinidsätzlicher, 
sondern  nur  ein  gradueller.  Freilich  ist  er,  weiui  man  an  die  Indi- 
vidualität der  Struktur  eines  Atoms  einerseits,  an  die  einer  psychi- 
schen Persönlichkeit  andererseits  denkt,  in  seinem  Gradunterschied 
ein  ungeheuerlicher.  Aber  auch  diese  ungeheure  Differenz  darf  den 
bloßen  Gradcharakter  des  Unterschiedes  beider  Individualitäten 
nicht    verwischen. 

Wir  sehen  also  die  Individualität  eines  Geschehens  in  der  Natur 
gegeben  durch  die  unendliche  Bestimmtheit  seiner  qualitativen  Ge- 
staltung. Wir  sehen  sie  nicht  in  solchen  Bestimmungen,  welche 
nicht  qualitativer  Art  sind,  sondern  etwa  auf  einem  formalen  Prinzip 
der  Individuation  beruhen,  wonach  das  begriffliche  Wesen  eines 
jeden  Objektes  von  individueller  Existenz  ist,  gleichviel  ob  und 
wie  oft  man  den  darunter  fallenden  Gegenstand  realisiert  zu  finden 
vermöchte.  Aus  der  Tatsache,  daß  die  Objekte,  die  in  den  Umfang 
eines  solchen  Begriffes  eines  individuellen  Objektes  gehören.  lx>liebig 
oft  denkbar  sind,  ohne  sich  qualitativ  voneinander  zu  unterscheiden, 
hat  man  den  Begriffsrealismus  der  Scholastik  mit  hergeleitet,  welcher 
eine  irrige  Konsequenz  der  aristotelischen  Lehre  ist.  Allein  die  for- 
malen Momente,  welche  den  Begriff  eines  individuellen  Objektes 
fallweise  begründen,  sind  natürlich  wissenschaftlich  zerlegbar:  der 
Begriff  eines  Objektes  als  einer  Individualität,  d.  h.  einer  seinem 
Wesen  nach  besonderen  Zusammengehörigkeit,  ist  eben  in  die  Merk- 
male aufzulösen,  welche  zur  Konzeption  der  Zusammengehörigkeit 
in  ihrer  Besonderheit  geführt  haben.  Dies  mag  eine  unvollendbare 
AufgalK»  sein,  grundsätzliche  Schwierigkeiten  bietet  sie  nicht.    Z.  B. 

1)  Form  hitT  wie  überall  in  dioson  Untor.''uchungon  gleich  Beziipst'inhrit, 

2)  \Vonij;st«>n}<  im  Ksimü  nur  U\s  donn^os  immödiulos  do  la  cons<i"ini'.  Pitria 
1889;  während  er  in  Mntiöro  et  memoire  (189(i)  davon  wieilcr  zurückzukommen 
Bcheint  (r..  B.  S.  200 ff.). 

Krön  (cid.  Piyolil.^trWhc  Erkenntnis.  13 


194     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

läßt  ein  grundsätzlicher  Einwand  gegen  die  Naturforschung,  welche 
die  einzelnen  Merkmale  und  ihre  Verknüpfungsweisen  rekonstruiert, 
die  etwa  zum  Begriff  des  Organismus  geführt  haben,  sich  nicht  daraus 
herleiten,  daß  diese  Aufgabe  vollständig  niemals  wird  gelöst  werden 
können. 

Entscheidend  für  das  Schicksal  der  Naturforschung,  inwiefern  sie 
und  ihre  Methoden  zur  Erforschung  des  Individuellen  zulänglich  sind, 
kann  allein  derjenige  Begriff  des  Individuellen  werden,  welcher  das 
Wesen  des  Individuums  nicht  aus  begriffsrealistischen  formalen  Prin- 
zipien der  Individuation  gewinnt,  sondern  die  Unwiederholbarkeit 
in  der  qualitativen  Synthese  der  Realität  selber,  in  deren 
unendlicher  und  daher  tatsächlich  qualitativ  unwiederholbarer 
Bedingtheit  begründet  sieht  —  unter  den  Gesichtspunkten  der  Ab- 
leitung, die  wir  oben  dafür  gegeben  haben. 

Der  Lösungsversuch  der  Geisteswissenschaften  bei 

Rickert. 

Hier  sind  es  nur  vor  allem  die  scharfsinnigen  und  bedeutenden 
Werke  Rickerts  gewesen,  welche  das  Problem  der  individuellen 
Kausalität  zugleich  mit  dem  der  Erkenntnis  des  Individuellen  über- 
haupt von  einem  Standpunkte  aus  in  Angriff  genommen  haben, 
welcher  dem  des  vorliegenden  Buches  diametral  widerspricht. 
Rickert  hat  damit  Schule  gemacht;  nicht  nur  Simmel,  nicht  nur 
maßgebende  Historiker  und  Soziologen,  auch  der  größte  Teil  der 
zeitgenössischen  Philosophen  hat  seine  Ausführungen,  allerdings 
zum  Teil  in  modifizierter  Form,  übernommen  und  für  historische 
und  kulturwissenschaftliche  Forschung  zum  wissenschaftstheoreti- 
schen Fundament  gemacht.  Wir  halten  uns  im  folgenden  lediglich 
an  Rickerts  Ausführungen  selber,  welche  an  systematischer  Durch- 
sichtigkeit von  keinem  seiner  Anhänger  wieder  erreicht  worden  sind, 
und  zwar  an  sein  berühmtes  Werk:  »Die  Grenzen  der  naturwissen- 
schaftlichen Begriffsbildung«!).  Wir  stellen  seine  Gedankengänge 
etwas  ausführlicher  kritisch  dar  aus  zwei  Gründen.  Einmal  gibt  uns 
das  den  Anlaß,  unsere  eigene  Ansicht  vom  Wesen  der  Erkenntnis 
des  Individuellen  klarer  hervortreten  zu  lassen;  und  ferner  erhalten 
wir  neben  seinen  Fehlern,  auf  die  wir  hinweisen  werden,  so  viele 
wertvolle  Gesichtspunkte  auch  für  den  Fortgang  unserer  eigenen 
Untersuchung,  und  in  so  ausgezeichneter  Begründung,  daß  sie  uns 
da,  wo  wir  sie  nicht  bekämpfen  müssen,  zur  wertvollen  Stütze  vieler 
späterer  Ausführungen  werden.  Es  ist  die  Wissenschaftstheorie 
der  Erkenntnis  des  Individuums,  wie  sie  im  Gegensatz  zur  Natur- 
wissenschaft die  Geisteswissenschaft  darbieten  zu  können  glaubt. 

Von  dem  Gegensatz  der  Naturwissenschaft  und  der  Geistes- 
wissenschaft geht  Rickert  aus.     Er  sieht  diesen  Gegensatz  nicht 


i)  Eine  logische  Einleitung  in  die  historischen  Wissenschaften.     1902. 


Die  Erkenntnie  d.  Individualität  u.  ihre  wiascnachaftatheoret.  Gruiidlag.n.     195 

in  dem  Gegenstand  beider  Wissenschaften,  etwa  derart,  daß  die 
Natur  gleich   der   Küri)crwelt   und  der   Geist   gleich   den  seelischen 
Vorgängen   wäre;  dieser  Gegensatz  liegt   vielmehr  lediglicli    in   der 
logischen  Struktur  beider  Wissenschaften,  und  das  gleiche  Objekt 
kiiiin   einer   wissenschaftlichen    Bearbeitung   durch   jede   der   beiden 
Methoden  unterzogen  werden.     ->Es  wird  sich  zeigen,  daß  unter  rein 
formallogischen  Gesichtspunkten  die  gesamte  gegebene  Wirklichkeit 
sowohl  Objekt   einer  naturwissenschaftlichen  als  auch  einer  geistes- 
wissenscliaftlichen    Darstellung   werden    könnte «i).      Schon   hier   ist 
an  das  Wort  Darstellung  ein  Fragezeichen  zu  heften.     Es  handelt 
sich  doch  nicht  um  die  bloße  Darstellung, sondern  um  die  Erkennt- 
nis der  untersuchten  Gegenständlichkeit!     Diese  Erkenntnis  soU  den 
Anspruch    auf  Wahrheit  erheben,   und  nur    eine  Erkenntnis   kann 
diesem  Anspruch  genügen.     Mehrere  gleiche  Erkenntnisse  über  den 
gleichen  Gegenstand,    die   einander  widersprechen,    sind  unmöglich. 
Entweder  führen  beide  Methoden,  die  hier  als  gleichberechtigt  be- 
zeichnet werden,   zu  derselben  richtigen  Erkenntnis,   dann  ist   ihre 
Entgegensetzung  grundsätzlich   nicht   wichtig;   und  wenn   man   die 
naturwissenschaftliche  hat,  braucht  man  die  geisteswissenschaftliche 
nicht  erst  zu  begründen ;  oder  sie  führen  zu  widersprechenden  Erkennt- 
nissen, dann  ist  mindestens  eine  von  ihnen  falsch.     Welche  richtig 
ist,  kann  nur  die  Erkenntniskritik  entscheiden;  und  diese  verweist, 
da  es  sich  um  ein  empirisches  Gegenstands bereich  handelt,  an  das 
empirische  Ausgangsmaterial  als   sachliches,   au  die   Wissenschafts- 
theorie   als    formales    Kriterium    der   Richtigkeit.     Rickert   spielt 
schon   hier    bedenklich    mit    jenem    Relativismus,    welcher    in    des 
gleichgerichteten  Simmeis  Werken  ganz  unverhüllt  zum  Ausdruck 
kommt. 

Rickerts  Analyse  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis. 
Rickert  wendet  sich  zur  Analyse  der  naturwissenschaftlichen 
Erkenntnis;  und  sieht  nun,  wie  sogleich  bemerkt  sei,  den  Träger 
dieser  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis  nicht  im  Gesetz,  also 
einem  Urteil  von  allgemeiner  und  notwendiger  Geltung,  sondern  im 
Begriff.  Hierin  liegt  sein  schwerster  methodischer  Fehler.  Begriffe 
sind  immer  willkürliche  Schöpfungen  des  Verstandes,  Abbreviaturen 
der  Reflexion.  Sie  werden  unter  den  verschiedensten  Gesichts- 
punkten gebildet  und  gelten  problematisch,  d.  h.  sie  erheben  keinen 
Anspruch  darauf,  anerkannt  zu  werden,  \vie  dies  jedes  Urteil  tut. 
Rickert  läßt  diesen  fundamentalen  Unterschied  zwischen  Begriff 
und  Urteil  völlig  außer  acht.  Für  ihn  ist  die  Naturwissenschaft 
keine  Ge setze s Wissenschaft,  sondern  eine  Begriffswissenschaft; 
und  die  Aufgabe  des  naturwissenschaftlichen  Begriffs  ist  nach  ihm 
die    Ȇberwindung  der  extensiven  und  intensiven  Mannigfaltigkeit 

1)  Seite  29. 

13» 


196      Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

der  Dinge  «i).  Und  zwar  wird  im  Umfange  des  Begriffs  die  extensive, 
im  Inhalte  die  intensive  Mannigfaltigkeit  »überwunden «.  »Selbst 
in  den  einfachsten  Urteilen,  in  denen  wir  nichts  weiter  tnn,  als  die 
Wirklichkeit  beschreiben,  nehmen  wir  immer  bereits  eine  weitgehende 
Vereinfachung  und  eine  logische  Bearbeitung  der  Wirklichkeit  vor  ,  .  . 
Weil  ein  Urteil  über  die  Wirklichkeit  immer  nur  mit  Hilfe  eines  Be- 
griffs möglich  ist,  so  können  wir  auch  sagen,  daß  alles  Gesehene  oder 
Gehörte  in  ein  Urteil  immer  nur  als  Glied  einer  Klasse  eingeht  .  .  . « 2) 
Der  Inhalt  dieser  Sätze  ist  richtig  und  entspricht  völlig  unseren  An- 
schauungen; er  begründet,  genau  wie  wir  es  tun,  die  immanente 
Notwendigkeit  des  Theoretischen  in  jeder  wissenschaftlichen  Be- 
arbeitung, selbst  in  der  bloßen  Deskription.  Aber  diese  Sätze  sollen 
zur  Begründung  des  Primats  der  Begriffe  in  der  wissenschaftlichen 
Bearbeitung  dienen  —  und  sie  zeigen  dennoch  bloß  den  Primat  der 
Urteile  in  ihr  auf.  Es  macht  das  Wesen  des  Urteils  nicht  aus,  daß 
es  ein  Begriff  ist,  der  in  ihm  prädiziert  wird;  daß  etwas  in  ihm  prä- 
di ziert  wird,  macht  sein  Wesen  aus.  Rickert  verwechselt  beides. 
Aber  daß  er  es  tut,  hindert  uns  nicht,  die  wertvollen  Wahrheiten 
anzuerkennen,  die  er  gleich  darauf  über  die  Behauptung  feststellt, 
die  Aufgabe  der  Naturwissenschaft  sei  die  möglichst  vollständige 
Beschreibung  —  eine  Ansicht,  zu  der  sich  selbst  ein  so  hervorragender 
Naturforscher  wie  Kirchhoff  bekannte.  Rickert  erkennt  sehr 
deutlich  in  jeder  Beschreibung  bereits  den  Charakter  der  klassi- 
fikatorischen  Ordnung  und  damit  der  theoretischen  Bearbeitung. 
»Soll  das  Wort  Beschreibung  als  Bezeichnung  für  den  ersten 
Schritt  zur  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis  der  Dinge,  zur  Unter- 
scheidung von  dem  zweiten  Schritt,  der  Klassifikation,  einen 
Sinn  haben,  so  darf  man  darunter  nur  die  Art  der  Klassifikation  ver- 
stehen, welche  die  Gestaltung  der  Wirklichkeit  lediglich  mit  Hilfe 
der  ohne  bewußte  logische  Absicht  entstandenen  Wortbedeutungen 
vereinfacht.  Das  ist  .  .  .  bisweilen  notwendig;  aber  warum  diese 
Vereinfachung  vor  anderen  einen  Vorzug  haben  soll,  ist  nicht  ein- 
zusehen. Die  Naturwissenschaft  auf  Beschreibung  der  Tatsachen 
in  diesem  Sinne  einschränken,  würde  heißen,  daß  die  Untersuchung 
bei  der  ursprünglichen,  durch  äußerliche  Ähnlichkeiten  entstandenen 
Ordnung  der  anschaulichen  Mannigfaltigkeit  stehen  bleiben  müsse. 
Dies  führt  aber  für  die  Logik  .  .  .  höchstens  als  Vorstufe  für  das 
wissenschaftliche  Denken,  zu  nichts«.  Derartige  Ausführungen 
möchte  man  manchem  seiner  Anhänger  auf  psychologischem  Ge- 
biet, z.  B.  Jaspers,  ins  Stammbuch  schreiben. 

Nachdem  Rickert  einmal  die  Stellung  von  Begriff  und  Urteil 
im  Wesen  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung  verwechselt  hat,  muß 
er  den  weiteren  Schritt  tun,  dem  Begriff  zuzubilligen,  worauf  er  nicht 
das  mindeste  Anrecht  hat  und  was  nur  das  Urteil  beansprucht:  die 


1)  Seite  36. 

2)  Seite  45. 


Die  Erkeuiitnis  d.  Individualitut  u.  ihre  wibScusohaltBthcoret.  GrundLig.  n.      I<j7 

(Jeltung.  Er  tut  dies  ohne  weiteres.  »Wii-  halxii  zu  fragen,  oh  dio 
Wissenscliaft  niclil  dio  Aufgabe  hat,  Begriffe  zu  bilden,  die  ihrem 
logi.scheii  Werte  nach  L'rteilen  gleiclizu.setzen  .sind.«  Vergeblicii  fragt 
hier  einfacliste  Logik:  Wie  macht  mau  das  ^  Rickert  untersucht 
diese  Frage  nicht,  sondern  bejaht  sie  ohne  jede  Begründung;  und 
doch  hätte  es  nahe  gelegen  zu  prüfen,  ob  die  Wissenschaft  statt  der 
Aufgabe  »Begriffe  zu  bilden,  die  ihrem  logischen  Werte  nach  Urteilen 
gleichzusetzen  sind«,  nicht  die  viel  einfachere  Aufgabe  habe,  Urteile 
zu  bilden,  die  richtig  sind.  Rickert  bleibt  bei  seinen  Begriffen, 
»tsolcho  Begriffe  (die  ihrem  logischen  Werte  nach  Urteilen  gleich- 
zusetzen sind)  würden  unter  den  Gesichtspunkt  der  Wahrheit  ge- 
stellt werden  können,  und  sie  müßten  die  dem  Urteile  wesentliche 
Beurteilung,  wenn  auch  nicht  explicite,  so  doch  implicite  enthalten.« 
»Nur  dann,  wenn  wir  die  Begriffe  als  potentielle  Urteile  auffassen, 
sind  sie  fähig,  die  Unendlichkeit  der  anschaulichen  Welt  wirklich 
zu  überwinden«*).  Diese  Fähigkeit  scheint  uns  einzig  und  allein 
dem  Urteil  anzuhaften.  In  der  Tat,  wenn  Begriffe  Urteile  wären, 
so  würden  sie  diese  Fähigkeit  besitzen.  Sie  sind  es  aber  nicht;  dio 
Schwäche  von  Ricker ts  Stellung  wird  hier  überaus  deutlich. 

Aber  in  dieser  Schwäche  bleibt  Rickert  sich  treu.  So  spricht 
er  im  folgenden  von  Begriffen,  welche,  »wegen  ihrer  lediglich  em- 
pirischen Allgemeinheit «  dem  Zwecke  der  Naturwissenschaft  nicht 
genügen.  Es  ist  ganz  klar,  daß  er  hier  Urteile  meint,  wenn  er 
Begriffe  sagt.  Aber  diese  Verwechslung  geht  sofort  über  die  bloße 
Namenvertauschung  hinaus.  Denn  er  setzt  diese  angeblichen  Be- 
griffe von  empirischer  Allgemeinheit  mit  Klassen  begriffen  gleich 
und  begründet  so  auf  falschem  W^ege  die  richtige  Forderung,  daß 
die  naturwissenschaftliche  Begriffsbildung  ȟberall  die  rein  klassi- 
fikatorische  Bcgriffsbildung  zu  verlassen  strebe«  auf  Grund  ihrer 
»Einsicht  in  die  naturgesetzliche  Notwendigkeit  der  Dinge «.  Rickert 
sagt  hier  selber  naturgesetzliche,  nicht  naturbegriffliche,  wie 
es  konsequent  wäre.  »Sie  wird  sich  niemals  bei  Begriffen  begnügen, 
die  bloße  Merkmalskomplexe  sind,  sondern  es  wird  jede  Zusammen- 
fassung zu  einem  Begriff  immer  nur  unter  der  Voraussetzung  ge- 
schehen, daß  die  zusammengefaßten  Elemente  in  einem  natur- 
gesetzlich notwendigen,  d.  h.  unbedingt  allgemeingültigen  Zusammen- 
hange stehen  «2),  Diese  Behauptung  ist  falsch.  Es  gibt  zwar  Be- 
griffe, welche  nicht  eine  Klasse  von  Dingen  oder  Vorgängen,  sondern 
eine  Klasse  von  Gesetzen  umfassen;  aber  auch  diese  Begriffe  sind 
Klassenbegriffe.  Richtig  und  wertvoll  ist  hier  nur  der  Gedanke, 
daß  eine  jede  Klassifikation  immer  willkürlich  ist,  —  wie  das  im 
Wesen  der  Ik^griffsbildung  als  willkürlicher  Schöpfung  des  Verstandes 
liegt.  Eine  notwendige  Klassifikation  kann  daher  immer  nur  in  Rück- 
sicht  auf  eine  Theorie  vorgenommen  werden,   welche  als  Regulativ 

»)  Seite  67. 
2)  Seite  69. 


198     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

den  Gesichtspunkt  des  Abstrahierens  gibt.  Für  Ricker t  ist  es 
natürlich  konsequent,  in  seinen  Begriffen,  welche  potentielle  Gesetze 
darstellen,  gleichsam  »Vereinigungspunkte  von  Urteilen«  zu  sehen 
Wobei  der  Terminus  »Vereinigungspunkt«  gerade  die  nötige  Ver 
schwommenheit  besitzt,  um  unklar  zu  lassen,  wie  man  sich  den 
logischen  Mechanismus  einer  derartigen  Begriffsbildung  denken  soll 
Schon  Sigwart  hat  gegen  diese  Begriffskonzeption  die  Frage  ge 
wendet,  was  sollen  die  Subjekte  und  Prädikate  dieser  Urteile  sein 
welche  in  derartigen  Begriffen  ihren  »Vereinigungspunkt«  haben' 
Der  Gravitations begriff  z.  B.  besagt  doch  an  sich  gar  nichts  über  die 
Bestimmungen,  welche  das  Gravitations gesetz  von  der  in  ihm  be 
urteilten  Materie  notwendig  aussagt.  Und  der  Begriff  des  Gravi 
tationsgesetzes  ist  neben  diesem  Gesetz  selber  völlig  irrelevant. 
Sigwart  nennt  derartige  Begriffe  von  Gesetzen  Relationsbegriffe 
und  weist  nach,  daß  alle  derartigen  Relationsbegriffe,  wie  die  Urteile 
überhaupt,  Dingbegriffe  voraussetzen,  für  welche  Rickerts  Fest- 
stellungen nicht  gelten.  Rickert  nun  gibt  dies  zu,  behauptet  aber, 
in  einer  logisch  vollkommen  gedachten  Naturwissenschaft  spiele 
der  Dingbegriff  nur  eine  sehr  kleine  Rolle;  den  Forderungen  einer 
solchen  logisch  vollkommenen  Naturwissenschaft  könne  nur  genügt 
werden,  wenn  auch  in  dem  Dingbegriff  der  »dunkle  Kern«  geklärt 
werde,  welchen  die  Beziehungen  seiner  Elemente  zueinander  dar- 
stellen, d.  h.  wenn  auch  jeder  Dingbegriff  zu  einem  Relationsbegriff 
werde.  Dies  »bedeutet  nichts  anderes,  als  daß  die  Naturwissenschaft 
die  Tendenz  haben  muß,  die  Dingbegriffe  soweit  wie  möglich  in  Re- 
lationsbegriffe umzuwandeln«!).  Uns  scheint:  Es  handelt  sich  für 
die  Naturwissenschaft  nicht  um  Auffindung  der  Relations begriffe, 
sondern  der  Relationen.  Gegen  Rickert  spricht  hier  die  einfache 
Forderung,  daß  doch  immer  etwas  in  Relation  stehen  muß,  und 
dieses  etwas  ist  für  die  Naturwissenschaft  schließlich  doch  nicht  ganz 
unwesentlich.  Sie  hat  es  nämlich  nicht  mit  den  Relations  begriffen, 
sondern  mit  der  Natur  zu  tun.  Rickert  kommen  derartige  Be- 
denken auch;  und  so  gibt  er  denn  in  der  Folge  zu,  daß  sich  die  Aus- 
schaltung der  Naturobjekte,  auf  welche  sich  die  gesetzmäßigen  Re- 
lationen der  Naturwissenschaft  beziehen,  auch  in  der  Natiirwissen- 
schaft,  die  er  für  logisch  vollkommen  hält,  schlechterdings  nicht  wird 
.durchführen  lassen.  Er  spricht  freilich  naturgemäß  nicht  von  den 
Objekten,  sondern  von  den  Dingbegriffen,  und  räumt  ein,  daß  die 
Ausschaltung  des  Dingbegriffes  auch  für  eine  logisch  vollkommene 
Naturwissenschaft  nicht  möglich,  ja  nicht  einmal  als  logisches  Ziel 
wissenschaftlichen  Strebens  zu  betrachten  sei.  Der  Dingbegriff,  den 
es  also  auch  in  einer  logisch  vollkommenen  Naturwissenschaft  geben 
muß,  ist  nach  ihm  freilich  nur  ein  Grenzfall,  der  »unsere  Theorie  im 
allgemeinen  unberührt  läßt«.  Rickerts  Ideal  einer  logisch  voll- 
kommenen Naturwissenschaft  ist  sonderbar  genug  und  weicht  von 

2)  Seite  79. 


Die  Erkenntnis  d.  Individualität  u.  ihre  wissenBchaftstheoret.  r; rundlagen.      199 

dem  Ideal  aller  großen  Naturforscher,  von  Helmholtz  bis  Pasteur, 
recht  weit  ab:  das  Ideal  der  Rickertschon  NaturwiHsen.schaft  ist 
nämlich,  »die  allgemeinsten  Gesetze  zu  finden,  die  au.snahniHloH  alles 
körperliche  Geschehen  Ixjherrschen «,  und  zwar  dadurch,  daß  sie 
einen  Begriff  von  der  KöriK'rwelt  bilde,  in  dem  nur  noch  die  unaus- 
schaltbaren  Dingbogriffo  vorkommen,  sonst  aber  nur  Relations- 
begriffe. Der  von  der  Naturwissenschaft  beizubehaltende,  weil  un- 
ausschaltbaro  Dingbegriff,  den  Rickert  noch  allenfalls  toleriert, 
muß  nach  ihm  ein  Begriff  von  Dingen  sein,  welche  weder  quantitative 
noch  qualitative  Unterschiede  mehr  aufweisen.  Letztores  ist  nötig, 
weil  in  der  Natur  sonst  Dinge  mit  neuen  Qualitäten  auftauchen 
könnten,  welche  in  den  bisherigen  Rolationslx^griffen  nicht  auf  lös- 
lich wären,  wodurch  denn  in  der  Tat  die  »Vollkommenheit  «  dieser 
Naturwissenschaft  bedenklich  gestört  würde.  Nun  stelle  man  sich 
diesen  Dingbegriff  vor,  dessen  Schöpfung  das  unerreichbare  Ideal 
der  ganzen  naturwissenschaftlichen  Arbeit  sein  soll:  Er  hat  weder 
quantitative  noch  qualitative  Merkmale  mehr.  Rickert  nennt  ihn 
den  Begriff  des  einfachen  iinanschaulichen  Dinges.  Das  sind  — 
omnis  determinatio  est  negatio  —  zwei  negative  Merkmale.  Welche 
positiven  Merkmale  hat  aber  ein  solcher  üingbegriff  ülx?rhaupt  noch? 
Gar  keine!  Das  also  ist  Rickerts  Ideal  der  vollkommenen  Natur- 
wissenschaft: 8ie  bildet  den  Gesetzes  begriff  und  den  Dingbegriff, 
beide  möglichst  merkmalsfrci  und  frei  von  irgendwelchen  Bestim- 
mungen; darunter  fällt  dann  natürlich  in  letzter  Linie  alles,  unter 
anderem  auch  die  gesamte  Natur.  Diese  »logischen«  Forderungen 
an  eine  »ideale«  Naturwissenschaft  sind,  wie  uns  deucht,  leicht  zu 
erfüllen.  Es  bedarf  nur  einer  in  wenigen  Augenblicken  zu  vollziehen- 
den Abstraktion  von  allem  Wirklichen  und  Denkbaren,  die  man  im 
bequemen  »Schreibtischsessel  anstellt.  Und  es  bleibt  nur  erstaunlich, 
daß  trotz  einem  so  bequem  zu  verwirklichenden  »Ideal«  immer  noch 
Generationen  ernster  Forscher  in  der  Naturwissenschaft,  der  Be- 
tätigung in  Werkstatt  und  Laboratorium,  in  fernen  Ländern,  in 
den  Lüften,  auf  und  unter  dem  Meere  Probleme  über  Probleme  und 
Arbeit  über  Arbeit  finden!  Aber  so  muß  es  kommen,  wenn  die  An- 
maßliclikeit  »geisteswissenschaftlicher«  Spekulation  mit  einem  Feder- 
strich Ziel  und  Grenzen  der  Naturforschung  zu  geben  sicli  vermißt, 
ohne  auch  nur  eine  Ahnung  von  ihrer  wirklichen  Arbeitsweise  zu 
haben!  Es  ist  derselbe  Gestus  dünkelhafter  Herablassung  gegenüber 
der  empirischen  Forschung,  den  wir  schon  bei  dem  gleichgesinnten 
Windelband  an  anderer  Stelle  zurückweisen  mußten  *).    Nur  ncl)en- 


1)  Vgl.  S.  72  «licsps  Bucht  s.  Es  gilt  auch  hiir  das  Sprichwort:  Wie  die 
Alton  sungen,  so  xwitsclu-rn  die  Jungen  !  Man  loao  etwa,  wie  der  Rickert.-^hüUT 
Kroner  (Zw<i-k  und  fJrsctz  in  der  Biologit'.  Tübingen  19i:i)  mit  wirklich  leut- 
seliger Duldsanik«'it  den  naturwi.ssenschaftlichcn,  biologinchen  Methoden  und 
FragestfUungcn  immerhin  noch  ein  bescheidenes  Plätzchen  im  Werke  der  Bio- 
logie übrig  laut,  wenn  «t  sie  auch  gUichsjim  moralisch  vernichtet  und  »in  ihre 
logischen    Grenzen    zurückweist«    durch    seine    Methode    »logisch<?r    Besinnaiigs 


200     Über  die  wissenscliaftstheoretischcii  Grundlagen  der  Payclioiogie  usvr. 

Lei  sei  erwähnt,  daß  eine  derartige  Einstellung,  wie  die  Rio kert sehe, 
natürlich  auch  nicht  im  geringsten  in  der  Lage  sein  kann,  die  wahre 
Bedeutung  der  Mathematik  für  die  Aufgabe  der  Naturwissenschaften 
zu  erfassen.  Daß  die  mathematische  Behandlung  der  Natur  durch  die 
raumzeitliche  Gegebenheit  der  Natur  erfordert  wird,  und  deren  Wesen 
mit  Notwendigkeit  zur  Darstellung  bringt,  daran  geht  Rickert 
vorüber.  Bei  ihm  folgt  die  Bedeutung  der  Mathematik  lediglich 
aus  seinem  Begriffe  des  einfachen  Dinges,  auf  dessen  Mannigfaltigkeit 
»die  Zahlenreihe  «  anwendbar  wird.  Freilich  soll  auch  diese  Mannig- 
faltigkeit durch  den  Gesetzesbegriff  überwunden  werden;  und  so 
sind  die  in  Frage  stehenden  mathematischen  Methoden  nur  ein  bei- 
läufiges und  vorläufiges  Aushilfsmittel  der  Naturwissenschaft.  Immer- 
hin kann  selbst  Rickert  nicht  übersehen,  daß  es  ja  auch  eine  Mannig- 
faltigkeit von  »Relations begriffen«  gibt;  auch  diese  will  er  mathe- 
matisch behandeln,  womit  er  aber  nicht  etwa  meint,  daß  er  die  Re- 
lationen mathematisch  bestimmen  wolle,  sondern  die  Mannigfaltig- 
keit der  Begriffe.  Er  läßt  hierbei  offen,  ob  er  diese  Mannigfaltigkeit 
zählen  oder  ordnen  will;  etwas  anderes  dürfte  er  mathematisch  kaum 
mit  ihr  anfangen  können.  Daß  auch  die  raumzeitlichen  Bestim- 
mungen der  Natur  einen  Grund  der  Möglichkeit  mathematischer  Be- 
handlung bieten  können,  ist  ihm  äußerst  unbehaglich,  läßt  sich  aber 
für  die  Phoronomie  nicht  ganz  vermeiden.  Die  Bewegung  ist  ja 
ebenfalls  »mannigfaltig«  und  daher  mathematisch  darstellbar.  Von 
einer  mathematischen  Behandlung  der  Dynamik  hört  man  nichts 
bei  Rickert.  Für  ihn  ist  die  ganze  Sache  damit  erledigt,  daß  aus 
der  empirischen  Unendlichkeit  durch  die  mathematische  Behandlung 
eine  »übersehbare  mathematische  Unendlichkeit«  wird^).  Dies  zur 
Belehrung  der  theoretischen  Physik! 

Wir  wandten  uns  schon  gegen  die  logische  Struktur  des  Begriffs 
des  einfachen  unanschaulichen  Dinges  bei  Rickert.  Er  selber  be- 
merkt im  Verlauf  dieser  Untersuchung  ebenfalls,  daß  die  Merkmale 
dieses  Begriffs,  so  wie  er  ihn  fordert,  lediglich  negativer  Art  sind. 
Mit  einem  verblüffenden  Sprung  vollzieht  er  daher  die  Verwandlung 
auch  dieses  Dingbegriffes,  den  wir  nur  so  behandeln,  als  ob  er  ein 
Dingbegriff  wäre,  in  einen  Relationsbegriff.  Er  dekretiert:  Im 
Grunde    setze  sich  auch  der  logisch   vollkommene  Dingbegriff  aus 


eine  sonderbare  Art  von  spekulativen  Deduktionen  und  Dekreten  über  »chemische 
Einheit«  (!?)  und  Organismenbegriff.  Diese  »logischen«  Besinnungen  instauriert  er 
seinerseits  dafür  als  die  wahre  Fundamentierung  aller  Biologie.  Inhaltlich  sind 
sie  oftmals  ungenießbar,  von  einer  auch  stilistischen  Dunkelheit,  welche  ihre 
biologische  Falschheit  geschickt,  aber  wirkungslos,  verschleiert.  Es  ist  Geist  vom 
Geiste  der  Schellingschen  neuen  Zeitschrift  für  spekulative  Physik:  und  bevor 
man  an  die  kritische  Diskussion  dieser  Ausführungen  herantritt,  fühlt  man  sich 
versucht,  an  den  Autor  dieser  pseudo-isidorischen  (oder  besser  pseudo-Rickertschen) 
Dekretalien  die  bescheidene  Frage  zu  richten,  ob  er  überhaupt  schon  jemals  in 
seinem  Leben  auch  nur  die  schülerhafteste  biologisch-physiologische  Versuchsreihe 
angestellt  habe. 
1)  Seite  92. 


Die  Erkenntnis  d.  Individualität  u.  ilirc  wiseenBchaftstheoret.  Gnuidlitj^en.     201 

lauter  Urteilen  zusammen.  »So  kommt  er  zu  dem  SchluBne:  »Der 
Inhalt  aller  logiseh  vollkommenen  naturwis.senscliaftlichen  Begriffe 
besteht  auH  Urteilen»)*).  Daß  dies  abstru.s  i.st,  brauchen  wir  kaum 
mehr  zu  wiederiiolen. 

Hat  Kickert  auf  diese  Weise  die  Urteilscharaktere  in  das  Wesen 
der  Begriffe  hineingeheimnist,  so  muß  er  auch  die  Konsequenz  ziehen, 
daß  Begriffen  notwendige  Geltung  zukommt.  Man  unterscheidet 
danach  drei  iStadien  der  Begriffsbildung:  Erstens  Wortbedeutungen 
von  empirischer  Allgemeinheit  noch  ohne  logischen  Wert  (»Beschrei- 
bung«). Zweitens  logische  Bestimmtheit  zu  MerkmaLskomplexen 
(»Klassifikation«).  Drittens  notwendige  Geltung  (»Erklärung«). 
(So  verwaschen  diese  »logische«  Gliederung  der  Begriffsbildung  auch 
ist,  so  führt  sie  ihn  zu  einer  Konsequenz,  die  wir  für  sehr  wertvoll 
und  richtig  halten:  dazu  nämlich,  daß  er  jede  prinzipielle  Unter- 
scheidung zwischen  Beschreibung  und  Erklärung  verwirft.  Die 
Erklärung  ist  kein  Gegensatz  zur  Beschreibung,  denn  auch  Beschrei- 
bung ist  ohne  Begriffe  nicht  möglich.  Die  Beschreibung  arbeitet 
nur  mit  logisch  weniger  vollkommen  geklärten  Begriffen  als  die  Er- 
klärung. Eine  vollständige  Beschreibung  ist  wegen  des  begrifflichen 
Wesens  ihrer -Hilfsmittel  unmöglich.  Beschreibung  kann  bedeuten: 
Erstens  Klassifikation.  Das  wäre  lediglich  eine  zweckmäßige  Ver- 
einfachung der  Tatbestände  als  Vorarbeit  zur  Anwendung  von  noch 
nicht  auffindbaren  Gesetzen.  Wenn  die  Begriffe  dieser  Beschreibung 
ihrem  Zweck  genügen,  so  »gelten «sie  damit  im  Ricker tschen  Sinne; 
an  sich  gelten  sie  nicht.  Auch  hier  meint  Rickert  wieder  die  Urteile, 
in  denen  diese  Begriffe  vorkommen,  aber  nicht  die  Begriffe  selber. 
Die  Tatsache  dieser  Geltung  aber  verwischt,  wie  er  richtig  sagt,  den 
prinzipiellen  Unterschied  zur  Erklärung,  oder,  wie  wir  sagen  würden : 
zur  Theorie. 

Zweitens  kann  Beschreibung  bedeuten  deskriptive  Tatbestands- 
analyse. Eine  solche  ist  an  sich  immer  wertlos  und  hat  nur  Sinn  als 
Vorarbeit  für  eine  erklärende  oder  deskriptive  Wissenschaft.  Auch 
diesen  Satz  untersclireiben  wir  durchaus:  Ja.  wir  sind  der  Meinung, 
daß  es  gar  keine  deskriptive  Analyse  von  Tatbeständen  geben  könne, 
in  welche  nicht  schon  Elemente  der  erklärenden  Wissenschaft  ein- 
gegangen wären.  Um  so  überraschender  und  bedeutsamer  ist  dem- 
gegenüber Rickcrts  neuer,  hier  hervortretender  Gesichtspunkt*), 
daß  auch  reine  Deskription  an  sich  wertvoll  sein  könne,  aber  nur, 
soweit  keine  naturwissenschaftliche  Absicht  im  engeren 
Sinne  vorliegt.  Wird  durch  diese  Beschreibung  nämlich  die  Man- 
nigfaltigkeit der  Anschauung  nicht  überwunden,  sondern  gerade 
herausgehoben,  so  handele  es  sich  nicht  um  Naturwissenschaft. 
Wir  würden  die  neue  Lehre  gern  annehmen,  wenn  wir  erfahren 
könnten,  wie  überhaupt  eine  Beschreibung  möglich  sein  soll,  welche 

»)  Seite  96. 
«)  Seite  141. 


202     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

die  Mannigfaltigkeit  des  Anschaulichen  nicht  abstrakt! v  vereinfacht, 
sondern  gerade  in  ihrer  individuellen  Fülle  heraushebt.  Immerhin 
sind  wir  im  Negativen  mit  Rickert  völlig  einer  Meinung:  »Tat- 
sachen kann  die  Naturwissenschaft  gar  nicht  beschreiben.  Diese  sind 
in  ihrer  anschaulichen  Vereinzelung  durch  die  Abstraktion  der  Natur- 
wissenschaft nie  vollständig  faßbar. «  »Da  ohne  Begriffe  ein  natur- 
wissenschaftliches Denken  überhaupt  nicht  möglich  ist,  so  .  .  .  geht 
das  einzelne  Faktum  als  solches  auch  in  die  naturwissenschaftlichen 
Urteile,  die  Tatsachen  konstatieren,  gar  nicht  ein^).«  Dieser  letzte 
Satz  ist  wieder  in  mehrfacher  Hinsicht  bedenklich.  Ohne  Begriffe 
ist  nicht  nur  naturwissenschaftliches  Denken,  sondern  Denken 
überhaupt  unmöglich.  Würde  die  Konsequenz  Ricker ts  gelten, 
daß,  da  ein  Denken  ohne  Begriffe  unmöglich  ist,  das  einzelne  Faktum 
als  solches  niemals  beurteilt  werden  könnte,  so  würde  diese  Konse- 
quenz nicht  nur  das  naturwissenschaftliche  Denken,  sondern  das 
Denken  überhaupt,  also  auch  das  historische,  treffen.  Diese  Kon- 
sequenz ist  aber  falsch.  Die  Möglichkeit  singulärer  Urteile  über 
einzelne  Tatsachen  ist  logisch  von  der  Begrifflichkeit  des  Denkens 
ganz  unabhängig.  Rickert  bringt  seinem  Dogma  nach  und  nach 
die  gesamte  Logik  zum  Opfer. 

Rickerts  Analyse  der  psychologischen  Erkenntnis. 

Nach  diesen  allgemeinen  Ausführungen  unternimmt  es  Rickert, 
der  Psychologie  ihre  Stellung  zur  Naturwissenschaft  und  dem 
Wissenschaftsganzen  überhaupt  anzuweisen.  Er  geht  von  einer  Prü- 
fung der  landläufigen  Trennungslinie  der  Psychologie  von  den  Natur- 
wissenschaften aus,  welche  dadurch  gezogen  sein  soll,  daß  die  Natur- 
wissenschaften sich  mit  den  Objekten  beschäftigen,  die  dem  Subjekt 
gegenüberstehen,  die  Psychologie  hingegen  ihren  Gegenstand  in 
diesem  erkennenden  Subjekt  unmittelbar  findet.  Wir  begrüßen  es, 
daß  Rickert  diese  Trennung  ebenso  verwerflich  findet,  wie  wir 
selber.  In  der  Tat  zeigt  einfachste  Überlegung,  daß  das  erkennende 
Subjekt,  um  seinerseits  wissenschaftlich  erkannt  zu  werden,  zum 
Objekt  einer  auf  es  gerichteten  Erkenntnistätigkeit  werden  muß. 
Ist  dies  nicht  möglich,  so  ist  Erkenntnis  von  ihm  nicht  möglich,  sie 
sei  nun  naturwissenschaftlich  oder  nicht  naturwissenschaftlich.  Ist 
€8  aber  möglich,  das  erkennende  Subjekt  seinerseits  zum  Objekt 
einer  Erkenntnis  zu  machen,  so  ist  dies  »Subjekt«  dann  von  sämt- 
lichen anderen  möglichen  Objekten  einer  Erkenntnis  nicht  mehr 
grundsätzlich  unterschieden.  Es  steht  dann  wie  alle  Objekte  einem 
erkennenden  Subjekt  gegenüber,  nämlich  dem  Subjekt  der  auf  es 
bezüglichen  Erkenntnis.  Definiert  man  aber  Naturwissenschaft  — 
(fälschlich)  —  als  Wissenschaft  von  den  Objekten,  die  einem  er- 
kennenden Subjekt  gegenüberstehen,   so  ist  e§   dann  ebenfalls   ein 

1)  Seite  14.5. 


Die  Erkenntnis  d.  Individualität  u.  ihre  wissenschaftethcoret.  Grundlagen.     203 

Gegenstand  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis  —  oder  es  ist 
ülxjrhaupt  kein  Gegenstand  irgendeiner  möglichen  Erkenntnis.  Diesen 
sonnenklaren  Tatl)estand  wollen  wir  uns  durcli  noch  so  geistvolle 
Spekulationen  der  Trias  Natorp,  Münsterberg  und  Bergson 
nicht   verdunkeln  lassen! 

Wir  folgern  aus  dieser  Überlegung  nicht  etwa,  daß  »das  Ich« 
Gegenstand  naturwissenschaftlicher  Erkenntnis  sei,  wir  folgern  aus 
ihr  vielmehr  die  Falschheit  der  genaimten  Definition  von  Natur- 
wissenschaft und  ihrer  Trennungslinie  gegen  die  Psychologie.  Den 
naturwissenschaft Hellen  Charakter  der  Erkenntnis  des  Seelischen 
haben  wir  ja  an  anderer  Stelle  aus  allgemein  wissenschaftstheoretischen 
Erwägungen  abgeleitet  i).  Für  das  individuelle  Wesen  des  Seelischen 
stellt  er  aber  hier  noch  in  Frage.  Soviel  ist  uns  klar,  daß  er  durch 
die  genannte  logisciie  Mcrkmalsbildung  nicht  beantwortet  zu  werden 
vernuig. 

Rickert  ist  darin  ganz  unserer  Ansicht.  Aber  der  Weg  seiner 
Prüfung  ist  ein  viel  komplizierterer.  Er  fragt  sich:  welche  Subjekts- 
begriffe sind  denn  möglich,  welche  als  erkennend  den  naturwissen- 
schaftlichen Objekten  gcgenüberstellbar  sind  —  wenn  wir  jene  be- 
hauptete Trennungslinie  einmal  als  gültig  voraussetzen? 

Als  erstes  kommt  das  psj'chologische  Subjekt  in  Frage:  Das 
Ich  als  Gesamtheit  von  Körper  und  Seele.  Die  Entgegensetzung 
des  Ich  als  Subjekt  zum  Umkreis  von  Naturobjekten  kommt  dann 
durch  eine  eigentümliche  Lokalisation  des  Seelischen  innerhalb 
dieses  »psychophysischen  Ich«  zustande.  Wir  sprechen  von  der 
Körperwelt  als  der  »Außenwelt  «,  dem  Seelenleben  als  der  »Innen- 
welt«, und  behalten  diesen  Gegensatz  auch  in  denjenigen  psycho- 
logischen Systemen  bei,  welche  den  Seelenbegriff  selber  nicht  mehr 
anerkennen.  Diese  Trennung  hat  aber  nur  Sinn,  wenn  beide  Be- 
griffe, Außenwelt  und  Seelenleben,  auf  verschiedene  Teile  der  räum- 
lichen Welt,  in  weleher  das  psychophjieische  Subjekt  drinsteht, 
l)ezogen  werden.  Dadurch  aber  wird  die  abzuleitende  Trennung 
des  Körperlichen  und  des  Seelischen  aufgehoben;  deim  das  Seelische 
wird  zu  einem  Teil  des  Räumlichen,  nämlich  zu  dem  Räumlichen 
»im«  psychophysischen  Ich.  »Machen  wir  uns  ntir  klar,  daß  das 
huiere  des  Menschen  sein  Gehirn,  seine  Nerven,  seine  Muskeln,  seine 
Eingeweide,  aber  nicht  sein  Seelenleben  ist«.  Natürlicli  ist  das 
Seelenleben  psychophysisch  von  diesem  »Innenleben«  abhängig; 
jedoch  ist  das  prinzipiell  für  unsere  Frage  lx>langlos.  Selbst  wenn 
man  alx?r  den  so  gewonnenen  Gegensatz  von  Natur  und  Seelenleben 
anerkennen  würde,  so  würde  aus  ihm  noch  nicht  folgen,  was  doch 
eigentlieh  aus  ihm  folgen  sollte:  daß  die  Methode  der  wissen- 
schaftlichen Bearbeitung  des  »Innenlebens«  eine  grundsätzlich  an- 
dere sein  müßte,  als  die  der  »Außenwelt«  in  diesem  psychophj-si- 
schen  Sinue.     Kh  ist   logisch  bedeutungslos,   wenn  gesagt  wird,   die 


»)  Siehe  S.  l'23ff.  dit^sos  Buches. 


204      Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Psychologie  als  Geisteswissenschaft  hätte  es  mit  dem  Innenleben, 
die  Naturwissenschaft  mit  dem  Außenleben  zu  tun,  weil  aus  diesem 
Gegensatz  gar  keine  logische  Differenzierung  der  Erkenntnis- 
methoden folgt  1). 

Der  zweite  Begriff  von  Subjekt,  welcher  möglich  wird,  ist  nach 
Rickert  der  des  Bewußtseins.  Seelisches  Leben  würde  hiernach 
als  Bewußtseinsvorgang  definiert.  Das  tun  tatsächlich  fast  alle 
neueren  Psychologen!  Was  von  dieser  Gleichsetzung  des  seelischen 
Seins  mit  dem  Bewußtsein  zu  halten  ist,  werden  wir  in  der  Phäno- 
menologie noch  zu  erörtern  haben.  In  der  Wissenschaftstheorie 
haben  wir  bereits  einige  Andeutungen  darüber  gemacht,  daß  und 
warum  wir  diese  Identifizierung  für  falsch  halten.  Folgen  wir  aber 
Rickert  vorerst  weiter.  Er  kommt  zu  dem,  wenn  man  die  Gleich- 
setzung des  Seelischen  und  des  Bewußtseins  wirklich  ernst  nimmt, 
völlig  richtigen  auch  schon  von  Wundt  zugestandenen  Ergebnis: 
Was  wir  mit  dem  Begriff  Bewußtsein  meinen,  können  wir  nicht  er- 
klären. Aber  er  hat  einen  anderen  Einwand  gegen  diese  Gleich- 
setzung des  Seelischen  mit  dem  Bewußtsein.  Der  Bewußtseinsbegriff 
umfaßt  nach  ihm  mehr  als  bloß  das  Psychische.  »Wir  kennen  in 
der  Erfahrung  kein  Sein,  das  wir  zu  den  Bewußtseinsvorgängen  in 
einen  Gegensatz  bringen  können. «  Auch  die  Körperwelt  ist  in  diesem 
Sinne  Bewußtseins  Vorgang.  —  Mit  dieser  Konsequenz  wird  ein  ur- 
alter Fehler  begangen,  welcher  aber  noch  heute  allem  Panpsychismus 
und  ähnlich  gerichteten  monistischen  Dogmen  zugrunde  liegt  2).  Die 
gesamte  Körper  weit,  sie  sei  welcher  Art  man  immer  annehmen  will, 
ist  uns  nur  vermittels  »Bewußtseinsvorgängen«,  nämlich  solchen 
des  erkennenden  Bewußtseins,  gegeben;  sie  ist  Gegenstand  von 
Bewußtseins  Vorgängen,  und  hierin  unterscheidet  sie  sich  nicht  von 
irgendwelchen  beliebigen  anderen  Gegenständen  erkennender  Be- 
wußtseinsvorgänge, die  wir  nicht  zu  ihr  rechnen.  Die  Gegebenheit 
der  Körperwelt  durch  erkennende  Bewußtseinsvorgänge,  und  selbst 
die  ausschließliche  Gegebenheit  derselben  durch  Bewußtseins  Vor- 
gänge, ist  aber  nicht  identisch  mit  der  Existenz  dieser  Körperwelt 


1)  Vgl.  Avenarius,  Bemerkung  zum  Begriff  des  Gegenstandes  der  Psycho- 
logie (Vierteljahrsschrift  f.  wiss.  Phil.  usw.    Bd.  18.    S.  141— ISOff.). 

2)  Es  ist  im  Grunde  das  alte  erkenntnistheoretische  Immanenzprinzip, 
welches  sich  hier  in  einer  psychologisierenden  Färbung  wieder  auftut.  Wir  gehen 
auf  die  erkenntnistheoretische  Seite  im  folgenden  nicht  ein,  sondern  beseitigen 
nur  einige  aus  dieser  falschen  Fragestellung  herrührende  psychologische 
Schwierigkeiten.  Über  das  philosophische  Dogma  der  Immanenzphilosophie  hat 
Kant  sich,  wider  Berkeley  und  dessen  »dogmatischen  Idealismus«,  grund- 
legend geäußert,  gerade  auch  in  bezug  auf  jene  psychologische  Einzelfrage  nach 
dem  Bewußtsein  einer  Außenwelt  (K.  d.  r.  V.  1.  Ausg.  S.  274—279).  Er  zeigt 
hier,  daß  »das  unmittelbare  Bewußtsein  des  Daseins  äußerer  Dinge  .  .  .  nicht  vor- 
ausgesetzt, sondern  bewiesen  wird,  die  Möglichkeit  dieses  Bewußtseins  mögen  wir 
einsehen  oder  nicht«.  —  Die  beste  systematische  Darstellung  zur  Ideengeschichte 
des  Immanenzprinzips  und  seiner  Überwindung  in  Hume  gibt  Otto  Selz,  Die 
psychologische  Erkenntnistheorie  und  das  Transzendenzproblem,  Arch.  f.  d.  gcs. 
Psychol.    Bd.  IG.    Heft  1  und  2. 


Die  Erkenntniß  d.  Individualität  u.  ihre  wisscnBchaftflthforpt.  fJrundlagon.     205 

als  Bewiißtseinsvorgängc.  Was  den  Bewiißtscinsvorgängen,  durch 
die  uns  die  Körperweh  gegeben  ist,  ala  Objekt  tatHÜchlich  enlsj)ri(ht, 
ist  eine  erkennt  ni.stheoretJHc he  Frage;  dio  Unlösliarkeit  der- 
.selben  haben  wir  el)en.so  wie  ihre  Vermeidbarkeit  an  früheren  Stellen 
dargetan*);  die  Belumptung,  diese  entsprechenden  Objekte  seien 
selber  Bewußtseinsvorgängo,  ist  eine  erkenntnistheorctische  Ant- 
wort, welche  wie  alle  erkenntnistheoretische  Antworten  eo  ipso  falsch 
ist.  Für  unsere  Vernunft  kritische  ülx^rzeugung  sind  diejenigen  Be- 
wiißtseinsvorgätige,  durch  welche  Seelisches  erkannt  wird,  und  die- 
jenigen, durch  welche  uns  eine  Körperwelt  gegeben  wird,  zwei  ver- 
schiedene, unauflösliche,  als  etwas  Letztes  hinzunehmende  unmittel- 
bare Erkenntnisgrundformen;  ihre  wissenschaftstheoretische  Deri- 
vation aus  der  erkennenden  Vernunft  seliger  haben  wir  dargetan. 
Beide  gelten  mit  gleicher  unmittelbarer  Gewißheit  und  Untrüglich- 
keit ;  damit  erübrigen  sich  für  uns  alle  weiteren  hier  anzuschneiden- 
den  Probleme. 

Rickert  hat  es  nicht  so  einfach.  Er  hat  die  Konsequenz  auf 
sich  genommen,  daß  alles  Sein,  auch  das  der  Körperwelt,  Bewußt- 
seinsvorgang ist.  Und  es  ist  ihm  nun  überaus  scliwierig,  die  Sonderart 
des  psychischen  Seins  als  Bewußtseinsvorgang  von  der  des  physischen 
Seins  als  Bewußtseinsvorgang  zu  trennen.  Da  die  Verschiedenheit 
beider  Seinsgebiete  evident  ist,  so  entsteht  mit  unwiderstehlicher 
Folgerichtigkeit  jene  Konsequenz,  welche  aus  gleichen  Voraus- 
setzungen wie  Rickert  sowohl  Wundt  als  auch  Brentano  und 
seine  Schule  für  ihre  Philosopheme  gezogen  haben:  die  Körjierwelt 
muß  dann  mehr  sein  als  dasjenige,  was  wir  als  anschauliche  Welt 
von  räumlichen  Dingen  und  Vorgängen  unmittelbar  erkennen.  Diese 
Erkenntnis  ist  vielmehr  nur  ihr  Abbild  oder  ihre  Erscheinung.  Diese 
Erkenntnis  nun  gehört  dem  Seelenleben  an;  und  so  ist  auch  die 
Körperwclt  in  der  Form  dieser  Erkenntnis,  als  Erscheinung,  mittel- 
bar dem  Seelenleben  angeiiörig.  Daraus  folgt  weiter,  daß  uns  das 
Seelenleben  allein  unmittelbar  gegel)en  ist;  soweit  das  Seelenleben 
Körperwelt  ist,  ist  die  Körperwelt  nur  als  Erscheinung  Seelenleben, 
also  mittelbar.  Wenn  alles  unmittelbar  gegebene  Sein  Bewußtseins- 
vorgang, und  jeder  Bewußtscinsvorgang  etwas  Psychisches  ist,  so 
kann   das    Psychische   allein    unmittelbar,    die    Körperwclt    dagegen 


*)  Es  ist  nin-  merkwürdig,  daß  das  Immanenzprinzip  sich  auch  in  den  Gedanken- 
gängen transzcndentahstischiT  IMiilosophen,  wenigstens  als  gebilligte  Pniblem- 
8t<>llung  in  dieser  psychologischen  Fassung,  noch  heutigen  Tages  ab  und  zu  vor- 
findet —  vom  l'anpsychisnnis  und  den  verscliiedenen  Monismen  gar  nicht  zu 
sprechen.  So  hier  bei  Rickert;  ferner  bei  Wundt;  ferner  bei  Münsterberg 
((Jnindzüge  der  Psychol.  I.  1900.  S.  204,  7 Iff.);  und  selbst  bei  Na torp  (All- 
gemeine Psychologie.  I.  1912.  S.  114 ff.).  Allerdings  sieht  der  letzten\  welcher 
überall  bei  psycholoßisehen  Statuit-nnigen  die  sonderbare  Voreingenommenheit 
hat,  eine  »Vembjektiviennig«  zu  wittern  (denn  die  Wissenschaft  vom  SiM«lischen 
darf  doch  beileibe  nicht  Objektivität  an.><tn>ben  !),  sogar  im  Begriff  des  H«  wußt- 
seinsvorgangea  eine  solche  »Verubjcktiviorungc  Was  würde  Kant  zu  dickem 
Kantianer  gesagt  haben  ! 


206     Über  die  -wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

nur  mittelbar  gegeben  sein;  d.  h.  wir  müssen  alles  Psychische  als 
Realität,  die  KörperweJt  hingegen  als  Phänomen  bewerten. 
Der  Erkenntniswert  des  psychischen  Erkennens  bleibt  also  der  einer 
unmittelbaren  untrüglichen  Erkenntnis;  der  des  physischen  Er- 
kennens hingegen  sinkt  zu  einer  mittelbaren  und  trügerischen  Erkennt- 
nisweise, deren  Kriterien  weder  in  der  Gewißheit  der  Erkenntnis - 
Vollzüge  liegen  können  noch  in  den  Gegenständen,  die  ja  nur  durch 
diese  trügerische  und  mittelbare  Erkenntnis  gegeben  sind.  So  be- 
gründet sich  dann  auch  bei  Wundt^)  und  Brentano2)  und  stellen- 
weise auch  bei  Lipps^)  der  Vorrang  der  inneren  über  die  äußere 
Erkenntnis,  und  die  innere  Wahrnehmung  wird  zum  Korrektiv  für 
die  Geltung  der  äußeren*). 

In  dieser  ganzen  Deduktion  liegt  der  gleiche  Fehler,  den  wir  schon 
in  ihren  Voraussetzungen  aufwiesen:  die  Verwechslung  von  Inhalt 
und  Gegenstand  des  Erkennens.  Wir  verweisen  auf  unsere  Wider- 
legung dieser  Voraussetzung:  daß  alles  Sein  ein  Bewußtseinsvorgang 
wäre.  Beide  Erkenntnis  weisen,  die  innere  und  die  äußere,  setzen 
sich,  wie  wir  nachgewiesen  haben,  aus  irreduziblen  Materialien  zweier 


1)  Wundt,  Physiol.  Psychol.     5.  Aufl.     III.     S.  766. 

2)  Brentano,  Psychol.     I.     1874.     S.  184. 

3)  Lipps,  z.  B.  in  Grundtatsachen  des  Seelenlebens.     S.  10. 

*)  Zum  Problemkreise  der  inneren  Wahrnehmung  äußern  wir  uns  in  der 
Phänomenologie.  Wird  die  äußere  Wahrnehmung  als  mittelbar  und  vom  Korrektiv 
der  inneren  abhängig  aufgefaßt,  so  wird  ihre  Geltung  als  Erkenntnis  damit  pro- 
blematisiert.  Hiergegen  behaupten  wir:  Erstens  die  Frage,  wie  man  zum  Inhalt 
der  Wahrnehmung  hinsichtlich  seiner  Trüglichkeit  Stellung  nehmen  solle,  ist  sinn- 
los —  mag  es  sich  nun  um  äußere  oder  innere  Wahrnehmung  handeln.  Zweitens 
fehlt  uns  jedes  Kriterium,  um  den  Zweifel  an  der  Geltung  der  Wahrnehmung  zu 
entscheiden  oder  zu  begründen.  Mit  dem  Nachweis  dieser  beiden  Behauptungen 
ist  die  untrügliche  und  unmittelbare  Geltung  der  Wahrnehmung  —  es  sei  dies  nun 
äußere  oder  innere  —  gegeben.  Wir  führen  diesen  Nachweis  hier  für  die  äußere 
Wahrnehmung,  deren  Geltung  in  Frage  steht. 

Erstens:  Die  Frage,  ob  eine  äußere  Wahrnehmung  richtig  oder  irrig  ist,  ist 
sinnlos;  denn  mit  der  Wahrnehmung  ist  die  Richtigkeit  der  Wahrnehmung  schon 
unmittelbar  psychologisch  gegeben.  Jeder  Wahrnehmung  liegt  vermöge  ihrer 
eigenen  Natur  ursprünglich  und  unvermeidlich  ihr  assertorisches  Wesen  zugrunde; 
dies  bildete  von  vornherein  einen  unabtrennbaren,  integrierenden  Bestandteil  des 
Wahrnehmungsaktes.  Ein  Zweifel  an  der  Wahrnehmung  im  Hinblick  auf  diese 
Assertion  ist  psychologisch  nicht  möglich. 

Zweitens:  Wäre  er  möglich,  wie  könnte  er  beseitigt  werden?  Durch  ein  Kri- 
terium, welches  über  die  Richtigkeit  von  äußeren  Wahrnehmungen  entschiede. 
Dies  Kriterium  kann  nicht  der  Gegenstand  sein,  welcher  ja  erst  in  der  Wahrneh- 
mung gegeben  ist.  Es  müßte  also  eine  Erkenntnis  sein,  welche  unabhängig  von 
der  äußeren  Wahrnehmung  gilt.  Als  solche  könnte  es  entweder  eine  Erkenntnis 
a  priori  sein  —  in  ihr  aber  kann  ein  solches  Kriterium  für  die  äußere  Wahrnehmung 
nicht  liegen  wegen  ihrer  modalischen  Inkongruenz  mit  dieser;  oder  es  könnte  eine 
innere  Wahrnehmung  sein  — ,  in  dieser  aber  kann  das  Kriterium  nicht  liegen 
wegen  ihrer  gegenständlichen  Inkongruenz  mit  der  äußeren  Wahrnehmung,  deren 
gegenständliche  Geltung  sie  prüfen  soll.  Mithin  ist  ein  solches  Kriterium  über- 
haupt unmöglich.  Der  Zweifel  an  der  Geltung  der  äußeren  Wahrnehmung  ist  nicht 
nur  psychologisch  sinnlos,  ihre  Problematisierung  ist  auch  logisch  undurchführbar. 
Mithin  bildet  die  Geltung  der  äußeren  Wahrnehmung  überhaupt  kein  mögliches 
Problem. 


Die  Erkenntnis  d-  Individualität  u.  ihre  wissfaschafteiheoret.  GrundlAgen.      207 

verschiedener,  jeweils  anschaulich-evidenter  und  untrüglicher  Er- 
kenntnisgrundfornien  zuHumnien,  welche  durch  eine  begriffliche 
Theorie  in  die  gesarate  Erkenntnis  der  Vernunft  eingeordnet  werden. 
In  gewissem  iSinno  ist  die  psychische  Anschauung  sogar  mittelbarer 
als  die  äuÜero  Anschauung,  nämlich  insofern,  als  sie  von  köriK-rlicher 
Zeitl^stimmung  abhängig  ist.  Wie  Kant  sagt,  ist  sie  »in  der  Zeit 
nur  durch  die  Existenz  wirklicher  Dinge,  die  ich  außer  mir  wahrnehme, 
möglich  .  .  .,  so  daß  folglich  innere  Erfahrung  selbst  nur  mittelbar 
ist,  nur  durch  äußere  möglich  ist  «i).  Rickert  denkt  kantisch  genug, 
um  jene  Konsequenzen  zu  mißbilligen,  welche  sicli  aus  der  Gleich- 
setzung der  Körperwelt  mit  Bewußtseinsvorgängen  notwendig  er- 
geben müssen.  Aber  da  er  das  ganze  Problem  der  Möglichkeit  einer 
Psychologie  als  Wissenschaft  und  ihrer  Stellung  zur  Naturwissenschaft 
von  vornherein,  wie  wir  zeigten,  unter  der  falschen  Fragestellung  er- 
scliöpft  sieht  :  welche  Subjektsbegriffc  es  denn  seien,  welche  für  die 
Materien  der  Psychologie  (und  für  die  Körperwelt)  als  erkennende 
in  Frage  kämen,  so  geht  er  einen  Irrweg,  um  jene  von  ihm  mißbilligten 
Konsequenzen  zu  widerlegen.  Das  Subjekt  für  alles  Gegebene  ist 
nach  ilim  nicht  identisch  mit  dem  Subjekt  des  psychisch  Gegebenen. 
Fassen  wir  Subjekt  als  das  aktive,  Objekt  als  das  passive  Moment 
des  Erkenntnisvorganges  auf,  so  läßt  sich  eine  Reilie  denken.  Der 
Ausgangspunkt  sei  das  psychisch-physische  Subjekt.  Von  diesem 
wird  zunächst  der  Körper  Objekt  für  den  gleichsam  mehr  psychischen 
Anteil  des  psychophysischen  Subjekts.  Eine  Reihe  von  psycho- 
physischcn  Subjektsbegriffen,  in  denen  auf  diese  Weise  das  Phy- 
sische immer  kleiner  wird,  führt  uns  allmählich  zum  psychologi- 
schen Subjekt,  welches  seinerseits  gar  nichts  körperliches  mehr  ent- 
hält, hinüber.  Diese  Reihe  läßt  sich  auch  noch  über  das  psycho- 
logische Subjekt  hinaus  weiter  verfolgen.  Einmal  kann  das  psycho- 
logische Subjekt  in  seiner  Ganzheit  als  das  Aktive  den  Körpern  in 
ihrer  Gesamtheit  als  passiven  Objekten  gegenüberstehen.  Aber  auch 
in  sich  selber  kann  das  psychologische  Subjekt  in  eine  aktive  und  in 
eine  passive  Seite  zerfallen.  Die  passive  Seite  erhält  Objektcliarakter; 
und  es  ist  dann  so,  daß  gleichsam  ein  Teil  des  Subjekts  den  anderen 
erkennend  betrachtet.  Es  ist  nun  möglich,  einen  jeden  beliebigen 
Teil  des  psychologischen  Subjekts  zum  Objekt  zu  machen.  Und 
dieser  Prozeß  der  Objektivierung  des  Psychologischen  läßt  sich 
immer  weiter  fortgesetzt  denken.  Denken  wir  ihn  uns  vollendet, 
so  bleibt  ein  reines  Subjekt  übrig,  welches  selbst  gar  kein  empi- 
risches Sein  mehr  enthält,  weder  physisches  noch  psychisches,  und 
niemals  Gegenstand  einer  empirischen  Wissenschaft  werden  kann. 
Nennen  wir  dieses  übrigbleibende  reine  Subjekt  Ik>wußtsein,  so  ist 
alles  gegebene  Sein  Bewußtseinsinhalt.  Dies  Bewußtsein  ist  aber 
nicht    das    psychologische    Subjekt,    es    enthält    nichts    psychisches 


1)  Kr.  d.  r.  V.   1.  Ausg.  S.  276.  Vgl.  Meyerhof,  Psychologische  Theorie  usw. 
S.  65. 


208     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

mehr.  Dieser  ganze  Prozeß  ist  nach  Rickert  natürlich  nur  be- 
grifflich möglich. 

Hierzu  sagen  wir:  Das  ganze  ist  eine  Konstruktion.  Diese  Kon- 
struktion Ricker ts  ist  aber  logisch  falsch.  Und  ferner  beseitigt 
sie  gar  nicht,  was  Rickert  doch  erstrebt,  jene  Konsequenzen,  welche 
Wundt  und  Brentano  aus  der  Annahme  gezogen  haben,  daß  auch 
die  Körperwelt  in  Bewußtseins  Vorgängen  bestehe. 

Jenes  übrigbleibende  reine  Subjekt  soll  erhalten  werden,  wenn  wir 
das  ganze  individuelle  Ich  restlos  objektiviert  haben.  Also  nicht 
mehr  die  Individualität  des  Individuums,  sondern  lediglich  dasjenige 
ist  in  diesem  Begriffe  des  reinen  Subjekts  enthalten,  was  überhaupt 
nicht  mehr  objektivierbar  ist,  was  seinem  Wesen  nach  nicht  zum 
Objekt  zu  werden  vermag.  Die  Frage  liegt  nahe,  wie  Rickert  eine 
Aussage  über  etwas  machen  kann,  was  durch  seine  Definition  gar 
nicht  Objekt  zu  werden  vermag,  also  auch  nicht  Objekt  einer  Aus- 
sage. Hier  zeigt  sich  aufs  klarste  die  logische  Erkünstelung  der 
ganzen  Konstruktion.  Die  Konstituierung  eines  Subjektes,  welches 
nicht  Objekt  zu  werden  vermag,  bildet  einen  Widerspruch  zu  dem 
Inhalt  dessen,  was  diese  Konstituierung  besagt.  Sie  ist  also  logisch 
unzulänglich.  Nun  spricht  Rickert  freilich  immer  vom  reinen 
Subjekt  als  einen  bloßen  Begriff.  Hierzu  bemerkt  Nelson  in  an- 
derem Zusammenhange  sehr  fein^),  der  Unterschied  der  zwischen 
einem  Gegenstande  und  dem  Begriff  dieses  Gegenstandes  besteht, 
verschwindet  auch  dann  nicht,  wenn  der  Gegenstand  selbst  ein  Begriff 
ist,  und  es  ist  daher  genau  zu  unterscheiden,  ob  eine  bestimmte  Aus- 
sage sich  auf  einen  Begriff  oder  auf  den  Begriff  eines  Begriffs  be- 
zieht. Rickert  vergleicht  einmal  den  Begriff  eines  reinen  Subjekts, 
oder  des  »Bewußtseins  überhaupt«,  wie  er  sagt,  mit  dem  mathe- 
matischen Begriff,  indem  er  hervorhebt,  daß  auch  derselbe  sich  auf 
keine  Wirklichkeit  bezieht^).  Setzen  wir  also  einen  derartigen 
mathematischen  Begriff  ein,  z.  B.  ein  gleichschenkliges  Dreieck. 
Auch  die  Eigenschaften  des  gleichschenkligen  Dreiecks  sind  auf 
das  strengste  zu  trennen  von  den  Eigenschaften  des  Begriffs  des 
gleichschenkligen  Dreiecks.  Die  Basiswinkel  des  gleichschenkligen 
Dreiecks  sind  gleich;  es  hat  aber  keinen  Sinn  zu  sagen,  die  Basis- 
winkel des  Begrifs  des  gleichschenkligen  Dreiecks  seien  gleich. 
Rickert  steht  also  vor  folgender  Alternative:  Entweder  seine  Aus- 
sagen beziehen  sich  auf  das  reine  Subjekt  als  einen  Begriff;  dann 
ist  die  Begriffsnatur  dieses  reinen  Subjekts  kein  Einwand  dagegen, 
daß  Aussagen  über  dasselbe  nach  der  Definition  des  reinen  Subjekts 
logisch  unmöglich  sind,  Oder  seine  Aussagen  beziehen  sich  auf  den 
Begriff  des  reinen  Subjekts;  dann  dürften  sie  zum  Inhalte  nur 
solche  Feststellungen  haben  wie  die,  ob  dieser  Begriff  widerspruchs- 
frei sei,  welche  Merkmale  er  enthält  usw.    Derartige  Aussagen  macht 


1)  Über  das  sogenannte  Erkenntnisproblem  S.  496 ff. 

2)  Der  Gegenstand  der  Erkenntnis.     2.  Aufl.     1904.     S.  155. 


Hie  Erkenntnis  d.  Individaalitat  ii.  ihre  wissfn8ch;ift«tlioorft.  (Jrundiagm.      "209 

Kickert  aber  nicht.  Wenn  er  erklart,  das  n-ine  »Subjekt  vermöge 
niemals  Objekt  zu  worden,  so  ist  die«  eine  Aussage  üter  da«  reine 
Subjekt,  nicht  al>er  üIkt  den  Begriff  des  Begriffs  reines  Subjekt«. 
Damit   ist   diese  Konzeption  logi.sch  erledigt. 

Rickert  sagt,  nenne  jnan  das  reine  Sii))jekt  Bewußtsein,  ho  sei 
das  gesamte  gegebene  Sein  Bewußt.seinsinhaU.  In  diesem  Satze 
wird  es  ganz  klar,  worin  der  Fehler  in  Rickerts  Voraussetzungen 
steckt,  welche  ihn  zu  seiner  falschen  logischen  Konstruktion  rei - 
anlaßt  halx'ii.  Bewußtsein  ist  nach  dem  sonstigen  Sprachgebrauch 
d«)ch  immer  ein  geistiger  oder  seelischer  Vorgang,  Zustand  oder  Ha- 
bitus oder  was  man  sonst  will;  dieser  Ifabitus  ist  aber  von  deoi 
Subjekt,  welches  ihn  aufweist,  scharf  zu  unterscheiden.  Da«  Subjekt, 
es  sei  »rcind  oder  >»p.sychologisch  *,  ist  nicht  Bewußtsein;  es  besitzt 
Bewußtsein.  In  diesem  letzteren  Sinne  geht  es  schließlich  an.  alles 
(Jegebene  als  »Bewußtseinsinhalt  «  zu  bezeichnen,  wofern  mit  dem 
Bewußtsein  eben  diejenige  Funktion  gemeint  ist,  kraft  deren  das 
(»egebene  )>gegel>en«  wird.  Für  wen  gegel^en?  Für  ein  Bewußtsein, 
wie  Rickert  will?  Nein,  sondern  für  das  Subjekt,  dessen  <iel)ende 
Funktion  das  Bewußtsein  ist.  Indem  Rickert  den  Akt  des  Er- 
kennens  nicht  vom  Subjekt  des  Erkennens.  dem  Erkennenden,  ti-enni. 
und  für  beides  die  gemeinsame  Bezeichnung  »Bewußtsein«  einführt, 
muß  sich  für  ihn  die  Schwierigkeit  ergel>en,  daß  ein  Ich  nicht  sicli 
selbst  zum  »Bewußtsein.sinhalt «,  also  zum  Objekt  eines  Erkennens 
zu  machen  vermag.  Und  darum  muß  er  seine  »Reihe «  von  Spaltungs- 
produkten des  Subjekts  aufstellen,  von  denen  immer  ein  Teil  zum 
Objekt  für  den  anderen  werden  kann.  So  endigt  er  endlich  bei  seinem 
logisch  unmöglichen  reinen  Subjekt,  welches  nie  Objekt  werden  kann. 
Es  ist  nur  konsequent,  wenn  er  erklärt,  dieses  Subjekt  sei  ein  anderes 
als  das  psychologische,  es  sei  gar  nicht  mehr  individuell,  sondern 
iil)erindividuell  und  erkenntnistheoretisch*). 

Trotz  dieser  Konstruktion  entgeht  aber  Rickert  jener  Kon- 
sequeiiz  gar  niciit,  die  er  durch  sie  zu  überwinden  hoffte.  Die  Körper- 
welt bleibt  ja  »Bewußtseinsinhalt  f,  also,  sehen  wir  von  der  fehler- 
haften Terminologie  ab,  ein  Teilphänomen  der  Vorgänge  im  Subjekt. 
Ob  dieses  Subjekt  ein  mehr  oder  weniger  »reines«  ist,  ist  völlig  be- 
langlos für  das  Verhältnis  der  Körperwelt   als  Teilphänomen  einer 


*)  Zu  ganr.  ähnlichen  Schwiorigkciton  vrio  Ricktrt  kuiiuut  (l<i-  .-m.»!!;*!  i*<> 
scharr-^innim-  Brentano  (PsypholoRJe  usw.  S.  löO.  IHHff.)  durch  .seine  verfehlt«- 
Konzeption  ilv^  RewaßtsiMns.  die  der  Ri(  kertschon  analog  ist.  Auch  er  stiehl 
vor  den  urendiiclien  Verwickhuigen,  die  in  der  danuis  entspringenden  Annahme 
liegen  inüsstn,  daß  jedes  paychusche  i'hänüiuun  ziun  t)bjekt  eines  j>.-<ychischon 
l'liäncftnüDS  werden  inuO.  um  i-lKrwußt»  zu  werden.  Er  führt  den  unendlichen 
Regreß,  der  hier  auftaucht  und  den  Rickert  ganz  willkürlich  mit  dem  »r^'inen 
{Subjekt*  bocndet,  in  »einer  ganzen  logischen  Ah.surditat  vor.  Aber  wa.s  »<chli«6t 
rr  daraus?  Nicht  etwa  die  Ablehnung  .seines  BewuÜtseinsbegriHes  als  Inbegriff 
des  psychischen  (Jt-nebenseins  —  sondern  die  rein  dogmatische  Wendung:  Vor- 
Htellung  und  Vorstellung  von  der  Vorstellung  seien  in  einem  und  demselUn  Akto 
gegeben  !  —  HicrülnT  weiteres  in  der  PhünomcDologic. 

Kronfrid,  FsychUtrUchc  KrkenotoU  14 


.210     Über  die  wissenschaftfctheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

übergeordneten  ßJasse,  die  zu  den  psychischen  Phänomenen  gehört> 
zu  dieser  Klasse  selber.  Es  sind  also  von  seinem  Standpunkt  aus 
bloße  Beteuerungen  ohne  jeden  substantiellen  Grund,  wenn  er  fälsch- 
lich aus  diesen  falschen  Voraussetzungen  zu  schließen  vermeint,  was 
wir  sachlich  absolut  richtig  finden:  »Wir  halten  daran  fest,  daß  das 
Wort  Psychisch  jeden  Sinn  verliert,  wenn  es  nicht  auf  einen  Teil 
der  gegebenen  Wirklichkeit  beschränkt  wird,  daß  eine  Körperwelt 
uns  ebenso  unmittelbar  gegeben  ist,  wie  das  Seelenleben. «...  »Um 
die  Scheidung  in  Realitäten  und  Phänomene  kümmern  wir  uns  hier 
nicht  weiter  ...  es  genügt  uns,  wenn  wir  zeigen  können,  daß  durch 
sie  jedenfalls  das  Psychische  vom  Physischen  nicht  getrennt  werden 
darf.«  Sehr  schön;  aber  das  zeigt  Rickert  ja  gar  nicht!  Er  ver- 
sichert, beides  sei  letztlich  »Bewußtseinsinhalt «.  Und  aus  der  gleichen 
Versicherung  haben  andere  Denker  gerade  die  Konsequenz  gezogen, 
daß  beides  getrennt  werden  müsse,  daß  das  Psychische  Realität,  das 
Physische  Phänomen  sei.  Rickert  ist  infolge  der  unglückseligen 
Sackgasse,  in  welcher  er  steckt,  gar  nicht  in  der  Lage,  eine  besondere 
Begriffsbestimmung  des  Psychischen  überhaupt  zu  geben.  Er  macht 
sich  die  Sache  bequem  und  meint,  nach  dem  Gesagten  kann  man 
»davon  absehen«.  »Wir  wissen,  daß  das  Psychische  ein  Teil  der 
empirischen  Wirklichkeit  ist,  sogut  wie  die  Körper«  (nämlich  die 
»empirische  Wirklichkeit«  Rickerts  ist  als  »Bewußtseinsinhalt« 
definiert),  »und  wir  beschränken  uns  darauf,  zu  sagen,  daß  psychisch 
alle  Objekte  sind,  die  nicht  physisch  sind«.  Wie  weise!  Und  wie 
genügsam,  wenn  er  fortfährt:  »Diese  negative  Bestimmung  reicht 
vollständig  aus,«i)  Aus  all  diesem  Gestrüpp  von  unzulänglichen  An- 
sätzen zu  begrifflicher  Klarheit  und  von  völlig  richtigen  und  wert- 
vollen Erkenntnissen,  welche  aber  leider  als"  falsche  Schlüsse  ver- 
fehlter Ableitungen  aus  irrigen  Voraussetzungen  geboren  werden, 
wollen  wir  noch  eine  Erkenntnis  retten,  die  wir  ebenfalls  voll  unter- 
schreiben können :  »Damit  hat  der  Satz,  die  Psychologie  hat  es  mit 
dem  Subjekt,  die  Naturwissenschaft  mit  dem  Objekte  zu  tun,  seine 
Bedeutung  verloren.  Auch  die  Psychologie  muß  alles,  was  sie  unter- 
suchen soll,  zum  Objekt  machen,  und  wenn  die  Trennung  des  psychi- 
schen Materials  vom  erkennenden  Subjekt  auch  schwieriger  aus- 
zuführen sein  mag,  so  ist  sie  darum  doch  nicht  minder  notwendig. « 
Die  Konsequenz  hieraus  ist  auch  bei  Rickert  die,  welche  die  unserige 
war:  Daß  die  Psychologie  durchaus  nach  naturwissen- 
schaftlicher Methode  verfahren  müsse.  Und  wir  fragen 
vergeblich,  was  alle  die  schwierigen  Spekulationen  Rickerts  denn 
nun  dazu  beigetragen  haben  könnten,  die  Individualpsychologie 
auf  einem  Fundament  wissenschaftstheoretischer  Sicherungen  auf- 
zubauen, welches  von  dem  der  Naturwissenschaft  grundsätzlich  ver- 
schieden ist. 

Aber  Rickert  versucht  das  Ziel,  wie  wir  es  charakterisierten, 

1)  Seite  183. 


Die  Erkenntnis  d.  Individualität  u.  iLrc  wihs-nscbaftflthcoret.  Gnindlagen.     21  1 

noch  auf  einem  anderen  Wege  zu  erreichen,  und  zwar  durch  eine 
Untersuchung  der  naturwissenschaftlichen  Methode  in  der  Psycho- 
logie selber  und  ihrer  Erkenntnisgrenzen.  Er  zeigt  zunächst,  daß  in 
der  Psyclu^logie  die  Teinporalitüt  alles  Psychi-schen  es  erschwert, 
tlas  Einzelne,  weil  es  durcli  seine  jeweilige  zeitliche  .Stellung  im  Strom 
psychischer  Kontinuitiit  inuner  ein  einziges  und  unwiederholbare«  ist, 
restlos  erkennend  zu  erfassen.  Er  zeigt  ferner  die  Begrenzung  des 
Erkenntnisfeldes  für  eine  jede  Psychologie:  Es  ist  nur  das  eigene 
.Seelenleben  des  erkennenden  .Subjekts  und  ein  kleiner  nur  erschlieli- 
barer  Teil  des  fTeniden.  BtM  weitem  der  größte  Teil  alles  psychischen 
(jJeschehens  bleibt  dem  erkennenden  .Subjekt  völlig  unbekannt;  »das, 
wofür  wir  bei  luis  selbst  kein  Analogon  finden,  werden  wir  niemab 
auch  nur  zu  erraten  imstande  sein,  und  es  ist  daher  für  die  Wissen- 
schaft als  Material  so  gut  wie  nicht  vorhanden«^).  In  diesen  richtigen 
Eeststelhingen  liegt,  scheint  uns,  nichts  anderes  als  die  grund-sätzlicho 
Anerkennung  der  (Jleichartigkeit  des  psychischen  Gegebenseins  mit 
»lern  physisciien,  so  wie  es  Rickert  vorher  charakterisiert  hatte;  es 
liegt  darin  der  Ausschluß  jeder  nicht  naturwissenschaftlichen  Indivi- 
(hialpsychologie  und  damit  vielleicht  der  wissenschaftlichen  Indi- 
vidualpsychologie  überhaupt.  Rickert  aber  folgert  nur  teilweise 
das  gleiche:  >)schon  aus  diesem  Grunde  wäre  es  ganz  unmöglich,  in 
fine  Psychologie,  die  doch  nicht  nur  das  individuelle  Seelenleben 
eines  einzelnen  Menschen  darstellen  soll,  die  psychischen  Vorgänge, 
so  wie  wir  sie  erleben,  aufzunehmen. «  Das  ist  aber  gerade  die  Frage! 
Die  Individualpsychologie  stellt  es  sich  gerade  zur  Aufgabe,  »das 
individuelle  Seelenleben  eines  einzelnen  Menschen  darzustellen*;  daß 
die  Psychologie  das  nicht  soll,  bleibt  zunächst  Dekret.  Rickert 
folgert  es  nur  aus  dem  naturwissenschaftlichen  Charakter  psychologi- 
scher Erkenntnis,  oder  vielmehr  aus  demjenigen,  was  er  diesem 
Charakter  fälschlich  imputiert:  der  »Überwindung«  der  gegebenen 
Mannigfaltigkeit,  und  dem  Drang  nach  dem  allgemeinsten,  nierkmals- 
ieersten  Gesetz.  Rickert  macht  es  sich  sodann  leicht,  wenn  er 
Dilthey»)  darin  beipflichtet,  daß  die  naturwissenschaftliche  Psycho- 
logie nicht  die  Grundlage  historischer  Wissenschaft  sein  könne.  Das 
l*roblem,  ob  eine  Individualpsychologie  nach  naturwissenschaftlicher 
.Methode  möglich  sei,  setzt  er  damit  schon  als  im  verneinenden  Sinne 
ontschicden  voraus;  und  nichts  ist  einfacher,  wenn  man  den  Sinn  der 
>faturwissenschaft  derartig  falsch  interpretiert.  Rickert  verneint 
über  auch  die  Erfüllbarkeit  der  Dilthey sehen  Forderung  nach  einer 
beschreibenden,  unmittelbar  anschaulichen  Individualpsychologie; 
sie  sei  logisch  unmöglich.  Und  zwar  mit  Recht.  »Bruchstücke  des 
unmittelbar  erfahrbaron  oder  erschließbaren  Seins  kami  man  so,  wie 
sie  hier  und  da  in  der  anschaulichen  Mannigfaltigkeit  gegeben  sind, 
durch  eine  die   Phantasie  anregende   Beschreibung,    wie  wir  in  der 


»)  Seite  187. 

«)  Siehe  S.  315  ff    dieses  Buob«». 


U« 


212     Über  die  wissenschaffestlieoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Phänomenologie  sehen  werden,  wenigstens  annähernd  darzustellen 
versuchen.  Die  Gesamtheit  des  Seelenlebens  aber  entzieht  sicli 
ebenso  wie  die  Körperwelt  jeder  Darstellung,  in  der  ihr  ganzer  Inhalt 
Raum  finden  soll.  Sie  ist  prinzipiell  unerschöpflich,  und  nicht  ein- 
mal eine  Annäherung  an  ein  Ziel  dieser  Art  ist  möglich,  sie  muß  viel- 
mehr auf  jeden  Fall  eine  Umformung  des  ihr  gegebenen  Materials 
vornehmen,  und  diese  Umformvmg  kann  ebenso  wie  in  den  Natur- 
wissenschaften nur  eine  Vereinfachung  sein,  «i)  Um  die  naturwissen- 
schaftliche Theoretik  der  Psychologie  können  wir  also  nicht  herum, 
freilich  bleibt  diese  immer  logisch  weniger  vollkommen  als  die  physi- 
kalische. Immer  aber  enthalten  ihre  deskriptiven  Begriffe  schon 
erklärende  Elemente.  So  ist  Psychologie  niemals  bloße  Beschreibung. 
Der  Einwand  gegen  ihren  allgemeinen  Erklärungsanspruch,  daß  sie 
am  einzelnen,  eigenen  Seelenleben  der  erkennenden  Individualität 
gebildet  werde,  ist  nicht  stichhaltig.  Die  Begriffe,  welche  sie  an  diese 
Materie  binden,  müssen  gelten  für  das  Seelenleben  überhaupt,  gleich- 
viel welches  Individuums,  sonst  ist  eine  Psychologie  als  Wissenschaft 
nicht  möglich.  Demgemäß  ist  alle  Psychologie  nach  Rickert  zwar 
individuelle  Psychologie,  aber  niemals  bloß  Psychologie  des  Indivi- 
duums. Wäre  sie  bloß  letzteres,  so  würde  der  Inhalt  jeder  deskrip- 
tiven Psychologie  von  dem  jeder  anderen  verschieden  sein  müssen. 
Tatsächlich  aber  sucht  die  Psychologie  zu  der  Allgemeinheit  und 
Bestimmtheit  ihrer  Begriffe  auch  die  notwendige  Geltung  hinzu- 
zufügen. 

Mit  allen  diesen  Ausführungen  stimmen  wir  völlig  überein;  sie 
beweisen  abermals  den  naturwissenschaftlichen  Charakter  der  Psy- 
chologie und  ihre  immanente  Theoretik,  und  daß  dies  von  der  Indi- 
vidualma terie,  an  der  die  Wissenschaft  sich  inhaltlich  erfüllt,  nicht 
berührt  wird.  Nur  eine  Einschränkung  machen  wir  gegenüber  den 
Rickertschen  Formulierungen.  Diese  betrifft  das  Geltungsbereich 
der  psychologischen  Gesetze.  Rickert  sagt  hier,  diese  Gesetze  gelten 
allgemein,  nicht  bloß  für  das  Individuum,  von  dessen  Seelenleben  sie 
abgeleitet  sind.  Das  ist  nicht  richtig.  Die  »Allgemeinheit«  der 
Geltung  bezieht  sich  nur  darauf,  daß  die  Gesetze  in  jedem  Falle 
gelten,  in  welchem  die  in  ihnen  beurteilte  Materie  unter  den  gleichen 
Bedingungen  steht,  unter  denen  die  Gesetze  gewonnen  wurden. 
Nicht  aber  liegt  in  dieser  »Allgemeinheit «  schon  drin,  daß  diese  Um- 
stände, unter  denen  die  Gesetze  gelten,  bei  mehr  als  einem  Indivi- 
duum realisierbar  sein  müßten.  Rickert  beweist  hier  zu  viel.  Es 
kann  auch  allgemeingültige  Gesetze  seelischer  Indivi- 
dualität geben  —  wenigstens  liegt  logisch  in  dieser  Konzeption 
kein  Widerspruch.  Die  Allgemeinheit  eines  Gesetzes  bedeutet  nicht 
die  Ubiquität  der  in  ihm  beurteilten  Materie,  sondern  nur  die  aus- 
nahmslose Geltung  für  diese  Materie. 

Es  versteht  sich  bei  Rickert  von  selbst,  daß  er,  nach  so  weit- 

1)  Seite  189. 


Die  Erkenntnis  d.  IndividualitÄt  u.  ilir«'  wibsonet  baft«tbc>ori-t.  (trundlagen.     213 

gehender  Angleichung  der  Psychologie  an  die  NaturwissenKchaft, 
auch  sein  seltsames  »logisches  Ideal«  der  Naturwissenschaft,  welche« 
wir  schon  gekennzeichnet  haben,  für  die  Psychologie  als  maügebend 
erachtet.  Wir  gelien  darauf  niciit  weiter  ein.  I>ediglich  einen  Unter- 
schied sieht  Rickert  zwischen  psychologischer  und  physikalischer 
Naturwissenschaft,  und  zwar  mit  Recht:  es  ist  der  alte  kanti.sche 
(»edanke,  daß  die  Quantifizierung  der  Qualitäten,  welche  gerade 
<lie  tiefsten  Erkenntnisse  der  physikalischen  Welt  verbürgt,  in  der 
Psycliologie  nicht  möglich  ist.  Freilich  leitet  Rickert  selbst  diesen 
«;infachen  Gediinkcngang  falscli  ab:  er  meint,  wenn  man  in  der  Psy- 
chologie von  den  (Qualitäten  abstrahiert,  behalte  man  »nichts«  übrig; 
und  übersieht  dabei  die  zeitliche  Dauer.  Aber  er  zieht  wenigsten» 
günstigere  Fornnilierungen  aus  diesem  Tatbestande  als  Kant,  welcher 
bekaruitlich  die  Psychologie  »vom  Rang  einer  strengen  WissenHchaft 
auf  immer  entfernt«  erachtet. 


Rickerts  Analyse  der   historischen  Erkenntnis.     tSeine  Lo- 
sung der  Erkenntnis  des  Individuellen. 

Rickerts  ganzer  Gredankengang  ging  dahin,  die  Erkenntnis  des 
Individuums  aus  dem  Werk  der  Naturwissenschaft,  und  auch  aus  dem 
der  naturwissenschaftlichen  Psychologie,  grundsätzlich  als  logisch 
unmöglich  zu  verbannen.  Unsere  Spannung,  wie  denn  nun  diese 
Erkenntnis  des  Individuums  möglich  sein  soll,  löst  er  endlich  durch 
eine  im  Wurf  zweifellos  groliartige  Gegenüberstellung  der  natur- 
wissenschaftlichen und  der  geisteswissenschaftlichen  Er- 
kenntnis. Unter  Natur  verstellt  er  liierbei  von  vornherein  nicht 
empirisclie  Wirklichkeit.  Er  erkennt  also  unsere  Definition  von  Natur 
von  vornherein  nicht  an.  Kunstwerke,  sagt  er,  sind  auch  empirische 
Wirklichkeit  und  dennoch  nicht  Objekte  der  Natur.  Hier  stocken 
wir  schon.  Eine  wissenschaftliche  Deskription  und  Erklärung  der 
Geneso  von  Kunstwerken  als  Gegenständen  in  der  empiri- 
schen Wirklichkeit  würden  wir  in  unserer  Uiilx^fangenheit 
naturwissenschaftlich  zu  geben  versucht  haben  —  soweit  eine  der- 
artige wissenschaftliche  Bestimmung  überhaupt  möglich  ist.  L«dig- 
liob  die  Wertgesichtspunkte,  unter  denen  jene  Gegenstände  zum 
(yharakter  von  Kunstwerken  gelangen,  würden  wir  als  der  natur- 
wissenschaftlichen Erkenntnisweise  entzogen  bezeichnen.  Rickert 
tueint,  Naturwissenschaft  und  Cieisteswissenschaft  seien  Erkenntnis- 
begriffe verschiedener  Gesichtspunkte.  Natur  sei  das  vom  Gesetz 
beherrschte  Sein,  jene  Wirklichkeit,  die  von  selbst  wird  und  nicht 
von  anderen  genuiclit  wird.  Die  Natur  ist  die  Wirklichkeit  n\it  Rück- 
sicht auf  das  Allgemeine.  Und  Psychologie  ist  deshalb  eine  Natur- 
wissenschaft, weil  sie  die  Wissenschaft  von  der  Natur  des  Seelen- 
lebens ist,  insofern  dies  Seelenleben  aufgefaßt  wird  im  Gegensatz 
nicht  zur  Körperwclt,  sondern  zur  Kunst,  zur  Kultur,  zur  Sitte,  zur 
Geschichte,  als  ein  in  sich  ruhender,    von  immanenten  Gesetzen  Ix?- 


214     Über  die  wissenschaftsfcheoretischeu  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

herrschter  Zusammenhang.  Der  Ausdruck  Geisteswissenschaft  hat 
gar  keine  logische  Bedeutung,  wenn  man  Naturwissenschaft  so  defi- 
niert, daß  darunter  jede  Wissenschaft  fällt,  welche  ihre  Objekte  mit 
Kücksicht  auf  das  Allgemeine  betrachtet  und  in  Gesetzesbegriffen 
zu  erfassen  sucht.  Geisteswissenschaft  fiele  danach  mit  der  Wissen- 
schaft vom  Seelenleben  zusammen.  Und  Geschichte  würde  zu  einem 
Teil  der  psychologischen  Disziplin.  Aber  das  Wort  Geist  enthält 
einen  Gegensatz  zum  bloß  Psychischen  in  diesem  Sinne,  es  bedeutet 
ein  psychisches  Leben  von  besonderer  Art.  Es  bedeutet  kurz 
das  individuelle  Wesen  psychischen  Lebens. 

Schon  hierin  liegt  das  alte  vGTeQor  ttqotsqop:  denn  es  war  ja 
gerade  unser  Problem,  ob  nicht  die  Psychologie  fähig  sein  sollte, 
unbeschadet  ihres  Charakters  als  Gesetzeswissenschaft  das  Indivi- 
duelle zu  bestimmen,  und  wieweit  diese  Fähigkeit  ihr  zukam.  Aus 
der  bloßen  Prüfung  auf  die  Tendenz  zum  Gesetz,  die  ihr  eignet,  kann 
also  dies  Problem  nicht  verneinend  entschieden  werden.  Nur  wenn 
man  diese  Tendenz  zum  Gesetz  entsprechend  dem  falschen  Ricke rt- 
schen  logischen  Ideal  ausbaut,  hat  diese  Verneinung  Sinn. 

Auch  Ricker t  sieht  ein,  daß  durch  diese  Formulierung  das 
Problem  logisch  nicht  gelöst  wird.  Er  läßt  daher  die  Entgegen- 
setzung zweier  Tendenzen  in  der  Psychologie  selber,  der  Tendenz 
zum  Gesetz  und  der  Tendenz  zum  Individuellen,  als  logisch  nicht 
faßbar  fallen.  Für  ihn  ist  es  der  Begriff  der  Geschichte,  welcher 
den  wahren  Gegensatz  zum  Begriff  der  Natur  ausmacht.  Es  muß 
gefragt  werden,  was  von  der  Wirklichkeit  durch  ihre  Vereinfachung 
bei  der  naturwissenschaftlichen  Bearbeitung  notwendig  verloren  geht. 
In  denjenigen,  was  diese  nicht  in  den  Inhalt  ihrer  Begriffe  aufnehmen 
kann,  liegen  ihre  Grenzen  zur  Geschichte. 

Verloren  geht  nun  zweifellos  die  Anschaulichkeit  —  allerdings  in 
der  Psychologie  niemals  ganz,  da  die  Qualitäten  bestehen  bleiben. 
Hierin  liegt  nach  Rickert  nur  ein  Beweis  der  logischen  Unvoll- 
kommenheit  der  Psychologie.  Ferner  geht  verloren  der  individuelle 
Charakter  der  Wirklichkeit.  Dies  liegt  bereits  im  Wesen  der  primi- 
tiven Begriffsbildung.  Geht  aber  dieser  Charakter  nicht  in  den 
Inhalt  der  naturwissenschaftlichen  Begriffe  ein,  so  folgt,  daß  eine 
Kluft  zwischen  der  Wissenschaft  und  der  Wirklichkeit  entstehen 
muß.  »Das  was  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung  die 
Grenzen  setzt,  über  die  sie  niemals  hinweg  zu  kommen  vermag,  ist 
nichts  anderes,  als  die  empirische  Wirklichkeit  selbst.« 
»Jeder  Versuch  einer  Systembildung  ist  aus  logischen  Gründen  un- 
zertrennlich verknüpft  mit  einem  Absehen  von  der  individuellen 
Gestaltung  der  Wirklichkeit,  und  ebenso  sicher  ist  es,  daß  alle  Wirk- 
lichkeit, die  wir  kennen,  lediglich  aus  individuellen  Gestalten  ge- 
bildet besteht«!).  So  muß  die  Naturwissenschaft  darauf  verzichten, 
das,  was  wir  unmittelbar  erleben,    in  ihre  Theorien  aufzunehmen. 

1)  Seite  240. 


Dir  Erkonntni-«  d.  Individii.ilitä*  u.  ihro  widfl -ns  jh  ifl^tbeoret.  Grundlag.jn.      21) 

Krkcnnliiis  der  XatiirwisseiiMcliiift  ist  nie  abbildende  Krkeiintnin. 
Ihre  Wahrheit  lK>.slcht  nicht  in  der  Ul>ercin.stininiunj4  der  Vorstellung 
mit  ihrem  Ciogenstande.  Das  Unendliche  und  Unül)er8ehbare  ab- 
bilden zu  wollen  ist  logisch  widersinnig.  Dennoch  steht  die  Natur- 
wissenschaft in  Beziehung  zur  Wirklichkeit.  An  Stelle  des  Seienden, 
welches  ihre  Bogriffe  nicht  darstellen  körmen,  tritt  die  fJeltung. 
Die  natiirwissensrhaft liehen  liegriffe  sind  nicht  dadurch  wahr,  dali 
sie  die  Wirklichkeit  abbilden,  sondern  dadurch,  daß  sie  für  die  Wirk- 
lichkeit gelten.  »Wir  sagen  damit  nichts  anderes,  als  daß  das  Ali- 
gemeine  nicht  das  Besondere  ist «.  Nun  gibt  es  al)er  eine  Fülle  von 
Dingen  und  Vorgängen,  die  uns  als  anschauliche  und  individuelle, 
d.  h.  als  Wirklichkeiten,  von  Bedeutung  sind.  Hier  tritt  die  Ge- 
schichte ein.  Sie  kann  die  Wirklichkeit  nicht  mit  Rücksicht  auf 
das  Allgemeine,  sondern  auf  das  Besondere  vorstellen. 

Es  könnte  scheinen,  als  wenn  durch  diese  Aufgalx?  der  Geschichte 
ihr  Charakter  als  Wissenschaft  von  vornherein  verneint  werden 
müßte.  Jedenfalls  muß  das  Pro])lem  ihrer  Möglichkeit  als  Wissen- 
schaft erst  imtersucht  werden.  Der  Begriff  des  Historischen  als 
Wissenschaft  vom  Wirklichen  in  seiner  Besonderheit  ist  an  sich  ganz 
unabhängig  vom  sachlichen  Unterschied  etwa  der  Natur  und  des 
(Tcistos.  Aus  dem  Begriff  einer  solchen  Wis.senschaft  vom  Individuell- 
Besonderen  folgt  weiter,  daß  der  Begriff  des  historischen 
Gesetzes  zu  einem  Widerspruch  in  sich  selbst  wird,  (k- 
schichtswissenschaft  und  Gesetzeswissenschaft  sehließen  einander  aus«. 
Es  ist  nicht  die  Kompliziertheit  der  historischen  Persönlichkeiten  und 
Vorgänge,  welche  die  gesetzmäßige  Erkenntnis  dorseUxjn  behindert  : 
dies  wäre  kein  grundsätzliches  Hindernis.  Nicht  als  kompliziertet 
Tatljostand,  sondern  als  Individualität  ist  ein  Gegenstand  der  Cie- 
schichtc  unlwgreiflich.  Diese  Unlx.'greifliclikeit  teilt  alles  individuelle 
Wirkliche.  Alle  Wirklichkeit  ist  irrational.  Man  kann  diesen  Gegen- 
satz auch  nicht  dadurch  ausdrücken,  daß  man  der  Naturwissenschaft 
das  Sein,  der  Geschichte  das  Werden  zuweist. 

Soweit  der  grundlegende  Gedankengang  Rickerts.  Sieht  mau 
von  einigen  schiefen  Darstellungen  über  das  Wesen  der  Naturwissen- 
schaft inid  ihr  Verhältnis  zur  Wirklichkeit  ab,  welche  wir  hier  als 
belanglos  nicht  weiter  verfolgen,  und  fragt  man  sich,  was  Rickert 
denn  nun  erreicht  hat,  so  mü.ssen  wir  gestehen,  wir  finden  uns  genau 
so  fern  von  der  Lösung  des  Problems  wie  am  allerersten  Beginn 
unserer  Fragestellung.  Dies  Prol)lem  ist  doch  gerade  gewesen:  Ist 
eine  Wissensthaft  vom  individuellen  möglich?  Es  kann  i\icht  da- 
durch gelöst  werden,  daß  man  dieser  problenu\tischen  Wissenschaft 
den  Namen  »Geschichte*  gibt.  Tut  man  dies,  so  liegt  die  Gefahr 
nahe,  daß  gesagt  wird:  Geschichte  als  Wi.s.senschaft  ist  wirklich  vor- 
handen, also  ist  eine  Wissenschaft  vom  Individuellen  möglich.  F*s 
fragt  sich  doch  gerade:  inwiefern  ist  die  vorhandene  Geschichte 
erstens  eine  Wissenschaft,  und  zweitens  eine  Wissenschaft  vom  In- 
tli viduellen;    >md   ferner    frajft    sich:    sind    die    Kriterien    ein«r 


216     Über  die  wissenscliaitstheoretischeii  Gniucllagen  der  Psjchologic  usw. 

Wissenschaft  mit  den  Eikenntnismöglichkeiten  des  In- 
dividuellen vereinbar? 

Unter  Wissenschaft  verstanden  wir  bisher  immer  ein  System  not- 
wendiger allgemein  gültiger  Erkenntnisse,  deren  wir  uns  denkend 
bewußt  werden.  Derartige  Erkenntnis  nennen  wir  Gesetz;  und  das  Ge- 
setz war  bisher  das  konstitutive  Merkmal  der  Wissenschaft  .  Rickert 
behauptet  hier:  Erstens  eine  Wissenschaft  vom  Individuellen  sei 
möglich.  Zweitens  diese  mögliche  Wissenschaft  könne  niemals  Gre- 
«etzeswissenschaft  sein.  Daraus  folgt :  Entweder  es  gibt  noch  einen 
anderen  Begriff  von  Wissenschaft,  welcher  den  Begriff  der  not- 
wendigen allgemein  gültigen  Erkenntnis  nicht  einschließt.  Oder 
eine  Wissenschaft  vom  Individuellen  ist  nicht  möglich.  Daran 
ändern  alle  Einzelausführungen  Ricke rts  nichts. 

Es  gibt  noch  eine  dritte  Möglichkeit  der  Lösung  —  die  unsrige, 
wie  wir  später  zeigen  werden.  Wenn  man  nämlich  die  grund- 
sätzlich behauptete  Irrationalität  des  Individuellen  und 
Wirklichen,  welche  Rickert  völlig  dogmatisch  behauptet,  ver- 
neint, so  fällt  die  ganze  aus  ihr  abgeleitete  logische  Alternative  fort. 
Es  besteht  dann  keine  grundsätzlich -logische  Unmöglichkeit  mehr 
in  der  Behauptung:  eine  Wissenschaft  im  »Sinne  gesetzesmäßiger  Er- 
kenntnis sei  auch  vom  Individuellen  möglich.  Eine  andere  Frage  ist 
dann  freilich,  das  Wie  dieser  Möglichkeit  zu  begründen.  Deren 
Beantwortung  muß  sich  aus  einer  Kritik  des  Individualitätsbegriffs 
ergeben. 

Rickert  seinerseits,  welcher  den  anderen  Weg  erwählt  hat, 
steht  konsequenterweise  vor  der  Aufgabe,  die  Möglichkeit  einer 
Wissenschaft  zu  begründen,  welche  nicht  aus  allgemein- 
gültigen notwendigen  Erkenntnissen,  gleich  Gesetzen,  be- 
steht.    Wir  verfolgen,  wie  er  diese  Aufgabe  löst. 

Er  hält  sich  zunächst  an  die  bestehende  wissenschaftliche  Ge- 
schichtsforschung als  Ausgangsmaterial  für  seine  logische  Zergliede- 
rung —  und  schon  dies  kennzeichnet  das  Bedenkliche  seines  Ver- 
fahrens, die  geforderte  problematische  Wissenschaft  vom  Individuel- 
len, die  Wissenschaft  ohne  Gesetze,  die  es  unserer  Meinung  nach 
gar  nicht  gibt,  »Geschichte«  zu  nennen  und  dadurch  gleichsam  den 
Nachweis  zu  erschleichen,  daß  es  diese  Wissenschaft  tatsächlich  gebe. 
Freilich  sagt  Rickert:  sein  Begriff  von  Geschichte  findet  sich  als 
Tendenz  bereits  in  den  Naturwissenschaften  mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochen vor.  Die  Vollkommenheit  der  Naturwissenschaft  hänge 
ab  von  dem  Grade,  in  welchem  es  ihr  gelinge,  »historische  Bestand- 
teile« aus  ihren  Begriffen  zu  entfernen.  In  dieser  Behauptung  wird 
offensichtlich  die  zufällige  Wirklichkeit,  soweit  sie,  als  Ausgangs- 
material naturwissenschaftlicher  Gesetzesbildung,  von  dieser  mit 
Notwendigkeitscharakteien  versehen  wird,  gleichgesetzt  mit  dem 
Ricker tschen  Begriff  des  »historischen  Bestandteils«.  Was  ist 
denn  nun  »historischer  Bestandteil«?  Die  Wirklichkeit  in  ihrer 
zufälligen   Zusammensetzung    vor  der  naturwissenschaftlichen   Be- 


Die  Erkenntnis  d.  Individualit&t  u.  ihre  wifificnt>cbaltätbcorct.  Gnuidlagcn.     217 

arbeit ung,  oder  die  notwendig  gemachte  Wirklichkeit,  welche  in 
dem  Naturgesetz  als  seine  Materie  geordnet  iat  ?  Rickert  weiÜ  tsa 
offenbar  selber  niilit.  Seine  Antwort  würde  lauten,  »das  Wirkliche«. 
Ja,  aber  sind  denn  die  Naturgesetze  nicht  wirklich  i  Ach  so,  sie 
»gelten«  ja  nur.  Die  Geltung  einer  Geltung,  welche  nicht  den  Sinn 
notwendigen  Seins  hat,  und  damit  den  den  Wirklichkeitscha- 
lakters,  vermögen  wir  nicht  anzuerkennen.  Rickerta  Formulierung 
erscheint  uns  ein  leeres  Wortspiel.  Ebenso  sein  umgekehrter  Satz, 
daß  auch  die  Geisteswissenschaft  »naturwissenschaftliche  Bestand- 
teile« aufweise. 

Endlich  macht  Rickert  doch  einen  schwachen  Versuch  einer 
grundsätzlichen  Entwicklung  seiner  Wissenschaft  ohne  Gesetz, 
seiner  Wissenschaft  vom  Individuellen.  Klugerweise  legt  er  sich 
sogleich  die  Frage  vor:  Sind  alle  individuellen  Wirkliclikeiten 
Gegenstand  der  Geschichte  —  wie  er  diese  Wissenschaft  nun  einmal 
nennt.  Er  verneint  diese  Frage.  Der  individuellen  Wirklichkeit, 
sofern  sie  historischer  Bogriffs bildung  unterliegt,  muß  die  Beziehung 
auf  einen  Wert  eignen.  Die  Begriffe  dieser  Wissenschaft  müssen 
teleologische  Begriffe  sein.  Ebenso  muß  zwar  auch  der  Begriff 
des  historischen  Zusammenhangs  gebildet  werden,  aber  dieser  muß 
logisch  ein  anderer  Kausalzusammenhang  sein  als  alle  naturwissen- 
schaftlich möglichen  Kausalzusammenhänge.  Auch  diese  Auf- 
stellungen Rickerts  sind  zunächst  bloße  Forderungen.  Und  man 
vergegenwärtige  sich,  was  er  fordert:  die  Erkenntnis  eines  Zu- 
sammenhanges, der  nicht  zufällig,  sondern  notwendig  bestimmt  ist 
und  dessen  notwendige  Bestimmtheit  dennoch  grundsätzlich  nicht 
durch  ein  Gesetz  gegeben  sein  soll! 

Für  die  erste  dieser  beiden  Forderungen,  die  Entscheidung  des.sen, 
was  von  der  individuellen  Wirklichkeit  zu  historischem  Material  zu 
werden  vermag,  bedarf  es  also  der  Festlegung  eines  besonderen  Aus- 
wahljjrinzips.  Damit  scheint  bereits  der  Grundgedanke 
einer  Wissenschaft  von  der  individuellen  Wirklichkeit 
schlechthin  durciilochcrt.  Rickert  will  treilich  darin  keine 
grundsätzliche  Schwierigkeit  erblicken.  Ihm  genügt  seine  Deduktion: 
In  der  Naturwissenschaft  liege  der  Schwerpunkt  der  Probleme  in 
der  Geltung  der  Begriffe,  in  der  Geschichtswissenschaft  in  der 
Existenz  der  Objekte*),  um  seine  Individualwissenschaft  trotz 
ihrer  materiellen  Beschränkung  als  grundsätzliche  Sondergrupi» 
aufrecht  zu  erhalten.  Aber  was  Rickert  hier  wieder  einmal  mit  dem 
verschwommenen  Terminus  »Schwerpunkt«  bezeichnet,  gibt  gar 
nicht  einander  ausschließende  Tendenzen  wissenschaftlichen  Er- 
kennens  wieder!  Oder  wollte  Rickert  etwa  behaupten,  für  die 
Geltung  naturwissenschaftlicher  Gesetzeserkenntnis  sei  die  »E.xistenz 
der  Objekte«  wesenlos?  Eine  Naturwissenschaft,  deren  Objekte 
uiclit  existieren .  oder  die  unabhängig  von  der  F^xistenz  ihrer  Objekte 

>)  Seite  327. 


218     Über  die  wissenachaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Gesetze  bildete,  wäre  keine  Wissenschaft  von  der  Natur;  denn 
Natur  ist  nichts  als  der  Inbegriff  existierender  Objekte. 
Umgekehrt  wäre  eine  Wissenschaft  von  der  »Existenz  der  Objekte«, 
aber  ohne  Geltung  ihrer  Begriffe,  keine  Wissenschaft;  —  mag  sie- 
sich  nun  Geschichte  nennen  oder  sonstwie;  denn  die  Geltung 
der  Begriffe  ist  das  Kriterium  wissenschaftlicher  Er- 
kenntnis. So  bleibt  bei  Rickert  alles  eine  Rede  um  die  eigentliche 
öache  herum. 

Wie  kann  man  das  besondere  Individuelle  begrifflich  darstellen? 
Rickert  gibt  die  völlig  richtige  und  unserer  eigenen  Meinung  von 
der  individuellen  Erkenntnis  entsprechende  Antwort:  Es  ist  durch- 
aus möglich,  daß  der  Komplex  von  allgemeinen  Elementen  als  Ganzes 
einen  Inhalt  hat,  welcher  sich  nur  an  einem  einmaligen  und  besonderen 
Objekt  verwirklicht  findet;  so  würde  er  gerade  das  darstellen,  wodurch 
sich  dieses  Objekt  von  allen  anderen  Objekten  unterscheidet.  In 
dieser  Weise  werden  Begriffe  zum  Mittel,  das  Individuelle  darzu- 
stellen i).  Zu  dieser  Erkenntnis  hätte  es  wahrlich  des  großen  Um- 
weges nicht  bedurft,  den  Rickert  eingeschlagen  hat!  Es  hätte  der 
Entgegensetzung  von  Natur  und  Geschichte  nicht  bedurft.  Denn 
Rickerts  Worte  besagen  doch  nur  diese  alte  Tatsache:  Daß  jedes 
einzelne  Wirkliche  in  seinem  Sein  und  Werden  eine  Folge  einer  Viel- 
zahl von  allgemeinen  gesetzlichen  Bedingungen  ist,  deren  Erkenntnis 
in  ihrer  Gesamtheit  (Rickert  spricht  wieder  von  Begriffen)  es  er- 
lauben würde,  das  einzelne  Wirkliche  in  seinem  Wirklichkeitscharakter 
restlos  zu  bestimmen.  Nichts  anderes  ist  die  Aufgabe  der  Natur- 
wissenschaft! Der  Einwand  war  ja  gerade,  daß  diese  Aufgabe  wegen 
der  unübersehbaren  und  daher  zufälligen  Mannigfaltigkeit  jener  Be- 
dingungen eine  unvollendbare  bleiben  muß;  und  die  Frage  war,  ob 
es  neben  oder  jenseits  dieses  Weges  zum  Individuellen  einen  kürzeren 
und  direkten  Weg  der  Erkenntnis  gibt,  welche  aber  doch  nicht  an- 
schaulich, sondern  begrifflich  ist? 

Rickert  fühlt  das  Ergebnislose  seines  bisherigen  Verhaltens 
wohl  und  rafft  sich  endlich  zum  entscheidenden  Schritt  auf,  welcher 
gerade  diese  Frage  beantworten  soll.  Er  sagt :  Das  wesentliche 
Merkmal  des  Individuellen  in  seiner  Mannigfaltigkeit  ist  seine  Unteil- 
barkeit. Die  Einheit  des  Individuellen  ist  eine  Synthesis  des  Mannig- 
faltigen. Diese  Feststellung  bezieht  sich  besonders  auf  die  Seele. 
Für  die  Geschichte  nun  kommt  lediglich  die  Seele,  als  psychologisches 
Subjekt,  in  Frage.  Die  psychische  Individualität  ist  etwas  anderes 
als  das  seelische  Ablaufen,  sie  ist  gleichsam  sein  unteilbares  Zentrum, 
und  nur  an  der  Außenfläche  spielen  sich  die  veränderlichen  seelischen 
Prozesse  ab.  Wo  haben  wir  dieses  Zentrum  nun  zu  suchen?  Mit 
Recht  sagt  Rickert:  nicht  jenseits,  sondern  nur  innerhalb  der 
empirisch  feststellbaren  seelischen  Vorgänge.  Aber  nach  welchem 
Prinzip   vermögen   wir   dieses    Zentrum    von    seiner    veränderlichen 

1)  Seite  340. 


Die  Erkenntnis  d.  Individualitnt  u.  ihn.'  wis-HonRchaflathc-orct.  Grundlageu.     219 

Aulioijfläclio  7,11  unttTsclioidon?  Hier  gibt  Rickert  die  epoche- 
ninehendo  Antwort,  welclio  eine  Quelle  unendlicher  Irrtünier  in  der 
«eueren  Philosopliic  der  Geschichte  geworden  ist.  Dies  Scheidung^• 
prinzij)  ist  der  Wert  der  Einzigartigkeit  dieses  Zentrum«.  In- 
dividuen sind  stets  mit  Bezug  auf  einen  Wert  und  nur  durch 
einen  solchen  Individunlif ät .  Rickert  gibt  diese  Antwort  ohne 
jede  Begründung.  Kr  Ix-hauptet :  Dieser  Wert  müsse  ein  allgemeiner 
sein.  Jedoch  sei  diese  Allgemeinheit  nicht  die  des  naturwissen- 
schaftlichen Gesetzes.  Das  historische  Individuum  sei  »für  allee 
(gemeint  ist  allgemein)  Ixjdeutsam  durch  das,  wodurch  es  anders 
als  alle  ist.  In  ihm  wird  das,  was  an  ihm  gemeinsam  mit  allen  ist, 
ausgeschieden  zugunsten  dessen,  M'as  an  ihm  allein  für  alle  bedeut- 
sam sei*).  Was  hat  Rickert  mit  diesem  iSatz  gesagt?  Eine  leere 
Tautologie.  Die  Individualität  des  Individuellen  liegt  in  dem- 
jenigen, wodurch  das  Individuelle  anders  ist  als  alles  andere.  Daa 
ist  eine  Nominaldefinition.  Die  Individualität  des  Individuellen 
stellt  seinen  Wertcharakter  dar.  Nur  unter  diesem  Wertgesichts- 
punkt  ist  das  Individuelle  wirklich  individuell.  Der  Grund  dieses 
Wertes  liegt  in  dem,  was  es  von  allen  anderen  unterscheidet.  Da- 
durch war  doch  al3er  gerade  die  Individualität  definiert  worden! 
Wir  kommen  also  auf  folgende  leeren  Sätze:  Die  Individualität 
des  Individuellen  liegt  in  seiner  Individualität.  Diese  stellt  einen 
Werlgesichtspiuikt  dar.  Der  Grund  dieses  Wertes  liegt  in  der  In- 
dividualität. Und  so  halben  wir  es  herrlich  weit  gebracht!  Wir  werden 
Rickert  um  so  dankbarer  sein,  für  die  tiefsinnige  Warnung,  diese 
»Beziehung  anf  einen  W^ert «  sorgfältig  zu  unterscheiden  von  der  Be- 
wertung. Ich  wenigstens  bin  niclit  imstande,  einen  faßbaren  Sinn 
mit  dieser  Unterscheidung  zu  verbinden.  Beziehe  ich  ein  l>eliebige8 
Objekt  auf  einen  Wert  —  die  Bezielning  mag  reell  oder  logisch  sein,  — 
«o  vollziehe  ich  damit  eine  Bewertung  des  betreffenden 
<iicgen8tande3. 

Wir  kommen  also  mit  Rickert  nach  seinen  bisherigen  Dar- 
stellungen zu  schönen  runden  Formulierungen,  v^ne  etwa  der,  daß 
der  naturwissenschaftliclie  Begriff  das  gemeinsame,  der  liistorische 
das  unterscheidende  entlialte  .  .  .  Wir  erfahren  ferner,  daü  die  histo- 
rische Erkenntnis  das  Individuelle  keineswegs  nur  benützt,  um  zur 
•Erkenntnis  typischer  Geschehensweisen  zu  gelangen.  Typus  bedeute 
■entweder  einen  Durchsclniitt  oder  ein  Vorbild.  Und  nur  in  letzterem 
8inne  sei  ein  Typus  liistorischer  Vorwurf.  Diese  Fragen  der  Typik 
werden  uns  später  noch  Ix'schäftigen. 

Es  ist  l)emerkenswert.  wie  Rickert  immer,  wenn  er  einen  Ge- 
•claukengang  anscheinend  wirklich  zum  Ende  geführt  hat,  ihn  sofort 
aufgibt  und  vorläßt,  als  fühle  er  selber,  daß  sich  praktisch  damit 
nichts  anfangen  ließe.  So  auch  hier.  Kaum  hat  er  den  Wertcharaktcr 
■des  Individuellen  in  dasjenige  verlegt,  wodurch  sich  dasselbe  aU  indi- 

>)  Soito  301>. 


220      Über  die  wisscnschaftstheoretihchen  GiTindlagen  der  Psychologie  usw. 

viduell  erweist,  seine  Unterschiedenheit  —  so  geht  er  schon  wieder 
völlig  davon  ab,  und  sucht  neue  Wertgesichtspunkte  historischei* 
Erkenntnis.  Er  sucht  eine  Hierarchie  geltender  Werte,  auf  welche 
die  historische  Begriffsbildung  bezogen  wird.  Die  Anerkennung  un- 
bedingter Werte  wird  dazu  vorausgesetzt.  Und  die  Begriffsbildung 
der  Historie  findet  teleologisch  in  bezug  auf  dieses  Wertsystem  statt. 
Das  Wertsystem  selber  wird  nicht  bei  ihm  entwickelt  —  so  inter- 
essant dies  für  uns  wäre.  Lediglich  der  Begriff sbildung  werden  noch 
Ausführungen  gewidmet.  Individuum  und  Zusammenhang  in  der 
Geschichte  seien  als  Teile  eines  Ganzen  nicht  wie  Glied  und  Gattung 
in  der  Naturwissenschaft.  »Die  Einordnung  eines  historischen  Ob- 
jekts als  eines  Gliedes  in  einen  allgemeinen  historischen  Zusammen - 
liang  ist  lediglich  die  Einordnung  in  ein  anderes  umfassenderes  In- 
dividuum, nicht  eines  Exemplares  imter  eine  Gattung  «i).  Auch 
hierzu  muß  der  Logiker  bescheidentlich  fragen:  wie  ist  es  logisch 
möglich,  ein  Individuum  in  ein  anderes  einzuordnen?  Uns  ist  doch 
dunkel  so,  als  wenn  das  Individuum  durch  seine  Unterschiedenheit, 
durch  die  Unmöglichkeit  seiner  begrifflichen  Einordnung  definiert 
wäre!  Rickert  kümmert  dies  nicht.  Er  dekretiert:  In  der  Ge- 
schichte enthält  der  Umfang  des  Ganzen  die  einzelnen  Teile;  in 
der  Naturwissenschaft  enthält  der  Inhalt  des  Gattungsbegriffes  die 
besonderen  Exemplare.  Auch  in  dieser  schönen  runden  Formel 
irrt  Rickert,  was  die  Naturwissenschaft  anlangt:  Nicht  der 
Inhalt,  sondern  der  Umfang  des  Gattungsbegriffes  dient  zur  Sub- 
sumtion der  einzelnen  Individuen.  Aber  dies  ist  noch  sein  ge- 
ringster Irrtum! 

Mehr  weiß  Rickert  über  das  Wesen  historischer  Begriffsbildung 
vom  Individuellen  nicht  zu  sagen,  in  einem,  annähernd  600  Seiten 
starkem  Buche  über  diesen  Gegenstand. 

Rickert  steht  nun  vor  der  Aufgabe,  auch  den  Zusammenhang 
»in  einen  individuellen  Begriff  zu  bringen  «2).  Der  gewöhnliche 
Mensch  und  Logiker  würde  dieses  logische  Verfahren  individueller 
Begriffsbildung  als  Benennung  bezeichnen,  sintemal  individuelle 
Begriffe  nur  Namen  sind.  Bei  Rickert  aber  bedeuten  individuelle 
Begriffe  eines  Zusammenhanges,  daß  die  Elemente  dieses  Zusammen- 
hanges »sich  mit  Rücksicht  auf  die  Bedeutung  zusammenschließen, 
welches  das  Gesetz  durch  seine  Besonderheit  besitzt«.  Er  schreibt 
den  unanfechtbaren  Satz  nieder:  Auch  die  Geschichte  hat  ihre 
Kausalität  3) ;  und  jene  individuelle  Begriffsbildung  mit  Rücksicht 
auf  die  Bedeutung  der  Besonderheit  eines  Zusammenhanges  —  dies 
ist  für  ihn  die  historische  Kausalität.  Ausdrücklich  sagt  er:  Der 
Begriff  der  Kausalität  ist  nicht  mit  dem  der  Naturwissenschaft  iden- 
tisch. Daß  das  Sein  kausal  bedingt  ist,  macht  die  Aufstellung  vom 
Natui-gesetzen  erst   möglich.      Die   Voraussetzung   der   Möglichkeit 

i)  Seite  mö. 
2)  Seite  398. 
»)  Seite  414. 


Die  Erktnutnis  d.  IndivitlnalitHt  ii.  ihre  wiwnschaftsthtvjiel.  Grundlag«-n.      221 

von  Naturgesetzen  kann  nicht  selbst  ein  Naturgesetz  sein.  I)hs 
Kausalprinzip  ist  also  kein  Gesetz. 

Für  einen  Kantianer  ist  diese  Deduktion  ungeheuerlich.  Wer, 
Hußor  den»  krassi-sten  Krnpirisinns,  hat  jemals  lurluuiptet,  das  Kausal- 
prinzipsei  ein  Naturgesetz?  Hickert  schließt  hier:  Was  kein  Natur- 
gesetz ist,  ist  kein  Gesetz.  Sollte  der  Transzendentalphilosoph  die 
Existenz  metaphysischer  —  oder  wie  wir  sagen  —  wissonschafts- 
theoretischer  Gesetze  leugnen  wollen? 

Je  weiter  es  geht,  um  .>^o  schlimmer  wii-d  es  l>ei  Kickert.  Ki 
sagt:  Jeder  historische  Kausalzusammenhang  ist  anders.  V'öUiu 
lichtig.  Was  aber  folgert  vr  daraus?  Historisch  sei  die  einmalig»- 
und  individuelle  Kausalität.  Wie  dieser  Begriff  der  individuellen 
Kausalität  zwischen  zwei  als  Ursache  und  Wirkung  liezeichneten 
Wirklichkeiten  zu  definieren  sei,  dafür  »können  wir  uns  jederzeit 
auf  ein  Erlebnis  Ijerufen«.  Worin  dies  Band  bestellt,  »läßt  sich  viel- 
leicht sehr  schwer  beantworten,  aber  wir  brauchen  gar  nicht  danach 
zu  fragen,  solange  wir  nur  den  Unterschied  naturwissenschaftlicher 
»ind  historischer  Kausalität  feststellen  wollen «i). 

Rickert  macht  es  sich  l>equem.  Er  definiert  nicht  einmal,  was 
er  unter  individueller  Kausalität  versteht,  geschweige  denn  versucht 
er  auch  nur  den  Schein  einer  Begründung.  Er  dekretiert  sie  ein- 
fach als  von  naturwissenscliaft Heller  Kausalität  unterschieden.  Nach 
allen  weiteren  »braucht  man  nicht  zu  fragen«.  Er  dekretiert  weiter, 
der  Satz  der  Äquivalenz  von  Ursache  und  Wirkung  gelte  für  die  Ge- 
schichte nicht.  Freilich  vermag  er  auch  dem  elementarsten  Einwand 
nicht  zu  Ixjgegnen;  er  muß  zugeben:  die  Darstellung  historischer 
Kausalzusammenhänge  ist  nur  niit  Hilfe  von  Begriffen  möglich,  die 
einen  allgemeinen  Kausalljegriff  oder  ein  Naturgesetz  enthalten^). 
Und  er  flüchtot  sich  lediglich  in  die  phraseologische  Behaupt\ing,  die 
wir  schon  kennen:  es  käme  eben  nicht  auf  die  Elemente,  sondern  axif 
ihre  Zusammensetzung  zum  l)esonderen  Fall  für  die  (Tpschichto  an'). 

Rickert  ist  derartig  verwachsen  mit  seinem  individuellen  Kausal- 
begriffe, daß  er  jedes  andere  Argument  für  die  Besor\derheit  einer 
historischen  Methode  verwirft.  So  wendet  er  gegen  die  Hinein- 
ziehung  der  Willensfreiheit  ein,  auch  die  historische  Methode  arbeite 
an  empirischem  Material,  in  welchem  die  transzendentale  Willens- 
freiheit sich  nicht  geltend  mache.  Das  Argument,  die  Zufälligkeit 
des  psychischen  Geschehens  Ijedinge  eine  besondere  Erkennt nis- 
methodo,  weist  er  damit  zurück,  daß  Zufall  noch  nicht  Ursachlosig- 
koit  bedeute.  Beides  ist  richtig;  aber  es  beweist  nichts  zu  seineu 
Gunsten. 

>)  Seit©  420. 
«)  Soite  432. 
>)  Sohon  .Max  Süheler  bat  «iob  goffpu  dii*  I>ogik  Riokerts  zur  iodividuaUen 

Kausalität  gewandt  (Dio  tninszondcntalr  und  die  }>«ychoIi)gische  Methocli\  1900. 
S.  142 ff.)  Wir  selber  behandeln  das  Prublem  der  individuellen  Kausalität  im 
folgenden   Kupitel  zuttarnnu-nhangond 


222     Über  die  wissenschaftstLeoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

Was  folgt  aus  Rickerts  Darlegungen  für  die  Psychologie  der 
Individualität?  Zunächst  dies,  »daß  das  geistige  Leben  Eigen- 
schaften besitzt,  die  in  höherem  Maße  als  das  physische  Sein  eine 
historische  Darlegung  fordern  «i).  Ferner,  daß  die  exakte  Psycho- 
logie niemals  zum  Hilfsmittel  historischer  Wissenschaft  zu  werden 
vermag;  jene  ist  systematisch,  diese  unsystematisch;  jene  ist  natur- 
wissenschaftlich, diese  nicht.  Historie  kann  also  niemals  in  der 
Psychologie  aufgehen:  um  Psychologie  zu  sein,  müßte  Geschichte 
Naturwissenschaft  sein.  Der  Historiker  ist  Psychologe  nur  in  dem 
Siim,  daß  er  Kenntnis  von  bestimmten  individuellen  Vorgängen 
besitzt;  er  hat  aber  keine  Veranlassung,  diese  Kenntnisse  in  eine 
allgemeine  Theorie  umzusetzen.  Somit  bleiben  zwei  Arten  von 
Psychologie  übrig:  einmal  die  historische  —  die  Fähigkeit  indivi- 
duelle psychische  Vorgänge  nachzuerleben.  Zweitens  die  natur- 
wissenschaftliche. Aber  —  und  nun  kommt  die  große  Enttäuschung: 
jene  Fähigkeit  des  anschaulichen  Erkennens  individuell  psychischer 
Vorgänge  ist  nicht  etwa  historische  Wissenschaft;  sie  ist  nur  Aus- 
gangsmaterial für  eine  solche.  Die  individuelle  Psychologie  Rickerts 
ist  methodisch  ihrem  Wesen  nach,  wie  Ricker t  selber  sagt,  keine 
Wissenschaft.  Ihr  fehlt  die  Beziehung  auf  einen  Wert,  in  welche 
die  Geschichte  ihre  Objekte  setzt.  Diese  Beziehung  auf  einen  Wert 
aber  stellt  das  geistige  Geschehen  allererst,  als  Objekt  besonderer 
Geisteswissenschaft,  dem  nicht  auf  den  Wert  Beziehbaren  gegenüber. 

Für  die  Individualpsychologie,  welche  dauernd  im  Vorhof  wissen- 
schaftlicher Zulässigkeit  zu  verharren  hat,  gibt  es  auch  nach  Rickerts 
Feststellungen  kein  wissenschaftliches  Fundament. 


8.  Die  Erkenntnis  der  Individualität  und  ihre  Wissenschafts- 
theoretisclien  Grundlagen.    Zweiter  Teil. 

Individualität  und  Typus;  die  idealtypische  Begriffs- 
bildung. 

Rickerts  Werk  hat  in  den  historischen  und  soziologischen  Dis- 
ziplinen ungeheuren  Beifall  gefunden.  Die  Gründe  dafür  liegen  wohl 
nur  zum  Teil  in  dem  glänzenden  Stil  seiner  Didaktik;  zum  größeren 
Teil  gehen  sie  darauf  zurück,  daß  hier  ein  Werk  vorlag,  welches  mit 
hinreißender  Unwiderstehlichkeit  endlich  die  Pforte  aufzutun  schien 
zur  Erkenntnis  dessen,  was  sich  kraft  seines  Wesens  aller  Erkennt- 
nis entziehen  wollte.  Wir  haben  gesehen,  wie  wenig  eine  exakte 
Kritik  von  dem  Bau  Rickertscher  Gedanken  stehen  lassen  durfte. 
Es  hat  auch  schon  vorher  nicht  an  zahlreichen  Bedenken  gefeült; 
und  in  zwei  Richtungen  war  man  bemüht,  die  von  Rickert  be- 
tretene Bahn  zu  befestigen  und  zu  sichern :    Einmal  hinsichtlich  des 

1)  Seite  S32. 


Die  ErkonntniH  >].  Individualitiit  u.  ihre  wiafl^nBchaftethoort-t.  rjrundlagen.     223 

Erfassens  der  Individualität   als  eines  Typus;  und  zweitens  hin- 
sichtlicii  dor  Begründung  der  individuellen  Kausalität. 

Typus  und  Individualitat  sind  in  der  Tat  keine  prinzipiellen 
Gegensätze.  In  welchem  Sinne  man  den  Bogriff  dos  Typus  auch 
anwende,  immer  fallen  CJriippen  von  Individuen  darunter,  welche 
hinsichtlich  ihrer  wesentlichen  Merkmale  irgendwie  vergleichbar 
sind.  Und  auch  ohne  logische  Klärung  des  Begriffes  eines  Typus 
und  seiner  Bildung  liegt  es  nahe,  den  Typus  als  Denkmittel  zum 
Begriff  der  Individualität  zu  verwenden»).  Schon  Ricker t  selber 
hatte  den  Begriff  des  Typus  andeutungsweise  zur  Erkenntnis  des 
Individuellen  herangezogen.  Und  zwar  nicht  in  dem  bisherigen 
biologischen  Sinne  eines  variativen  Durchschnitts,  sondern  in  dem 
eines  oVorbildes«.  Diese  Fassung  w^rde  aufgegriffen  und  ausgebaut. 
So  meint  Weber"):  in  allen  historisch  bedeutsamen  Abläufen  ist 
ihre  besondere  Bedeutsamkeit  nicht  aus  Gesetzen  deduzierbar,  son- 
dern hängt  an  der  qualitativen  Färbung  des  Einzelvorgangs.  Eine 
psychologische  Analyse  nach  Art  der  naturwissenschaftlichen  würde 
für  das  Wesen  solcher  Abläufe  nicht  mehr  besagen,  als  etwa  che- 
mische Daten  für  die  Biogenesc.  Man  könnte  das  Spezifische  aus 
ihnen  nicht  deduzieren;  die  Verständlicli machung  von  Grund  und 
-\rt  dieser  Bedeutsamkeit  fehlte.  Die  Bedeutsamkeit  eines  Vorgangs 
setze  die  Beziehung  desselben  auf  einen  Wert  voraus.  Sie  falle  daher 
nicht  mit  dem  Gesetz  dieses  Vorgangs  zasammen.  Historische 
Erkenntnis  aber  sei  die  Erkenntnis  einer  in  diesem  Sinne  bedeut- 
samen Erscheinung.  Unter  den  unendlich  vielen  Bedingungen  eines 
Phänomens  sind  nur  diejenigen  wissenswert,  welche  zu  dieser  seiner 
Bedeutsamkeit  in  kausaler  Beziehung  stehen;  also  die  Ursache  seiner 
»wesentlichen«  Bestandteile;  nicht  das  Gesetz,  sondern  der  einzelne 
individuelle  Zusammenhang.  Hieraus  folgert  er:  es  sei  »Zurech- 
nungsfrage«, welcher  individuellen  Konstellation  ein  Phänomen 
seinem  Zusammenhang  nach  angehört.  Zur  Beantwortung  dieser 
Frage  müsse  man  eine  entscheidende  Abwendung  vollziehen  von 
der  Reduktion  des  Phänomens  auf  allgemeine,  »inhalt leere«  Gesetze. 
Man  müsse  aus  der  Fülle  der  Phänomene  »kraft  der  Wertideen« 
das  Moment,  den  »winzigen  Bestandteil«  herausheben, 
»auf  dessen  Betrachtung  es  allein  ankommt«').  Hier  wird 
ganz  deutlich  Rickcrt  selber  überwunden.  Nicht  mehr  die 
Erkenntnis  des  Individuellen  wird  auch  nur  angestrebt,  sondern 
es  findet  eine  Restriktion  statt  auf  die  Erkenntnis  des  indivi- 
duell Bedeutsamen,  mag  dies  gleich  nur  einen  »winzigen  Bestand- 
teil« dos  Individuellen  ausmachen.  Die  Bindung  dieser  Bedeutsam- 
keit wird  richtig  als  eine  subjektive  des  Erkennenden  aufgefaßt;  sie 


')  Über  dit<  Grundfragen  i^sycholoniM^her  Typik  und  ihr  theoretische«  Funda- 
ment tiiiU<Tn  wir  uns  tTf^t  spatvr  S.  423 ff. 

«)  MrtxWfbor,  Dicübjfktivität  sozialwiiwenKshaftlichcr  undeozialpolitiBchrr 
ifirkcnntiii.x.     Arch.  f.  Sozudwiysenjchaft.     1914.     S.  22ff. 

»)  Seit»'  50. 


224     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

liegt  in  der  Anerkennung  bestimmter  Wertideen.  Folgerichtig 
kommt  Weber  zu  dem  Satze :  das  »Persönliche  «  an  wissenschaftlichen 
Werken  ist  das  allein  Wertvolle.  Dies  mag  sehr  geistreich  sein.  Aber 
dem  Logiker  liegt  die  Frage  nahe,  wie  und  wodurch  bei  dieser  ent- 
scheidenden Rolle  des  Persönlichen  und  Normativen  —  nicht  für 
die  Genese,  sondern  für  den  Inhalt  der  Erkenntnis  —  der  Charakter 
der  Wahrheit,  der  Erkenntnis,  der  Wissenschaft  verbürgt 
werde.  Weber  versichert,  daß  Wissenschaft  vorliege;  daß  jene  Er- 
kenntnis trotz  allem  Persönlichen  eine  kausale  sei. 

Er  sucht  dies  auch  zu  begründen.  Er  findet  dafür  eine  besonders 
sichere  Quelle:  ein  »evidentes  Verstehen«  individueller  Abläufe  in 
ihrer  Individualität,  im  Gegensatz  zu  ihrer  Erklärung  (»Deduzier- 
barkeit«)  aus  Gesetzen.  Dieses  Verstehen  gehe  aus  auf  die  »Idee« 
eines  historischen  Zusammenhanges,  auf  eine  Utopie,  die  »durch 
gedankliche  Steigerung  bestimmter  Elemente  der  Wirklichkeit  ge- 
wonnen ist«i).  Es  ist  eine  »Veranschaulichung«  am  »Idealtyp«. 
Diese  »idealtypische  Begrif fsbildung «  ist  keine  Hypothese,  sondern 
»ein  Ausdrucksmittel  der  Darstellung«.  Sie  beruht  auf  einseitiger 
Steigerung  eines  oder  mehrerer  Gesichtspunkte  an  Einzelerschei- 
nungen. Sie  ist  ein  rein  idealer  Grenzbegriff.  Sie  versucht  histo- 
risches Geschehen  »in  genetische  Begriffe  zu  fassen«.  Sie  ist  nicht 
mit  der  Bildung  von  Gattungsbegriffen  identisch. 

Diese  idealtypische  Begriffsbildung  ist  auch  bereits  in  die  Psycho- 
pathologie eingedrungen.  Jaspers 2)  hat  dies  auf  sich  genommen. 
»Idealtypen  sind  umfassende  Einheitsbildungen,  die  zwar  bei  Ge- 
legenheit der  Erfahrung,  aber  nicht  durch  die  Erfahrung,  vielmehr 
aus  wenigen  gegebenen  Voraussetzungen  mit  apriorischen  Mitteln 
konstruiert  werden«.  »Aus  dem  Wesen  des  Idealtypus  ergibt  sich, 
daß  sie  zunächst  gar  keine  empirische  Bedeutung  haben,  daß  sie 
aber  der  Maßstab  sind,  an  dem  wir  die  wirklichen  Einzelfälle  messen. 
Soweit  diese  dem  Idealtypus  entsprechen,  begreifen  wir  sie. «  »Wo 
die  Wirklichkeit  dem  Idealtypus  nicht  entspricht,  fragen  wir  weiter, 
woher  das  kommt;  entspricht  die  Wirklichkeit  aber  völlig,  so  ist  die 
Erkenntnis  auf  eigenartige  Weise  befriedigt,  und  wir  fragen  nur 
nach  der  Ursache  des  Ganzen.« 

Auch  hierbei  ist  wieder  klar,  daß  der  Sinn  dieser  Erkenntnisweise 
nicht  mehr  die  restlose  Erkenntnis  der  Individualität  ist,  sondern 
eine  Erfassung  des  Wesentlichen  an  ihr.  Dies  wesentliche,  not- 
wendige, gültige,  welches  sonst  das  Gesetz  einer  Erkenntnis  zu 
verleihen  pflegte,  wird  hier  vom  Idealtypus  aus  bestimmt.  Dieser 
ersetzt  gleichsam  das  Gesetz  in  seiner  logischen  Funktion. 

Aber  die  Ableitung  dieses  Idealtypus  ist  ein  stümperhaftes  lo- 
gisches Flickwerk.  Hier  ist  die  Rede  von  einer  Begriffsbildung, 
welche  auf  Steigerung  eines  Merkmals  beruht,  unter  Absehen  von 


i)  Seite  64. 

2)  Allgemeine  Psychopathologie.     1913.    S.  270. 


J>ic  KiUi'imtiü.s  (l  liidividuiilitüt  ii.  ihn-  wIsHcimchaftutlu'orft.  Grundlagen.     213 

dem  C'hrigen  und  wcU-lu!  dcMiuoch  nicht  Abatiaktiuii  sein  .-oll,  nicht 
zu  Gattungslx?griffen  führen  soll!  Hier  ist  die  Rede  von  Begriffen 
a  priori  empirischer  CtcgenHtände!  Hier  ist  die  Rede  von  Begriffen, 
woiclic  ftwus  »genetisch«  fassen  —  einer  Aufgalx*,  welche  bisher 
tlom  Kausalurteile  vorbehalten  war!  \\  ir  finden  alle  Rickertschen 
Kohler  vergrölx;rt  wieder.  Allen  diesen  Konzeptionen  liegt  seine 
ominöse  Verwechselung  von  Begriff  und  Gesetz  zugrunde.  Was 
Weber  unter  genetischen  Begriffen  versteht,  ist  schleierhaft.  Natür- 
lich sind  seine  sogenannten  idealtypischen  Bcgriffsbildungen,  logisch 
i)etrachtct,  ganz  gewöhnliche  Abstraktionen;  und  der  iiistori.sehe 
(Gesichtspunkt  für  die  Bildung  dieser  Abstraktionen  ist  die  »Be- 
tleutsamkeit  «  des  herausgehobenen  Merknuils  für  einen  subjektiven 
vorausgesetzten  Wert. 

Ob  so  etwas  in  der  Historie  notwendig  oder  wünschenswert  ist, 
geht  uns  hier  nichts  an  —  die  »Sachlichkeit  Rankes  scheint  diese 
Notwendigkeit  .hinreichend  zu  widerlegen.  Daß  diese  Mctiiode  in 
tlor  Psychopathologie  nichts  zu  suchen  hat.  ergibt  sich  schon  daraus, 
(laß  diese  keine  Wertwissenscliaft  ist  und  aucli  kein  Derivat  einer 
solchen,  sondern  ihrem  idealen  Ziel  nach  reine  deskriptive  und  gene- 
tische Theorie.  Woher  sollte  denn  der  vorausgesetzte  Wort,  im 
Hinblick  auf  den  die  einzelnen  psychologischen  Phänomene  in  jeweils 
besonderer  Weise  »bedeutsam«  sind,  genommen  werden?  Aus  der 
Fithik,  aus  der  Astlietik  oder  aus  irgendeiner  sozialen  Teleologie? 
im  letzteren  Falle  wäre  es  also  Sache  des  politischen  Bekenntnisses, 
Avie  man  letzten  Endes  psychopathologischc  Typen  fundierte!  Und 
auch  im  erstercn  träte  eine  unerwünschte  Relativierung  und  Sub- 
jekt ivierung  unserer  Wissenschaft  ein,  die  ihr  jedes  Kriterium  des 
objektiven  Fortschrittes  entzöge.  Weber  sagt  ganz  richtig,  es  sei 
»Zurechnungsfrage«,  wie  man  solche  Typen  bilde.  In  der  Tat 
verlieren  die  psychopathologischen  Typen  und  sogar  die  Krankheits- 
einheiten ihren  Sinn  als  Ausdruck  realer  gesetzmäßiger  Zusammen- 
hänge; sie  werden  zur  Sache  des  Gesichtspunktes;  und  seine  Gesichts- 
punkte hat  l)ekanntlich  jeder  Mensch  für  sich.  Der  Sinn  der  Wissen- 
schaft hört   hier  für  unsere  Arbeit  auf  zu  bestehen. 

Solche  begrifflichen  und  methodischen  Verirrungcn  sind  gerade 
in  der  Psychopathologie  begreiflich  als  Reaktionsprodukte  auf  die 
Sterilität  und  die  Trivialitäten  einer  nur  auf  die  Elementaranalyse 
gerichteten  Exi>erimentalpsychologie.  Man  sollte  alx?r  das  Kind 
nicht  mit  dorn  Bade  ausschütten  und  sich  von  der  naturwissenschaft- 
lichen Arbeitsweise  und  ihrer  logischen  Fundierung  überhaupt  ab- 
wenden, bloß  weil  eine  einzelne  Methode  versagt. 

Individuelle  Kausalität  und  Gesetz. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  zur  individuellen  Kausalität. 
Ivickert  lohnte  es  ab,  die  kausal  bedingte  Voränderung  gleich- 
zusetzen mit  der  gesetzmäßigen  Veränderung.     Er  hat  hierin  recht, 

Kronu'lii.  l'nyt'hiatrische  KrkrnntnU.  \ö 


226      Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

soweit  diese  Ablehnung  nur  besagen  will,  daß  »das  Allgemeine  nicht 
das  Besondere  ist «,  daß  also  nicht  der  einzelne  Fall  dasselbe  ist  wie 
die  allgemeine  Regel.  Er  irrt  sich  aber  in  der  Konsequenz  hieraus: 
daß  in  einem  Urteil,  welches  eine  Kausalverknüpfung  zweier  Er- 
eignisse behauptet,  nur  ein  Urteil  über  den  individuellen  Vorgang 
enthalten  sein  soll.  Ist  nämlich  nicht  nur  von  der  Abfolge  zweier 
Ereignisse  in  der  Zeit  die  Rede,  sondern  von  ihrer  kausalen  Abfolge 
als  etwas  notwendigem,  so  wird  der  Gedanke  der  Bewirkung  des 
einen  Ereignisses  durch  das  andere  hinzugebracht.  Dieser  Gedanke 
aber  ist  kein  anderer  als  der  der  Gesetzmäßigkeit  dieses  Vor- 
gangs, der  Gedanke,  daß  unter  gleichen  Verhältnissen  jeweils  der  eine 
Vorgang  den  anderen  zur  Folge  haben  müsse.  Die  Behauptung 
einer  Gesetzmäßigkeit  geht  über  eine  Aussage  bezüglich  des  indi- 
viduellen einmaligen  Vorgangs  weit  hinaus.  Die  Erkenntnis  der 
Gesetzmäßigkeit  kann  nicht  lediglich  den  Beobachtungen  beider 
Vorgänge,  nicht  dem  »Erleben«  oder  »evidenten  Verstehen«  ent- 
nommen worden  sein;  wollen  wir  uns  ihrer  gesondert  bewußt  werden, 
so  kann  dies  in  der  allgembinsten  Form  nur  geschehen  durch  das 
Urteil:  jede  Veränderung  hat  eine  Ursache,  Dies  Gesetz  enthält 
implizite  auch  den  Grund  der  Möglichkeit  für  die  Erkenntnis  der 
Kausalität  des  individuellen  Vorgangs,  den  wir  besonders  beurteilen. 
Die  Tatsache,  daß  ich  ein  »Wirklichkeitsurteil«  fälle,  wenn  ich  jenes 
individuelle  Urteil  fälle,  beweist  gar  nichts  gegen  die  Ge- 
setzesnatur der  darin  ausgesagten  kausalen  Abhängig- 
keit; denn  die  Gesetze  gelten  in  der  Wirklichkeit.  Gewiß  ist  das 
Gesetz,  oder  im  Sinne  Rickerts  der  Gesetzesbegriff,  ein  Abstrak- 
tionsprodukt, ein  Produkt  der  Wissenschaft;  aber  nur  insofern,  als 
es  in  dem,  wovon  ich  es  abstrahiere,  schon  enthalten  ist.  Es 
ist  also  mehr  als  ein  bloßes  Darstellungsmittel,  wie  Rickert  immer 
will;  es  ist  so  wirklich,  wie  die  Wirklichkeit  selber,  in  der 
es  gilt.  Es  ist  also  der  Sinn  des  Kausalbegriffes,  daß  durch  seine 
Anwendung  auf  einen  Einzelfall  dieser  Fall  unter  ein  allgemeines 
Gesetz  gestellt  wird.  Der  Begriff  einer  einmaligen  Kausalität 
enthält  einen  Widerspruch  in  sich  selbst,  wenn  er  besagen 
soll,  daß  dieser  Kausalität  der  allgemeine  Geltungsanspruch  fehlt 
und  nur  individuell  ist.  Mit  Recht  sagt  auch  Bergmann  in  scharf- 
sinnigen Erörterungen:  Die  Behauptung  sei  falsch,  »daß  eine  volle 
individuelle  kausale  Verknüpfung  wie  jede  volle  Wirklichkeit  nur 
zu  erleben,  aber  niemals  direkt  wissenschaftlich  darzustellen  ist«i). 
Daß  eine  volle  Wirklichkeit  nur  zu  erleben  ist,  trifft  zu,  wenn  man 
unter  Wirklichkeit  nur  die  anschauliche  Wirklichkeit  versteht.  Aber 
dann  ist  es  falsch  zu  behaupten,  die  individuelle  kausale  Verknüpfung 
verhielte  sich  wie  diese  »volle  Wirklichkeit«  der  Anschauung.  Denn 
Kausalität  wird  eben  nicht  erlebt,  sie  wird  gedacht  und  dem 
Geschehen  unterlegt,  welches  dadurch  auf  ein  Gesetz  bezogen 


1)  Der  Begriff  der  Verursachung  usw.     Logos  1914.     S.  94ff. 


Die  Erkenntnis  d.  liKiividuulit-a  u.  ihrr  wi(is<ii.4clia(t8th<or<-t.  <  iran'Jla;;«n.      227 

wird.  Sobald  wir  von  Kausalität  sprechen,  IiuIh.'!!  wir  die  volle  An- 
Hchauuiigswirkliclikcit  schon  verlassen  und  Iwfinden  un«  in  der 
begrifflichen  Bearbeitung  der  Anschauung.  Und  wenn  es  auch  wahr 
wäre,  dali  das  Individuum  nur  anschaulich  erkennbar  und  nicht 
denkender  Ki  kennt  nis  erschlieübar  sein  könne,  dann  würde  indivi- 
duelle Kausalität  abermals  zu  einem  Widerspruch  in  sich  selbst; 
denn  dieser  Begriff  des  Individuellen  würde  kausale  Erkenntnis  der 
Definition  nach  ausschlieUen. 

Bergmann  fragt  mit  Recht:  warum  soll  das  Individuum  nicht 
Gegenstand  eines  allgemeinen  Urteiles  sein?  Die  Struktur  eines 
solchen  gibt  keinen  tJrund  dafür,  daß  auch  ein  allgemeines  Urteil 
nicht  auf  einen  einmaligen  Vorgang  Anwendung  finden  könnte.  Die 
Allgemeinheit  eines  Gesetzes  bedeutet  nur,  daß  es  sich  erfüllen  muß, 
falls  die  Bedingungen  seiner  Anwendung  gegeben  sind.  Ob  aber 
diese  Bedingungen  jemals  gegeben  sind  und  wie  oft  sie  gegeben  sind, 
ob  einmal  oder  mehrmals,  davon  enthält  das  Gesetz  nichts.  Die 
Allgemeinheit  eines  Urteils  ist  ein  Bestandteil  der  Urtcilsform,  das 
individuelle  Ereignis  geht  als  Beurteiltes  in  die  Urtcilsmaterie  ein. 
Daß  ein  allgemeines  Urteil  auf  eine  individuelle  Materie  geht,  ist 
durchaus  nicht  widersprechend;  sagt  es  doch  nur  aus,  daß  sich  diese 
niemals  anders  verhalten  wird,  als  wie  dies  das  Urteil  aussagt. 

Individualität   als   kategoriale  Erkenntnisform. 

Damit  ist  denn  auch  die  individuelle  Kausalität  abgetan.  Und 
so  bleibt  nur  noch  eine  letzte  Methode  wissenschaftstheoretischer 
Sicherung  für  die  Erkenntnis  des  Individuellen  übrig:  nämlich  die 
Individualität  selber  als  eine  Erkenntnisgrundform  un- 
auflöslicher Art  in  den  notwendigen  Grundformen  des  Erkennens 
überhaupt  wissonschaftstheoretisch  zu  verankern.  Meines  Wissen 
hat  nur  Driesch  einmal  einen  Versuch  in  dieser  Richtung  unter- 
nommen i).  Driesch  geht  von  dem  gleichen  Naturbegriff  aus,  den 
wir  selber  haben.  Natur  umfaßt  die  Gesamtheit  dessen,  was  Objekt 
ist,  oder  sich  auf  Objekte  bezieht.  Es  ist  die  Gesamtheit  aller  Fak- 
toren raumzeitlichen  Geschehens,  nicht  nur  der  räumlichen,  wie  er 
ausdrücklich  hervorhebt.  Driesch  folgert  nun  aus  seinen  biolo- 
gischen Feststellungen,  daß  Natur  nicht  erschöpfend  gekennzeichnet 
wird,  wenn  man  sie  ein  mechanistisches  Syst.-m  irgendwelcher  Art 
nennt;  Natur  ist  jedenfalls  nicht  nur  ein  mechanistisches  Sj'stem. 
Alle  diejenigen  Faktoren,  welche  in  der  Natur  wirken,  ohne  jedoch 
selber  räumlich  zu  sein  oder  eine  Art  von  Energie  darzustellen,  be- 
zeichnet er  mit  dem  aristotelischen  Terminus  Entelechie.  Er  gibt 
an,  diese  Entelechie  sei  nur  denkbar,  nicht  vorstellbar,  hypostaaiert 

1)  CbiT  den  Bej^riff  Nntur.  BiTicht  üImt  don  dritten  internationalen  Kongreß 
für  Philosophie  IIHKS.  S.  riU  .119.  Neuen«  Werke  d»s  ausiiezeichneten  Denker« 
und  Forscher.s,  in  welchen  er  die.scn  Versuch  vielleicht  ausgebaut  hal>«'n  könnte, 
waren  mir  leider  nicht  zug&nglich. 

15» 


228^%Übcr  die  wissenachaftstheoretisclicn  C4rundlagen  der  Psj'cbologie  nsw. 

aber  ihre  Wirklichkeit  für  die  Biologie  auf  Grund  empirischer  Daten. 
Sodann  aber  fährt  er  fort^) :  »Es  kommt  die  positive  Rechtfertigung 
dazu :  es  kann  gezeigt  werden,  daß  es  neben  den  Kategorien  der 
Substanz-Inhärenz  und  der  Kausalität  eine  dritte  gleichberechtigte 
Relationskategorie  gibt;  nicht  Wechselwirkung,  wie  Kant  wollte, 
sondern  Individualität.  Finalität  würde  eine  besondere  Unterart 
dieser  Kategorie  sein.  Ohne  den  Besitz  der  Individualitätskategorie 
würde  es  unmöglich  sein,  über  aus  Teilen  zusammengesetzte  Ganz- 
heiten Erfahrung  irgendwelcher  Art  zu  machen. 

»Die  neue  Relationskategorie,  Individualität,  ist,  um  kantisch 
zu  sprechen,  ebenso  konstitutiv  wie  die  Kategorien  Substanz  und 
Kausalität,  und  nicht  etwa  nur  regulativ  .  .  .  Wie  wir  auf  die  Kate- 
gorie Substanz  und  Kausalität  Faktoren  des  Wirklichen  gründen  .  .  ., 
ganz  ebenso  gründen  wir  auf  die  Individualität  Faktoren  des  Wirk- 
lichen .  .  .  Anders  gesagt:  die  Kategorie  Individualität  eilaubt  uns 
gewisse  Faktenreihen  der  Gegebenheit  zu  »verstehan«,  und  diesem 
Verstehen  wird  durch  Schöpfung  der  Entelechie  als  eines  Gegeben- 
heitsfaktors Ausdruck  verliehen  .  .  .  Freilich  ermangeln  alle  auf  die 
Individualkategorie  gegründeten  Wirklichkeitsfaktoren  nicht  nur 
jeder  Anschaulichkeit,  sondern  sie  ermangeln  auch  jeder  Räumlich- 
keit, sogar  des  bloßen  Ortes  .  .  . «. 

Hierwider  ist  Driesch  eingewendet  worden,  er  müsse  diese  bloße 
Behauptung,  die  Individualität  sei  die  wahre  dritte  Relationskate- 
gorie, und  Kant  habe  mit  seiner  Einsetzung  der  Wechselwirkung 
geirrt,  auch  methodisch  auf  dem  gleichen  Wege  begründen, 
den  Kant  zur  Auffindung  der  Kategorien  aus  der  Tafel  der  logischen 
Urteilsformen  gebahnt  hatte.  Driesch  muß  entweder  nachweisen, 
daß  Kants  transzendentaler  Leitfaden  falsch  ist,  oder  daß  sich  Kant 
bei  seiner  Anwendung  geirrt  hat.  Driesch  deutet  das  letztere  an, 
wenn  er 2)  erklärt,  die  Kategorie  der  Individualität  »lasse  sich  sehr 
wohl  deduzieren  aus  der  Tafel  der  Urteile,  wenn  man  nur  die  Gruppe 
der  hypothetischen  Urteile  (wenn  .  .  .)  gehörig  klassifiziert  (weil, 
damit  usw.)«. 

Mit  diesem  Einwand  scheint  aber  Driesch  die  logischen  Urteils- 
formen  mit  den  grammatischen  zu  verwechseln.  Das  deuten  die 
eingeklammerten  Konjunktionen  offensichtlich  an.  Eine  positive 
Begründung  der  Kategorie  der  Individualität  im  K  an  tischen  Sinne 
hat  Driesch  bisher  jedenfalls  noch  nicht  gegeben.  Auch  schlägt 
er  das  Bedenken  zu  leicht  an,  welches  daraus  folgt,  daß  seiner  eigenen 
Angabe  nach  dieser  angeblichen  Kategorie  der  Individualität  jeder 
anschauliche  Schematismus  mangelt.  Was  nützt  mir  eine  Erkenntnis- 
grundform des  Naturgeschehens,  wenn  diese  gar  keine  Möglichkeit 
der  Anwendung  auf  das  Naturgeschehen  bietet! 


1)  Seite  515. 

2)  Seite  523. 


Die  ErktiuitiiiB  (.1.  Indi\idtialitüt  ii.  ihi<-  \v.  tBtLeorct.  <;ru:.  _'"29 

Die  Lösung  dos  Individualitütsprublems. 

Nach  allfu  diesen  Wegen  und  Irrwegen  steht  da.s  Prtjblein  der 
Erkenntnis  des  individuellen  nunmehr  folgenderniaüen :  Wir  haben 
nachgewiesen,  daß  irgendeine  wissenschaftstheoretische 
Möglichkeit  der  Erkenntnis  des  Individuellen  neben  oder 
jenseits  der  von  uns  bisher  festgelegten  Wissenschaftstheorie,  nach 
welcher  das  Individuelle  ein  Teil  der  Naturobjektivität  und  daher 
unter  den  Gesetzen  der  Naturerkcnntnis  allein  zu  erfassen  ist,  nicht 
besteht.  Wir  haben  nachgewiesen,  daß,  wenn  es  überhaupt  einen 
Weg  zur  Erkenntnis  des  Individuellen  geben  kann,  dieser  Weg 
nur  der  der  Naturerkenntnis  sein  kann.  Wir  haben  nach- 
gewiesen, daü  die  Fassung  des  Individualitätsbegriffs,  soweit  sie  dessen 
Wesen  in  der  unübersehbaren  Maiuiigfaltigkeit  der  zufälligen  Zu- 
sammensetzung aller  Goschehonsbedingungen  begründet,  die  Er- 
kenntnisaufgabe der  Naturwissenschaft  in  bezug  auf  das  Individuelle 
zu  einer  unvollendbaren,  aber  methodisch  nicht  grund- 
sätzlich von  der  theoretischen  Erklärung  unterschiedenen 
macht.  Wir  haben  aber  einen  Begriff  des  Individuellen  als  möglich 
hingestellt,  wonach  es  im  W'esen  des  Individuellen  liege,  einzig  zu 
sein,  wenn  auch  nicht  hinsichtlich  seiner  begrifflichen  Wirklichkeit, 
so  doch  hinsichtlich  seiner  qualitativen  Tatsächlichkeit. 
Für  diesen  Individualitätsbegriff  liegt  noch  eine  letzte  Schwierigkeit 
vor  hinsichtlicli  seiner  wissenschaftlichen  Aufloslichkeit  in  Gesetzen; 
ihr  widmen  wir  noch  einige  Schlußworte. 

Es  wird  sich  nämlich  nicht  gut  leugnen  lassen,  daß  dieser  Begriff 
von  Individualität  mehr  oder  weniger  deutlich  auf  alle  einzelnen 
Naturobjekte  zutrifft,  so  wie  sie  zeitlich  und  im  Raum  erscheinen. 
Aber  hier  muß  unterschieden  werden :  Inwieweit  ist  diese  Einmalig- 
keit und  Einzigartigkeit  für  das  betreffende  Naturobjekt  ein  zu- 
fälliges, außerwesentliches,  inwieweit  ist  es  ein  konstitutiv 
wesentliches  Merkmal?  Ein  Kriterium  dafür,  oö  individuelle 
Eigenschaften  an  einem  Naturvorgang  oder  -objekt  —  und  ein  solches 
ist  auch  die  menschliche  Persönlichkeit  —  zufällig  oder  nicht  zu- 
fällig sind,  ist  zunächst  die  Vergleich  bar keit  des  betreffenden  Vor- 
gangs oder  Objekts  mit  anderen  ähnlichen.  Wir  wissen,  daß  diese 
Ähnlichkeiten,  die  Vergleichung  erlauben,  in  der  Natur  außerordent- 
lich weit  gehen.  Soweit  die  Vergleichbarkeit  möglich  wird, 
soweit  ist  die  Anwendung  von  Gesetzen  möglich.  Zwar 
untersteht  auch  das  Unvergleichbare  dem  Naturgesetz,  aber  dies 
Naturgesetz  ist  empirisch  nicht  auffindbar.  Nun  wissen 
wir  aber:  grundsät zlitli  wird,  wenn  auch  nicht  das  Ganze,  so  doch 
jeder  einzelne  Teil  innerhalb  der  Objektwelt  irgcndeinmal  gesetz- 
mäßig vei-standen  worden.  »Die  Naturwissenschaft  hat  hier  keine 
Schranke.  Daraus  folgt  für  das  einzelne  Naturgeschehen  oder  Natur- 
objekt:  Der  Anteil  des  Vergleichbaren  an  ihm  wird  sich 
grundsätzlich    immer    weiter    ziehen    lassen.      Der    indivi- 


230     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

duelle  Rest  des  noch  nicht  Vergleichbaren  wird  immer 
kleiner  werden. 

Hieraus  folgt:  in  diesem  stetig  sich  verkleinernden  Rest  von 
Unvergleichbarem  kann  das  Wesen  des  Individuellen  nicht  liegen. 
Dieser  ganze  Abriß  ist  ja  nichts  als  eine  neue  Wendung  des  alten 
Gedankengangs  von  der  Un vollendbar keit  empirischer  Erkenntnis. 
Es  ist  in  bezug  auf  diese  Erkenntnis,  in  bezug  auf  den  Anteil  des 
Vergleichbaren,  bereits  Naturgesetzen  Unterstellbaren  an  Natur- 
objekten und  Vorgängen  rein  zufällig,  wieweit  sie  in  dieser  Hin- 
sicht noch  individuell  und  unauflöslich,  wieweit  sie  schon  unter  Ge- 
setze zu  bringen  sind.  Wenn  wir  also  vom  Wesen  der  Individualität 
sprechen,  so  kann  dieser  durch  den  Stand  unserer  Erkennt- 
nis begrenzte  zufällige  Charakter  des  Unvergleichbaren, 
zeitlich  und  örtlich  Einmaligen  nicht  gemeint  sein.  Das 
Wesen  des  Individuellen,  soweit  es  sich  auf  seine  faktische  quali- 
tative Eigenart  bezieht,  aber  als  notwendig  und  konstitutiv  er- 
faßt wird,  muß  vielmehr  liegen  in  der  besonderen  Synthese 
verschiedener  naturgesetzlicher  Bestimmungen,  deren  Schnitt- 
punkt gerade  das  hie  et  nunc  bestehende  Einzelne  nicht 
als  ein  zufälliges,  sondern  als  ein  so  besonders  Bestimmtes 
und  Notwendiges  erscheinen  läßt.  Es  ist  also  —  im  Gegensatz 
zu  allen  bisherigen  Auffassungen  von  Individualität,  gerade  der 
gesetzmäßige  Charakter,  das  besondere  Zusammentreffen  einer 
Vielzahl  von  Gesetzen  in  bezug  auf  die  Einheit  eines  Vor- 
gangs oder  Zustandes,  welches  diese  Einheit  als  eine  not- 
wendige erscheinen  läßt,  dasjenige  was  das  wahre  Wesen  der 
Individualität  ausmacht.  Nicht  die  empirische  Einmalig- 
keit und  Unvergleichbarkeit,  sondern  notwendige  Einheit  in 
einem  Naturvorgange  oder  Objekte  als  eine  gesetzmäßig  be- 
stimmte, als  ein  Schnittpunkt  einer  Vielzahl  von  Gesetzen,  —  nicht 
das  zufällige  Sosein,  sondern  die  Notwendigkeit  des  gerade 
Sosein müsSens  als  Naturobjekt  macht  seinen  individuellen 
Charakter  aus.  Und  dieser  individuelle  Charakter  transzendiert 
durchaus  nicht  über  die  Naturerkenntnis,  er  setzt  die 
Erkenntnis  von  Naturgesetzen  zu  seiner  Möglichkeit  erst 
voraus.  Wir  werden  später  zu  zeigen  haben,  wie  vom  Begriff 
des  gesetzlich  bestimmten  Einzelfalles  über  den  Begriff 
des  Typus  zum  Begriff  des  Gesetzes  selber  eine  Kette  logi- 
scher   und     methodologischer    Notwendigkeiten   führt. 

Damit  schalten  wir  die  Irrationalität  des  Individuellen  aus.  Wir 
leugnen  sie  nicht  im  Sinne  einer  unvollendbaren  Aufgabe  für  die 
Erkenntnis,  aber  soweit  diese  Aufgabe  unvollendet  ist,  betrachten 
wir  das  irrationale  Moment  als  nach  Art  und  Umfang  zufällig.  Wir 
behaupten  im  Gegensatz  zu  diesem  Begriff  des  Individuellen  aber 
gerade  einen  zweiten,  welchem  die  völlige  Rationalität  zum 
konstitutiven  Merkmal  wird;  dieser  ist  kein  anderer  als  der 
der    synthetischen    Einheit    des    Mannigfaltigen,    die    vom 


Bemorkungcn  zum  Probl'm  der  Willf-nafreiheit  ii.-w.  231 

Gesetz  l)e8timmt  ist.     Ihre  Erkenntnis  ist  aber  durchaus  nicht  un- 
voUondbar;    sie    ist   methodisch   und  sachlich   gesichert  und 
voni    Oeltungswert     echter     naturwissenschaftlicher    Kr 
kenntnis. 


y.  ßemerkunßtMi  zum  rrobleiii  der  Willensfreiheit  und  ihrer 
Vereinbarkeit  mit  der  Naturbestininitheit  psychischen 

Geschehens. 

Psychologische  und  transzendentale  Freiheit. 

Nur  ein  Moment  ist  es  noch,  welches  im  Anschluß  hieran  eine 
besondere  Klärung  erfordert,  ehe  wir  das  Kausalproblem  und  damit 
die  Wissenschaftstheorie  des  Psychischen  verlassen  können:  es  läßt 
sich  zusammenfassen  in  dem  Problem  vom  Eingreifen  der 
Willkür  in  den  Zusammenhang  der  seelischen  Abläufe.  Diese  Will- 
kür hat  die  verschiedensten  Benennungen  und  Theorien  gezeitigt : 
»das  Ich«,  »der  Wille«,  »der  Verstand«,  »die  Tatkraft«  —  etwa*?, 
was  unter  all  diesen  Benennungen  verstanden  werden  soll,  greift 
in  das  psychische  Geschehen  irgendwie  zielrichtend  ein.  Es  richtet 
»die  Aufmerksamkeit«  auf  bestimmte  Materien,  es  bedient  sich 
reflektioneller  Akte  und  reproduktiver  Funktionen  in  einer  Weise, 
die  durch  den  bloßen  naturbestimmten  Fortgang  des  Geschehens  in 
der  Seele  gar  nicht  beeinflußt  zu  werden  scheint,  es  erzwingt  Ent- 
schließungen und  Handlungen,  welche  den  Triel^en  und  Interesse- 
tendenzen nicht  nur  nicht  zu  unterliegen  scheinen,  sondern  direkt 
zuwiderlaufen  können.  Was  ist  dies  für  ein  Moment  des  Seelischen  ? 
Seiner  theoretischen  Bestimmung  innerhalb  des  seelischen  Ganzen 
nmß  eine  l)esonderc  Untersuchung  gewidmet  werden.  Dabei  wird 
es  sich  nicht  vermeiden  lassen,  sowohl  an  das  Problem  der  Willens- 
freiheit im  psychologischen  Sinne  als  auch  an  die  Frage  der  Freiheit 
des  Menschengeistes  überhaupt  und  ihrer  Vereinbarkeit  ^  mit  der 
kausalen  Determination  alles  Naturgeschehens,  auch  des  psychischen, 
kurz  zu  rühren. 

Auch  l)ei  der  Berührung  dieser  Frage  werden  wir  es  uns  zur  Richt- 
schnur machen,  so  präzise  und  exakt  wie  möglich  zu  sein  und  uns 
genau  ül)er  die  Grenzen  klar  zu  werden,  innerhalb  deren  sich  un.sere 
wissenschaftlichen  Aussagen  bewegen  können  und  sollen.  Alles 
Eingehen  auf  die  Fülle  der  Behauptungen,  Konjekturen,  Dogmen, 
Konstruktionen  und  Fragestellungen,  weiche  eine  wahre  Hociiflut 
pliilosophischer  Literatur  auf  diesem  Gebiete  seit  dem  hellenischen 
Altertum  mit  sich  gebracht  hat,  werden  wir  vermeiden.  Einen 
methodologischen  Führer  durch  das  Ljibyrinth  von  Erkenntniskritik 
und  SjK'kulation,  welches  sich  mit  der  Frage  der  menschlichen  Frei- 
heit auftut,  besitzen  wir,  wie  wir  ihn  sicherer  und  behutsamer  uns 
nicht  zu  wünschen  vermögen:  es  ist  ein  Gedankengang  meines  Lehrers 


232      Über  die  wissei)Scliaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

lind  Freundes  Leonard  Nelson,  eine  seiner  schönsten  Geistes- 
taten,  tiefsinnig  und  exaktwissenschaftlich  zugleich i);  an  diesen 
wollen  wir  uns  aufs  engste  anlehnen. 

Wenn  wir  von  Willkür  und  Freiheit  im  Seelenleben  reden,  so 
müssen  wir  zwei  Begriffe  scharf  auseinanderhalten:  den  Begriff  der 
transzendentalen^)  Willensfreiheit  einerseits,  den  der  psycho- 
logischen Freiheit,  wie  Kant  sagt,  andrerseits.  Die  psychologi- 
sche Freiheit  besteht  in  der  Möglichkeit  so  zu  handeln,  wie  man 
will.  Der  Begriff  der  psychologischen  Freiheit  besagt  also  weiter 
nichts  als  die  Abhängigkeit  eines  Geschehens  von  einem  Wollen. 
Diese  Abhängigkeit  eines  Geschehens  von  einem  Wollen  ist  eben 
dadurch  die  Abhängigkeit  eines  Geschehens  von  einem  anderen 
'  Geschehen,  nämlich  dem  Vollzuge  der  Willensfunktionen.  Insofern 
liegt  dasjenige,  was  hier  psychologisch  Freiheit  genannt  wird,  ganz 
im  Bereich  der  Naturnotwendigkeit,  und  es  wird  zu  ihr  keine 
Unabhängigkeit  von  der  Notwendigkeit  des  Müssens  erfordert;  han- 
delt es  sich  doch  bloß  um  eine  bestimmte  Art  des  Müssens.  Wir 
bezeichnen  also,  wenn  wir  die  psychologische  Willkürlichkeit  eines 
Geschehens  behaupten,  nur  eine  bestimmte  Art  der  Ursache  des 
Geschehens,  nämlich  ein  Geschehen,  welches  dadurch  verursacht  ist, 
daß  wir  es  wollen.  Ob  dieses  Wollen  seinerseits  ursächlich  bedingt 
ist  oder  nicht,  diese  Frage  wird  hierbei  noch  nicht  berührt.  Mag 
dies  der  Fall  sein  oder  nicht:  daß  dies  Wollen  die  Ursache  für  ein 
anderes  Geschehen  ist,  ist  davon  unabhängig,  wie  dies  Wollen  selbst 
verursacht  ist  und  ob  es  verursacht  ist.  Im  Gegensatz  hierzu  be- 
deutet die  transzendentale  Freiheit  die  Unabhängigkeit  meines 
Wollens  von  der  Notwendigkeit  eines  Müssens.  Also:  ein  Geschehen 
ist  willkürlich  oder  psychologisch  frei,  wenn  es  nur  von  meinem  Willen 
abhängt,  ob  es  stattfindet  oder  nicht.  Welches  aber  die  Ursache 
dieses  Willens  ist  und  ob  es  für  diesen  Willensentschk;ß  überhaupt 
eine  Ursache  gibt,  diese  Frage  betrifft  nicht  die  psychologische  Frei- 
heit, sondern  die  transzendentale.  Über  diese  Unterscheidung  muß 
man  sich  zunächst  völlig  klar  sein. 

Die  Antinomie  von  Freiheit  und  Gesetz. 

Man  kann  den  Unterschied  der  psychologischen  von  der  trans- 
zendentalen Freiheit  auch  so  fassen,  daß  jene  die  Unabhängigkeit 
von  äußeren  Ursachen,  diese  die  Unabhängigkeit  von  Ursachen 
überhaupt  in  sich  begreift.     Aus  der  Verwechselung  dieser  beiden 


1)  Kritik  der  praktischen  Vernunft.  1917.  Postulate  der  Anwendbarkeit  des 
Sittengesetzes.     S.  280,  295  ff. 

2)  Unter  dem  Terminus  transzendental  verstehen  wir  mit  Kant  »den  Gnind 
der  MögHchkeit  des  Apriori«.  Die  hier  gemeinte  Freiheit  heißt  transzendental, 
weil  sie  den  Grund  der  Möglichkeit  sittlichen  Handelns  gibt,  ein  Postulat  der  An- 
wendung des  Sittengeszes  (das  a  priori  gilt)  ist.  Der  Terminus  transzendental 
sagt  nichts  aus  über  die  ModaHtät  dessen,  wovon  er  prädiziert  wird;  die  transzen- 
dentale Freiheit  kann  also,  trotz  ihrem  transzendentalen  Charakter,  empiri.sch  sein. 


I'cmcikungi  11  /.um  rrubk-m  du  Willtnufrcüi-  >-.   u.-m.  _33 

Begriffe  von  Froiheit  erklären  sicli  die  vielen  verfohlten  Stellung- 
nahmen, die  wir  in  der  philortophi.schen  Literatur  vorfinden.  Kh 
ergeben  sich  nämlich  aus  dieser  Verwechselung  folgende  zwei  Mög- 
lichkeiten. Erstens:  die  Verwechselung  besteht  darin,  daß  man  die 
bloüo  Willkürlichkeit  des  Handelns  schon  als  transzendentale  Freiheit 
nimmt;  dann  muü  man  folgern,  daß  die  Fähigkeit,  zu  wollen,  Inireits 
die  Schranken  der  Naturnotwendigkeit  ülwrschreitet .  Daraus  folgt 
dann  der  Fehlschluß  tles  gewohnlichen  Indeterminismus, 
daß  das  Faktum  der  Willkürlich keit  des  Handelns  bereits  an  sich 
die  transzendentale  Freiheit  des  Ganzen  beweise.  Zweitens:  Man 
geht  von  der  Unmöglichkeit  der  Freiheit  in  der  Natur  aus.  Psychi- 
sches Geschehen  ist  ein  Naturge.schehen.  Daraus  folgt  der  Schluß, 
daß  willkürliches  Handeln  unmöglich  ist,  und  eine  leere  Fiktion  des 
Erlebens  bedeutet.  Dies  ist  der  gewöhnliche  Fehlschluß  des 
Determinismus. 

Diese  Antinomie  besteht  also  in  der  wechselseitigen  Ausschließung 
der  Voraussetzungen  der  Freiiieit  einerseits  und  der  Naturgesetzlich- 
keit  alles  Geschehens  andererseits.  Freiheit  schließt  Gesetzlichkeit 
des  Geschehens  aus,  letztere  führt  zur  Unmöglichkeit  von  Freiheit. 

Logische    Zergliederung    der    Voraussetzungen     der 
Antinomie. 

Aus  einer  Prämisse  allein  ist  aber  kein  Schluß  möglich.  Es 
kann  daher  weder  aus  dem  Postulat  der  Freiheit  allein  auf  die  Un- 
gesetzlichkeit des  Geschehens,  noch  aus  der  Gesetzlichkeit  des  Ge- 
schehens allein  auf  die  Unmöglichkeit  der  Freiheit  geschlossen  werden. 
Es  müssen  also  in  jedem  dieser  beiden  Schlüsse  noch  andere  Vor- 
aussetzungen enthalten  sein.     Diese  wollen  wir  genau  bestimmen. 

Was  behauptet  das  Postulat  der  Freiheit?  Offenbar,  daß  die 
Naturgesetze  nicht  hinreichen,  um  das  Geschehen  zu  bestimmen. 
Was  behauptet  andererseits  die  Naturgesetzlichkeit  alles  Geschehens? 
Offenbar,  daß  die  Naturgesetze  für  alles  Geschehen  uneingeschränkt 
gelten. 

Wenn  daher  von  dem  Postulat  der  Freiheit  auf  die  Ungesetzlichkeit 
des  Geschehens  geschlossen  wird,  so  ist  dieser  Schluß  nur  unter  der 
weiteren  Voraussetzung  möglich,  daß  die  Naturgesetze  nur  insofern 
uneingeschränkt  gelten,  als  sie  auch  hinreichend  sind,  um  das  Ge- 
schehen zu  bestimmen.  Diese  zweite  Voraussetzung  besagt  also, 
daß  die  Naturgesetzlichkeit  alles  Geschehens  dessen  vollständige 
Bestimmtheit  durch  die  Naturgesetze  einschließt. 

Weini  dagegen  aus  der  Abhängigkeit  alles  Geschehens  von  Natur- 
gesetzen gefolgert  wird,  daß  die  Naturgesetze  hinreichend  sind,  um 
das  Geschehen  zu  bestimmen,  so  daß  Freiheit  unmöglich  wird,  — 
so  liegt  bei  diesem  Schlüsse  dieselbe  Voraussetzung  vor  wie  lx;i  den 
erstgenannten.  Daß  nändich  das  CJeschehen,  sofern  es  unter  Natur- 
gesetzen steht,  durch  sie  vollständig  bestimmt  sein  muß. 


234     Über  die  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

iSchließt    die  Naturgesetzlichkeit    des   Geschehens    dessen 
vollständige  Bestimmtheit  ein? 

Diese  zweite  Voraussetzung  ist  es,  vermittelst  derer  das 
erste  Mal  von  der  Gültigkeit  des  Vordersatzes  auf  die  des  Nach- 
satzes geschlossen  wird,  vermittels  derer  das  zweite  Mal  aber  von 
der  Ungültigkeit  des  Nachsatzes  auf  die  Ungültigkeit  des  Vorsatzes 
geschlossen  wird. 

Um  diese  Frage  zu  entscheiden,  müssen  wir  das  logische  Ver- 
hältnis zwischen  dem  Vordersatz  und  dem  Nachsatz  dieser  Voraus- 
setzung untersuchen.  Wir  müssen  uns  fragen,  ob  der  Nachsatz 
logisch  aus  dem  Vordersatz  folgt.  Wenn  dies  der  Fall  sein  sollte,  so 
müßte  die  Verneinung  des  Nachsatzes  mit  dem  Vordersatz  in  Wider- 
spruch stehen.  Es  müßte  also  die  Annahme,  daß  das  Psychische 
durch  die  Naturgesetze  nicht  vollständig  bestimmt  ist,  im  Wider- 
spruch stehen  mit  der  Naturgesetzlichkeit  alles  Geschehens. 

Dies  ist  nun  aber  keineswegs  der  Fall.  Rein  logisch  wider- 
spricht der  Behauptung  der  Gesetzlichkeit  des  Geschehens  nur  die 
Behauptung  der  Ungesetzlichkeit  des  Geschehens.  Nun  kann  zwar 
ein  nichtgesetzliches  Geschehen  auch  nicht  durch  Gesetze  vollständig 
bestimmt  sein;  wohl  aber  kann  das  Geschehen  unter  Gesetzen  stehen, 
ohne  durch  diese  Gesetze  vollständig  bestimmt  zu  sein.  Wenn  es 
nämlich  positiv  nicht  durch  Gesetze  bestimmt  ist,  so  braucht  es 
darum  noch  nicht  überhaupt  ungesetzlich  zu  sein.  Mit  anderen 
Worten,  wenn  die  notwendige  Bedingung  eines  Geschehens  seine 
Gesetzmäßigkeit  ist,  so  braucht  dies  noch  nicht  zugleich  seine  hin- 
reichende Bedingung  zu  sein. 

Nelson  bestätigt  diesen  Gedankengang  daran,  daß  die  Natur- 
gesetze zwar  die  Abfolge  eines  Vorganges  aus  dem  vorhergehen- 
den bestimmen;  daß  aber  kein  Naturgesetz  uns  unmittelbar  etwas 
darüber  sagt,  welcher  Art  der  vorhergehende  und  so  auch  der 
folgende  Zustand  ist.  Diese  Feststellung  über  die  wirkliche  Existenz 
eines  Zustandes  gibt  uns  nur  die  Beobachtung. 

Man  kann  dies  auch  so  darstellen:  wenn  alles  Geschehen  unter 
Naturgesetzen  steht,  so  kann  es  in  keiner  Hinsicht  zufällig  sein. 
Denn  zufällig  nennen  wir  das,  was  nicht  mit  Notwendigkeit  bestimmt 
ist.  Gehen  wir  davon  aus,  daß  das,  was  wirklich  geschieht,  auch 
notwendig  so  geschieht,  wie  es  geschieht,  dann  können  wir  aller- 
dings behaupten,  daß  durch  die  Gesetzmäßigkeit  des  Geschehens 
alle  Zufälligkeit  ausgeschlossen  ist.  Dann  ist  alles  Geschehen  schon 
eindeutig  und  vollständig  durch  die  Gesetze  bestimmt. 

Nun  gehen  wir  tatsächlich  von  der  Vorstellung  aus,  daß  es  in  der 
Wirklichkeit  keine  Zufälle  geben  kann.  Wenn  wir  etwas  als  zufällig 
bezeichnen,  so  behaupten  wir  nicht,  daß  es  an  sich  unbestimmt  sei, 
sondern  nur,  daß  wir  seine  Notwendigkeit  nicht  einsehen. 
Wo  wir  also  vom  Zufall  sprechen,  tun  wir  dies  nur  mehr  mit  Bezug 
auf  unsere  Erkenntnis.    Nicht  das  Sein  an  sich  ist  zufällig,  sondern 


Bemerkungen  zum  Prol*l<in  (1<t  Willirmfn-ih'it  u«w.  "^35 

wir  setzen  voraus,  daß  an  sicli  nichts  wirklich  ist,  was  nicht  auch 
notwendig  so  ist,  wie  es  ist.  Nicht  dem  (Jegenstand,  der  wirklich  ist, 
kann  die  Notwendigkeit  seines  Seins  fehlen,  sondern  nur  una  die 
!*]rkeimtnis  dieser  Notwendigkeit. 

Nun  folgert  Nelson  weiter:  Diese  Feststellung  ist  ihrereeita 
wieder  nicht  logisch  selbst verständich.  Es  liegt  nicht  im  Begriff 
des  Wirklichen,  daU  es  auch  so,  wie  es  ist,  notwendig  ist.  Der  Begriff 
der  Notwendigkeit  ist  vielmehr  ein  eigener,  von  dem  der  Wirklichkeit 
unabhängiger  Begriff.  Wenn  wir  also  behaupten,  daß  der  Zufall 
nicht  aus  sich  bestehen  kann,  sondern  nur  in  einem  Mangel  unserer 
Erkenntnis  besteht,  so  machen  wir  damit  eine  besondere,  logisch 
nicht  selbstverständliche  Voraussetzung.  Und  nur  vermittels  dieser 
logisch  nicht  selbstverständlichen  Voraus.'^etzung  können  v^nr  \)e- 
haupten,  daß  die  Gesetzlichkeit  alles  Geschehens  seine  vollständige 
Bestimmtheit  einschließe.  Denn  ein  Geschehen,  welches  durch  die 
Naturgesetze  nicht  vollständig  bestimmt  wäre,  bleibt  insofern  zu- 
fällig. 

Aber  noch  eine  zweite  Voraussetzung  ist  notwendig,  um  von  der 
Behauptung  der  Gesetzmäßigkeit  hin  zu  derjenigen  der  vollständigen 
Bestimmtheit  des  Naturgeschehens  zu  gelangen.  Aus  dem  Satze: 
Das  an  sich  Wirkliche  kann  in  keiner  Hinsicht  zufällig  sein,  — 
folgt  der  Schluß:  das  Naturgeschehen  kann  in  keiner  Hinsicht 
zufällig  sein  —  nur  unter  der  stillschweigenden  Hinzunahme  dieser 
zweiten  Voraussetzung:  daß  das  Naturgeschehen  etwas  an 
sich  Wirkliches  sei.  Auch  diese  Voraussetzung  ist  logisch  durch- 
aus nicht  selbstverständlich,  denn  sie  behauptet  nichts  anderes,  als 
die  Unabhängigkeit  des  Naturgeschehens  von  unserer  Erkenntnis  — 
eine  Behauptung,  welche  sich  mit  rein  logischen  Mitteln  nicht  be- 
gründen läßt ;  denn  wir  können  sie  verneinen,  ohne  auf  einen  logischen 
Widerspruch  zu  geraten. 

Nelson  faßt  hiernach  zusammen:  Die  Ausschließung  der  Zu- 
fälligkeit des  Naturgeschehens  enthält  zwei  allgemeine,  logisch  nicht 
selbstverständliche  Voraussetzungen:  Erstens:  daß  das  an  sich 
Wirkliche  nicht  zufällig  sein  kann,  und  zweitens,  daß  das  Natur- 
geschehen etwas  an  sich  Wirkliches  ist. 

Die  Auflösung  der  Antinomie. 

Greifen  wir  jetzt  auf  unsere  Antinomie  zurück.  Man  sieht  nun, 
daß  die  Schlüsse,  auf  denen  sie  beruht,  durchaus  nicht  logisch  zwingend 
sind.  Wenn  man  nämlich  eine  von  den  genannten  beiden  stilLjchwei- 
genden  Voraussetzungen  aufhebt,  so  kann  man  die  beiden  aus- 
gesprochenen Prämüssen,  von  denen  die  Antinomie  ausging,  wider- 
spruchslos vereinigen.  Wir  köiuien  also  das  Postulat  der  transzen- 
dentalen Freiheit  und  die  Voraussetzung  der  Naturgesetzliohkeit 
alles  Geschehens  widerspruchslos  vereinigen,  wenn  wir  einen  dritten 
Satz  aufgeben,    nämlich  entweder  den,  daß  das  an  sich   Wirkliche 


236     Über  die  wissenschaftstheoretischeu  Grundlagen  der  Psychologie  usw. 

nicht  zufällig  sein  kann,  oder  den,  daß  das  Naturgeschehen  etwas 
an  sich  Wirkliches  ist.  Mithin  ist  dargetan,  daß  jene  Antinomie 
zwischen  Determinismus  und  Indeterminismus  logisch  nicht  zwingend 
ist.  Das  Postulat  der  transzendentalen  Freiheit  bedeutet  also  keinen 
logischen  Widerspruch  zu  der  Voraussetzung  einer  Naturwissenschaft, 
welche  in  der  Naturgesetzlichkeit  alles  Geschehens  besteht. 

An  dieser  Stelle  mehr  zu  sagen  und  Nelsons  Gedankengang 
weiter  zu  verfolgen,  ist  für  unseren  wissenschaftstheoretischen  Zweck 
nicht  notwendig.  Indem  wir  die  widerspruchslose  logische  Verein- 
barkeit des  Postulats  der  transzendentalen  Freiheit  mit  der  Natur- 
gesetzlichkeit alles  Geschehens  erwiesen  haben,  haben  wir  ein  Gebot 
wissenschaftstheoretischer  Klarheit  erfüllt,  welches  uns  auf  die 
Schranke  gesetzmäßiger  Erkenntnis  überhaupt  hinweist.  Für  unsere 
psychologische  Aufgabe  aber  haben  wir  uns  innerhalb  dieser 
Schranken,  innerhalb  der  Sphäre  des  Geschehens  zu  bewegen,  inso- 
fern es  naturgesetzlich  bestimmt  und  bestimmbar  ist.  Diejenige 
Freiheit,  welche  wir  hier  in  der  Seele  anzutreffen  vermeinen,  ver- 
mögen wir  mit  diesen  Erkenntnis  mittein  nur  aufzufassen  als  die 
psychologische  Freiheit,  die  Freiheit  zu  handeln  wie  das  Wollen  es 
bestimmt.  Das  Wollen  sowohl  als  auch  seine  Wirkung  im  Handeln 
fallen  damit  unter  die  Objekte  naturwissenschaftlicher 
Erkenntnisweisen;  und  diese  Freiheit,  welche  die  bloße  Willkür 
des  Handelns  zum  Ausdruck  bringt  und  deren  Erscheinungsweisen 
sich  aus  der  Phänomenologie  und  Theorie  der  wollenden  Funktionen 
werden  entwickeln  lassen,  liegt  auch  schon  unterhalb  der  Sphäre 
wissenschaftstheoretischer  Feststellungen.  Diese  Freiheit  ist,  wie 
Kant  einmal  bemerkt,  nur  die  Freiheit  eines  Bratenwenders,  der, 
wenn  er  aufgezogen  ist,  sein  Geschäft  von  selber  verrichtet. 


Proh'j^oim'iiji  zur  all^eiiK'iiM'ii  Psychiatrir  als 
strcii^rr  Winseiischaft. 

J)ie  allgemeine  Psychiatrie  und  die  psychiatrische  Gesamt- 
forschung. 

Wenn  wir  es  unternohmen,  im  folgenden  die  Grundlinien  der  all- 
gemeinen Psychiatrie  zu  entwickebi,  so  drängt  uns  dazu  die  Erkennt- 
nis von  der  unumgänglichen  Notwendigkeit,  innerhalb  des  Ganzen 
psychiatrischer  Forschung  einen  grundsätzlich  neuen,  anderen 
liegriff  von  allgemeiner  Ps3'chiatrio.  zur  Verwirklichung  bringen  zu 
müssen,  als  ihn  die  bisherige  Literatur,  so  reich  an  Lehrbüchern  und 
tSynopsien  sie  ist,  zur  Geltung  gebracht  hat.  Angesichts  der  über- 
wältigenden Fülle  didaktischer  Werke,  in  welchen  die  Geistesarbeit 
von  zwei  Generationen  bedeutender  Forscher  zusammengefaßt  wird, 
erscheint  es  vermessen,  ein  neues  Unternehmen  mit  dem  Anspruch, 
das  Lehrgebiet  der  Psychiatrie  in  Ix^stimmter  Form  neuer  und  rich- 
tiger zu  vermitteln,  als  dies  bisher  geschah,  in  die  Welt  zu  setzen. 
Und  besonders  schwer  muß  das  Gefühl  der  Verantwortung  für  eui 
solches  Unterfangen  zu  einem  Zeitpunkt  sein,  wo  die  Forschung 
selber  in  allen  ihren  Einzclzweigen  ein  Entwicklungsstadium  durch- 
macht, in  dem  sich  eine  ordnende  Zusammenfassung  ihrer  Methoden 
liud  Ergebnisse  von  selber  zu  verbieten  scheint. 

Wenn  im  folgenden  diese  ordnende,  didaktische  Zusammenfassung 
eines  Teilgebietes  der  Psychiatrie  dennoch  wenigstens  begonnen  wird. 
so  besteht  hierfür  mir  eine  einzige,  aber  zwingende  Rechtfertigung: 
Es  wird  über  da*  Wesen  der  Psychiatrie  als  Wissenschaft,  über  ihre 
(irundlegung  und  Methodologie  prinzipiell  neues  gesagt  werden;  und 
dieses  Neue  wird  von  bestimmendem  Einfluß  auch  auf  die  syste- 
matische und  didaktische  Bearbeitung  der  materialen  Bestände 
psychiatrischer  Forschung  sein. 

Nicht  als  ob  die  Gesichtspunkte,  für  deren  systematische  An- 
wendung wir  den  Charakter  der  Neuheit  in  Anspruch  nehmen,  sich 
nicht  schon  in  Arbeiten  und  Werken  einzelner  hervorragender  älterer 
und  jüngerer  Forscher  fänden.  Aber  wo  sie  sich  fanden,  blieben  sie 
in  Vereinzelung  und  ohne  die  sj-stematischo  und  methodische  An- 
wendung, welche  wir  im  folgenden  zu  gelnm  die  Absicht  hal>en. 

Als  Aufgabe  der  allgemeinen  Psychiatrie  Iwt rächten  wir  die  Grund- 
logung,  Sicherung  und  Begrenzung  des  Erkenntnischarakters  und  der 
Wissenschaftlichkeit  psychiatrischer  Forschung  überhaupt. 


238     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatric  als  strenger  Wissenschaft. 

Das  Thema  dieser  Untersuchung  schließt  also  die  Voraussetzung 
in  sich,  daß  die  Grundlagen  der  Psychiatrie  als  Wissenschaft 
ein  Problem  bilden.  Indem  sie  die  Lösung  dieses  Problems  in 
Angriff  nimmt,  setzt  sie  dieses  Unternehmen  mit  dem  Begriff 
einer  allgemeinen  Psychiatrie  gleich. 

Die  Berechtigung  der  Voraussetzung,  daß  die  Grundlagen  der 
Psychiatrie  als  Wissenschaft  nicht  feststehen,  sondern  problematisch 
sind,  wird  durch  die  folgenden  Untersuchungen  eingehend  dargetan 
werden.  Es  darf  übrigens  als  hinlänglich  bekannt  vorausgesetzt 
werden,  daß  diese  Problematik  von  der  Mehrzahl  der  Verfasser  di- 
daktischer Werke  in  der  Psychiatrie  erfaßt  worden  ist;  worauf  sich 
dann  alsbald  das  Schauspiel  abzuspielen  pflegt,  daß  jeder  dieser  Au- 
toren es  unternimmt,  diese  Problematik  auf  eigene  Faust  in  der  Ein- 
leitung zur  materialen  Darstellung  gleichsam  en  passant  und  neben- 
bei zu  »erledigen  «  —  durch  irgendeine  unausgegorene  psychophysische 
oder  sonstige  Konzeption i). 

Indessen  um  diese  Problematik,  der  das  ganze  vorliegende  Werk 
sich  widmet,  handelt  es  sich  uns  hier  nicht.  Zunächst  ist  die  andere 
Berechtigung  zu  erweisen,  daß  nämlich  eine  derartige  Untersuchung 
über  die  Grundlagen,  Möglichkeiten  und  Grenzen  der  Psychiatrie  als 
Wissenschaft  gleichgesetzt  werden  dürfe  mit  dem  Inbegriff  des  Wissens- 
gebietes, welches  bisher  als  »allgemeine  Psychiatrie«  bezeichnet 
worden  ist. 

Lassen  wir  es  noch  dahingestellt,  inwieweit  die  Psychiatrie  den 
Anforderungen  und  Kriterien  der  Wissenschaft  überhaupt  bisher  zu 
genügen  vermocht  hat,  so  ist  doch  soviel  sicher,  daß  diese  als  Wissen- 
schaft auftretende  Lehre  ihrer  Natur  nach  keine  theoretische 
Disziplin,  sondern  daß  sie  eine  praktische,  angewandte  Wissen- 
schaft war  und  sein  wollte.  Und  ferner  ist  klar,  daß  die  Psychiatrie 
in  diesem  wissenschaftlichen  Gewände  nicht  auf  Prinzipien  und 
Maximen,  Grundsätze  und  Methoden  eigenen  Wesens  aufgebaut, 
nicht  autologisch  war,  sondern  daß  sie  sich  auf  eine  Reihe  ihr 
zugrunde  liegender  anderer  Wissenschaften  zu  ihrem  eigenen  Aufbau 
stützen,  berufen  und  zurückbeziehen  mußte.  Das  liegt  in  der  Natur 
der  für  die  Psychiatrie  zur  Forschung  sowie  zur  Lehre  dienenden 
Ausgangspunkte  und  Gegebenheiten.  Diese  sind  in  ihrem  Wesen 
recht  heterogener  Art,  Psychologische  Aussagen  von  Erlebnissen 
und  Vorgängen  in  ihren  Kranken,  objektiv  psychologische  und 
psychophysische  Feststellungen  und  Messungen,  experimentell- 
psychologische Abwandlungen  gebräuchlicher  normalpsychologischer 
Versuchsmethoden   —  drei  Gegebenheitsreihen,  die  in  sich  wesens- 


1)  In  der  Ära  nach  Griesinger  hat  von  allen  Autoren  synoptisch-didaktischer 
Werke  nur  Dittmar  (Vorlesungen  über  Psychiatrie.  Bonn  1878)  einen  besonderen 
ersten  Band  »Grundlegungen  der  Psychiatrie«  erscheinen  lasesn.  Er  entschuldigt 
sich  auch  entsprechend  wegen  der  Ausführlichkeit  dieses  Unternehmens,  welches 
ihm  übrigens  den  (sachlich  nicht  unberechtigten)  Spott  Westphals  zuzog  (Archiv 
f.  Psychiatrie.     IX.     S.  451  ff.). 


Die  allgi'mt'ine  l'sychiatric  und  die  psych iatrisc he  (Ji-saiutforachiuig.      239 

verschieden  sind,  weisen  in  iluer  wissonscluift liehen  (Gewinnung  und 
Ordnung  auf  die  Psychologie  ala  dasjenige  zugrunde  liegende 
Wissenschaftsgebiet  hin,  dessen  eigene  Voraussetzungen,  Grund- 
lagen, Metiiodi-n  und  P>gebnissc  hier  nur  ein  neues  Feld  ihrer  An- 
wendung und  Betätigung  finden.  Physiologische,  hirnanatoniische 
und  neurologische  (Jesichtspunktc  und  Fragestellungen,  biologische 
und  allgemein  pathologische  Annahmen  und  Lehren  üljer  die 
Vererbungsgesetze  und  das  Konstitutionsproblem  besitzen  in  der 
Psychiatrie  ebenfalls  ein  neues  materiales  Bestimmungsfeld,  wurzeln 
aber  mit  ihren  Grundlagen  in  ihren  eigenen  .Sondergebieten.  Die 
klinische  Heuristik,  die  Zusainmenstcllung  und  Ordnung  der  Zu- 
standsbilder  und  Verlaufsformcn,  ja  die  Anwendung  des  Krankheits- 
begriffes selber  und  das  Aufsuchen  seiner  konstituierenden  Merkmale, 
die  Schaffung  von  Symptom-  und  Krankheilsentitäten  mit  all  ihrer 
Komplizierung,  die  Stellung  von  Diagnose  und  Prognose  sind  ihren 
Prinzipien  nach  aus  dein  Arsenal  allgemeiner  medizinischer  Funda- 
mente entlehnt.  Und  dennoch  sind  sie  ihrer  grundsätzlichen  psychia- 
trischen Geltung  nach,  sieht  man  einmal  von  allen  wohlbegründbaren 
praktischen  Konventionen  ab,  zunächst  nicht  mehr  als  ungeheure 
problematische  Metaphern i).  —  Hier  sei  eine  Einschaltung  gestattet. 
J)ie  heutige  Forschung  ist  sich  der  Metaphorie  ihres  Krankheits- 
begriffes in  seiner  psycliiatrischen  Anwendung  kaum  deutlich  bewußt. 
Er  ist  ihr  etwas  selbstverständliches.  Dali  er  in  unklarster  Weise 
von  der  symptomatologischen  nach  der  nosologischen  Seite  hin  und 
her  schwankt,  daß  es  faßbare  Kriterien  einer  psychiatrischen  Krank- 
heitseinheit generell  überhaupt  nicht  und  in  der  Praxis  nur  für  ein 
umschriebenes  organisches  Gebiet  gibt,  dies  alles  und  noch  unendlich 
viel  anderes  macht  sie  in  der  prinzipiellen  Selbstverständlichkeit 
nicht  irre,  mit  welcher  sie  den  Krankheitsbegriff  als  solchen  von  der 
Medizin  her  übernimmt.  Dies  war  historisch  keineswegs  immer  so. 
Die  spekulative  und  moraltheologisch  orientierte  Psychiatrie  der 
älteren  Periode  sah  das  hier  sich  aufführende  Problem  in  seiner  ab- 
strakten Reinheit  noch  deutlich.  Sie  löste  es  methodisch  und  syste- 
matisch falsch^).    Aber  sie  überging  es  nicht.     Und  noch  Grie- 


1)  Man  kann  sich  dies  sofort  klarmachen:  man  denke  nur  etwa  an  die  Wr- 
Bchiedenheit  der  Bedeutung  de.s  Krankheitsbepriffes  bei  dt-r  Krankheit  Paralyse, 
der  »Knmkheit«  Hysterie,  der  »Krankheit«  Schizoj)hrt'nie  —  ferner  etwa  der 
»Krankheit«  Idiotie  und  der  »Krankheit«  moral  insanity;  nuin  denke  femer  an 
die  Scliwierigkeiten  di-.s  Begriffs  des  l'athi)I<)j;i<chen  und  seines  Verhältnisses  zum 
Abnormen,  an  die  Begriffe  »nathologit-cher  Charakter«,  l\sycht>pathie  usw. 
Kein  einziger  dieser  Kninkheitsbegriffe,  auch  der  der  Paralyse  nicht,  zeigt  mehr 
als  eine  bloQc  Analogie  zu  den  Krankheitsb«'j;riffen  der  Klinik  köriM«rlieher  Urgan- 
und  Funktionsstönuigi'n;  einzehie  ühin-ln  logi.sch  köqxTliclien  »Krankheiten«, 
wie  SechsfingriK'keit.  LinkshändiRkeit  tuier  Situ»  inversus,  die  selber  als  Krank- 
heiten nur  metaphori.sch  bezeichenbar  sind. 

*)  Kieser,  Elemente  der  l'sychiatrik,  ISr).*).  aus  dem  Begriffe  Gottes,  Hein- 
roth  (l'sychiHch-gerichtl.  Mtnlizin.  ly-inzig  I8L''>)  und  Hoffbauer  (Krankheiton 
der  Seele.  Halle  ISO.'l)  aus  dem  Begriff  der  Schuld  und  aus  dem  »Widerspruch  zur 
Naturbestimmung«  (Hoffbaucr,  I.    S.  274     270);  ähnlich  Reil  u.  a.  m.    Liogst 


240     Prolcgomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wi^senscliaft. 

singer,  der  dem  Unfug  dieser  Richtung  praktisch  und  theoretisch 
ein  Ende  bereitete,  sah  dieses  Problem  und  suchte  ausführlich  zu 
begründen,  warum  er  in  der  Psychiatrie  nur  den  symptomatologischen 
Krankheitsbegriff  gelten  lasse  und  ihm  den  pathogenetischen  einer 
Hirnpathologie  als  ideale  Forderung  gegenüberstellte,  zugleich  mit 
der  Resignation  hinsichtlich  der  Hauptforderung,  beide  in  einer  noso- 
logischen Einheit  jemals  verschmelzen  zu  können 2).     Schon  West- 
phal,  dem  ersten  Kliniker  im  modernen  Sinne,  war  aber  dieser  theo- 
retisierende  Standpunkt    zu   »spekulativ«').     Für   ihn    bildete    die 
klinische  ungeklärte   Übernahme  des  Terminus  Krankheit  auf  die- 
jenigen Beobachtungskomplexe,   welche  der  Kliniker  autonom  zu- 
sammenfassen zu  dürfen  glaubte,  kein  besonderes   Problem.     Und 
seitdem  ist  der  klinische  Arbeitsgesichtspunkt  ja  der  selbstverständ- 
liche,  »voraussetzungslose«  geworden,  welchem  jeder  Primat  gegen- 
über den  »Hilfswissenschaften  «  zusteht .    Und  doch  ist  die  Übernahme 
des  Krankheitsbegriffes  in  die    Psychiatrie   keine  so  einfache   und 
problemfreie  Sache.  Vielmehr  besteht  hier  genau  solch  ein  Problem  wie 
bei  allen  heterologischen  Arbeitsmaximen,  seien  sie  nun  physiologischer, 
biologischer  oder  psychologischer  Art.  Ihr  Nebeneinander  und  Durch- 
einandersoll aber  im  wissenschaftlichen  Gesamtgebäude  der  Psychiatrie 
zu  einem  Miteinander,  zu  einer  synthetischen  Einheit  werden,  in  welcher 
die  Geltungssphäre  jedes  einzelnen  dieser  Arbeitsgesichtspunkte  sich 
klar  und  scharf  umreißen  läßt*).   Dies  soll  schon  hier  betont  werden. 
Um  nun  in  unserer  Aufzählung  der  heterologischen  Erkenntnis - 
quellen  der  Psychiatrie  fortzufahren,  so  sind  endlich  auch  die  sozio- 
logischen und  die  kriminologischen  Gesichtspunkte  mit  ihren  lar- 
vierten  normativen  Stigmaten  von  einer  anderen  »Grenzwissenschaft « 
her,  also  gleichsam  von  außen,  der  Psychiatrie  zugebracht  worden 
imd  ihr  im  Kerne  wesensfremd. 


vor  ihren  maximenlosen,  ku  Unrecht  gerühmten  Gegnern  Nasse  und  Jacobi 
trat  von  philosophischer  Seite  aus  Fries  derartigen  Bestrebungen  entgegen  (Psych. 
Anthropologie.  II.  Jena  1820).  Er  erkennt  klar  die  ärztliche  Zuständigkeit  zu 
psychiatrischer  Forschung  (S.  108),  verwirft  die  »ethisch-theologische«  Wendung 
des  Krankheitsbegriffs  (S.  110)  mit  feinem  Spott,  betont  den  symptomatologischen 
Charakter  der  gefundenen  psychischen  »Krankheitseinheiten«  (S.  154ff.,  immer 
zit.  nach  der  2.  Aufl.  1837)  und  die  somatisch-pathogenetische  Basis  derselben, 
und  durchdringt  dennoch  die  psychische  Symptomatik  mit  dem  ganzen  Scharf- 
sinn des  psychologischen  Denkers. 

2)  Pathol.  u.  Therapie  der  psychischen  Krankheiten.  Braunschweig  1861,  zit, 
3.  Aufl.   1871,  I.Abschnitt. 

3)  Archiv  f.   Psychiatrie.     Bd.  I.     1868. 

^)  Es  ist  —  unter  der  Herrschaft  dieses  reinen  Klinizismus  —  noch  verständ- 
lich, wenn  z.B.  Isserlin  (Aschaffenburgs  Handbuch.  1913.  A  2.  S.  112ff.)  die 
Notwendigkeit  der  Anwendung  psychologischer  Methoden  für  die  klinische  For- 
schung nicht  ohne  weiteres  anerkennt,  sondern  zum  Problem  macht  - —  welches 
er  übrigens  naturgemäß  bejahend  löst.  Daß  aber  ein  Denker  seines  Ranges  diesen 
Primat  des  Klinizismus  selber  in  all  seiner  Verschwommenheit  zum  Angelpunkt 
seiner  Fragestellungen  zu  machen  für  selbstverständlich  und  fraglos  hält,  über- 
steigt mein  Verständnis.  Bei  Kraepelin  selber  ließe  eine  solche  Einstellung  sich 
allenfalls  begreifen  ! 


Die  jtll<4**iiiiMii(-  l'.yohiatrii'  un<l  dii-  iisythüitriKcIf  <  ••  ~  ■nttfor^' iiung.      241 

Dieses  stumme  Verlmrieii  der  Psyehiali  ic  iil>  einer  autoch- 
I  honen  VVissenscluift,  i^elit  so  weit,  tlaii  sie  selbst  auf  das  Auffinden 
eigener,  für  sie  wesensspezifisclier  wissenscliaftlit her  Möglich- 
keiten iKjinahc  verzichtet  zu  haben  scheint  und  jeden  Fortschritt 
der  Erkenntnis  lediglich  von  solchen  äuüeren  Anstößen  erwartet. 
JSo  ist  in  den  letzten  Jahrzehnten  die  Anwendung  serologischer  und 
biochemischer  Forschungen,  Ix'souders  in  der  Erkenntnis  der  endo- 
krinen Drüsenfunktionen,  gleichsam  die  neue  Zukunftslioffnung  ge- 
worden, von  der  auch  die  Psychiatrie  wissenscliaft liehen  Fortschritt 
erwartet. 

Es  wird  nicht  etwa  hier  bestritten,  daß  der  Psychiatrie  durch 
diese  Abhängigkeit  von  den  verschiedensten  heterologen  wissen- 
schaftlichen Disziplinen  allererst  wissenschaftliches  Leben.  Wachstum, 
Vertiefung  und  (Jrölie,  Einsicht  und  Fortschreiten  gewährleistet  ist. 
Diese  Abhängigkeit  als  solche  wird  hier  vielmehr  als  Faktum  be- 
hauptet und  für  die  Psychiatrie  in  ihrem  bisherigen  wissenschaft- 
lichen Oiiarakter  als  wesentlich  bezeichnet.  Die  sogenannte  spezielle 
Psychiatrie  hat  auch  niemals  mehr  sein  \vf)llen,  als  eine  praktisch 
brauchbare,  dem  jeweiligen  Stande  der  Einzclerkenntnis  entsprechende 
Darstellung  des  unter  diesen  heterologen  Ck'sichtspunkten  bearljeiteten 
Gegcbenheitsmaterials  nach  den  Kegeln  der  Klinik,  des  ärztlichen 
Tuns.  Die  forensische  Psychiatrie  wandelte  dann,  mit  meist  nicht 
einmal  sehr  viel  Talent,  die  medizinischen  Leitmaximen  in  logische 
Kompromiühildungen  zwischen  medizinischen  und  kriminologischen 
Lehrlx'griffen   um. 

Einzig  die  allgemeine  Psychiatrie  erstrebte  von  jeher  eine  sj'ste- 
matisch-sachliche  Darstellung  des  Gegebenheitsmaterials  unter  Ge- 
sichtspunkten der  Zusammenstellung  und  Ordnung,  welche  ihrerseits 
vom  praktisch-klinischen  Zweck  sich  in  gewisser  Weise  loszulösen 
suchten.  Aber  die  Gesichtspunkte  dieses  Verfahrens  blieben  auch 
dann  noch  heterologische.  So  werden  z.  B.  in  der  allgemeinen  Psy- 
chiatrie zwar  keine  Krankheitsbilder  nach  mehr  oder  weniger  groben 
Analogien  zu  körperlich-medizinischen  Krankheitsbildern  aufgestellt; 
aber  das  grundlegende  allgemeine  Problem  wissenschaftlichen  Den- 
kens, ob  und  in  welchen  verschiedenen  Bedeutungen  der  medizinisch- 
somatischo  Krankheitsbegriff  auf  die  Gegel)enheitsreihen  iler  Psy- 
chiatrie übertragbar  ist,  in  welchen  Beziehungen  Symptom  und 
Krankheit  dort  zueinander  stehen,  bildete  für  die  bisherige  allgemeine 
Psychiatrie  nicht  einmal  eine  Fragestellung.  Wie  in  der  speziellen 
Psychiatrie,  so  wurden  auch  in  der  allgemeinen  die  .Materialien  der 
Psychiatrie  gleichsam  in  ein  KeiXTtoriuni  gebracht.  Die  Drdnungs- 
gesichtspunkte  dieses  Ke)KMtt»riun\s  sind  nun  zwar  andere  als  die 
klinischen  der  speziellen  Psychiatrie,  aber  auch  sie  sind  höchst  an- 
fochtbarer Art.  Entweder  nämlich  stammen  sie  aus  einer  willkür- 
lichen, subjektiv  hypostasierten  psychophysischcn,hirnpathologij*chen. 
biologisihen  otler  normativen  Theorie,  welche  der  betreffende  Autor 
gerade  für  besonders  wichtig  hält,  sind  also  dogmatisch  und  damit 

Krunfold.  l>!<}>-hi«tri-<rh>'  Krkenntai*.  lU 


242     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

unwissenschaftlich.  Oder,  im  günstigeren  Falle,  sind  die  Ordnungs- 
gesichtspunkte der  Tatsachensammlung  wahllose,  unkritisch  über- 
nommene, ungeordnet  nebeneinander  gereihte  Maximen  jener  hete- 
rologischen Hilfsdisziplinen,  die  oben  aufgezählt  wurden.  Ihre  Funda- 
mente und  Geltung  werden  ebenso  vorausgesetzt,  wie  ihre  Übertragung 
und  Anwendung  in  der  allgemeinen  Psychiatrie  selbstverständlich  und 
problemfrei  erscheint.  Eine  systematische  Beziehung  derselben  in 
die  Form  einer  Einheit  findet  nicht  statt. 

Dies  jedoch  ist  gerade  die  Aufgabe  und  das  Problem  für  eine 
allgemeine  Psychiatrie,  welche  als  reine  Wissenschaft  auftreten  will. 
Ein  bloßes  Sammeln  aller  möglichen  heterogenen  Tatsachen  und 
Meinungen  ohne  inneres  Gesetz  und  ohne  tieferen  Sinn,  nach  irgend- 
welchen zufälligen  und  ganz  unbewiesenen  Gesichtspunkten  der  Wahl 
—  ein  Repertorium  solcher  Art  ist  überflüssig.  Es  trägt  der  wissen- 
schaftlichen Aufgabe  in  keiner  Weise  Rechnung,  welche  der  all- 
gemeinen Psychiatrie  gesetzt  ist.  Die  allgemeine  Psychiatrie  soll 
kein  Repertorium  sein,  sie  darf  dies  ruhig  der  speziellen  überlassen. 
Sie  müßte  gerade  zur  Aufgabe  haben,  die  oben  angeschnittenen  Fragen 
einer  Klärung  zuzuführen.  In  ihrer  bisherigen  Form  bleibt  die  all- 
gemeine Psychiatrie  genau  so  äußerlich  und  in  ihrer  Berechtigung  als 
Wissenschaft  unbewiesen,  wie  es  die  Repertorien  der  speziellen  Psy- 
chiatrie sind.  Die  letztere  hat  nur  wenigstens  den  praktisch  ärzt- 
lichen Zweck  zur  Begründung  ihres  Verfahrens  für  sich;  sie  ist  an- 
gewandte Wissenschaft:  die  allgemeine  Psychiatrie  soll  strenge 
Wissenschaft  sein^). 

Die  allgemeine  Psychiatrie,  wie  sie  sein  müßte  und  zu 
fordern  ist,  hat  den  wissenschaftlichen  Charakter  psy- 
chiatrischer Forschung  darzutun,  zu  beschreiben,  zu 
rechtfertigen,  zu  begründen  und  zu  begrenzen.  Nicht  auf 
die  systematisch  sachliche  Tatsachensammlung  läuft  sie 
hinaus,  sondern  auf  die  methodische  und  theoretische 
Sicherung  einer  solchen  Tatsachensammlung  als  einer 
Ordnung  und  Wissenschaft,  die  dann  in  der  speziellen 
und  klinischen  Psychiatrie  ihre  Anwendung  und  Bewäh- 
rung findet.  Sie  hat  in  diesem  Sinne  Logik  und  Theorie 
der  Psychiatrie  überhaupt  zu  sein   und  zu  enthalten. 

Der  theoretische  Charakter  der  allgemeinen  Psychiatrie. 

Wir  haben  gesagt,  es  sei  die  Aufgabe  der  allgemeinen  Psychiatrie, 
die  Logik  und  Theorie  der  Psychiatrie  überhaupt  zu  begründen  und 
zu  entwickeln. 

Dieses  Postulat  gilt  für  jeden  Fall,  auch  für  den  —  logisch  immer- 


1)  Lediglich  der  geistvolle  He  11p ach  empfand  die  hier  bestehende  Aporie 
und  suchte  ihr  in  seiner  Weise  abzuhelfen.  Vgl.  Hellpach,  Grundgedanken  zur 
Wissenschaftslehre  der  Psychopathologie.  I.  Archiv  f.  d.  ges.  Psychologie.  VII. 
S.  143—226. 


Der  theorctiaclic  Charakter  der  allgcineiuen  l'Kychiatrie.  243 

lun  dtMjkbtUfii  — ,  duü  oino  Psychiatrie  ul.s  Wissenschaft  sich  al*  iin- 
iiiöglidi,  als  imrealisierbar  erweisen  soihe.  Ein  solclier  Nachweis 
könnte  nnr  auf  CJrund  der  Ergebnisse  der  geforderten  Untersuchungen 
über  den  Wissenschaftscliarakter  der  Psycliiatrie  erbracht  werden. 
Auch  zu  seiner  Erbringung  also  werden  derartige  Untersuchungen 
bereits  vorausgesetzt , 

Ebenso  gilt  unser  Postulat  auch  dann,  wenn  zwar  nicht  der  Wissen- 
schaftscharakter der  Psychiatrie  überhaupt,  wohl  aljcr  ihre  Möglich- 
keit als  autüchthone  Wissenschaft,  als  Wissenschaft  eigenen  Wesens, 
eigener  Fundamente,  Methodik  und  Struktur  in  Frage  steht  und  zum 
Problem  gemacht  wird.  Dieses  Problem  besteht  de  facto,  und  es 
besteht  auch  zu  Recht.  Ihm  ist  ein  großer  Teil  der  folgenden  Unter- 
suchungen gewidmet.  Es  könnte  nun  dieses  Problem  verneinend 
entschieden  werden;  aber  auch  dann  ist  es  notwendig,  die  Möglich- 
keiten, die  Tragweite  und  die  Grenzen  der  Anwendung  anderer  Wissen- 
schaften, ihrer  Fundamente,  Maximen  und  Metiioden  in  der  Psy- 
chiatrie wissenschaftlich  zu  untersuchen  und  ihr  gegenseitiges  Ver- 
hältnis, ihre  Ordnung  und  Rangordnung  in  der  Einheit  des  psychia- 
trischen Materialgebietes  logisch  und  theoretiscii  darzutun.  In 
diesem  Sinne  hat  jede  allgemeine  Psychiatrie  theoretische 
Psychiatrie  zu  sein  —  oder  sie  wird  eine  unwesentliche  Zusammen- 
stellung von  Tatsachen,  deren  wissenschaftliche  Dignität  und  Be- 
deutsamkeit dogmatisch  hingenommen,  ungeklärt  belassen  oder 
heteronom  begründet  erscheint. 

Indem  wir  diese  Aufgabe  einer  allgemeinen  Psychiatrie  als  theo- 
retischer Psycliiatrie,  als  Klärung  der  Grundlagen  und  Möglichkeiten 
der  Psychiatrie  als  Wissenschaft,  behaupten,  sind  wir  uns  bewußt, 
daß  die  Mehrzahl  der  Psychiater  selber  eine  derartige  Aufgabestcllung 
so  grundlegender  Art  mit  erstauntem  Mißtrauen,  ja  mit  Widerstreben 
hinnehmen  wird.  Der  Begriff  des  Theoretischen  in  der  Psychiatrie 
ist  mit  einem  gewissen  Odium  behaftet.  Theoretische  Untersuchungen 
gelten  als  unzeitgemäß,  ja,  als  bedenkliche  Verirrungen.  Und  das  ist 
nach  mancherlei  schlechten  Erfahrungen  gerade  in  der  Psychiatrie 
nicht  frei  von  einer  gewissen  Berechtigung.  Sogleich  wird  sich  daher 
auch  diesmal  woiil  der  Einwand  erheben,  was  wohl  theoretische  Er- 
örterungen zu  bedeuten  haben  und  nützen  können  gegenüber  einer 
im  äußersten  Fortschritt  Ijcgriffenen,  mit  allen  Mitteln  moderner 
Forschung  arbeitenden  praktischen  Disziplin.  War  doch  bisher 
psychiatrische  Theorie  meist  nicht  viel  anderes  als  ein  zweckloses 
Schwelgen  in  unerfreulichen  Terminologien  ohne  Wert  für  den  Fort- 
schritt dos  Erkennons.  Ja  diese  Theorien  haben  vielfach  gerade  den 
wahren  Fortschritt  der  Psychiatrie  —  den  ihr  erst  die  Anwendung 
und  der  Ausbau  naturwissenschaftlicher  Verfahrensweisen  gebracht 
haben,  in  der  älteren  Ära  der  psychiatrischen  Forschung  lange  Jahr- 
zehnte hintangehalten,  bis  Griesinger  als  erster  Psychiatrie  auf  die 
moderne  praktisch-klinische  Basis  zu  stellen  vermochte.  Vielleicht 
wird  mancher  Forscher  in  dem  bloßen  Versuch  einer  Wiedereinführiuig 

16» 


244      Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

theoretischer  Bestimmungen  und  Besinnungen  in  die  Psychiatrie 
bereits  ein  erneutes  Auftauchen  des  seit  jener  Ära  erloschenen  An- 
spruchs befürchten,  den  die  Geisteswissenschaft  mit  Kanti)  an  die 
Seelenkrankheitskunde  gestellt  hatte  und  der  sie  nur  in  Irrweg  und 
Gestrüpp  festhielt,  bis  große  Naturforscher  sie  mühsam  befreiten. 

So  ist  vorauszusehen,  daß  die  Mehrzahl  der  Forscher  die  hier  ge- 
stellte Aufgabe  einer  allgemeinen  Psychiatrie  als  theoretischer 
Grundlegung  der  Psychiatrie  als  Wissenschaft  nur  wie  ein 
abseitiges  Kuriosum  betrachten  wird.  Sie  wird  zu  ihren  Mikroskopen 
und  Meerschweinchen,  zu  ihren  Ergostaten  und  rotierenden  Trommeln, 
zu  der  erprobten  klinischen  Empirie  der  gerade  beliebten  Schule 
zurückkehren.  Das  läßt  sich  nicht  ändern.  Der  Anspruch  aber 
der  Probleme  selber  aber  bleibt  bestehen;  sie  lassen  sich 
nichts  abdingen. 

Das  Odium  alles  Theoretischen  in  unserer  Wissenschaft  erfordert 
von  vornherein  die  Abwehr  von  Mißverständnissen  gegenüber  unserer 
Aufgabenstellung.  Und  so  sei  sogleich  betont :  die  Aufgabe  von  Unter- 
suchungen zur  allgemeinen  Psychiatrie  kann  und  soll  es  nicht  sein, 
der  Fülle  dogmatischer  Theorien  des  Psychischen  oder  des  Psycho- 
tischen eine  »bessere«  oder  »richtigere«  hinzufügen.  Den  Unwert 
aller  derartiger  Theorien  sollen  und  werden  sie  vielmehr  klar  erweisen. 
Ebenso  beabsichtigen  sie  nicht,  Psychiatrie  als  Naturwissenschaft 
und  ihre  verschiedenen  so  erfolgreichen  Verfahrensweisen  in  ihrem 
Werte  herabzusetzen,  oder  den  Anspruch  dieser  Verfahrensweisen  an 
die  Bearbeitung  psychiatrischer  Probleme  irgendwie,  sei  es  grund- 
sätzlich oder  im  einzelnen,  auch  nur  im  mindesten  einzuschränken 
oder  anzuzweifeln.  Aber  allerdings  gehen  sie  von  der  Überzeugung 
aus,  daß  die  systemlose  und  unkritische  Anwendung  jener  Methoden 
trotz  aller  durch  sie  erzielten  Einzelergebnisse  nicht  genügt,  um 
Psychiatrie  aus  dem  Stande  bloßen  Wissens  in  den  der 
Wissenschaft  zu  erheben.    Und  sie  sehen  in  dieser  Ordnung  der 

1)  Die  berühmte  Stelle  (Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht.  1799. 
S.  152ff.)  ist  übrigens  nicht  so  radikal  in  dieser  Hinsicht,  als  die  medizinischen 
und  psychiatrischen  Zitatoren  sie  auffassen.  Sie  enthält  sogar  ein  Gran  attischen 
Salzes,  das  noch  heute  nicht  taub  geworden  ist.  Sie  lautet  in  ihrem  vollständigen 
Zusammenhang:  »Wenn  jemand  vorsetzlich  ein  Unglück  angerichtet  hat  und  .  .  . 
ausgemacht  werden  muß,  ob  er  damals  verrückt  gewesen  sey  oder  nicht,  so  kann 
das  Gericht  ihn  nicht  an  die  medizinische,  sondern  müßte  ihn  an  die  philosophische 
Facultät  verweisen.  Dann  die  Frage:  ob  der  Angeklagte  bey  seiner  Tat  im  Besitz 
seines  natürlichen  Verstandes-  und  Beurteilungsvermögens  gewesen  sey,  ist 
gänzlich  psychologisch  und,  obgleich  körperliche  Verschrobenheit  der  Seelen- 
organen vielleicht  wohl  bisweilen  die  Ursache  einer  unnatürlichen  Übertretung 
des  (jedem  Menschen  beywohnenden)  Pflichtgesetzes  seyn  möchte,  so  sind  die 
Aerzte  und  Physiologen  überhaupt  doch  noch  nicht  so  weit,  um  das  Maschinen- 
wesen im  Menschen  so  tief  einzusehen,  daß  sie  die  Anwandlung  zu  einer  solchen 
Gräueltat  daraus  erklären,  oder  ...  sie  vorher  sehen  könnten  .  .  . «  Kant  vermißt 
also  die  Erkenntnis  der  somatisch-pathogenetischen  Basis  psychischer  Krank- 
heiten bei  den  Medizinern,  und  innerhalb  der  rein  psychologischen  Sphäre  durch- 
schaut er  klar  das  Metaphorische  des  Krankheitsbegriffes.  So  kommt  er  zu  seiner 
Stellungnahme. 


Arguuu-iite  für  d.  [iinki.  .\uU.iii  lin.uitl.  Liilti.-jin.ii.  i.  d.  ullg.  i'.sy<  luairi"  .      240 

disjecta  meinbni  unseres  W'isseii.s  zu  einer  sy.ste  ni:it  ischen  Kin- 
lieit,  die  ilire  Kechtsgründo  und  ihren  Aufbau  in  »ich 
aelber  zu  rechtfertigen  vermag,  einen  wesentlichen  Fortschritt 
dos  Erkeiniens  für  unsere  Wissenschaft  nicht  weniger  als  für  alle 
Einzelwissenschaften. 

Hierin  erblicken  sie  iiue  Aufgabe,  und  diese  ist  metliodologischer, 
logischer  und  theoretischer  Xatur. 

Argumente  für  den   praktischen  Nutzen  theoretischer 
Untersuchungen  in  der  allgemeinen  Psychiatrie. 

Dem  Zweifel  an  der  Zweckmäßigkeit  einer  Untersuchung,  wie  sie 
hier  in  Angriff  genommen  wird,  möchten  wir  noch  weiter  entgegen- 
kommen. Bevor  wir  die  immanente  Notwendigkeit  der  In- 
angriffnahme des  uns  gestellten  Problemgebietes  dartun  und  so  den 
kritischen  Zugang  zu  seiner  Lösung  erarbeiten,  möchten  wii;  gerade 
den  praktischen  Zwcckgcsichtspunkt  solcher  Arbeit  betonen. 
Kv  ergibt  sich  zwanglos  aus  einem  kurzen  Rundblick  ülx?r  die  gegen- 
wärtige Lage  der  psychiatrischen  Forschung,  so  wie  er  an  früherer 
»Stelle  dieses  Buches  gegeben  wurde  ^);  und  die  aus  ihr  hervorgehende, 
offen  zutage  liegende  Zweckmäßigkeit  eines  solchen  theoretischen 
l^instellungsversuches  auf  die  in  der  Psychiatrie  wesentlichen  Fragen 
dient  als  vorläufige  Argumentatio  ad  hominem  für  die 
Nützlichkeit  dieses  Unterfangens.  Es  wird  hierzu  kein  Ge- 
sichtspunkt benötigt,  der  nicht  in  gewöhnlichen  Tagesgesprächen  der 
Psychiatrie  immer  wieder  zutage  träte. 

Da  ist  zunächst  die  nicht  aus  der  Welt  zu  schaffende  Tatsache, 
daß  die  gegenwärtig  geübten  Bearbeitungsweisen  unseres  Gebietes 
zurzeit  nicht  gerade  von  glänzenden  Erfolgen  gekrönt  zu  sein  scheinen. 
Dies  Urteil  soll  wahrhaftig  nicht  den  gewaltigen  Fortschritt  ver- 
kleinern, den  die  Menschlichkeit  und  Fürsorge  des  Arztes  in  der  Be- 
handlung und  Pflege  der  Geisteskranken  innerhalb  woniger  Gene- 
lationcn  geschaffen  hat,  und  den  uns  neuerdings  Krn^'pelin-)  wieder 
vor  Augen  gestellt  hat.  Noch  weniger  entspringt  diese  Meinung  aus 
einem  Mangel  an  Kenntnis  oder  Achtung  des  wissenschaftlichen 
Gebäudes,  welches  unsere  großen  Forschor  aus  den  Bausteinen  der 
Histopathologie  und  Lokalisationslehre,  der  Biologie,  Serologie  und 
Chemie,  der  Psychologie  und  des  klinischen  Erfahrungsreichtums 
zusammongemauert  haben.  Daß  diese  Bearbeitungsweisen  der 
Psychiatrie  notwendig  und  wesentlich  zu  eigen  sind  und  die  Träger 
und  Grundmauern  ihier  bisherigen  Erfolge,  dies  zu  leugnen  wäre 
verbohrt,  es  dankbar  anzuerkennen  und  sich  in  praktischer  Eigen- 
arbeit dieser  Wege  zu  bedienen,  ist  selbstverständlich.  Was  aber 
das  wissenschaftliche  Ganze  der  Psychiatrie  und  den  Fortschritt  des 


>)  Vgl.:  Ein  Rundblick  übrr  dt>n  gegenwärtigen  Stand  iimv.     S.  i»7ff. 
2)  Hundert  Juhre  Psychifttrio.    1918. 


246     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

Erkennens  darin  anbetrifft,  so  besteht  in  ihrem  gegenwärtigen  Stande 
ikein  sichtbarer  Ausweg  vor  der  beklemmenden  Tatsache,  daß  diese 
genannten  Methoden  sich  allmählich  in  der  Fülle  ihrer  Ergiebigkeit 
zu  erschöpfen  drohen,  daß  eine  gewisse  Sterilität  der  Forschung 
herannaht,  die  in  einem  oft  schwer  empfundenen  Mißverhältnis  zu 
der  Fülle,  der  Mühseligkeit,  dem  Scharfsinn  und  der  Selbstlosigkeit 
der  geleisteten  Arbeit  steht.  Und  was  bedenklicher  ist  —  es  ist  nach 
Lage  der  Sache  auf  absehbare  Zeit  hierin  keine  wesentliche  Änderung 
zu  erwarten.  Um  zu  einem  solchen  Schlüsse  zu  kommen,  ist  es  freilich 
geboten,  den  Blick  nur  auf  grundsätzliche  Errungenschaften  zu 
richten,  sich  aber  nicht  täuschen  zu  lassen  durch  die  wohl  zu  er- 
wartenden Einzelergebnisse  im  Fluß  befindlicher  Forschungsweisen, 
welche  grundlegend  Neues,  Weiterführendes  nicht  aus  sich  zu  er- 
zeugen vermögen.  Wie  sich  dieser  Stand  unseres  erkenntnismäßigen 
Fortschreitens  in  unserer  Disziplin  ändern  ließe,  darüber  sind  uns  nur 
unsichere  Zukunftsvermutungen  möglich.  Immer  liegen  diese  Aus- 
sichten gleichsam  auf  Nebenkriegsschauplätzen;  immer  wirken  sie 
als  äußere  Ausflüsse  fremder  Disziplinen.  Die  Psychiatrie  selber 
muß  sich  tatlos  gedulden,  bis  vielleicht  die  physikalische  Chemie 
und  chemische  Biologie  der  inneren  Sekretion  zii  grundlegenden 
neueren  Entwickelungen  gelangt,  die  dann  auch  auf  unsere  Disziplin 
anwendbar  wären.  Kurzum  fremde  Hilfswissenschaften  sind  es, 
auf  die  wir  zur  Legung  neuer  Wege  und  zur  Urbarmachung  von 
Neuland  hilflos  angewiesen  zu  bleiben  scheinen.  Erst  wenn  sie  dazu 
führen  sollten,  uns  etwa  die  Befunde  der  Morphologie  des  Zentral- 
nervensystems biologisch  oder  physikalisch  chemisch  begreifen  zu 
lassen,  rücken  auch  wir  wieder  einen  Schritt  vorwärts.  Von  allem 
dem  war  schon  an  früherer  Stelle  ausführlich  die  Rede;  und  bereits 
dort  hat  es  uns  zu  der  Frage  geführt :  soll  die  Psychiatrie  in  tatloser 
Abhängigkeit  auf  diesen  Tag  warten,  und  bis  dahin  Kärrnerarbeit 
zu  ihrem  alleinigen  Gegenstande  machen? 

Wer  diese  Frage  bejaht,  für  den  besteht  das  Problem  nicht,  ob 
Psychiatrie  als  autologe  Wissenschaft  möglich  und  gefordert  ist. 
Dies  wäre  nun  an  sich  noch  nicht  unstatthaft ;  denn  eine  dahin  zielende 
Untersuchung  könnte  ja  zu  dem  Ergebnis  führen,  daß  die  Möglichkeit 
der  'Psychiatrie  als  Sonderwissenschaft  zu  verneinen  wäre.  Ge- 
wöhnlich aber  enthält  die  Bejahung  unserer  Frage  noch  etwas  anderes, 
nämlich  das  Bekenntnis  zu  der  Überzeugung,  daß  die  einzige  wissen- 
schaftliche Möglichkeit  für  die  Psychiatrie  von  der  Seite  der  phy- 
sischen Forschung  her  zu  erwarten  sei  und  sein  dürfe.  Nun  wissen 
wir  ja,  daß  die  Sonderstellung  der  Psychiatrie,  welche  ihre  Eigenart, 
ihre  Schwierigkeiten  und  ihr  wissenschaftliches  Zurückbleiben  hinter 
anderen  Forschungsweisen  bedingt,  auf  der  Tatsache  beruht,  daß 
ihr  physische  und  psychische  Gegebenheiten  gleichzeitig  als 
Material  und  Ausgangspunkt  dienen.  Die  Inkommensurabilität 
dieser  beiden  Gegebenheitsreihen  scheint  es  mit  prinzipieller  Not- 
wendigkeit  verhindern  zu  müssen,   das  Wissen   von  ihrem  Neben- 


Abwehr  d.  AusdchließLchkeit  somatolog.  EmstcUung  i.  d.  allg.  l'Hjchiatric.     247 

einander  und  Mitc-iiinnder  in  die  Form  einer  ülK-rgeordneton  wisHen- 
8cliaftlichen  Kinlu-it  zu  bringen,  deren  Inliulte  exakt  Ije.stiniinbar 
wären.  Jedocli  wenn  wir  auch  das  Verhältnis  des  P.sychi.sclien  und 
Pliyaischen  nicht  zum  Range  exakt  bestimmbarer  Erkenntnis  zu 
erheben  vermögen,  so  folgt  daraus  noch  nicht,  daß  nicht  dennoch 
eine  wissenschaftliche  Disziplin  systematisch  einheitlicher  Art  möglich 
wäre,  die  beiden  (Jegebenheitsreiiien  in  logisch  adäquater  Weise  gleich 
gerecht  zu  werden  vennöi-hte.  Man  hat  hiernach  nur  nicht 
genügend  gesucht.  Man  hat  sich  an  das  Greifbare  gehalten  aus 
Bequemlichkeit  oder  Resignation:  und  dies  Greifbare,  dessen  Durch- 
führung den  naheliegenden  Erfolg  verhieß,  das  methodisch  und  sach- 
lich leichter  durchführbar  war,  bestand  eben  in  der  Bcarlxjitung  der 
quantifizierbaren,  extensiven,  durch  immer  zu  wiederholende  Ver- 
anschaulichung kontrollierbaren  pliysischen  Gegebenheitsreihe.  Na- 
türlich ist  die  somatologisclio  Forschung  in  der  Psychiatrie  von  un- 
geheurer Bedeutsamkeit.  Maß  und  Tragweite  dersellx-n  bilden  aber 
ein  wissenschaftskritisches  Problem.  Für  die  praktische  Arbeit 
braucht  dieses  Problem  freilich  nicht  zu  bestehen.  Und  selbst  gegen 
die  Ausschließlichkeit  somatologischer  Forschungsgesichtspunktc  in 
der  Psychiatrie  wäre  nichts  einzuwenden,  selbst  wenn  es  sich  um  das 
wissenschaftliche  Ganze  der  Psychiatrie  und  ilirer  künftigen  psycho- 
physischen  Systemeinheit  handelt  —  mag  diese  auch  in  ein  unlicht - 
bares  Dunkel  gehüllt  sein  —  wofern  nur  bei  allen  Forschern  die  klare 
Erkenntnis  besteht,  daß  die  somatologische  Orientierung  nur 
ein  vorläufiger  heuristischer  Arbeitsgesichtspunkt  wäre 
und  nicht  zum  systematischen  Dogma  erstarrt.  Jeder  Er- 
folg spräche  für  Recht  und  Bedeutung  dieses  Arbeitsgesichtspunktes. 


Abwehr    der  Ausschlicßlichkeit    somatologisclxer   Einstel- 
lung in  der  allgemeinen   Psychiatrie. 

a)  Vom  Standjpunkte  der  Psychologie  aus. 

Dem  ist  aber  nicht  so.  Für  viele  einflußreiche  Forscher  ist  der 
fomatologische  Gesichtspunkt  in  der  Psychiatrie  keine  praktische 
Arbeitsmaxime,  sondern  eine  unerschütterliche  Grundülxjrzeugung*). 
»Schon  die  Einstellung  auf  diejenigen  Disziplinen,  von  deren  eigenen 
Fortschritten  die  Psychiatrie  in  ihrem  künftigen  Ausbau  vorhin  als 


*)  E.s  wird  oft  go.s»igt,  dio.sor  Staiuli>unkt  soi  »längst  üborwundon «.  Dem  ist 
aber  irrig.  So  bezeichnrt  noch  giinz  lu-iiordingH  .lu.st.schenko  sein  Roportoriun« 
binlogiseh-cheiniseher  l'nt<Tsuehungfn  in  der  l'syehiiitrie  mit  dem  Titel:  »Das 
Wesen  «Irr  (Icistrskrankheiten «,  und  sehreibt:  »Der  tJnindgedanke  der  Vor- 
lesungen ist  dt-r,  daß  di-m  Wesen  der  (JeisteMrkrankungen  Stömngen  des  Stoff- 
weehsels.  Krseheinungen  der  S«'lbstvergiftung  und  aiuiero  Stünmgen  der  bio- 
chemis«^'hen  l*n)zesse  zugninde  liegen«  (Dn'S«len  n.  L<'ipzig  11)18).  Sieht  er  denn 
nieht,  daß,  wenn  sieh  Dcrartigrs  naehweis«'n  läßt,  die  Probleme  der  Psychiatrie 
nicht  gelost  sind,  sondern  die  Fragen  nach  dem  Wesen  der  Goistesstörungfn  en«-t 
in  ihrer  ganzen  Schwere  beginnen? 


248     Prolegomena  zur  c^Ugemeiiien  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

abhängig   dargestellt   wurde,    schon   diese  Einstellung   beweist   das. 
Indes  wäre  dies  nur  ein  Irrtum  von  Personen;  und  er  brauchte  die 
nützliche  Arbeit  nicht  zii  stören  und  zu  hemmen.     Schwieriger  und 
bedenklicher  ist  aber  das  tatsächliche  Hemmnis,  welches  der  Ps}^- 
chiatrie  als   Ganzem  aus  ihrer  Unterstellung  unter  somatologische 
Gesichtspunkte   und   Problemstellungen   allmählich  erwuchs.     Miii- 
destens  sollte  man  erwarten,  daß  die  heterologische  Kausalisieruug 
des  Psychischen  durch  das  Somatische  —  wenn  dies  das  letzte  Ziel 
somatologischer  Ordnung  in  der  Psychiatrie  sein  soll  —  erst  in  An- 
griff genommen  werden  darf  und  kann,    Avenn  das  seelische  Ge- 
schehen   seinerseits    so    autologisch    durchgearbeitet    ist, 
daß  es  überall  bis  auf  seine  letzten,  autologisch  irreduziblen  Eigen- 
charaktere   zurückführbar    geworden    ist.      Außerdem    müssen    alle 
Zusammenhänge,     Koordinationen    und    Abhängigkeiten    des    zere- 
bralen Systems  in  ihrer  morphologischen  und  funktionellen  Eigen- 
gesetzlichkeit bekannt  und  systematisiert  sein.     Erst  dann  kann 
iuit  wissenschaftlicher  Sicherheit  der  Versuch  gemacht  werden,  diese 
systematischen  Erkenntnisse  zu  dominierenden  zu  machen  und  den 
psychischen   überzuordnen.     Was   geschieht   aber   an   Stelle   dessen 
tatsächlich  ?     Man  geht  in  einseitiger  Weise,  ohne  sich  um  das  psy- 
chische Material  mehr  als  ganz  oberflächlich  zu  kümmern,  vom  ana- 
tomischen Präparat  aus;  und  zwar  mit  Vorliebe  vom  bequemen,  zu 
groben    Analogieschlüssen    verlockenden,    nivellierenden    Markfaser- 
bild.    Von  der  Forschung  in  diesen  Gebieten   bis    zu  der  dadurch 
nahegelegten    Übernahme    von   Konzeptionen   aus    der    Physik,    der 
Elektrizitätslehre,  ist  nur  etwas  Veranschaulichungsbedürfnis  nötig. 
»Verbindung«,  »Zentrum«,  »Hemmung«,  »Bahnen «und  »Leitungen«, 
»Widerstand«  usw.!     Diese  ursprünglich  analogisch  gebildeten  Leit- 
vorstellungen werden  im  anatomisch  physiologischen  Erkennen  bald 
als  ernsthafte   Realitäten  bewertet;    und  zu   deren  weiterer    Über- 
tragung auf  das  als  abhängig  gedachte  Seelische  ist  nur  ein  kleiner 
Schritt.    Seelisches  verknüpft  sich  ja  auch  miteinander:  warum  sollen 
nicht  die  morphologischen  Verknüpfungen  auch  die  psychologischen 
darstellen?     Letztere  werden  dann  also  anschaulich-morphologisch 
beschreibbar,  und  das  Seelische  selbst  muß  dann  in  dem  »verbundenen  « 
Hirnteilen,    den   Assoziationsfeldern    »sitzen«.      Die   Lehre   von   der 
sensomotorischen  Projektion  und  ihr  Erfolg  wird  diesem  Verfahren 
zur  mächtigen  Stütze.    Es  fehlt  nur  die  Aufforderung,  die  verschiede- 
nen  Zelltypen  ordentlich  auf  das   Psychische    »in«  ihnen  durchzu- 
suchen!     Natürlich  wird  diese  Forderung  nicht  mit  solcher  Drastik 
ausgesprochen;  tatsächlich  aber  wird  selbst  heute  noch  oftmals,  mehr 
oder  weniger  naiv,  nach  ihrer  Erfüllung  gestrebt.    Von  allen  Einzel- 
fehlern abgesehen  hat  dieses  Verfahren  einen  grundsätzlichen  Mangel: 
die  Eigenstruktur    psychischen  Geschehens    bleibt    außer 
Spiel.     Sein  Ablaufen   erfolgt   nicht   nach  eigenem  Gesetz, 
sondern    als    das     zufällige    Produkt    einer    vorgestellten 
physiologischen  assoziativen  Dynamik;  es  wird  zu  dem  toten 


Abwehr  d.  Ausschlioßlichkfit  somatolug.  Einstellung  i.  d.  allg.  l*hy<  iimiri<-.     24'J 

Mechanismus  eines  iiithl  durch  sich  selbst  Ixjdingten  \acheinanders; 
damit  wird  der  Reichtum  seiner  Inhalte,  Formen  und  Strukturen 
völlig  wesenlos  und  gleichgültig;  zu  seinem  Verständnis  genügt  da» 
dieser  Hirnphysiologio  entlehnte  roho  Schema.  Wobei  diese  Art  von 
Hirnphysiologio  nur  vergißt,  daß  sie  ihr  P^igengesetz  wiederum  erst 
aus  der  Ix'liro  vom  Bau  elektrischer  Telefone  entlehnt  hat!  Das 
Psychische  besteht  dann  aus  Klementarteilen,  die  man  nach  ihrer 
physiologisch  angenommenen  Topik  ganz  willkürlich  herausabstrahieri 
und  als  gleich  setzt.  Und  diese  sind  verbunden  —  nicht  auf  Grund  ihres 
psychischen  Soseins  und  Bedoutens,  sondern  auf  Grund  der  dynami- 
schen Aktualität  jener  angeblichen  hirnphysiologischen  Verbindungen. 
Durcli  diese  allein  entstehen  die  psychischen  Inhalte  und  Gebilde.  So 
wird  das  Seelische  zum  wesenlo.^ien  Epij)hünonien  ukateriellei  Abläufe. 

Diese  heterologische  Vereinfachung  des  Seelischen  ist  aber 
keine  Wissenschaft,  sondern  das  Zerrbild  einer  solchen. 
Das  psychische  Problemgebiet  wird  nicht  geklärt,  sondern  verge- 
waltigt, in  dürre  Schenuitismen  hineingepreßt  und  besten  Falles 
völlig  unbestimmt  gelassen.  Dieser  Vergewaltigung  alx'r  macht  sich 
keineswegs  nur  der  »rohe«  und  dogmatische  Assoziationspsychologe 
schuldig.  Auch  wer  als  Tribut  besserer  eigener  psychologischer 
Einsicht  etwa  den  Apperzeptionsbegriff  mit  in  sein  Schema  auf- 
nimmt, schließt  nur  ein  Kompromiß,  in  der  Hoffnung,  auch  dieser 
werde  sich  wohl  noch  physiologisch  interpretieren  und  unterbringen 
lassen.  Ja,  ein  Forscher  wie  Berze  hat  es  jüngst  sogar  fertig  ge- 
bracht, die  Intentionalität,  diesen  Grundbegriff  phänomenologischer 
Analyse  des  seelischen  Geschehens,  infolge  davon,  daß  er  diese  Ana- 
lyse und  diesen  Begriff  nicht  völlig  richtig  verwertet  hat,  mit  Hilfe 
von  unbeabsichtigten  Bedeutungsverschiebungen  und  Verwaschungen 
lokalisatorisch  zu  plazieren  und  mit  dem  alten  Schema  zu  verbinden!*) 

Man  würde  das  alles  noch  erträglich  finden,  wenn  man  damit 
nur  weiter  käme!  Nun  aber  haben  wir  uns  aber  bei  unserem  früheren 
Rundblick  davon  ül:)erzeugen  müssen,  daß  selbst  mit  dieser  Fülle 
von  gewissensbedrückenden  Konzessionen  an  die  Somatologie  eine 
Periode  der  Stockung  einzutreten  droht,  daß  wir  trotz  konsequenter 
Durchfüiirung  jener  Leitideen  am  Gestade  unbekannten  Meeres  zu 
verweilen  gezwungen  sind  ohne  ein  weiterführendes  Schiff. 

Fortsetzung  der  Argumentation. 
b)   Vom  St  and  ]) unkt   der  Klinik  aus. 

Eine  ähnliche  Erwägung  gegen  die  Ausschließlichkeit  somato- 
logischer  Forschungseinstellung  läßt  sich  auch,  noch  bevor  überhaupt 
theoretische   und   psychologische  Fragestellungen   entschieden   sind, 

')  Die  Insuffizienz  der  j).«ychisehon  Aktivität.  U)\4.  S.  l^^9if.  Wiliens-xtörungen 
eind  danach  »eine  Hyiwfunktion  des  subkortikalen  Tonu.xzentrums«;  dort  rt^iicrt 
eich  »der  Tonus  der  intentionalen  Spbän*,  der  Bewußtseinstonus«. 


250     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

aus  der  klinischen  Praxis  heraus  führen.  Und  es  ist  uns  hier 
eine  erfreuHche  Stütze,  daß  diese  Erwägung  gerade  in  neuerer  Zeit 
von  Meistern  der  klinischen  Forschung  selber  des  öfteren  angestellt 
worden  ist.  Keiner  hat  sie  wohl  geistvoller  und  zwingender  und 
zugleich  früher  durchgeführt  als  vor  einem  Menschenalter  Rieger i). 
Und  wir  können  nichts  besseres  tun,  als  seine  Ausführung  einfach 
zu  der  unsrigen  zu  machen.  Rieger  spricht  von  abnormen  Seelen- 
zuständen  im  allgemeinen  und  sagt :  »Die  Versuche,  solche  abnormen 
Zustände  .  .  .  physiologisch  und  streng  naturwissenschaftlich  durch 
ein  Zurückgehen  auf  .  .  .  Veränderungen  im  Gehirn  zu  erklären, 
sind  wertlos  und  bisher  stets  mißlungen.  Wollten  wir  z.  B.  die  jeder 
direkten  Stütze  entbehrende  theoretische  Annahme  machen,  das 
Bedingende  seien*  hier  Zirkulationsstörungen  im  Gehirn,  etwa  teil- 
weise Blutleere,  so  würde  ixns  das  zur  Förderung  unseres  Verständ- 
nisses der  Symptome  gar  nicht  helfen.  Denn  wir  wissen  nichts  kon- 
stantes und  zuverlässiges  darüber,  was  die  Anämie  des  Gehirns  für 
psychologische  Symptome  hervorruft.  Dürften  wir  uns  .  .  .  auf 
einen  physiologischen  Standpunkt  stellen,  so  müßte  der  Satz  auch 
umgekehrt  werden  und  wir  müßten  die  Behauptung  vertreten  können, 
daß,  wie  die  und  die  Prozedur  Anämie  des  Gehirns  und  damit  die  und 
die  Symptome  hervorruft,  so  nun  auch  eine  aus  ganz  anderen  Ursachen, 
etwa  starkem  Blutverluste,  hervorgegangene  Anämie  des  Hirnes  die 
gleichen  Symptome  hervorruft.  Hiervon  kann  aber  nach  irren- 
ärztlicher Erfahrung  nicht  im  entferntesten  die  Rede  sein.  Wir 
können  bei  Betrachtung  solcher  Zustände  uns  nicht  auf  den  Stand- 
punkt derjenigen  Anschauung  stellen,  nach  der  wir  zu  begreifen 
suchen,  wie  aus  sichtbaren  Veränderungen  im  Hirn  veränderte  psy- 
chische Symptome  hervorgehen  müssen.  Selbst  diejenigen  Geistes- 
krankheiten, in  denen  wir  auf  Grund  reicher  Erfahrungen  den  patho- 
logisch-anatomischen Standpunkt  zum  maßgebenden  machen  dürfen, 
gestatten  uns  durchaus  keine  befriedigende  Einsicht  in  den  Zusammen- 
hang desjenigen,  was  wir  am  Hirn  der  Leiche  beobachten,  mit  den 
Symptomen,  die  der  betreffende  Kranke  während  des  Lebens  ge- 
boten hatte.«  Rieger  weist  auf  das  Beispiel  der  Paralyse  hin,  bei 
welcher  ein  annähernd  konstanter  morphologischer  Hirnbefund  von 
den  mannigfaltigsten  psychischen  Syndromen  begleitet  sein  kann. 
Er  fährt  dann  fort :  »Während  aufs  Entschiedenste  verlangt  werden 
muß,  daß  dem  anatomischen  Standpunkt  da  stets  Rechnung  ge-, 
tragen  wird,  wo  wir  eine  solide,  erfahrungsgemäße  und  naturwissen- 
schaftliche Basis  für  ihn  haben,  so  ist  andererseits  aufs  entschiedenste 
dagegen  Verwahrung  einzulegen,  daß  man  bloß  auf  ganz  schwa- 
chen Analogien  sinnlich  wahrnehmbare  Veränderungen 
da  theoretisch  postuliert,  wo  sie  unsere  Sinne  uns  noch 
nie  gezeigt  haben.  Es  ist  absolut  wertloses  Gerede,  wenn 
man    glaubt,    die    Zustände   mancher   Verrückter   dadurch   klar   zu 


1)  Rieger,  Der  Hypnotismiis.     1881.    S.  37— 48 ff. 


Abwehr  d.  Ausschlioßlichkeit  ßomatolog.  Einstellung  i.  tl.  allg.  PHychiatrie.     251 

machen,  daß  man  ihre  Hirnganglienzellen  als  verändert 
darzuHtellen  versucht.  Hiervon  wissen  wir  nichts.  Eh  ist  nicht 
nur  deswegen,  weil  unsere  Kenntnisse  mancher  feinerer  Verände- 
rungen des  Nervensystems  noch  nicht  so  entwickeU  sind,  als  sie  es 
noch  werden  könnton,  sondern  wir  werden  uns  darüber  end- 
lich klar  werden  müssen,  daß  ein  sehr  großer  Teil  aller 
Geisteskrankheiten  auf  Veränderungen  rein  funktioneller  Natur 
beruht,  die  stets  nur  der  psychologischen  Analyse  zugäng- 
lich sein  werden.  Aus  diesem  Grunde  darf  auch  der  heutzutage 
fast  zum  psychiatrischen  Dogma  erhobene  .Satz:  »Alle  Geistes- 
krankheiten sind  Hirnkrankheiten«  —  nur  cum  grano  salis  ver- 
standen werden.  Er  ist  zwar  insofern  ganz  richtig,  als  wir  wissen, 
daß  wir  mit  dem  Hirn  denken,  und  daß  deshalb  })ei  einem  pervers 
denkenden  Menschen  das  Hirn  nicht  in  Ordnung  sein  kann.  Der 
Satz  ist  alx?r  falsch,  wenn  man  unter  dem  Worte  »Krankheit«  Ver- 
änderungen vorsteht,  die  sich  früher  oder  später,  je  nach  der  Ent- 
wickelung  miserer  Untersuchungsmethoden,  als  unseren  Sinnen  zu- 
gängliche dokumentieren  müßten.  Diejenigen  Kranken,  die  bei 
völliger  Intaktheit  ihrer  übrigen  Funktionen  .  .  .  durch  ihre  psychi- 
sche Störung  nicht  im  mindesten  eine  Beeinträchtigung  iluer  Lelx'ns- 
dauer  erfahren  .  .  .  sind  nur  in  dem  Sinne  hirnkrank,  daß  die  Ver- 
knüpfungen in  ihrem  Hirn  abweichen  von  der  Norm  .  .  .«  (Rieger 
versteht  hierunter  nicht  etwa  nur  die  Psychopathen,  sondern,  wie 
er  ausdrücklich  sagt,  vor  allem  auch  die  chronisch  Verrückten.) 
»Die  Vorgänge  an  und  für  sich  aber  sind  ganz  die  gleichen  wie  bei 
allen  anderen.«  .  .  .  »An  welche  veränderten  Bewegungsvorgänge 
im  Hirn  diese  Veränderungen  der  psychischen  Äußerungen  geknüpft 
sind,  davon  wissen  wir,  wie  schon  gesagt,  nichts.  Hypothesen 
darüber  zu  ersinnen,  hat  keinen  Wert.  Nur  soviel  ist  sicher, 
daß  es  nicht  etwa  andere  Hirnteilo  sein  können,  unter  deren  Ver- 
mittlung im  normalen  und  abnormen  Zustand  gehandelt  und  ge- 
sprochen wird.  Wem  dieser  Satz  nicht  unmittelbar  aus  den  an- 
geführton Tatsachen  evident  ist,  für  den  wäre  auch  jede  weitere 
Beweisführung  verloren.  Da  wir  uns  alles  natürliche  Geschehen 
bekanntlich  nur  luich  dem  Schema  der  Kausalität  vorstellen  können 
und  diese  Vorstellung  schließlich  in  räumlich  zeitlicher  Ordnung 
auf  den  Begriff  der  Bewegung  führt,  .so  können  wir  uns  auch  die 
Vorgänge  im  Hirn  innerhalb  der  Schranken  unseres  Vorstollung^- 
vermögens  in  letzter  Instanz  immer  nur  als  Bewegung  denken.  Diese 
Vorstellung  hat  Wert  zur  Erklärung  nu\ncher  Dinge,  für  Betrach- 
tung psychischer  Vorgänge  hilft  sie  uns  sehr  wenig.  Ich 
bin  keiu  Freund  vom  Analogisicren  organischer  oder  gar  psychischer 
Dinge  mit  Saclien  der  l'hysik  oder  Chemie:  einen  Vergleich  aber  will 
ich  doch  hier  anführen,  den  ich  Unterredungen  mit  einem  großen 
Naturforscher  verdanke,  und  der,  einfach  und  schlagend  wie  er  ist. 
jedernu\nn  sofort  klar  machen  muß.  um  welchen  Gegensatz  es  .sich 
bandelt.    Wenn  ein  Stück  Eisen  magnetisch  wird,  woran  erkennt  mau 


252      Prolegomcna  zur  cxllgemeüieu  Psychiatric  als  strenger  Wissenschaft. 

dessen  veränderten  Zustand?  An  seinen  Wirkungen.  Was  eigent- 
lich im  Eisen  vorgegangen  ist,  fällt  keinem  Physiker  ein  durch  Mi- 
kroskop oder  Reagens  erkennen  zu  wollen.  Dem  Physiker  kann  es 
nur  opportun  erscheinen,  sich  wenigstens  Hypothesen  zu  bilden 
über  veränderte  Molekularverhältnisse  des  Eisens,  weil  er  es  eben 
mit  einem  einfachen  physikalischen  Objekt  zu  tun  hat.  Sehr  wenig 
Wert  haben  aber  solche  Hypothesen  in  Anwendung  auf  das  mensch- 
liche Hirn,  dem  wir  doch  viel  besser  beikommen  von  innen  heraus, 
da  wir  selbst  gleichsam  darinstecken.  Und  darin  besteht 
ja  wieder  der  größte  Vorteil  des  Psychologen  vor  dem  Phy- 
siker. Daß  alle  psychischen  Vorgänge  an  materielle  Veränderungen 
im  Hirn  geknüpft  sind,  das  ist  freilich  deswegen  selbstverständlich, 
weil  wir  nicht  anders  als  in  dieser  ims  naturnotwendig  innewohnenden 
kausal-mechanischen  Weise  denken  können,  soweit  wir  uns  einem 
Natur  Vorgang  gegenüberstellen.  Nur  können  wir  mit  dieser  ganz 
allgemeinen  Vorstellung  dem  psychischen  Geschehen  gegenüber  nichts 
anfangen,  weil  sie  viel  zu  leer  und  inhaltlos  ist.  Und  da  wir  uns 
zum  Glück  in  einer  viel  besseren  Situation  befinden  als 
der  Physiker  seinem  Objekt  gegenüber,  weil  uns  die  betreffenden 
Phänomene  auch  durch  unsere  innere  subjektive  Anschau- 
ung zugänlich  sind,  so  ist  jedes  Wort,  das  auf  Hypothesen  jener 
Art  verschwendet  wird,  ein  Zeitverlust.  Wenn  man  bedenkt,  wie 
reich  das  psychische  Leben  in  seiner  Erscheinung  ist,  welch 
unerschöpfliche  Fundgrube  es  der  Betrachtung  und  Analyse  bietet, 
so  kommen  einem  die  Versuche,  gerade  das  Entlegenste,  Allgemeinste 
und  darum  Inhaltärmste  sich  zum  Zielpunkt  zu  nehmen,  vor,  wie 
etwa  die  Bestrebungen  eines  Menschen,  der  glaubte,  die  Betrachtung 
der  Venus  von  Milo  in  besonderem  Maße  zu  fördern  durch  eine  Ana- 
lyse ihres  Marmors,  und  wir  können  bei  der  Sixtinischen  Madonna 
jenem  Forscher  bereitwillig  einräumen,  daß  Raffael  ohne  Farben 
nicht  hätte  malen  können. 

Damit  glaube  ich  deutlich  genug  gesagt  zu  haben,  was  ich  unter 
einer  psychologischen  Auffassung  verstehe  und  wohin  ich  meine, 
daß  diese  passe,  im  Gegensatz  zu  einer  physiologischen,  die  an  ihren 
Platz  gehört.  Erstere  ist  für  die  Betrachtung  psychischer  Vorgänge 
nicht  nur  deshalb  vorzuziehen,  weil  sie  die  reichere  und  fruchtbarere 
ist,  sondern  aus  dem  noph  viel  einfacheren  Grunde,  weil 
sie  innerhalb  der  Schranken  unserer  menschlichen  In- 
telligenz auch  die  einzig  mögliche  ist.  Für  denjenigen 
wenigstens,  der  vor  bloß  schematischen  Vorstellungen  und  schab- 
lonenhaft konstruierten  Möglichkeiten  den  gründlichen  Abscheu 
hegt,   ohne  den  der  Sinn  für  Naturrealität  nicht  bestehen  kann.« 

Und  damit  kehren  wir  zu  dem  eigentlichen  Zweck  unseres  Rund- 
blicks als  einer  Argumentatio  ad  hominem  zurück,  von  welchem  wir 
ausgegangen  waren.  Wir  wollten  durch  ihn  die  praktische  Nütz- 
lichkeit theoretischer  Überlegungen  für  den  Fortschritt  der  Psy- 
chiatrie nahelegen,  ehe  wir  die  immanente  Notwendigkeit  wissen- 


Alnvfhr  d.  Aussrhiioßlichkeit  soinatolog.  Einstellung  i.  d.  uilg.  PMychiatrie.     2Ö3 

Schaft licluM-   Tlicoretik    als  Orundlagc   der   Mögliclikcit    einer   allge- 
meinen  Psychiatrie  als  Wissenschaft   aufweisen. 

Wir  fragen  närnlicli  jetzt,  im  H inMick  auf  diesen  Zweck:  Hollte 
unserer  Forschung  in  der  geschilderten  Lage  nicht  der  Aidaß  zu 
einer  kritischen  Selbstbesinnung  erwachsen ?  Es  wird  von  dioner 
Selbst besiiniung  hier  nicht  mehr  gefordert,  als  die  vorläufige  Be- 
freiung von  einem  Vorurteil,  \icht  dali  der  physiologische  TJesichts- 
punkt  in  der  psychiatrischen  Methodik  falsch  sei,  oder  auch  nur 
jemals  in  seinem  F]rkliirungswert  und  seinen  Arl)eitsansprüchen 
beschränkt  werden  dürfe,  wird  hier  gefolgert;  sondern  nur:  es  dürfe 
nicht  vergessen  werden,  dali  seine  restlose  und  ausschließliche  Geltung 
das  Verhältnis  von  Körperlichem  und  Seelischem  als  in  allen  Einzel- 
heiten beider  Geschehensreihen  erkenntnismäßig  bestimmbar  voraus- 
setzt, daß  aber  eben  diese  Voraussetzung  ein  Problem 
bildet.  Die  Alleinherrschaft  des  physischen  Gesichtspunktes  läßt 
außer  acht,  daß  die  Forschungsmaterialien  der  Psychiatrie  aus  zwei 
Reihen  von  Gegebenheiten  bestehen;  nämlich  aus  der  physischen 
\ind  aus  der  psychischen*)  —  unter  letztere  lassen  sich  auch 
die  soziologischen,  kriminologischen,  und  selbst  normativen  Ele- 
mente, welche  in  sie  hineinragen,  letzthin  irgendwie  subsumieren. 
Psychiatrie  vermag  schon  hiernach  niemals  allein  soma- 
tische Wissenschaft  zu  sein;  so  wenig  wie  sie  allein  Seelen - 
Wissenschaft  zu  sein  vermag.  Wir  lassen  die  Frage  vorläufig 
noch  offen,  ob  und  inwieweit  das  psychische  Ausgangsmaterial 
in  einer  erkenntnismäßigea  Bearbeitung  Psychiatiie  als  Wissenschaft 
7Ai  konstituieren  oder  auch  nur  zu  fördern  geeignet  sei.  Wir  ]>e- 
haupten  hier  zunächst  nur,  daß  auch  diese  Frage  ein  Problem 
enthält;  und  wir  behaupten  weiter,  daß  die  Lösung  dieses  Problems, 
nämlich  der  Aufbau  der  Psychopathologie  als  Wissenschaft,  den 
i'rimat  wenigstens  für  den  Beginn  einer  Grundlegung  wissen- 
schaftlicher Psj'^chiatrie  überhaupt  zu  beanspruchen  hat.     Mit  dieser 

1)  Isscrlin  (Aschaffonburgs  Handbuch.  lOl.'J.  A2.  S.  111)  meint  ganz  richtig, 
diese  Feststellung  allein  genüge  nicht  zur  Begründung  der  Forderung,  der  psychi- 
schen Reihe  »:ils  .solcher  ein  eindringlicheres  Int<Tesse  zu  widmen«;  es  reiche 
niöglieherweise  aus,  »sie  nur  äußerlich  als  Handh.ibe  zur  Erfassung  ganz  anders- 
artiger Erseheinungsreihen  zu  benützen  und  auf  eine  Einsieht  in  ihre  besonderen 
ihnen  eigentümlichen  Gesetzmäßigkeiten  zu  verzichten«.  Aber  wie  will  Isserlin 
diese  »CJegenf rage «  beantworten,  ohne  die  Tragweite  der  Erkenntnismöglichkeit 
psychischer  Daten  auch  im  Hinblick  darauf,  eine  solche  »Handhabe«  zu  bieten, 
vorher  theoretisch  festgelegt  zu  haben?  Die  »Handhabe«  soll  offenbar  der 
Klinik  dienen,  und  da  genügt  ja  auch  Isserlin  selber  der  »vorwissensrhaftliche« 
Charakter  p.sychologi.seher  Uearbeitungen  zu  diesem  Zwecke  nicht  mehr.  Sollte 
nicht  die  .Aufgabe,  welibi-  Isserlin  selber  sieh  stellt,  auch  im  Interesse  der  Klinik 
über  diese  Vorläufigkeit  i)sychologi.s<her  Erkenntnis  liinauszukommen.  durch  die 
sehließlieh  nicht  von  dem  unbfirrte.sten  Kliniker  zu  leugnende  Tat.si\che  ihn^ 
Reehtsgriinde  »rhalten.  daß  wir  eine  Wissenschaft  Psychiatrie  wollen  und 
brauchen,  daß  sonst  all<s  (Jeretie  und  (Jeschreibe  ein  müßiger  S|x>rt  bleibt?  Solche 
Einwendungen,  zumal  wenn  sie  von  einem  so  feinen  I\velu>logen  wie  Isserlin 
ausgehen,  können  mit  ihn-r  sinnlosen  Tendenz,  den  Anspruch  psychologischer 
Erkenntnis  zu  beschränken,  der  Fonvhiing  selber  geradezu  verhängnisvoll  werden. 


254     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

Feststellung  freilich  wissen  wir  noch  nicht,  was  für  eine  erkenntnis- 
mäßige Arbeit  an  dem  psychischen  Material  möglich  und  gefordert  ist, 
was  für  eine  Psychopathologie  zur  wissenschaftlichen  Aufgabe  zu 
werden  hat;  wir  wissen  noch  nichts  über  ihre  Tragweite  für  die  sozio- 
logischen und  kriminologischen  Anwendungen,  wissen  noch  nichts  über 
ihren  Einfluß  auf  die  Gestaltung  somatologischer  Forschung.  Alles 
dies  sind  Grundfragen  der  allgemeinen  Psychiatrie  als 
Wissenschaft;  sie  müssen  in  einer  solchen  ihreBearbeitung 
finden.  Hier  folgern  wir  nur,  daß  eine  solche  Psychopathologie 
für  den  wissenschaftlichen  Aufbau  der  Psychiatrie  ein  genau 
ebenso  berechtigter  Arbeitsgesichtspunkt  ist,  wie  das  für 
den  phj'^sischen  in  seinen  anatomischen  und  biologischen  Anwendungen 
mit  Erfolg  anerkannt  wird.  Daß  diese  Behauptung  trivial  und  nicht 
neu  sei,  kann  aber  gerade  die  bisherige  Psychopathologie 
selber  mit  gutem  Gewissen  nicht  von  sich  sagen.  Wer  den  Stand 
der  Dinge  und  der  Arbeit  genauer  kennt,  hat  immer  aufs  Neue  die 
enttäuschende  Erfahrung  machen  müssen,  daß  bis  auf  vereinzelte 
Ausnahmen  im  Gebiete  der  Psychopathologie  absolut  nicht  der 
strenge  Maßstab  der  Wissenschaft,  der  exakten  Beobachtung 
und  eindeutigen  begrifflichen  und  urteilsmäßigen  Bearbeitung 
herrscht,  welcher  auf  der  anderen  Seite,  der  somatologischen,  selbst- 
verständliches Allgemeingut  ist.  Vielmehr  liegt  in  der  Psycho- 
pathologie, um  es  einmal  scharf  zu  sagen,  ein  in  jeder  Weise  will- 
kürliches, ungezwungenes  oft  anekdotisches  Gerede  vor,  vielfach 
vermengt  mit  versteckten  normativen  Merkmalen,  welche  für  die 
mangelnde  Klarheit  der  Beschreibung  einstehen  müssen;  es  besteht 
ein  breites  Kennertum,  das  der  Tiefe  ermangelt;  die  Erfassung  see- 
lischer Zusammenhänge  schwankt  bei  den  einzelnen  Persönlich- 
keiten von  vulgarisierender  Trivialität  bis  zu  literarisch  aufgemachter 
ästhetisierender  Phantastik,  welche  letztere  in  unsicherem  Gleich- 
gewicht gehalten  wird  von  den  seelenlosen  Schematismen  hetero- 
logischer Herkunft  aus  physiologischen  Gesichtspunkten.  Das  ist 
selbst  bei  den  bedeutendsten  gegenwärtigen  Klinikern  der  Psychiatrie 
so.  Man  lese  nur  —  um  von  anderen  ganz  zu  schweigen  —  etwa 
Kraepelinsche  Symptomatologieen  et  welcher  klinischer  »Krank- 
heitsformen«: Systemlose,  redselige  Breite,  jeder  präzisen  begriff- 
lichen Scheidung  und  Vertiefung  abhold,  für  »Anschaulichkeit«  aus- 
gebend, was  bloß  ein  bequemer  Verzicht  auf  Denken  ist.  Wahr- 
haftig, die  Aufgabe,  Psychopathologie  zur  Grundlage  eines  Aufbaus 
der  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft  zu  machen,  ist  noch  weit 
von  ihrer  Lösung!  Dies  ist  nicht  Schuld  eines  einzelnen;  ein  Krae- 
pelin  war  berufen,  andere  Probleme  in  Angriff  zu  nehmen  und  dei' 
Lösung  zuzuführen;  es  liegt  im  Stande  unserer  Wissenschaft  über- 
haupt. Die  wissenschaftliche  Fundierung  der  Psycho- 
pathologie selber  steht  noch  in  Frage. 

Wir  ersehen  also  bereits  jetzt,  noch  bevor  wir  uns  in  irgendwelche 
Untersuchungen  systematischer  und  begrifflicher  Art  begeben  haben, 


Die  allgcin.  Ptsychiatrie  als  L^^gik  uiid  WiabcoöchaftölL-lire  der  l'.-ychiatrie.     255 

lediglich  aus  jenem  Kiiiulblick  über  den  .Stand  der  gegenwärtigen 
psychiatrischen  Foisrhun^,  dalJ  eine  theoretische  Besinnung  auch 
für  das  Fortschreiten  dieser  Forschung  von  größter  Fruchtbarkeit 
werden  niüUte,  ■welche  sich  auf  zwei  grundlegende  Probleme  erstreckt. 
Nämlich  erstens  auf  die  grundsätzliche  Frage,  welche  Stellung 
und  welcher  Erkenntniswert  somatologischen  Bestim- 
mungen im  ganzen  der  Psychiatrie  zukommt;  und  zweitens 
auf  die  Frage,  ob  und  wieweit  Psychopathologie  als  strenge 
systematische  Wissenschaft  sich  ermöglichen  läßt. 

Diese  beiden  Fragen  sind  nur  Teilfragen  des  methodologischen 
Grundproblems  der  allgemeinen  Psychiatrie,  wie  sie  hier 
verstanden  wird,  überhaupt;  des  Problems:  wie  ist  Pfjychiatrie 
als  Wissenschaft  möglich? 

Die  allgemeine  Psychiatric    als  Logik  und  Wissenschafts - 
lehre  der  Psychiatrie. 

Wenn  wir  nun  diese  Frage  zum  Ausgangsproblem  einer  allge- 
meinen Psychiatrie  machen  wollen,  so  haben  wir  ihre  Berechtigung 
nicht,  wie  wir  das  bisher  getan  liaben,  aus  praktischen  oder  metho- 
dischen Schwierigkeiten  in  der  Bearbeitung  psychiatrischer  Einzel- 
gebiete herzuleiten.  Wir  müssen  vielmehr,  da  diese  Frage  das  Ganze 
der  Psychiatric  ins  Auge  faßt,  ihre  Berechtigung  darin  erweisen,  daß 
wir  den  Blick  unbefangen  auf  psychiatrisches  Denken  und  Handeln 
richten,  so  wie  wir  es  tatsächlich  vorfinden  und  ausüben.  Und  wir 
müssen  utis  angesichts  dessen  fragen:  Ist  dieses  Denken  und 
Handeln  Wissenschaft?  Kann  es  zur  Wissenschaft  werden? 
Ist  es  notwendig,  daß  es  zur  Wissenschaft  wird?  Und  erst 
wenn  wir  uns  über  diese  Vorfragen  eine  vorläufige  Klarheit  geschaffen 
haben,  können  wir  uns  weiter  fragen:  Wie  kann  es  zur  Wissen- 
schaft werden?  Bis  zu  welchem  Grade  von  synthetischer 
und  systematischer  Einheit  kann  diese  Wissenschaft 
ausgebaut  werden,  welche  Stellung  nehmen  die  einzelnen 
Teile  und  Methoden  der  Bearbeitung  zueinander  und  im 
ganzen   dieser  Wissenschaft    logisch   und   theoretisch   ein? 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  ist  die  erste  Aufgabe  der  allgemeinen 
Psychiatrie,  der  Ausbau  der  so  gewonnenen  Wissenschaft  ist  ihre 
zweite.  Die  erste  Aufgabe  der  allgemeinen  Psychiatrie  ließe  sich 
vielleicht  klar  und  zweckmäßig  als  Logik  der  Psychiatrie  um- 
schreiben. Allein  es  ließ  sich  bereits  in  den  wissensciiaftst  beeret ischcn 
Studien  zeigen,  daß  es  sich  hierbei  nicht  lediglich  um  formale  Logik 
handelt,  daß  die  Umgrenzung  dieses  Fragekreises  eine  weitere  ist. 
Es  handelt  sich  um  einen  Untorsuciiungsbereich,  den  wir  nach  dem 
Vorgang  großer  Denker  auf  anderen  allgemeineren  Erkennt nis- 
gebicten  als  Wissenschaftslehro  bezeichnen  möchten.  Und  zwar 
findet  diese  Wi.'^senachaftslehre  Anwendung  auf  ein  nicht  leicht  be- 
grenzbares  und   heterogenes  Gegenstandsgobiet.   welches   wir  eben- 


256      Prolegoniena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

falls  erst  noch  l3egrifflich  zu  bestimmen  und  in  seinem  Einheits- 
charakter aufzuweisen  und  zu  begrenzen  haben  werden.  Man  be- 
denke nur,  was  alles  in  diesem  Gegenstandsgebiet  an  Fragen  und 
Materialien  für  das  forschende  Erkennen  zusammenkommt:  Die 
Formen  geistigen  Siechtums  und  Reichtums,  die  Spielarten  des  Wahn- 
sinns, die  Abartungen  nervöser  und  seelischer  Minderwertigkeit,  das 
Verbrechen,  die  Verzerrungen  der  Charaktere,  merkwürdige  und  noch 
unerklärte  seelische  Sonderfähigkeiten,  Hellsehen  vmd  Genialität, 
Prophetie  und  Märtyrertum,  die  Erleuchtung  des  Apostolats  und  des 
schöpferischen  Künstlers,  die  Extasen  der  Religiosität  und  ihre  ver- 
zerrten Abwandlungen  bei  krankhaften  Geisteszuständen,  Krampf 
und  Lähmung,  Sprachtaubheit  und  Rindenblindheit;  die  Gehirn- 
schnitte und  Blut  Untersuchungen,  die  lokalisatorischen  Tierversuche 
und  die  Kriminalstatistik,  der  Reaktionstaster,  das  Chronoskop, 
die  Jugendfürsorge,  die  Psychologie  der  Massen  und  die  Religions- 
wissenschaft .  .  .  und  des  Aufzählens  ist  kein  Ende!  Welches  ist 
das  geistige  Band,  das  alle  diese  Dinge  verbindet,  Avelches 
ist  die  übergeordnete  Einheit,  in  die  sie  alle  als  Glieder 
einer  Rangordnung  eingehen?  Tatsächlich  ist  hier  alles  noch 
dunkel.  Und  wenn  es  auch  naheliegt,  zu  sagen,  es  seien  die  Vorgänge 
und  Abläufe  des  geistigen  Geschehens,  und  wenn  auf  diese  Weise 
ein  ursprünglicher  Primat  des  Psychischen  vor  dem  Phy- 
sischen im  weitesten  Sinne  einleuchtend  erscheint,  wenigstens  für 
den  Anfang  des  Forschens  und  seiner  Maximenbildung,  so  erheben 
sich  doch  sogleich  weitere  Fragen.  Vor  allem  die  Frage  nach  der 
Abgrenzung  unseres  Sondergebietes  von  dem  der  Psychologie. 
Warum  ist  neben  dieser  allgemeinen  Psychologie  noch  eine  Psycho- 
pathologie notwendig,  und  inwiefern  spielt  diese  die  Rolle  einer  selb- 
ständigen Wissenschaft?  Wodurch  unterscheidet  sich  prinzipiell 
und  den  Grinidlagen  nach  die  Gegebenheitsfülle,  die  wir  an  fremden 
Ichen  als  Seelenkrankheitsmerkmale  und  -ausflüsse  bezeichnen,  von 
dem  Gegenstandsgebiet  der  Psychologie  ?  Was  ermöglicht  die  Unter- 
stellung eines  einzelnen  seelischen  Ablaufs,  was  die  einer  seelischen 
Gesamtpersönlichkeit  unter  den  ersten  oder  zweiten  Bereich  des  Er- 
kennens?  Wie  verhalten  sich  beide  Erkenntnisbereiche  methodisch 
zueinander  ? 

Ähnliche  Fragen,  in  etwas  anderer  Formulierung,  haben  wir  schon 
im  Eingangskapitel  unserer  Untersuchung  über  die  Wissenschafts - 
theorie  des  Psychischen  aufgeworfen.  Die  Schwierigkeit  ihrer  Lösung 
liegt  darin,  daß  ihre  logische  Stringenz  nur  verbürgt  wird,  wenn  man 
sich  völlig  frei  macht  von  allen  Krankheitsbegriffen  und  Vorstellungen, 
welche  man  gleichsam  von  außen  her  an  die  Materie  heranbringt. 
Man  ist  genötigt,  sich  ganz  an  den  einzelnen  Vollzug  psychischen 
Geschehens  zu  halten,  so  wie  er  phänomenal  gegeben  ist.  Die  Kri- 
terien dafür,  ob  dieser  einzelne  psychische  Vollzug  dem  einen  oder 
dem  anderen  Weg  der  Erkenntnis  zugehörig  ist,  müssen  völlig  in 
ihm  selber  liegen.     Diesem  Grundsatz  entsprechend  urteilt  auch  in 


Di.-  üllgoiu.  Pny.^hiatri'.'  ah  fx>gik  und  VVissenschaftslelire  (Wr  Psychiatrie.     257 

der  Tat  —  zwar  nicht  die  bislioiige  Wissenschaft,  wohl  aber  da« 
psychologische  Verständnis  gefühlshaftor  Art,  mit  welchem  der  un- 
voreingenommene Mensch  sich  zu  irgendeinem  einzelnen  psychi- 
schen Geschehen  stellt.  Nur  vermag  er  das  Kriterium  nicht  zu  formu- 
lieren, nach  welchem  er  urteilt.  Es  würde  sich  etwa  so  aussprechen 
lassen:  Psyeluschos  Geschehen  muß,  vom  Ich  des  Erlebenden  aus, 
dem  einen  oder  dem  anderen  Erkenntnisgebiet  unterstellt  werden. 
Psychologie  umfaßt  Miejonigen  Erlebnisse  und  Abläufe,  welche 
diesem  Ich  gemäß  sind,  und  durch  irgendein  psychologisches  Selbst - 
orkenntnisvorfahrcn  oinfüiilend  und  analogisierbar  erfaßt  zu  werden 
vermögen.  Der  Psychiatrie  bliebe  die  Erkenntnis  derjenigen  seeli- 
schen Pliänomone  und  Verknüpfungen  vorbehalten,  welche  ihrem  Sein 
und  ihrem  Sosein  nach  nicht  »ichgemäß«  in  diesem  genannten  Sinne 
sind,  sondern  denen  das  Ich  des  Erlebenden  als  etwas  Fremdem, 
außer  ihm  Stehendem,  in  ihm  nicht  VoUziohbarem  gegenüber  steht. 
Dies  Kriterium  ist  nun  aber  weit  davon  entfernt,  logisch  und 
psychologisch  einwandfrei  formuliert  zu  sein.  Es  enthält  in  sich  die 
Aufgabe  für  eine  allgemeine  Psychiatrie,  ihm  diese  einwandfreie 
Prüfung  zuteil  werden  zu  lassen.  Nun  kommt  noch  hinzu,  daß  auch 
bei  solchen  Menschen,  in  welchen  »ichfremde«  Erlebnisse  und  Ab- 
läufe beobachtbar  werden,  diese  Ichfremdheit  keineswegs  dem  ganzen 
Ablauf  anhaftet,  sondei-n  reduzierbar  ist  auf  einzelne  besondere 
Strukturen,  welche  herauszuarbeiten  sind.  An  ihnen  muß  sich  unser 
Kriterium  allgemein  ableiten  lassen.  Und  ferner  sind  derartige  ich- 
fremde Abläufe  immer  nur  einzeln  und  eingebettet  in  den  (Jesamt- 
atrom  des  psychischen  Geschehens,  welches  sie  durchsetzen,  das  aber 
trotz  seiner  engen  Verflochtenheit  und  Wechselwirkung  mit  diesen 
ichfremdon  Elementen  an  sich  nicht  ichfremd  ist.  Aus  dieser  Wech- 
selwirkung ergeben  sich  die  »sekundären«  Symptome  des  seeliscli 
Kranken;  und  eine  genaue  Abgrenzung  des  Ichzugehörigen,  des 
originär  Ichfremden  und  des  Sekundären,  sei  es  strukturell  oder 
inhaltlich  aus  Beidem  Verflochtenen,  sei  es  endlich  der  »reaktiven 
Momente«  auf  ein  ichfremdes  Erleben»)  (bei  denen  wieder  das  Unter- 
problem entsteht,  womit  reagiert  wird:  mit  ichzugehörigen  oder 
ichfremden  Erlebniswoisen)  ist  anscheinend  unmöglich.  Man  darf 
auch  nicht  übersehen,  daß,  so  sehr  diese  Trennung  echtem  psycho- 
logischen Verständnis  entspricht,  sie  im  Grunde  unsere  Frage  doch 
nur  auf  ein  methodisches  Geleise  verschiebt:  Die  Frage  kehrt  in  der 
neaen  Formulierung  zurück,  wo  die  Grenzen  der  Erlobensfähigkeit 
für  ein  Ich  liegen,  und  welches  somit  die  Kriterien  dieser  lohgemäß- 

lieit  und  ihres  Gegenteils  auf  seelischem  Gebiete  sind. 

Aber  man  muß  noch  weiter  fragen:  Die  Voraussetzung  der  Mög- 
lichkeit eines  derartigen  Kriteriums  ist   offenbar,  daß  das   Ich  dos 

Erlebenden    berechtigt  ist,    Angelpunkt    und  normatives   Kriterium 

*)  Wir  gebrauchon  den  Torminu.s  »sekundär«  hier  wie  Wornicko  in  soiaor 
Paranoialohrc,  den  Terminus  »reaktiv«  wie  Bloul'"-  'n  I'T  Schir.ophreniedar- 
stellang. 

Kronfeld,  P»vrhUtrUclio  KrkcantnU.  17 


258     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

der  Unterscheidung  beider  seelischen  Klassen  —  derjenigen,  welche 
psychologisch,  und  derjenigen,  welche  psychiatrisch  subsumiert  wird, 
zu  setzen.  Ist  diese  Voraussetzung  begründet  ?  Hier  liegen  Probleme 
von  ungeheuerlicher  Tragweite  und  ungeahnten  Schwierigkeiten! 
Wir  werden  diese  Dinge,  deren  Problemnatur  wir  hier  nur  aufzeigen 
wollten,  später  im  einzelnen  verfolgen.  —  Dies  sind  nur  einige  wenige 
Beispiele  für  die  vor  jeder  Abgrenzung  unseres  Gebiets  zu  lösenden 
Vorfragen;  vorerst,  vor  jeder  sicheren  Umgrenzung,  kennen  wir  das 
fragliche  Gegenstandsgebiet  nur  seinem  ungefähren  Umfange  nach 
aus  der  Praxis  unserer  seelenärztlichen  Arbeit;  seine  Einzigartigkeit 
vermögen  wir  nur  gefühlsmäßig  zu  vermuten;  hilflos  stehen  wir  vor 
seiner  anscheinenden  Unbegrenzbarkeit  und  wesenhaften  Hetero- 
genität.  Wenn  ein  Vergleich  der  oben  genannten  grundsätzlichen 
Ausgangsprobleme,  welche  wir  einer  allgemeinen  Psychiatrie  gestellt 
haben,  mit  einem  anderen  Gebiete  geistiger  Arbeit  gestattet  ist,  so 
verhält  sich  die  allgemeine  Psychiatrie  zur  Psychiatrie  überhaupt 
und  ihrem  Denken  und  Handeln  etwa  ebenso,  wie  sich  Logik  und 
Erkenntnislehre  zur  Philosophie  verhält.  Insofern  weisen  wir  den 
perhorreszierten  Gedanken  nicht  von  uns,  mit  derartigen  Unter- 
suchungen nicht  nur  eine  Logik,  sondern  sogar  eine  Philo- 
sophie der  Psychiatrie  zu  intendieren.  Freilich  verstehen  wir 
unter  Philosophie  nicht  irgendeinen  dämonologischen  Luftbau  wie 
der  alte  Heinroth,  noch  sonst  irgendein  dem  Inhalte  nach  mysti- 
sches Begriffsgespinst.  Wir  hoffen  vielmehr  durch  die  Tat  zu  be- 
weisen, daß  wir  überall  in  enger  Beziehung  zum  festen  Boden  tat- 
sächlicher Gegebenheiten  verbleiben  und  ihn  nur  formal  und  be- 
grifflich in  eindeutigen  Regressen  in  seiner  ganzen  Fülle  vom  Wesen 
'  des  Gesetzes  und  der  systematischen  Ganzheit  umspannen  lassen. 
Wir  werden  keineTheorie,  sondern  eine  Theoretik  der  Psychiatrie 
zu  geben  haben,  welche  allererst  den  Grund  der  Möglichkeit  sämt- 
licher formalen  und  begrifflichen  Bestimmungen,  sämtlicher  Ge- 
setzesbildungen sichert,  diese  mit  den  nichtgegenständlichen  Kri- 
terien des  Richtigen  und  Falschen  versieht  und  in  ihrer  gegenseitigen 
Ordnung  abgrenzt.  Wenn  man  den  Begriff  des  Logischen  über  das 
formale  Apriori  hinaus  ins  Synthetische  erweitern  will,  wenn  man 
auch  die  formalen  Grundlagen  werttheoretischer  Unterscheidungen 
und  dynamischer  Verknüpfungen  zu  ihm  hinzunimmt,  so  hat  man 
das  Recht,  diese  Untersuchungen  immerhin  als  Logik  der  Psy- 
chiatrie zu  bezeichnen.  Dann  darf  man  sagen:  Den  ersten 
Hauptteil  der  allgemeinen  Psychiatrie  hat  ihre  Logik 
zu  bilden. 

Indem  wir  diesen  Sa.tz  aufstellen,  nehmen  wir  für  die  geforderte 
»Logik«  oder  »Philosophie«  psychiatrischen  Denkens  nicht  etwa 
einen  besonderen  modalischen  Rang,  eine  besondere  Geltuzigsbasis 
höherer  Art  in  Anspruch.  Wir  konstruieren  kein  wissenschaftliches 
System  a  priori.  Vielmehr  stehen  wir  fest  zu  der  seit  Bacon  und 
Kant   über   allen    Zweifel    hinausgehobenen   methodologischen  Er- 


Die  allg»-ni.  Psychiatrie   alb  Logik  und  Wissenschaftsieh n-  fl'-r  P.sychi»tne.     259 

kenutniß,  die  erst  jüngst  noch  von  Marty  —  bei  (.'inein  dem  unseren 
gleichen  Unternehmen  im  Gebiete  der  Sprachwis.senscbaft  —  so 
formuliert  worden  ist'):  »Erfahrung  und  logische  Keflexion  haben 
zur  (jieuüge  gezeigt,  daß  die  richtige  Methode  zur  Erforschung  der 
die  Naturvorgänge  beherrschenden  (besetze  die  empirische  ist.  Ea 
kann  daneben  für  uns  niclit  noch  eine  zweite,  nicht  empirische  geben, 
die  gleichfalls  zum  Ziel,  ja  zu  ticferliegenden  Resultaten  führte.  Wenn 
die  empirische  Methode  die  richtige  ist,  um  zur  Erkenntnis  des  Details 
der  Erscheinungen  und  von  diesem  schrittweise  zu  den  allgemeinen 
Gesetzen  vorzudringen,  so  kann  es  daneben  für  uns  nicht  noch  eine 
andere  geben,  die  ebenso  gut  oder  etwa  gar  noch  besser  zum  selben 
Ziel  führt.« 

Was  bezweckt  dann  aber  unsere  Forderung  einer  Logik  der  Psy- 
chiatrie als  einer  neben  der  empirischen  Einzelforschung  einher- 
laufenden, diese  regulierenden  und  systematisierenden  Disziplin? 
Kann  es  zwei  Wissenschaften  vom  gleichen  Gegenstande  geben? 
Wir  folgen  wiederum  Marty:  »Dem  Einwand  gegenüber,  daß  doch 
beide,  wenn  sie  verschieden  sein  sollen,  nicht  vom  selben  Gegenstand 
nach  derselben  Methode  handeln  könnten,  wäid  man  mit  einer  Ant- 
wort nicht  in  Verlegenheit  sein.  Denn  vom  selben  Gegenstaud  kann 
ja  unter  verschiedenen  Gesichtspunkten  gehandelt  werden;  ver- 
schiedene Wissensdisziplinen  können  verschiedene  Teile  und  Seiten 
an  ihm  ins  Auge  fassen  und  einen  verschiedenen  Kreis  von  Fragen 
über  ihn  zur  Lösung  zu  bringen  suchen.«  Und  wenn  wir  das  Wesen 
der  hier  geforderten  forschenden  Einstellung  auf  die  Gegenstände 
der  Psychiatrie  mit  einem  Schlagwort  bezeichnen  wollen,  welches 
ihren  »philosophischen«  Charakter  ins  Licht  setzt,  so  wird  es  uns 
wiederum  durch  Marty  nahegelegt:  »Philosophisch  sind  die 
Untersuchungen  des  Psychologen  und  aller  auf  das  Allgemeine 
und  Gesetzmäßige  gerichteten  Forschungen,  die  sich  auf  jene  stützen 
und  an  sie  anlehnen  müssen,  derart,  daß  es  im  Interesse  einer  zweck- 
mäßigen Arbeitsteilung  gefordert  ist,  sie  mit  den  psychologischen  in 
einer  Hand  zu  vereinigen.« 

Lehnt  man  auch  den  mitklingenden  psychologist ischen  Stand- 
punkt unseres  Führers  weit  ab,  so  sind  dennoch  die  in  dieser  For- 
mulierung gegebenen  Gesichts-  und  Grenzlinien  für  das  Wesen  einer 
allgemeinen  Psychiatrie,  so  wie  sie  das  folgende  Unternehmen  in 
Angriff  nimmt,  von  maßgeblicher  Geltung.  Ja  es  ist  nicht  einmal 
möglich,  sich  eine  allgemeine  Psychiatrie  als  Wissenschaft  vorzu- 
stellen, die  nicht  in  diesem  Sinne  Martys  eine  philosophische 
Disziplin  wäre. 

Hierüber  wird  weiter  unten  mehr  und  Ausführlicheres  dargetan 
werden.  So  wird  das  Gespenst  einer  geisteswissenschaftlichen  Dis- 
ziplin in  der  Psychiatrie,  deren  Schaffung  im  Anschluß  an  die  von 


*)  Untersuchungen  zur  Grundlegung  der  allgemeinen  Oramraatik  und  Sprach- 
philosophie.    S.  4  ff.     Halle  1908. 


260     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

uns  widerlegten  Rickert sehen  Gedankengänge  ein  Scheinleben  zu 
fristen  versucht,  uns  nicht  schrecken:  Auch  die  philosophische  Dis- 
ziplin einer  allgemeinen  Psychiatrie  ist  Logik  und  Theorie  der  Natur  - 
forschung;  und  soweit  sie  Psychologie  ist,  ist  sie  selber  Natur- 
wissenschaft, ohne  deshalb  ihren  »philosophischen«  Anspruch  im 
obigen  Sinne  aufzugeben.  Vorerst  handelt  es  sich  uns  aber  noch  nicht 
um  das  Wie  dieser  psychiatrischen  Logik  und  Theoretik,  sondern 
lediglich  um  ihren  Anspruch  auf  Geltung  und  Bedeutung  überhaupt. 

Die  praktischen  Aufgaben  der  Psychiatrie  und  der  Nach- 
weis der  immanenten  Notwendigkeit  ihres  Wissenschafta- 

charakters. 

Wir  kommen  damit  zur  Aufweisung  der  immanenten  Notwendig- 
keit der  allgemeinen  Psychiatrie  als  systematischer  Wissenschaft. 
Und  da  müssen  wir  sogleich  betonen,  daß  der  direkte  Nachweis 
dieser  Notwendigkeit  mit  dem  ihrer  Möglichkeit  zusammenfällt. 
Warum  dies  so  ist,  wird  sicli  im  Gesamtverlauf  dieses  Werkes  aus 
all  seinen  Einzeluntersuchungen  ergeben.  Ferner  aber  läßt  es  sich 
auf  indirektem  Wege,  durch  Ausschluß  aller  anderen  Möglichkeiten, 
dartun,  daß,  wenn  Psychiatrie  als  strenge  Wissenschaft  überhaupt 
möglich  ist,  auch  die  Notwendigkeit  ihrer  Verwirklichung  gebieterisch 
besteht.  Und  dies  folgt,  wie  wir  schon  sagten,  aus  einer  unbefangenen 
Würdigung  des  psychiatrischen  Denkens  und  Handelns  in  seiner 
Tatsächlichkeit . 

Man  kann  nämlich  die  Frage  aufwerfen :  Wozu  derartige  Rekurse 
auf  systematische  Wissenschaf 1 1  Ist  nicht  Psychiatrie  ein  prak- 
tisches Denken  und  Tun,  und  in  der  Praxis  seiner  Zwecke  begrenzt 
und  klar,  gleichviel,  ob  dabei  den  Anforderungen  und  Kriterien  des 
Wissenschaftlichen  Genüge  getan  wird?  Wir  haben  die  Kranken 
vor  uns  und  unserer  Obhut  anvertraut.  Sie  und  ihr  Leiden  sollen 
wir  verstehen  und  ihnen  helfen.  Ist  es  dafür  nicht  gleichgültig,  zu 
wissen,  in  welchen  Grenzen  der  Umfang  des  Begriffes  ihrer  Krankheit 
sich  bewegt,  welche  Inhalte  konstitutiv  auf  ihn  bezogen  werden 
können,  und  ähnliches  mehr?  Können  wir  überhaupt,  um  einen 
nur  allzu  beliebt  gewordenen  Gesichtspunkt  Sim meischen  und 
Bergsonschen  Betrachtens  hierher  zu  übertragen,  den  Kranken, 
diese  lebendige  Einheit  der  Persönlichkeit,  in  den  Rahmen  formaler 
Begriffe,  Gesetze  und  Strukturen  hineinzwängen,  ohne  das  Lebens- 
volle, für  ihn  Spezifische,  das  funktionale  Strömen  in  seiner  Kon- 
tinuität, zu  ertöten,  ohne  den  Fluß  des  Werdens  und  Geschehens  in 
ihm  zur  Erstarrung  zu  bringen?  Können  wir  das  lebendige  Inein- 
ander durch  begriffliche  Formulierung  und  Auflösung  in  festen 
starren  Schematismen  uns  wirklich  klarer  machen,  als  uns  das  durch 
jene  Art  von  unbefangenem,  praktischen,  ganz  auf  das  Individuelle 
gestelltem  Versenken  gelingt?  Und  selbst  wenn  wir  es  könnten: 
Wäre  es  nötig  und  gefordert,  das  zu  tun? 


Üb«r  die  Reclo  von  <icr  Psychiatrif  al«  KuiiBt.  261 

Wir  scheiden  hier  dan  in  diesem  Einwand  mitcnthaltene  Problem 
einer  Wissenschaft  vom  Individuellen,  siKJzicll  einer  Psychologie  de« 
Individuüllon,  ganz  aus.  Die  Diskussion  der  Möglichkeit  einer  In- 
dividualpsychologio  als  Wissenschaft  liegt  Ijereits  hinter  uiih»);  auch 
jene  Gedankengänge  Bergsons,  Simmeis,  der  historiischen  Psycho- 
logie, und  inslicaondere  der  »Geisteswissenschaft«  im  Sinne  Rickerts 
und  Webers  haben  wir  grundsätzlich  abgetan.  Der  Aufbau  der 
Individualpsychologie  auf  Gnnid  jener  wisscnschaftstheoretisclien 
Fundierungen  lohnt  aber  erst,  wenn  die  Notwendigkeit  der  Psychiatrie 
als  Wissenschaft  schon  feststeht,  und  nur  der  Sondercharakter 
eben  dieser  Wissenschaft  noch  den  Gegenstand  des  Fragens  bildet. 
Mit  dem  oben  gemachten  Einwand  aber  ist  gerade  der  Zweifel  zu 
Worte  gekommen,  ob  Psychiatric,  insbesondere  Psychopathologie, 
als  Wissenschaft  üborliaupt  irgendeine  wesentliche  Bedeutung  neben 
dem  praktischen  Denken  und  Tun  des  Psychiaters  und  für  dasselbe 
beanspruchen  könne. 

Über  die  Rede  von  der  Psychiatrie  als  Kunst.    Fortsetzung 

des    Nachweises     der     immanenten    Notwendigkeit     ihres 

Wissenschaftscharakters. 

Es  werdeJi  damit  Einwände  laut,  welche  den  Ausdruck  des  Staud- 
punktes bilden,  Psychiatrie  als  Kunst  der  Menschenbehandlung 
lind  als  nichts  weiter  aufzufassen.  Man  ist  von  vielen  Seiten  und  mit 
den  verschiedensten  Argumenten  zu  diesem  Standpunkte  gelaugt. 
Meist  wTirdo  aus  der  Möglichkeit  und  Notwendigkeit  praktischen 
psychiatrischen  Tuns  einerseits,  aus  den  anscheinend  bis  zur  Un- 
möglichkeit gesteigerten  Schwierigkeiten  stichhaltiger  theoreti.scher 
Fui\dierung  dieses  praktischen  Tuns  andererseits  der  Schluß  gezogen: 
auf  diese  theoretische  Fundierung  komme  es  nicht  an;  eben  jene 
Praxis  stehe  im  Vordergrunde  und  könne  sich  für  ihre  Zwecke  mit 
vorläufigen,  in  ihrer  Richtigkeit  durchaus  anfechtbaren  Arbeitn- 
hypothesen  und  Konventionen  begnügen.  .tVllcs  käme  auf  den  prak- 
tischen Erfolg  an.  Noch  jüngst  wurde  das  Argument  gebraucht, 
Psychiatrie  könne  zur  Wissenschaft  nicht  werden:  für  den  Soelonarzt 
bestehe  der  wesentliche  Ausgangspunkt  all  seines  Handelns  und 
Eingreifens,  ja  bereits  all  seines  Verständnisses  und  Begreifens  dessen, 
was  in  seinen  Kranken  vorgehe,  in  der  subjektiven  Fähigkeit,  sich  in 
dieselben  seelisch  zu  versenken  imd  einzufühlen.  Es  gebe  aber  kein 
Kriterium  objektiver  Art  dafür,  ob  da.s,  was  der  Scelcuarzt  mit  sub- 
jektiven Mitteln  in  seine  Kranken  eingefülilt  habe,  ein  Gebilde  der 
Wirklichkeit  sei  oder  nicht,  richtig  sei  oder  falsch.  Dieses  letztere 
Argument  nun  betrifft  schon  nicht  mehr  die  Frage,  ob  Psychiatrie 
als  Wissenschaft  notwendig  und  gefordert  sei;  es  geht  lisüi^lich  auf 
d.i'^    Problem     ob    Psychiatrie   als   Wi.srionseiiaft    möglich    sei   oder 

')  Vul.   vori^t•  Abhandl  .  Kap.  VII  und  VIII. 


262     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

nicht.  Und  diese  Frage  ist  einer  theoretischen  Untersuchung  zu- 
gänglich. Sie  kann  durch  eine  Analyse  und  Kritik  dessen,  was  sich 
bei  den  »Einfühlung«  genannten  Vorgängen  abspielt,  entschieden 
werden.  Wir  werden  sie  daher  an  der  ihr  in  diesem  Werk  zukommen- 
den Stelle  wieder  aufzunehmen  haben.  Wir  stehen  vorerst  noch  bei 
der  Vorfrage,  ob  derartige  theoretische  Untersuchungen  über  die 
Möglichkeit  wissenschaftlicher  Feststellungen  in  der  Psychiatrie  sich 
überhaupt  verlohnen,  d.  h.  für  die  Praxis  wesentlich  seien  und  sein 
könnten.  So  zweifellos  es  ist,  daß,  wenn  theoretische  Untersuchungen 
diese  wissenschaftliche  Möglichkeit  der  Psychiatrie  verneinen  würden, 
dann  immer  noch  die  Bedürfnisse  der  Praxis  bestehen  bleiben  und 
sich  in  diesem  Falle  eben  auf  zweckmäßige  Konventionen  und  Hypo- 
thesen zu  beschränken  haben  würden,  sobald  die  reine  Subjektivität 
des  künstlerischen  Erfassens  versagt,  —  so  einleuchtend  ist  auf  der 
anderen  Seite,  daß  die  Ablehnung  der  Möglichkeit  wissenschaftlicher 
Psychiatrie  erst  erfolgen  darf,  wenn  jene  theoretische  Untersuchung 
darüber  endgültig  verneinend  entschieden  ist.  Dieses  Argument 
darf  also  erst  nach  der  Inangriffnahme  dieser  theoretischen  Unter- 
suchung über  die  Möglichkeit  der  Psychiatrie  als  Wissenschaft  ge- 
braucht werden,  und  dies  auch  nur  dann,  wenn  diese  Untersuchung 
erfolglos  bleibt.  Hiervon  unberührt  bleibt  allerdings  jenes  andere 
Beweismittel,  welches  von  der  Praxis  der  Psychiatrie  und  ihren  Be- 
dürfnissen ausgeht,  und  begriffliche  Bestimmungsstücke  nur  insoweit 
für  zulässig  erklärt,  als  es  diese  Praxis  unbedingt  geboten  erscheinen 
läßt,  und  nicht  weiter. 

Nun  ist  in  der  Tat  Psychiatrie  als  ausübendes  Handeln  wie  als 
verstehendes  Sichversenken  in  fremde  Seelen  etwas  der  künstlerischen 
Betätigung  in  gewisser  Weise  Nahestehendes.  Ihre  Betätigung  ist 
in  sehr  viel  höherem  Grade  an  subjektive  Faktoren  der  ärztlichen 
Persönlichkeit  gebunden,  als  die  Betätigung  anderer,  besonders 
theoretischer,  wissenschaftlicher  Disziplinen.  Und  dennoch  muß  hier, 
bei  aller  Bewunderung  für  das  Ideal  des  rein  auf  seine  erfassende  und 
heilende  Menschlichkeit  gestellten  Seelenarztes,  betont  werden,  daß 
die  bloße  Bindung  einer  Betätigung  an  subjektive  Persönlichkeits - 
faktoren  nicht  den  künstlerischen,  sondern  höchstens  den 
unwissenschaftlichen  Charakter  der  psychiatrischen  Praxis  dar- 
tut. Das  wesentliche  Merkmal  der  künstlerischen  Betätigung,  die 
schöpferische  Potenz,  das  Herausstellen  objektiv  wertvoller  Gebilde 
aus  reiner  Intuition,  fehlt  der  psychiatrischen  Betätigung.  Darüber 
sollte  Berufsstolz,  praktischer  Erfolg  und  persönliche  Eitelkeit  nicht 
hinwegtäuschen.  Psychiatrie  als  praktisches  Handeln  ist 
noch  keine  Kunst,  bloß  weil  sie  keine  Wissenschaft  ist; 
so  wenig  wie  kaufmännische,  banktechnische,  wirtschaftspoli tische 
Betätigung  etwa  um  deswillen  eine  Kunst  sein^  müßte,  weil  sie  er- 
folgreich ist.  Insofern  sie  an  besondere  Fähigkeiten  vmd  Anlagen 
der  Persönlichkeit  des  Ausübenden  gebunden  ist,  die  weder  über- 
tragbar noch  gar  lehrbar  sind,  fordert  sie  von  ihm  eine  geistige  Artung 


über  die  Rede  von  der  Psychiatrie  aln  Kunnt.  263 

von  besonderem  qualitativen  Reichtum,  besonderer  Differenzierung 
und  Bewußtheit;  und  setzt  diese  Eigenschaften  in  um  so  höheren  Grade 
voraus,  je  erfolgreicher  sie  wird.  Aber  das  ist  in  keinem  der  genannton 
geistigen  Berufe  anders.  Das  Wesentliche  bleibt  das  freie  und  sub- 
jektive Spiel  individueller  Geistoskräfte,  in  ihrer  Anwendung  auf  l>e- 
stimmte  praktisch  vorgesetzte  Zwecke.  Diese  Zwecke  aber,  und  die 
Mittel  zu  ihrer  Verwirklichung  müssen  erkannt  werden;  es  bedarf 
der  Reflexion,  um  sie  sich  ins  Bewuüts  *in  zu  bringen.  Und  so  schreitet 
bereits  an  dieser  .Stelle  jegliches  praktisches  Verfahren  in  der  Psy- 
chiatrie über  die  Grenzen  bloßer  subjektiver  Willkür  \jnd  Zufälligkeil 
ins  Objektive  hinüber.  Wie  liegen  denn  die  Dinge?  Zur  Auffindung 
und  zum  CJcbrauch  der  Mittel,  welche  diese  Zwecke  verwirklichen 
sollen  und  können,  haben  sich  im  Laufe  der  Zeit  Regeln  heraus- 
gebildet. Diese  Regeln  sind  aus  persönlichen  Einzelerfahrungen 
abgehoben,  Verallgemeinerungen,  welche  jeweils  auf  die  Verwirk- 
lichung der  Zwecke,  denen  sie  dienen  sollen,  zugeschnitten  sind;  sie 
sind  lelirbar  und  Gemeingut.  Das  ist  ebenso  in  allen  jenen  anderen 
praktisch-geistigen  Berufen,  welche  wir  vorhin  zum  Vergleich  heran- 
gezogen haben.  An  sich  kommt  diesen  Regeln  außer  ihrem  kon- 
ventionellen und  heuristischen  Wert  im  Hinblick  auf  den  jeweils 
vorgesetzten  Zweck  kein  dauernder  Bestand  oder  p]igenwert  zu. 
Sie  entsprechen  dem,  was  in  der  Kunst  die  Regeln  des  »Handwerk- 
lichen«, die  Gesetze  des  Materials  und  seiner  Bearbeitung,  sowie  der 
Darstellungsmöglichkeit  bedeuten.  Für  die  Kunst  besteht  daneben, 
unabhängig  von  diesen  konventionellen  Regeln  praktischer  Art,  noch 
das  Gesetz  der  objektiven,  ästhetischen  Wert  normen,  welches  für 
ihre  Betätigung,  wo  nicht  zur  leitenden  Maxime,  so  doch  zum  bc- 
Bchränkenden  Kriterium  des  Künstlerischen  an  einer  Leistung  wird. 
Für  die  praktisch  wissenschaftlichen  Berufe,  zu  denen  in  erster  Linie 
neben  den  technischen  Fächern  die  Medizin  gehört,  schweben  aber 
jene  Regeln  nicht  zusammenhangslos  und  bedeutungsarm  in  der 
Luft;  sie  orientieren  sich  vielmehr  an  einem  Grundstock  systema- 
tischer wissenschaftlicher  Feststellungen;  und  diese  Feststellungen 
behalten  wissenschaftlichen  Rang  und  (ieltung  auch  \inabhängig  von 
der  Tatsache,  daß  sie  praktisch  angewendet  und  verwertet  werden 
können. 

Die  Frage  ist  nun,  ob  für  die  Psychiatrie  eine  derartige  Orien- 
tierung der  aus  praktischen  Bedürfnissen  geborenen  Regeln  an  einem 
wissenschaftlichen  (Grundstock  an  sich  gült  iger  Feststellungen 
faktisch  ebenfalls  besteht  und  unvermeidlich  ist.  Über  das  Wie 
dieser  Orientierung  wird  hier  noch  nichts  vorausgesetzt.  Diese  Frage 
Mtellon  heißt  sie  bejahen,  wenn  anders  Psychiatrie  überhaupt  alfi 
ein  Teil  ärztlichen  Denkens  und  Tuns  eingegliedert  wird.  Um  die 
Absurdität  des  (Jegenteils  klar  einzusehen,  braucht  man  lediglich 
zu  bedenken,  daß  ohne  diese  Orientierung  die  Psychiatrie  mit  allen 
ihren  Einzelheiten  völlig  blind  und  uneinsichtig  fundiert  wäre,  daß 
sie   völlig  der  Subjektivität    des  einzelnen  ülK'rlassen  l>liel>e.   welcher 


264     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  ala  strenger  Wissenschaft. 

sie  zufällig  ausübt,  daß  sie  nicht  lehrbar  wäre,  daß  es  kein  Kriterium 
des^Richtigen  oder  Falschen  in  ihr  gäbe,  daß  jede  Meinung  neben  der 
anderen  zu  gleichem  Recht  bestünde.  Nichts  unterschiede  mehr  den 
Scharlatan  von  dem  Forscher;  Fortschritt  und  Lehre  wären  ebenso 
vernichtet  wie  die  Aussicht,  unseren  Kranken  jemals  wirklich  helfen 
zu  können.  Psychiatrie  bliebe  eine  Art  mystischer  Gabe  einzelner 
Persönlichkeiten.  Tatsächlich  hat  noch  kein  Psychiater,  auch  wenn 
er  von  der  Bedeutung  der  Persönlichkeit  des  Seelenarztes  für  die 
Praxis  der  Berufsausübung  noch  so  durchdrungen  war,  jemals  diese 
Orientierung  psychiatrischen  Denkens  und  Tuns  an  den  Normen 
und  Kriterien  der  Wissenschaft  —  sei  es  welcher  Disziplin  immer  — 
als  unnütz  von  vornherein  abgewiesen.  Überall,  wo  Einsichten  in 
Krankheitsabläufe  oder  Zustandsbilder  gewonnen  werden,  wo  soma- 
tologische  Feststellungen  getroffen  werden,  welche  Anspruch  auf 
eine  mehr  als  zufällige  Einzelgültigkeit  in  sich  tragen,  wird  diese 
Orientierung  an  wissenschaftlichen  Grundlagen  irgendwelcher  Art 
tatsächlich  vollzogen. 

Auch  historisch  läßt  sich  der  ungeheure  Fortschritt  nachweisen, 
welchen  die  Einnahme  dieses  Standpunktes  in  der  Psychiatrie  über 
die  vor  Griesingers  Zeit  herrschende  »künstlerisch  ((-intuitiv  speku- 
lierende Willkür  darstellte,  welche  die  Formen,  Inhalte,  Zustände, 
Verläufe  und  selbst  Wesenheiten  geistiger  Störung  aus  der  Sünde, 
dem  Dämonismus,  der  »gewucherten  Leidenschaften«  ursächKch  her- 
zuleiten und  zu  bestimmen  suchte.  Wobei  denn  alles,  selbst  der 
Ursachenbegriff,  in  mystischem  Nebel  verschwamm. 

Damit  fällt  aber  die  Rede  von  der  Psychiatrie  als  Kunst  in  sich 
zusammen;  die  Unumgänglichkeit  und  damit  die  immanente  Not- 
wendigkeit ihrer  wissenschaftlichen  Orientierung  ist  de  facto  erwiesen. 
Die  Frage  bleibt  hiernach  vielmehr  ausschließlich  die:  Wie  weit  soll 
diese  Orientierung  gehen,  wie  weit  kann  sie  gehen?  Hierbei  ist  zu- 
nächst das  eine  klar,  daß  sie  weit  über  die  Anlehnung  der  künstlerischen 
Betätigung  an  die  objektive  Norm  des  ästhetischen  Gesetzes  hinaus- 
geht. Die  letztere  liefert  lediglich  Kriterien  des  Künstlerischen  an 
Schöpfungen.  Der  Psychiater  aber  verlangt  von  der  Orientierung 
seines  Handelns  an  der  Wissenschaft  positive  Bestimmungsgründe 
für  die  Vorgänge  in  seinen  Kranken,  sowie  für  das  Wie  und  Warum 
seines  ärztlichen  Handelns.  Er  verfährt  dabei  eben  grundsätzlich 
nicht  anders  als  der  Arzt  überhaupt.  Nur  ist  es  ihm  bisher  versagt, 
diese  wissenschaftliche  Anlehnung  ebenso  sicher  und  weitgehend 
durchzuführen,  wie  der  körperliche  Arzt.  Die  Gründe  hierfür  liegen 
sowohl  in  der  geringeren  Ausbildung  der  heuristischen  Regeln  psy- 
chiatrischer Praxis  als  auch  in  dem  Ausbildungsstande  der  diese  Regeln 
fundierenden  wissenschaftlichen  Geltung.  Der  Spielraum  des  Sub- 
jektiven ist  nur  die  Tugend  seiner  Not,  deren  Ursprung  in  diesen 
Unzulänglichkeiten  liegt.  Aus  ihm  sollte  also  nicht  mit  gar  so  viel 
Stolz  eine  Sonderstellung  psychiatrischer  Betätigung  wie  etwas 
Rühmenswertes  hergeleitet  werden.    Die  Bezeichnung  der  Psychiatrie 


Einführung  in  dio  Problematik  des  Wissenschaft sbcgriffce.  265 

als  Kunst  ist  nur  oino  rocht  durcliHichtigo  Bcschwiclitigungsformel 
für  das  schlechte  wissenschaftliche  Gewissen. 

Mit  diesen  Ausführungen  wäre  das  Ziel  unseres  indirclvlcn  Argu- 
menticrens  für  dio  immanente  Notwendigkeit  einer  allgemeinen  Psy- 
chiatrie als  strenger  systematischer  Wissenschaft  erreicht.  Wir  haben 
die  Frage,  ob  Psychiatrie  als  Wissenschaft  notwendig  ist,  entscheidend 
bejahen  müssen  unter  dem  Vorbehalte  ihrer  Möglichkeit.  Wenn 
diese  Möglichkeit  besteht,  so  wird  es  zur  gebieterischen  Aufgabe  für 
den  wahren  Fortschritt  der  Psychiatrie,  sie  zur  Wirklichkeit  werden 
zu  lassen,  gerade  auch  um  der  Praxis  der  Psychiatric  und 
ihrer  Arbeitsbedingungen  willen.  Es  besteht  die  Aufgabe, 
jene  an  sich  bedeutungslosen  konventionellen  Zweckregeln,  jene  vor- 
läufigen Surrogate  wissenschaftlicher  Feststellungen  und  Gesetze 
entweder  durch  ihre  Verankerung  an  einem  wissenschaftlichen  Grund- 
stock an  sich  gültiger  Feststellungen  zu  sichern  und  auszubauen, 
oder  sie  fallen  zu  lassen  und  durch  solche  Gesetze  zu  ersetzen,  deren 
Auffindung  schon  ein  an  sich  wertvoller  und  bleibender  Geistes- 
gewinn wäre.  Wenn  dies  geschehen  ist,  wenn  die  Sicherung  und  der 
Ausbau  jener  Konventionen  der  psychiatrischen  Praxis  zur  System- 
einheit einer  Gesetzeswissenschaft  erfolgt  ist,  dann  ist  die  Aufgabe 
der  allgemeinen  Psychiatrie  gelöst.  Erweist  sie  sich  als  unlösbar, 
so  mag  man  dio  getroffenen  psychopathologischen  und  klinischen 
Konventionen  provisorisch  beibehalten  —  aber  nur  im  Bewußtsein 
ihres  Vorläufigkeitscharakters.  Diese  Alternative  hängt  gänz- 
lich ab  von  der  wissenschaftlichen  Möglichkeit  der  Psy- 
chiatrie. 

Diese  wird  damit  zum  Grundthema  des  ganzen  vorliegenden  Unter- 
nehmens und  aller  seiner  logischen  und  theoretischen  Untersuchungen. 
Sie  ist  das  Verbindende,  welches  als  leitende  Maxime  alle  Erörterung 
der  Einzelfragen  beherrscht  und  stets,  auch  wo  es  nicht  sichtbar  ist, 
hinter  ihnen  steht. 


Einführung  in  die  Problematik  des  Wissenschaftsbegriffes. 

Wie  ist  Psychiatrie  als  Wissenschaft  möglich?  In  dieser  Frage- 
stellung steckt  nocli  ein  weiteres  Problem:  nämlich  das  Problem 
dessen,  was  unter  Wissenschaft  zu  verstehen  ist.  Was  meinen  wir 
mit  dem  Bogriff  Wissenschaft,  wenn  wir  den  Aufbau  unserer  Er- 
kenntnis vom  Gegonstandsgebiet  der  Psychiatrie  zu  einer  Wissen- 
schaft als  Ziel  ins  Auge  fassen?  Dio  Problematisierung  des  Wissen- 
schaftsbegriffes und  alle  hier  anknüpfenden  Untersuchungen  haben 
iiire  Lösung  zu  finden  in  jenen  Disziplinen,  welche  wir  als  Erkenntnis- 
kritik, Logik  und  Wissonsehaftstheorie  (Metaphysik)  kennen.  Die 
Ergebnisse  dieser  Disziplinen  müssen  für  unseren  Zweck  übernommen 
werden;  unsere  Aufgabe  ist  es  lediglich,  diese  Ergebnisse  auf  unser 
(Gegenstands  bereich     anzuwenden     und    sie     hierfür     fruchtbar     zu 


266     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

machen!).  Es  überschreitet  den  Rahmen  unserer  Aufgabe  und 
unserer  Ansprüche,  die  Fragen  des  Begriffs  und  der  Möglichkeit  von 
Wissenschaft  überha-upt  hier  zu  erörtern  und  einer  Lösung  zu- 
zuführen. Nun  ist  es  uns  auf  der  anderen  Seite  wohl  bekannt,  daß 
auch  in  jenen  Zweigen  der  Erkenntnis,  denen  diese  Aufgabe  besonders 
obliegt,  keineswegs  Übereinstimmung  unter  den  Denkern  herrscht. 
Nirgends  vielmehr  sind  die  Gegensätze  der  Meinungen,  die  Wider- 
sprüche in  den  geistigen  Errungenschaften,  die  grundsätzlichen 
Zweifel  und  die  methodischen  Fehden  heftiger  als  gerade  im  Gebiet 
der  philosophischen  und  logischen  Erkenntnislehre.  Den  Gründen, 
warum  dies  so  ist,  brauchen  wir  hier  nicht  nachzugehen;  und  noch 
weniger  haben  wir  Anlaß,  unsere  Kompetenz  zu  überschreiten,  indem 
wir  uns  als  Mitstreiter  in  dieses  Kampffeld  hineinbegeben. 

Und  doch  können  und  dürfen  wir  ihm  nicht  völlig  fern  bleiben, 
wenn  anders  wir  unsere  Fragestellung,  was  wir  unter  Psychiatrie 
als  Wissenschaft  zu  verstehen  wünschen,  zur  notwendigen  Klarheit 
zu  erheben  in  der  Lage  sein  wollen.  Wir  müssen  uns  vielmehr  klar 
und  eindeutig  zu  einem  Standpunkt  bekennen;  müssen  sagen, 
was  uns  Wissenschaft  bedeutet  —  auf  die  Gefahr  hin,  daß  diese  Be- 
deutung seitens  anderer  philosophischer  Schulen  nicht  anerkannt, 
sondern  verworfen  und  befehdet  wird.  Handelt  es  sich  doch  hier 
gleichsam  um  den  Mittelpunkt  allen  Strebens  nach  Erkenntnis,  um 
den  Punkt,  an  welchem  das  materiale  Einzelerkennen  und  sein  An- 
spruch eintritt  in  den  größeren  Kreis  der  Weltanschauung,  welche 
dem  Erkennenden  zu  eigen  ist ;  verknüpft  sich  doch  hier  der  schlichte 
und  sachliche  Wissenschaftsgedanke  mit  den  transgredienten  Grund- 
lagen geistigen  Strebens  und  geistiger  Haltung  überhaupt,  mit  den 
tiefsten  Wurzeln  der  geistigen  Persönlichkeit  und  ihres  Welt- 
bildes. Erkenntnislehre  wird  hier  zum  Exponenten  der  gesamten 
philosophischen  Auffassung,  deren  Tragik  und  deren  Größe  es  aus- 
macht, daß  sie  nicht  nur  ein  Erkennen,  sondern  auch  ein  Bekennen 
ist.  Und  so  sehen  wir  uns  in  der  Lage,  gerade  hier  Partei  ergreifen 
und  einen  Standpunkt  einnehmen  zu  müssen,  ohne  ihn  an  dieser  Stelle 
anders  begründen  zu  können,  als  mit  dem  Hinweis  auf  die  geistigen 
Führer,  als  deren  Nachfahren  wir  ihn  verfechten. 

Der  erkenntniskritische  Standpunkt,  den  wir  unseren  Auffassungen 
von  Wissen  und  Wissenschaft,  vom  Erkenntnisvermögen,  seinen 
Quellen  und  seinen  Gültigkeitsgrundlagen  im  folgenden  zugrunde 
legen,  ist  der  des  Kantischon  transzendentalen  Idealismus, 
wie  ihn  große  Philosophen  der  folgenden  Generation  von  anhaftenden 
Irrtümern  gereinigt,  strenger  formuliert  und  systematisch  ausgebaut 
haben.  In  erster  Linie  ist  imser  philosophischer  Führer  Jakob 
Friedrich  Fries,  dessen  weiterführenden  Ausbau  Kantischer 
Erkenntnislehre  in  den  letzten  Jahrzehnten  Nelson  und  die  neue 


1)  Vgl.  hierzu  und  zum  folgenden  die  gesamte  vorhergehende  Abhandlung 
»Über  die  wissenschaftstheoretiechen  Grundlagen  der  Psychologie«  usw.,  S.  113ff. 
dieses  Buches. 


Einführung  in  dir  Problematik  dea  W'itt«cn*jhuft«U,*griffc«.  267 

Friessche  »Schule  wieder  ans  Licht  geholt  und  erneut  haben.  Eh 
ist  kein  Zeichen  mangelnder  Objektivität,  wenn  wir  unnere  Zugehörig- 
keit zu  diesem  philosophischen  kStandj)unkt  immer  erneut  betonen, 
und  dementsprechend  alle  gerade  in  der  Psychiatrie  herrschenden 
Empirismen  und  mehr  oder  minder  verschleierte  »enorgotischo«  Ma- 
terialismen ebenso  abweisen  wie  jenen  »kulturphilosophischen« 
eklektischen  Transzendentalismus,  welcher  sich  neuerdings  in  einigen 
Werken  psychiatrischer  Art  einzunisten  versucht  hat.  Klarstes  und 
eindeutigstes  Bekonnortum  und  Parteiergreifen  ist  vielmehr  gerade 
ein  Zeichen  dos  Strebons  nach  Objektivität,  insofern  man  darunter 
Klarheit,  Bestimmtheit  und  Einsinuigkeit  versteht.  Würden  wir 
unsern  kStand})unkt  hinter  vorschwimmenden  Allgemeinbegriffen  und 
historischen  Abwägungen  verschleiern,  so  würden  wir  eine  Schein- 
objektivität vortäuschen,  welche  der  Unklarheit  alle  Wege  offen 
ließe  und  dennoch  nicht  objektiver  wäre,  als  dieses  Bekenntnis. 

Das  schließt  nicht  aus,  daß  wir  die  Feststellung  dessen,  was 
wir  im  allgemeinsten  Umriß  unter  Wissenschaft  verstanden  wissen 
wollen,  möglichst  befreit  von  allen  vorweggenommenen  Voraus- 
setzungen aus  denjenigen  Merkmalen  des  Wissens  und  der  Wissen- 
schaft ableiten,  über  welche  vor  allem  Streit  der  Meinungen  ein 
consonsus  omniura  besteht.  Alle  Einzolproblomo  der  Erkenntnis- 
quellen wie  der  Methodonlehre  finden  ihre  Lösung  dann  entweder 
innerhalb  der  Kant-Friesschcn  Erkenntnislehre  selber,  von -wo  sie 
hierher  einfach  übernommen  werden,  oder  in  besonderen  Erörte- 
rungen an  denjenigen  Punkten  der  materialen  Einzeluntersuchung, 
wo  ihre  Aufwerfung  notwendig  wird.  In  den  folgenden  kurzen  Sätzen 
geben  wir,  ohne  Hinweis  auf  die  literaiischen  Quellen,  eine  Zusam- 
menfassung der  allgemeinsten  Aussagen  über  den  Charakter  dea 
VVissens  und  der  Wissenschaft,  von  dem  Ausgangspunkte  an,  über 
welchen  allgemeine  Übereinstimmung  herrscht,  bis  zu  denjenigen 
Punkten,  die  uns  zur  vorläufigen  Kennzeichnung  unserer  Absicht 
für  dies  vorliegende  Unternehmen  genügend  erscheinen.  Das  Pole- 
mische in  ihnen  dient  lediglich  der  Abwehr  grundsätzlich  anderer 
Möglichk(,Mten,  ohne  deren  prinzipielle  Grundlagen  erschöpfend  be- 
kämpfen zu  wollen;  es  hat  also  nur  den  Zweck,  unseren  Standpunkt 
roiner  hervortreten  zu  lassen.  Leitgedanke  ist  \ins  hierl)ei.  daß 
gerade  der  Psycrhiater  gut  daran  tut,  einen  sehr  klaren  Begriff  vom 
Wesen  seiner  Wissenschaft  und  der  in  ihr  erforderten  Denkvollzüge 
an  die  Einzelforschung  mitzubringen.  Nur  so  kann  das  konventio- 
nelle, imbeglaubigtc  und  verschwommene  Gerede,  welches  immer 
noch  in  ihr  herrscht,  zum  Schweigen  gebracht   werden. 

Zum  Begriff  des  Wissens.' 

Wishcn  i.st  eine  Art  der  Erkenntnis,  und  zwar  eine  solche, 
welche  dem  reflektierenden  Bewußtsein  angehört.  Jede  begriff- 
liche   Bearbeitung,    welche    von»    Besonderen    zum    .\llgemeinen 


268      Pi'olegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissensohal't. 

führt,  jede  Verallgemeinerung  von  Anschauungen,  Wahrneh- 
mungen und  Beobachtungen,  jedes  Urteil  über  solche  Wahrneh- 
mungen und  Beobachtungen,  jedes  Vergleichen  und  Unterschei- 
den nennen  wir  Wissen.  Die  Bewußtseinsprozesse,  durch  welche  die 
einzelnen  Ergebnisse  derartigen  Wissens  entstehen,  sind  in  sich  ver- 
schiedener Art.  Gemeinsam  ist  ihnen  allein  ihr  Anspruch  auf 
G'eltung  und  tatsächliche  Richtigkeit. 

So  wie  wir  faktisch  das  Wissen  über  irgendein  Gegenstandsgebiet, 
vorfinden,  stehen  seine  Ergebnisse,  die  Erfahrungen,  zunächst 
noch  diskret  und  ungeordnet  nebeneinander.  Die  Art,  wie  sie  ge- 
macht werden,  ist  anfangs  weder  methodisch  einheitlich  noch  in 
gleicher  Weise  gegen  Irrtum  gesichert.  Auch  die  Kriterien  ihrer 
Richtigkeit  sind  von  Fall  zu  Fall  andere.  Es  bedarf  einer  besonderen 
Untersuchung,  um  diese  Ki-iterien  und  ihr  Prinzip  für  jedes  Wissen- 
schaftsgebiet erst  besonders  zu  entwickeln,  und  ebenso  unterliegt 
bei  fortschreitendem  Wissen  die  Berechtigung  und  die  Anwend- 
barkeit der  zu  ihm  führenden  Methoden  besonderen  Rechtsnach- 
weisen. Ferner  steht  zunächst  niemals  fest,  ob  das  Gegenstandsgebiet 
irgendeiner  solchen  denkenden  Bearbeitung  in  seinem  ganzen  Umfang 
von  ihr  getroffen  wurde  oder  nicht.  Die  besonderen  Untersuchungen 
über  alle  diese  Fragen  gehören  der  Kritik  an.  Jedoch  ist  es  tat- 
sächlich beim  Erwerb  dieses  Wissens  so,  daß  der  Geist  sich  seine 
einzelnen  Erkenntnisse  als  külmer  Pionier  im  Reiclie  der  unbekannten 
chaotischen  Gegenständlichkeit  zuerst  ohne  alle  Rücksicht  auf  der- 
artige Bedenken  der  Kritik  schafft.  Daher  ist  dieses  sein  Wissen 
über  irgendwelche  Gegenstände  anfangs  noch  mit  allen  Irrtums - 
möglichkeiten  des  Subjektiven  behaftet,  ein  ständiges  Fließen,  und 
ebenso  leicht  wie  es  auszubauen  ist,  auch  wieder  zu  stürzen.  Und 
doch  hebt  auf  der  Basis  dieses  Wissens  der  Begriff  der  Wissen- 
schaft sich  allmählich  stufenweise  empor. 

Hier  zeigt  sich  bereits  der  Spielraum  und  die  Breite  der  Zone 
von  Denk  Vollzügen,  deren  Inbegriff  wir  »Wissen«  nennen.  Diese 
Zone,  die  von  den  ersten  vorläufigen  Unterscheidungen  bis  zum 
einheitlich  festen  System  des  Erkennens  reicht,  besteht  auch  für  das 
Gegenstandsgebiet  der  Psychiatrie.  Jede  Bearbeitung  der  unab- 
sehbar strömenden  Fülle  unseres  seelischen  und  physischen  Materials, 
welche  in  ihm  einzelne  Punkte  festlegt,  herausgreift,  welche  irgend- 
wie Ordnung  oder  auch  nur  Orientierung  in  ihm  sucht,  trägt  bereits 
den  Charakter  des  Wissens  und  gehört  in  diese  Zone,  wie  subjektiv 
und  vorläufig  sie  im  übrigen  auch  sei.  Wenn  wir  auf  einen  bereits 
vorher  geäußerten  Einwand  zurückgreifen,  so  geht  aus  diesen  vor- 
läufigen ersten  Konstatierungen  schon  hervor,  daß  das  Wissen  seinem 
eigentlichen  Wesen  nach,  als  denkende  Verarbeitung,  bereits  immer 
ein  Fixieren  des  Strömenden  ist,  ein  Trennen  der  Kontinuität,  ein 
Erstarren  des  lebendigen  Geschehens,  ein  Festlegen  und  Ordnen 
der  sonst  unübersehbaren  Mannigfaltigkeit.  Es  ist  dem  mensch- 
lichen Geist  wesenhaft  zu  eigen,  Geschehen  nicht  anders  denkend 


Zviin  Bügriff  (\<--a  WissoiiH.  2G9 

einlangon  zu  können  als  in  solchen  orstariondon,  ordnenden  ProzoHrfon. 
Und  das  ist  ganz  unabhängig  von  dem  Gegonstandslxjreich,  welche» 
dieser  Bearl>oitung  unterliegt,  und  gilt  vom  PäychiHchen  genau  so 
wie  vom  Physischen.  Es  geht  also  auch  innerhalb  der  Psychologie 
dem  ganz  persönlichen  Sichversonken  hierin  nicht  anders,  soweit 
sein  Ergebnis  auf  Richtigkeit  Anspruch  erhebt,  als  es  strenger,  be- 
grifflicher Formulierung  ergehen  würde:  Jeder  Versuch  der  Er- 
fjissung  von  Seelischem,  auch  der  des  in  freier  Subjektivität  sich  in 
die  Seele  seiner  Objekte  Versenkenden,  ist  bereits  ein  solcher  Ord- 
nungsprozeü,  und  darum  gar  nicht  prinzipiell  und  methodisch  von 
dem  »ertötenden  Wissend  geschieden,  vor  welchem  er  so  viel  voraus- 
zuhaben vorgibt.  Nicht  erst  das  begriffliche  Fortschreiten  vom 
Individuellen  zum  Allgemeinen,  sondern  bereits  das  Festlegen 
des  einzelnen  biingt,  in  seinem  Ordnuugscharakter,  Schnitte  durch 
die  (ianzheit  des  seelischen  Lebenskontinuums  mit  sich;  so  ist  ea 
einem  Erstarrungs-  und  Kristallisierungsvorgang  vergleichbar.  Jener 
Einwand,  welcher  vorher  gegen  die  Psychiatrie  als  Wissenschaft  ge- 
richtet war,  erweist  sich  also  schon  bei  oberflächlichem  Zusehen  als 
ein  solcher  gegen  jede  geistige  Bearbeitung  der  psychologischen 
Materie  überhaupt;  wobei  gleichgültig  ist,  ob  diese  Bearbeitung  bis 
zur  Wissenschaft  fortschreitet,  oder  ob  sie  in  den  rudimentären  An- 
fängen ungeordneten  Einzelcrfahrens  von  vielleicht  noch  begriffloser 
Art  stehen  bleibt.  Diese  Erstarrung  des  Lebensstromes  in  Begriffen 
und  Regeln  ist  immer  unvermeidlich,  wo  der  denkende  Geist  einem 
Gegenstands  boreich  gegonübertritt.  Die  genauen  Gründe  dafür 
liaben  wir  in  unseren  wissenschaftstheoretischen  Grundlegungen  ge- 
geben. Dem  ist  nun  einmal  so,  und  so  ist  nicht  einzusehen,  warum 
dieses  unvermeidliche  Verhalten  gerade  in  der  Psychologie  mehr 
Schaden  stiften  sollte,  als  in  irgendeiner  anderen  Disziplin.  Jener 
Einwand  ist  wirklich  nur  ästhetischer  und  sentimentaler  Natur, 
wenn  er  sich  auch  metaphysisch  zu  verkleiden  liebt .  Wert  und  Wesen 
des  Wissens  berührt  er  gar  nicht. 

Warum  aber  verhält  sich  dies  so?  Warum  ist  Wissen  zugleich 
uumer  eine  Entfremdung  der  immittelbaren  Auffassung  erlebter 
Gegenständlichkeil?  Die  Antwort  hierauf  gibt  die  jisychologische 
Erkenntnislehre.  Ein  jedes  Gebiet  von  Gegenständen  des  Erfahrene 
ist  uns  zunächst  in  irgendeiner  vor  allen  anderen  Weisen  des  Be- 
wußtseins ausgezeichneten  Weise  unmittelbar  gegenwärtig  ge- 
geben, in  einer  Kontinuität,  in  der  wir  es  als  verflochten  in  eine 
räumliche  Gesamtheit  oder  in  ein  zeilliches  Geschehen  erleben.  Wir 
nennen  die  seelische  Funktionsklasse,  vermittels  dessen  uns  die  Gegen- 
stände in  dieser  Weise  unmittelbar  gegenwärtig  gegeben  sind,  An- 
schauung. 

Alles  Wissen  von  Gegenständen  der  Außenwelt  und  des  Seelen- 
lebens ist  nur  eine  allgemeingültige  Wiederholung  dieses  ursprüng- 
lichen, anschaulichen  Bewußtseins  von  jenen  Gegenständen;  d.  h. 
ea   gilt    unabhängig    von   der   Zufälligkeit    ihres    Erlebtwerdens   und 


270     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

herausgelöst  aus  ihrer  Zufallsbeziehung  zu  anderen  Gegenständen 
der  Erlebniskontinuität,  in  der  sie  gegeben  waren.  Es  ist  eine  will- 
kürliche und  mittelbare  Wiederbewußtmachung.  Diese  vollzieht 
sich  in  der  Sphäre  des  Denkens.  Den  Denk  Vollzügen  selber  haftet 
nichts  von  den  anschaulichen  Charakteren  mehr  an,  welche  die  un- 
mittelbare Gegebenheit  gekennzeichnet  hatten.  Sie  vollziehen  sich 
durch  Begriffe  und  Urteile.  Durch  welche  psychischen  Funk- 
tionen Begriffe  sich  bilden,  und  wie  bei  ihrer  Bildung  die  anschau- 
lichen Momente  zur  allmählichen  Ausschaltung  gelangen,  ist  eine 
psychologische  Sonderfrage  der  Erkenntnislehre,  die  uns  hier  nichts 
angeht;  und  ebenso  ist  das  Problem  der  Bildung  von  Urteilen, 
ihrer  Formen,  Gültigkeiten  und  Grundlagen  hier  nebensächlich.  Es 
genügt  hier,  daß  die  Eindeutigkeit  und  Herauslösung  des  Gewußter» 
eben  nur  um  den  Preis  der  Entanschaulichung  erkauft  werden  kann. 

Wissen  und  Wissenschaft. 

Wissen  nun,  das  den  Anspruch  auf  Richtigkeit  als  Zug  seines 
Wesens  trägt,  vollzieht  sich  niemals  allein  in  Begriffen,  sondern 
stets  in  Urteilen.  Beides  sind  willkürliche  Schöpfungen  des  Ver- 
standes ;  der  Begriff  aber  ist  problematisch,  eine  denkend  vollzogene 
Kombination  von  Merkmalen,  in  welcher  kein  Anspruch  auf  Existenz 
und  Realität  enthalten  ist.  Demgegenüber  liegt  es  im  Wesen  des 
Urteils,  einen  Gegenstand  oder  Tatbestand  zu  beurteilen,  eine  Aus- 
sage darüber  zu  versichern,  eine  Beziehung  vorzustellen  und  als 
gültig  zu  behaupten.  Auch  jede  Verwerfung  ist  ihrem  Wesen  nach 
die  Behauptung  eines  Geltens.i)  Im  Wesen  eines  Urteils  liegt  also 
der  Anspruch  auf  die  Richtigkeit  dessen,  was  es  aussagt.  Und  soweit 
ein  Urteil  sich  auf  Gegenstände  und  Tatbestände  der  Außenwelt  und 
des  Seelenlebens  erstreckt,  ist  dieses  Gelten,  dessen  Behauptung  das 
Wesen  eines  Urteils  ausmacht,  fundiert  durch  jene  unmittelbar 
gegenwärtige  Anschauung  des  Gegenstandes  oder  Tatbestandes,  von 
deren  anschaulicher  Gegebenheit  das  Urteil  ein  irgendwie  abgeleitetes, 
reflektiertes  Bewußtsein  ist.  Die  Anschauung  ist  also  der  Grund  der 
Geltung  aller  einzelnen  Erfahrungen,  wie  sie  sich  in  Urteilen  des 
einzelnen  Wissens  niederschlägt;  diese  Urteile  des  Einzelwissens  sind 
ja  letztlich  nichts  anderes,  als  eine  Wiederholung  der  angeschauten 
Wirklichkeit.  Die  Reflexion  ist  an  sich  leer,  sie  vermag  Wissen  aus 
sich  heraus  nicht  zu  erzeugen;  sie  vermag  lediglich  die  einzelnen  An- 
schauungen zusammenfassend  und  willkürlich  ordnend  wieder  bewußt 
zu  machen.  Hierin  aber  kann  sie  auch  irren;  und  das  Kriterium  hierfür 
ist  immer  die  Anschauung,  deren  Abbild  zu  geben  sie  berufen  ist. 


1)  Ob  die  Bestimmung  von  Beziehungen  als  gültig  in  jedem  Falle,  wo  sie 
im  Urteil  ausgesagt  wird,  logisch  auf  die  Behauptung  einer  Existenz  zurückgeführt 
werden  muß,  ob  die  synthetischen  Urteile  auf  thetische  reduziert  werden  müssen, 
wie  Brentano  will,  bildet  ein  besonderes  Problem.  Vgl.  hierzu  meine  Ausführungen 
im  Arch.  f.  d.  ges.  Psychol.    29.    Lit.-Ber.  S.  5ff. 


WiBscn  und  Wissenschaft.  271 

Nun  können  Beziehungen  von  Dingen  zueinander  nicht  angeschaut, 
sondern  nur  gedacht  werden.  Und  wenn  die  Geltung  derartiger  Be- 
ziehungen als  notwendig  und  allgemein  gedacht  wird,  unabhängig  von 
der  vereinzelten  Zufall.scxi.stenz  des  anschaulichen  Material.s,  an  wel- 
cher sie  jeweil.s  erfaßbar  werden,  so  beruht  dies  auf  Grundformen 
denkender  Erkenntnis  überliaupt,  welche  der  Form  jeder  möglichen 
Erkenntnis  bestimmter  Art  zugrunde  liegen.  Diese  Erkenntnisgrund- 
formen erscheinen  in  den  logischen  Urteilsformen;  wir  nennen  sie 
mit  Kant  Kategorien.  Wie  sich  diese  kategorialen  Formen  der  Er- 
kenntnis mit  dem  anschaulichen  Schema  ihrer  bestimmten  Anwend- 
barkeit auf  die  Erfahrung  zu  den  logischen  Urteilsformen  verbinden, 
und  wie  hierdurcii  denkende  Bestimmungen  gültiger  Art  an  der  An- 
schauungsmatcrie  sich  ermöglichen,  diese  Probleme  haben  uns  — 
für  das  psychisciie  Gebiet  —  bereits  ausführlich  in  der  VVissenschafts- 
theorie  des  Psychischen  beschäftigt.  Dort  haben  wir  auch  gezeigt, 
wie  Realrelationen  durch  sie  bestimmt  erkannt  werden.  Und  wir 
haben  im  Anscliluß  daran  den  Gedanken  der  Theorie  in  ihren 
verschiedenen  Formen  entwickelt.  Auf  alles  dies  sei  hier  nur  noch 
einmal  verwiesen. 

Was  dadurch  erreicht  wird,  daß  die  Reflexion  die  anschaulichen 
Gegebenheiten  in  Begriffe  bringt  und  beurteilt,  das  ist  die  Über- 
windung der  zufälligen  Zusammensetzung  und  Verknüpfung  des 
reflexionell  bearbeiteten  Anschauungsmaterials,  seine  Befreiung  vom 
Hie  et  Nunc  seines  Daseins.  Es  ermöglicht  sich  auf  diese  Weise  eine 
Beschreibung  des  Tatsächlichen  auf  Grund  seiner  qualitativen 
Merkmale  unter  Absehung  von  dem  ihnen  Unwesentlichen.  Es  er- 
möglicht sich  die  Klassifikation  des  Beschriebenen  unter  allge- 
meineren Begriffen,  welche  durch  Absehen  von  verschiedenartigen 
Merkmalen  und  Hervorhebung  gleicher  Züge  an  ähnlichen  Gegen- 
ständen und  Abläufen  gebildet  werden.  Wir  haben  hier  keinen 
Anlaß,  die  logischen  Prozesse  des  Klassifiziercns  irgendwie  näher  zu 
verfolgen.  Ihr  Endziel  ist  eine  Systematik  begrifflicher  Ordnung, 
bei  welcher  die  individuelle  Mannigfaltigkeit  in  ihrem  Einzclsein 
stufenweise  eingeht  in  eine  Rangordnung  allgemeinerer  und  allge- 
meinster Klassenbegriffe  und  Abgrenzungen,  vermitteb  deren  sie 
eindeutig  inbezug  auf  ihre  Stellung  im  Ganzen  des  Wissens  bezeichnet 
werden  kann.  Die  Beschreibung  des  einzelnen  Gescln  hens  und  Seins 
in  irgendeinem  (^regenstandsgebiet  nacli  seinen  wesentlichen  Eigen- 
arten, unter  Absehen  von  seiner  zufälligen  Einzelverfloohtenheit, 
durch  die  Merkmale  der  Klassifikation  wird  so  zu  einem  Gewinn 
wissenschaftlichen  Durchdenkens. 

Aber  jede  Klassifikation  bleibt  an  sich  willkürlich  und  proble- 
matisch, wenn  sie  nicht  an  irgendwelchen  Kriterien  orientiert  ist, 
die  ihre  Berechtigung  (xler  zum  mindesten  ihre  besondere  Zweck- 
mäßigkeit dartuu.  Diese  Kriterien  nun  können  nicht  aus  den  Be- 
griffen selber  stammen;  denn  bei  der  Kontinuität  des  Mannigfaltigen 
und  alles  Anschaulichen  ist  das  Herausheben  von  Einzelnem,  das 


272     Pfologomona  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

Absehen  von  anderem  Einzelnem  ein  Verfahren,  das  seinen  Rschts- 
gruud  nicht  in  sich  selbst  trägt.  Der  Gesichtspunkt,  unter  welchem 
dieser  willkürliche  Vollzug  von  Begriffsbildungen  geschieht,  muß 
vielmehr  seinerseits  in  irgendeiner  Grundlage  Wurzel  geschlagen 
haben,  die  außerhalb  der  Abstraktion  selber  liegt  und  diese  erst 
über  ein  bloßes  Spiel  der  Willkür  und  Problematik  hinaushebt. 
Hierfür,  für  diese  leitenden  Gesichtspiunkte  des  Abstrahierens  und  der 
Klassifikation,  kann  es  die  mannigfachsten  Motive  und  Zweckmäßig- 
keitsgründe geben.  Klassifikation  ist  nie  Selbstzweck,  wissen- 
schaftlich bedeutsam  wird  sie,  wenn  ihr  leitender  Gesichtspunkt 
einem  Rechtsgrund  entspringt,  der  selber  wieder  durch  das  Wesen 
der  Wissenschaft  geboten  ist.  Und  hiermit  kommen  wir  zum  Sinne 
der  klassifikatorischen  Ordnung.  Der  Sinn  und  Zweck  der  Begriffs- 
bildung, die  an  sich  willkürlich  und  problematisch  ist,  ist  das  Urteil, 
welches  bejaht  und  verwirft,  Verknüpfungen  als  bestehend  anerkennt 
und  auffindet,  welches  gilt,  welches  Wahres  aussagt.  Dar  Sinn  und 
Zweck  allgemeiner  Begriffe  ist  das  allgemeine  Urteil,  welches 
Regeln  aufstellt,  welches  den  Zufall  durch  die  Notwendigkeit,  das 
Chaos  durch  das  Gesetz  besiegt.  Dar  Sinn  der  Klassifikation  in  Be- 
griffen ist  systematische  Erkenntnis  von  Gesetzen  der  Not- 
wendigkeit des  empirischen  Geschehens,  auf  das  sie  sich  beziehen. 

Das  Ziel  des  Erkennens  ist  das  Gesetz  des  Geschehens. 

Das  Wesen  des  Gesetzes  ist  allgemeine  und  notwendige  Geltung 
der  in  ihm  ausgesagten  Verknüpfungen  des  Geschehens.  Für  alle 
in  empirischen  Anschauungen  gegebene  Gegenständlichkeit  voll- 
zieht sich  die  Auffindung  von  Gesetzen  aus  einzelnen  Erfahrungs- 
urteilen  im  Wege  des  Induktion  genannten  Schlußverfahrens, 
dessen  Geltung  für  alle  Naturwissenschaft  wir  bereits  vorausgesetzt 
haben.  Dem  Wesen  der  Induktion  gehen  wir  hier  nicht  nach.  Für 
die  physische  Gegenständlichkeit,  welche  in  raumzeitlicher  An- 
schauung gegeben  ist,  hieße  ein  solches  Unterfangen  Eulen  nach 
Athen  tragen,  nachdem  Baco,  Locke,  Hume,  Kant,  Whewell, 
Apelt,  "iMill,  Helmholtz,  Boltzmann,  Poincar6  und  andere 
erlauchte  Geister  dieses  Problemgebiet  methodologisch  geklärt  haben. 
Für  das  Gebiet  des  Psychischen  ist  hier  freilich  noch  viel  zu  tun; 
aber  das  wird  an  derjenigen  Stelle  dieses  Buches  nachzuholen  ver- 
sucht werden,  wo  es  erforderlich  wird^).  Hier  verweisen  wir  aus- 
drücklich auf  diesen  Abschnitt.  Vorerst  genüge  hier  die  Behauptung, 
daß  die  Induktion  wie  im  Bereich  des  Physischen  so  auch  in  dem  des 
Psychischen  die  Methode  zur  Auffindung  von  Gesetzen  zu  sein  hat, 
und  daß  dies  das  Ziel  wissenschaftlicher  Bearbeitung  der  psychischen 
Reihe  zu  bilden  hat:  Beherrschung  ihrer  kontinuierlichen  Mannig- 
faltigkeit durch  die  abstraktiven  Ordnungsbegriffe  der  Klassi- 
fikation zum  Zweck  der  Aufstellung  von  notwendig  geltenden  Ge- 
setzen des  Psychischen  im  Wege  der  Induktion.    Wir  werden  diese 


1)  Vgl.  S.  386  ff.  dieses  Buches. 


Der  Wisacnac-hafUbfgriff  dtr  raychiatrie.  278 

iicluiuptung  gegen  mancherlei  Einwände  nocli  zu  recht  fort  igen  halx*n 
niid  ihre  positive  Begründung  im  Laufe  des  Buche«  nicht  schuldig 
bleiben.  Hier  lx)kennen  wir  uns,  unserem  Vorwatz  getreu,  einfach 
zu  ilir. 

Das  Wesen  der  Wissenschaft  liegt  also  für  uns  in  d(>i  P^rkenntni« 
notwendiger  Gesetze.  Diese  Erkenntnis  ist  da.s  Ziel  aller  Tatsachen- 
beschreibung. Ihre  Methode,  die  Abstraktion,  erfolgt  unter  dem 
Zweckgesichtspunkt  der  Ermöglichung  von  Induktion.  Vermittels 
der  Abstraktion  beschreiben  wir,  vermittels  der  Induktion  er- 
klaren wir  die  Tatsachen  und  Zusammenhänge.  Beides  macht 
uns  das  Wesen  des  Wissens  aus. 


Der  Wissenschaftsbegriff  der  Psychiatrie. 

Wissenschaft  ist  nichts  anderes  als  der  Inbegriff  der  voll- 
endeten systematischen  Einheit  allen  Einzelwis.-^ens  über  ein 
Gegenstandsgcbiet.  Die  Ergebnisse  dieses  Einzelwissens  sollen  sich 
in  der  Wissenschaft  neben-  und  untereinander,  je  nach  dem  Umfang 
und  der  Tragweite  ihres  Gegenstandsgebiets,  ordnen;  so  sollen  Regeln 
und  Gesetze  klarer  heraustreten,  ihren  Geltungsbereich  deutlicher 
erkennen  lassen  und  ihr  gegenseitiges  logisches  und  reales  Verhältnis 
bestimmbar  machen.  Und  dieser  Prozeß  der  geistigen  Durchbildung 
und  Bearbeitung  alles  Gewußten  auf  irgendeinem  Gebiet  soll  zu 
einem  logischen  Aufbau  eindeutiger  Art  führen,  in  welchem  jedes 
Wissen  wie  in  einem  ungeheuren  Rahmen  Ort  und  Stelle  findet,  die 
niclit  vom  Zufall,  sondern  vom  Verhältnis  des  Teilwissens  zum  Ganzen 
bestimmt  wird.  Dieser  Aufbau  führt  von  der  Basis  des  einzelnen 
Tatsachenwissens  in  der  Einheit  eines  Systems  bis  zu  der  Spitze  all- 
gemeinster Geltungen.  Unter  diese  ordnen  sich,  nach  der  Tragweite 
ihres  Gegenstandsgebiets  und  nach  ihrem  logischen  Rang,  die  Grund- 
gesetze, und  von  diesen  hängen  ebenfalls  wieder  in  eindeutiger  Weii^e 
engere  Gesetze  und  Regeln  ab,  und  so  fort  bis  zur  Basis  des  Einzel- 
wissens hinunter.  Diese  Darstellung  soll  nur  eine  unbegriffliche, 
gleichsam  bildhafte  Idee  dessen  geben,  was  das  Wesen  der  Wissen- 
schaft ausmacht.  Mehr  braucht  an  dieser  Stelle  hierüber  nicht  ge- 
sagt zu  werden.  So  viel  ist  schon  hieraus  klar,  daß,  wenn  es  ein  eigene!? 
System  gibt,  aus  diesem  in  vielfacher  Hinsicht  Gewinn  und  Sicher- 
heit für  den  Fortsehritt  des  Wissens  gezogen  werden  kaiui.  Es  wird 
aus  ilim  herleitbar  sein,  was  gewußt  werden  kann.  Tragweite  und 
(Jeltungsbereich  gewonnener  Erkenntnisse  werden  durch  Einordnunu 
in  da.s  genannte  Gebäude  durchsichtiger  erkennbar.  Irrtümer  und 
Vorläufigkeiten  werden  deutlich  und  lassen  sich  l)ezeichnen.  Und  es 
werden  Kriterien  gewonnen,  um  den  Erk«nntnisanspruch  neuer  Fest- 
stellungen und  ihre  Irrtumsmögliehkeiten  leichter  zu  erfassen.  Letzto- 
res gilt  besonders  von  solchen  noch  problematischen  Erkennt nis,«5en, 
welche  allgemeiiu»rer  Natur  sind,  z.  B.  von  theoretischer  Konstruk- 
tion, und  von   Hypothesen.     E«  zeigen  sich  Wege,  auf  denen  die 

Kronfeld,  PsychUtrUchc  Erkcoutal«  18 


274     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

Forschung  weiter  schreiten,  auf  denen  sie  neue  Erkenntnisse  den 
alten  eingliedern  kann.  Dies  kommt  dadurch  zustande,  daß  das 
systematische  Ordnungsbedürfnis,  in  seiner  logischen  Bestimmtheit 
durch  den  bereits  vorhandenen  Rahmen  des  Systems,  zur  leitenden 
Maxime  weiterer  Forschung  wird,  daß  aus  ihm  Arbeitsgesichts- 
punkte und  Hilfshypothesen  abgefolgert  werden.  Endlich  er- 
gaben sich  aus  der  systematischen  Ordnung  überhaupt  die  Gesichts- 
punkte für  die  notwendige  und  weiterführende  Verarbeitung  noch 
ungeordneter  Wissensmaterialien :  Es  bilden  sich  nämlich  an  der  Hand 
dieser  leitenden  Maximen  neue  Methoden  aus,  die  nicht  nur  dem 
Gregenstandsbereich,  das  in  Frage  steht,  sondern  auch  dem  Bedürfnis 
dieses  wissenschaftlichen  Einbezogenwerdens  in  das  systematische 
Ganze  angemessen  sind. 

Überblicken  wir  diese  Vorstellung  von  Wissenschaft,  so  wird  uns 
auch  klar,  auf  welche  Weise  jene  früher  erwähnten  heuristisch-prak- 
tischen Regeln  und  Zweckgesichtspunkte  beginnender  denkender 
Bearbeitung,  wie  sie  das  systemlo  e  Wissen  und  die  Konvenienz  auf 
ihr  Gegenstandsbereich  anwendet,  durch  die  vom  System  der  Wissen» 
Schaft  her  gewonnenen  Leitmaximen  des  Denkens  ihre  formale  Ord- 
nung und  Rangbestimmung,  ihre  Sicherung  und  Bewährung  zu  emp- 
fangen vermögen,  —  kurz,  wie  es  möglich  wird,  aus  diesen  Konven- 
tionen bleibendes  wissenschaftliches  Gut  von  eigenem  Werte  zu 
schaffen.  Zugleich  wird  klar  —  und  das  ist  uns  höchst  wichtig  — , 
wie  andererseits  die  bloße  Idee  wissenschaftlicher  Systematik  zu 
einem  Wertkriterium  jener  praktischen  Konventionen  und  Regeln 
zu  werden  vermag. 

Wenden  wir  diese  Vorstellung  von  Wissenschaft  —  ohne  vorerst 
weitere  Klärung  im  einzelnen  notwendig  zu  haben  —  auf  unser  Gegen- 
standsbereich, die  Psychiatrie,  an,  so  ergibt  sich  als  grundlegender 
Inhalt  unserer  Aufgabe:  Psychiatrie  als  Wissenschaft  erfordert  die 
Beschreibung  und  Erklärung  der  Tatsachen  des  psychiatrischen 
Gegenstandsgebiets  im  Rahmen  einer  systematischen  Einheit.  Die 
allgemeine  Psychiatrie  hat  die  Möglichkeit  der  Lösung 
dieser  Aufgabe  kritisch  zu  untersuchen,  die  Grundlagen 
der  systematischen  Einheit,  soweit  eine  solche  hier  mög- 
lich wird,  hinsichtlich  ihrer  gegenständlichen  und  ihrer 
nichtgegenständlichen,  formalen  Voraussetzungen  zu  prü- 
fen und  die  Methoden  zu  ihrer  Aufstellung  festzustellen 
und  zu  begründen. 

Einige  Schwierigkeiten  der  Anwendung  des  Wissenschafts - 
begriffes  auf  die  psychiatrische  Materie. 

Mit  dieser  Feststellung  haben  wir  zwar  unsere  Aufgabe  bezeichnet, 
wie  sie  uns  in  ungeheurer  Tragweite  als  Vorwurf  einer  allgemeinen 
Psychiatrie  vorschwebt.  Allein,  gestehen  wir  es  uns  ruhig  ein;  Mit 
der  bloßen  Konzeption  dieser  Aufgabe  allein  ist  noch  nichts  gewonnen . 


Einige  SohwierigkeiU'ti  der  Aitweiuiung  des  WiMt-niichaf t*f     ^j     •   "  275 

Hinter  derselben  steht  wie  ein  großes  Fragezeichen  das  Problem  der 
Mittel,  mit  wtlclien  vh  diene  Aufgabe  zu  bewältigen  gilt.  Niclit«  wäre 
verfeiilter  und  mehr  wider  den  eigentlichen  Sinn  und  Ik-griff  von 
WiflflenHchaft  gerichtet,  als  nunmehr  alle  Materialien,  Inventionen 
und  Ergebnisse  des  Einzelwissens  unter  Vergewaltigung  und  V'cr- 
biegung  ihres  ursprüngliclien  Adäquat heitscharakters  gewaltsam  in 
den  llahmen  eines  Systems  zwingen  zu  wollen,  bloß  deshalb,  weil  die 
Idee  der  systematischen  Einheit  als  Leitstern  über  aller  wissenschaft- 
lichen Forschung  schwebt.  Was  Ix'i  einem  derartigen  Unterfangen 
herauskommt,  das  zeigen  uns  im  Gebiete  der  Psychiatrie  gerade  die 
früher  erwähnten  somatologischen  Systembildungen,  welche  einen 
Teil  der  für  die  Psychiatrie  zum  Ausgangspunkt  dienenden  Gegeben- 
heiten, nämlich  die  psychische  Reihe,  mit  völlig  unangemessenen 
Erkenntnismitteln  gewaltsam  unter  somatologische  Systembegriffe 
und  Maximen  zu  pressen  unternahmen  und  so  zum  Verdorren  brach- 
ten, welche  anstatt  wirklicher  und  leicht  gewinnbarer  Erkenntnis 
auf  diesem  Gebiet  nur  das  Zerrbild  einer  solchen  zu  produzieren  ver- 
mochten. Abgeschlossene  systematische  Einheit  der  Erkenntnis 
kann  nur  in  natürlicher  Entfaltung  aus  den  Erkenntnisdaten  und 
Erkenntaismitteln  adäquat  und  organisch  herauswachsen,  nie  kann 
sie  ihnen  von  außen  her  aufgezwungen  werden.  Und  so  bleibt  die 
Möglichkeit  der  Anwendung  unseres  Wissenschaftsgedankens  auf  die 
psychiatrische  Materie  nach  wie  vor  eine  dunkle  Frage,  deren  Lös- 
barkeit abhängt  und  bedingt  ist  von  den  eben  genannten  beiden 
Faktoren:  den  Erkenntnisdaten  und  den  Erkenntnismitteln. 
Was  die  letzteren  anlangt,  so  haben  wir  bis  jetzt  nur  für  die  Psycho- 
logie im  allgemeinen  und  ohne  Rücksicht  auf  spezielle  psychiatrische 
Ziele  unser  wissenschaftstheoretisches  und  logisches  Arsenal  prüfen 
können.  Und  bei  genauerer  Prüfung  ergibt  sich  da,  daß  auch  die 
Erkenntnismittel  in  ihrer  Angemessenheit  an  die  Erkenntnisdaten 
noch  einer  großen  Reihe  von  Schwierigkeiten  und  Zweifehl  unter- 
liegen. Diese  ist  freilich  ihrerseits  nicht  logischer,  sondern  mate- 
rialer Art,  soweit  es  sich  um  die  physischen  Gegebenheiten  handelt. 
Pur  die  physischen  Gegebenheiten  ist  die  Logik  der  Erkenntnis - 
Vollzüge  bis  zum  Aufbau  einheitlicher  Wissenschaft  klar  und  ein- 
deutig gelöst.  Kritik  der  Erkenntnismittel,  Methodenkritik  ist 
hier  immer  sachlich  bedingt,  aber  auch  sachlich  geboten.  Für  diese 
kann  die  allgemeine  Psychiatrie  sich  an  bewährte  Vorbilder  halten. 
Die  Methodenkritik  der  allgemeinen  Psychiatrie,  soweit  sie  an  die 
Verarl)eitung  der  pliysischen  Reihe  anknüpft,  ist  Einzelarbeit  unter 
tl«'n  (Jesichtspunkten,  die  für  alle  pliysi.sche  Naturwissenschaft  all- 
genu'inliin  gelten.  Wir  haben  hitr,  boi  der  Aufzeichnung  des  vor- 
läufigen Grundrisses  zu  einem  Bauplan,  grundsätzliche  Schwierig- 
keiten nicht  zu  Ix'fürchten.  Ganz  anders  wird  dies,  sobald  wir  der 
psychischen  R^'ihe  gedenken.  Und  die  Schwierigkeiten  häufen  sich 
in  dem  Augenblick,  wo  wir  uns  bt>wußt  werden,  daß  srlbst  nach 
einer  Lösung  systematischer  Möglichkeiten  für  die  psychische  Reihe 

18* 


276     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wisaenachaft. 

der  Erkenntnismaterialien  unserer  Wissenschaft  das  Restproblem 
bestellen  bleibt,  die  Ergebnisse  beider  Reihen,  der  physischen 
und  der  psychischen,  in  ihrer  ungeheuren  wesenhaften  Gegen- 
sätzlichkeit nebeneinander  zu  stellen  und  die  Erkenntnis  jeder 
dieser  beiden  Reihen  in  der  Form  einer  gemeinsamen  Dis- 
ziplin vereinheitlicht  zum  System  zu  erheben.  Dies  scheint 
eine  Aufgabe  zu  sein  von  solcher  Schwierigkeit,  daß  dem  mensch- 
lichen Geist  ihre  Lösung  überhaupt  nicht  beschieden  wird.  Was 
man  bisher  unter  Psychophysik  zu  verstehen  pflegte,  dieses  selt- 
same Sondergebilde  eines  genialen  und  abseitigen  Einzelgeistes,  wie 
Fechner  es  war,  und  vieler  ideenloser  Nachtreter,  füllt  diesen  Platz 
jedenfalls  ganz  gewiß  nicht  aus. 

Wir  sind  auch  weit  entfernt  davon,  hinsichtlich  des  letztgenannten 
Problems  der  Möglichkeit  einer  systematischen  psychophysischen 
Wissenschaft  uns  in  verfehlten  Hoffnungen  zu  wiegen.  Aber  es  wird 
schon  viel  gewonnen  sein,  wenn  man  überhaupt  erst  einmal  feststellt, 
was  denn  auf  diesem  Gebiete  wißbar  ist.  Die  Schwierig- 
keiten und  selbst  die  möglicherweise  sich  ergebende  Unlösbarkeit 
der  Aufgabe  systematischen  Wissens  auf  psychophysischem  Gebiet 
dürfen  uns  jedenfalls  nicht  veranlassen,  die  Wissenschaftsidee  als 
solche  fallen  zu  lassen  und  Psychiatrie  im.  Beharrungszustande  system- 
loser Einzelsammelei  von  Erkenntnissen  zu  belassen.  Es  ist  nicht 
richtig,  wenn  Jaspers  aus  der  von  ihm  von  vornherein  behaupteten 
Unmöglichkeit  einer  objektiven  Systemeinheit  auf  deren  Überflüssig- 
keit, ja  Gefährlichkeit  schließt.  Gewiß  hat  er  darin  recht,  daß  die 
bisherigen  Versuche  von  Systembildungen  auf  diesem  Gebiet  kaum 
mehr  waren  als  konstruktive  Verranntheiten  einzelner.  Aber  es 
hieße  das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten,  wenn  man  nun  daraus 
das  Recht  ableiten  wollte,  auf  den  Leitgedanken  wissenschaftlicher 
Systemeinheit  als  die  Idee  vollendeten  psychiatrischen  Wissens,  dem 
es  zuzustreben  gilt,  und  in  dessen  Dienst  alles  wissenschaftliche  Ar- 
beiten der  Psychiatrie  irgendwie  zu  stehen  hat,  zu  verzichten.  Jas  - 
pers  selbst  tut  dies  auch  gar  nicht,  wenngleich  er  vorgibt  es  zu  tun. 
In  allem  demjenigen,  was  er  an  Erörterungen  der  Gesichtspunkte 
und  Methoden,  der  Tatsachengruppierung  und  der  Erkenntnisförde- 
rung geleistet  hat,  tritt  für  jeden  ein  objektives  inneres  Zentrum  klar 
zutage,  wenn  er  dessen  Existenz  auch  gewissermaßen  offiziell  be- 
streitet und  zu  verschleiern  sucht;  und  dieses  Zentrum  ist  nichts 
anderes  als  die  Idee  der  wissenschaftlichen  Einheit  psychiatrischer 
Forschung,  deren  Vollendung  auch  durch  seine  Untersuchungen  zu 
verwirklichen  versucht  wird.  Es  mag  vorsichtig  sein,  diese  Idee 
nicht  auszusprechen,  um  sich  scheinbar  die  Vorurteilslosigkeit  des 
Arbeitens  zu  wahren  und  nicht  in  konstruktive  Fehler  zu  ver- 
fallen; wir  befolgen  diese  Vorsicht  nicht,  sondern  sagen  was  wir 
wollen. 


rrobh-rnc  (Ich  WiBaenK  um  S«-flii»chin.  '_'77 


Probleinr  de»  Wissenb  um  Seeliücheu. 

Aber  können  wir  die^*(•s  Wollen  realiBieren?  Die  Schwierigkeiten 
liegen  in  erHter  Linie  bei  denjenigen  Erkeuntnisniaterialien,  welche 
beim  Studium  GeiHteskranker  zu  allererst  gegeben  sind:  der  psychi- 
schen Keilu'.    Fassen  wir  diese  Schwierigkeiten  noch  genauer  in«  Auge. 

Es  kommt  uns  dabei  zunächst  durchaus  nicht  darauf  an,  etwa 
bezeichnen  zu  wollen,  was  denn  nun  das  Psychische  vom  Physischen 
grundsälzlicli  unterscheidet.  Es  ist  uns  nicht  wichtig,  das  Gebiet 
des  Psychischen  von  dem  des  Physischen  prinzipiell  abzugrenzen. 
Über  die  Möglichkeit  dieser  grundsätzlichen  Abgrenzung  ist  viel 
geschrieben  worden,  seit  dem  Nachweis  Brentanos,  daß  das  Merk- 
mal der  Ausdclmung  nicht  auf  alles  Physische  zutrifft,  und  dement- 
sprechend den  Unterschied  beider  Gegebenheitsreihen  nicht  konsti- 
tuiert. Diese  Frage  erscheint  uns  eine  müßige  Frage  jenes  unechten 
Theoretisierens,  das  fruchtlos  und  zwecklos  bleibt.  Wir  begnügen 
uns  mit  der  Tatsache,  daß  die  Ausdehnungslosigkeit  zweifellos  ein 
Merkmal  alles  Psychischen  ist,  welches  wir  aber  nicht  brauchen,  um 
Psychisches  als  solches  zu  erkennen.  Wir  begnügen  uns  damit,  daß 
wir  alles  Psychische  aus  seinem  Gegebenheitscharakter  heraus  un- 
mittelbar als  solches  erkennen  und  von  Nicht  psychischem  zu  \inter- 
scheidcn  vermögen  — gleiclivicl,  worauf  diese  Sonderart  des  unmittel- 
baren Gegebenseins  zurückführbar  sein  möchte^).  Wir  definieren 
auch  nicht  etwa  die  Sonderart  der  Gegebenheit  vom  Psychischen, 
wie  dies  in  schulmäßiger  Starre  oftmals  von  vornherein  geschieht, 
durch  das  Bewußtsein  oder  durch  das  Ich  oder  durch  Sonderqualitäten 
seiner  eigentümlichen  Anschaulichkeit,  oder  durch  das  unwiederhol- 
bare  Einzelsein  seines  Gegebenwerdens;  wir  haben  gar  keinen  Grund, 
uns  auf  derartige  konstruktive  Voreiligkeiten  festzulegen.  Es  genügt 
uns,  unmittelbar  zu  wissen,  daß  Psychisches  in  besonderer  und  vom 
Physischen  prinzipiell  unterscheidbarer  Weise  gegeben  und  erkennbar 
ist.  Die  Schwierigkeiten  im  Erkenntnischarakter  des  Psychischen 
und  seiner  Verarbeitung  zur  Einheit  einer  Wissenschaft  werden  nicht 
durch  Definitionen  des  Psychischen  und  Unterscheidungsmerkmale 
vom  Physischen  aus  der  Welt  gcscliafft ;  oder  wenn  sie  es  werden, 
so  sind  das  konstruktive  Scheinbarkeiten. 

Diese  Schwierigkeiten  liegen  vielmehr  darin,  daß  die  Art  des 
Gegebenseins  vom  Psychischen  es  auszuschließen  scheint,  eine  sj'ste- 
matiacho  konstruktive  Erkenntnis  nach  Art  der  Naturwissenschaften 
von  ihm  zu  haben.  Die  Bestimnning  zu  Gesetz  und  Kegel,  welche 
der  Naturforscher  an  den  Anschauungen  der  äußeren  Welt  ah  Ziel 
seines  Forschens  betrachtet  und  mittels  der  Induktionen  auch  voll- 
zieht, sind  im  Psychischen  wo  nicht  unmöglich,  so  doch  außerordent- 
lich erschwert.     Denn  diese  Bestimmung  zu  Gesetz  und  Kegel  ist  bei 


1)  Vgl.  hierzu  im  übrigen  unsiro  wiHson»chuftnkritiPchen  Erörterungen  du')«« 
Buchoa. 


278     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

physischen  Abläufen  allererst  ermöglicht  durch  die  Anwendung  der 
Mathematik.  Die  raumzeitliche  Gegebenheit  des  Physischen  er- 
möglicht die  Ausbildung  mathematischer  Bestimmungen  an  ihm; 
sie  macht  diese  notwendig.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Qualitäten 
wird  durch  sie  meßbar  und  in  Quantitäten  überführbar;  und  nur  so 
gelingt  es,  die  durch  die  raumzeitliche  Gegebenheit  des  Physischen 
ihm  zugrunde  liegenden  Notwendigkeiten  seines  Ablauf ens  zu  be- 
stimmen und  in  ihrer  allgemeinen  Gültigkeit  herauszustellen. 
Warum  das  so  ist,  haben  wir  oben  in  der  psychologischen  Wissen- 
schaftstheorie bereits  gestreift i).  Aber  eben  mit  der  völlig  anders- 
artigen Gegebenheit  des  Psychischen  fällt  die  Anwendbarkeit  der 
Mathematik  und  damit  die  Möglichkeit,  die  Dynamik  seines  Ge- 
schehens quantifizierbar  zu  machen,  fort;  es  fällt  die  oberste  Aufgabe 
aller  induktiven  Forschung  damit  in  sich  zusammen.  Jene  kon- 
struktive Theoretik,  welche  den  Inbegriff  systematischer  Natur- 
forschung an  physischen  Dingen  bildet,  erscheint  in  ihrer  mathe- 
matischen Bestimmtheit  bei  psychischen  Abläufen  ausgeschlossen. 
Zwar  haben  auch  die  psychischen  Qualitäten  Intensität,  und  das 
Prinzip  der  Stetigkeit,  nach  welchem  diese  Intensitäten  abstufbare 
Grade  durchlaufen,  ist  in  ihnen  wirksam.  Aber  in  der  methodischen 
Anwendung  dieser  Gesichtspunkte  ermöglichte  sich  lediglich  die 
Messung  dieser  Intensitäten  in  mathematisch  bestimmbarer  Weise, 
und  das  ist  für  die  Erkenntnis  des  Psychischen  eine  recht  neben- 
sächliche Aufgabe.  Kant  sagt  einmal,  daß  es  fraglich  sei,  ob  sich  eine 
psychologische  Naturtheorie  zu  einem  höheren  Grade  werde  ausbilden 
lassen  als  die  Scheidekunst  2).  Der  Grund  dieses  Zweifels  liegt  in  der 
Unmöglichkeit  der  Einführung  mathematischer  Bestimmungsstücke 
in  die  psychische  Djoiamik.  Nun  hat  ja  Kant  auch  von  der  »Scheide - 
kunst«  und  ihrer  Ausbildbarkeit  zu  einer  systematischen  Wissen- 
schaft eine  zu  geringe  Meinung  gehabt.  Aber  wenn  die  moderne 
Entwicklung  derselben  in  theoretische  Tiefen,  von  denen  Kant 
nichts  voraussehen  konnte,  möglich  war,  so  geschah  dies  eben  da- 
durch, daß  sie  doch  in  ganz  anderer  Weise  nach  Analogie  der  Physik 
der  mathematischen  Behandlung  zugänglich  wurde,  als  ihr  früherer 
Stand  dies  ahnen  ließ.  War  hier  Kants  Zweifel  auch  nur  vergleichs- 
weise berechtigt,  so  trifft  dies  für  die  Induktionen  der  Psychologie 
nicht  zu.  Es  ist  hier  nicht  so,  daß  irgendeinmal  eine  erweiterte  Er- 
kenntnis imstande  wäre,  mathematische  Bestimmungsstücke  an  die 
psychologischen  Induktionen  heranzubringen,  wo  wir  dies  heute 
noch  nicht  vermögen.  Vielmehr  ist  es  auf  Grund  der  besonderen 
Gegeben heits weise  des  Psychischen,  insbesondere  des  Ausschlusses 
der  Räumlichkeit  und  des  extensiven  Nebeneinanders  der  Teile, 
grundsätzlich  ganz  ausgeschlossen,  daß  die  mathematisch- 
dynamische  Bestimmung   der  geltenden  Gesetze,  daß  die  Umwand- 


1)  S.  129ff. 

2)  Metaphys.  Anfangsgründe  d.. Naturwissenschaft.  S.  172  (Dürrsche  Ausgabe). 


l'robleme  deä  WiBaenfl  um  Seelisclu-a.  279 

lung  der  Qualitäten  in  Quantitäten  innerhalb  den  Priychiächen  jemab 
sich  crmöglirlien  lieÜc. 

Wir  haben  bereits  frülier  angedeutet,  daß  es  sich  für  uns  alwo  um 
die  Frage  zu  handeln  hat,  vermittela  welcher  logisch-theoretiijcher 
Krsatzmechanismen  sich  trotz  dieses  Mangeb  die  Ausbildung  von 
Induktionen  für  die  psychischen  Materialien  sollte  ermöglichen  lassen. 
Wir  werden  diese  Frage,  die  wir  liier  nur  als  ein  Problem  registrieren, 
welches  in  der  Logik  der  Psychiatrie  eine  besondere  Holle  zu  spielen 
berufen  ist,  noch  mit  der  Ausführlichkeit  im  weiteren  VY'rlaufe 
dieses  Buches  zu  untersuchen  haben,  die  ihr  gebührt.  W'ir  dürfen 
jedenfalls  sagen,  daß  die  Verwirklichung  unserer  Aufgabe,  Psychiatrie 
nls  systematisclie  Wissenschaft  auszubilden,  von  der  Ixisung  dieses 
Problems  in  erster  Linie  mit  abhängt. 

Aber  auch  diese  Schwierigkeit  meinen  wir  nicht,  wenn  wir  von  den 
Zweifeln  sprechen,  welche  der  Lösung  unserer  Aufgalx;  entgegen- 
stehen. Denn  so  wichtig  die  Ausbildung  der  Induktion  im  Psychi- 
schen sein  muß,  um  Psychiatrie  als  Wissenschaft  zu  ermöglichen,  so 
können  wir  doch  mit  einiger  Ruhe  den  logischen  Untersuchungen 
entgegensehen,  die  uns  diese  Arbeit  leisten  werden.  Diese  Ruhe  ist 
berechtigt:  denn  die  Tatsache,  daß  es  psychologisches  Wissen 
gibt,  daß  wir  es  haben  und  täglicli  von  ihm  Gebrauch  machen,  be- 
weist doch,  daß  dieses  Wissen  mehr  als  Einzelwissen  ist,  daß  es  allge- 
meine und  notwendige  Geltung  beansprucht,  und  folglich,  wenn  es 
überhaupt  nach  Art  naturwisscnschaftliciier  Erkenntnis  gewonnen 
wurde,  den  Ciiarakter  der  Induktion  an  sich  trägt.  Sind  wir  uns 
dessen  auch  nicht  bewußt  geworden,  so  muß  es  logischer  Reflexion 
doch  gelingen,  die  Induktionscharaktere  hieran  herauszulösen  imd 
methodologisch  zu  prüfen.  Da  wir  hier  nicht  konstruktives  Bauen 
ins  Blaue  hinein  betreiben  wollen,  sondern  von  der  Tatsache  des 
Wissens  auszugehen  haben,  um  demselben  methodische  Reinheit  zu 
sichern,  so  ist  es  klar,  daß  irgendeine  Art  von  Induktion  tatsächlich 
auch  im  Psychischen  geübt  wird  und  vollziehbar  ist.  Das  Gebäude 
der  Psychologie  als  Wissenschaft  ist  also  durch  die  Notwendigkeit 
der  Ausbildung  psychologischer  Induktionen  nicht  grundsätzlich 
gefährdet,  ihm  fehlt  vorläufig  das  schützende  CJerüst  derselben.  Und 
dies  wird  sicli  vorsichtig  einl)auen  lassen,  zumal  das  wissenschafts- 
theoretische Fundament  bereits  fest  gegründet  steht. 

Die  Schwierigkeit  im  Ausbau  der  Psychologie  als  Wissenschaft 
liegt  vielmehr  noch  tiefer.  W^ir  haben  uns  in  einem  früheren  Absatz 
dieser  Erörterungen  auf  das  Wort  Martys  berufen,  welches  eine  Zu- 
8ammenfassui\g  alles  guten  systematischen  Denkens  in  einer  natur- 
wissenschaftlich zu  ordnenden  Empirie  ist  :  daß  die  Erkenntnis- 
vollzüge im  psychischen  Gebiet,  um  richtig  zu  sein,  um  zu  einer 
Wissenschaft  zu  führen,  keine  anderen  zu  sein  haben  als  die  aller 
empirischen  Erkenntnis.  Unsere  Schwierigkeit  beginnt  nvm  in  dem 
Augenblick,  wo  wir  dieses  Prinzip  des  psychologischen  Er- 
kennens  grundsätzlich    in  Frage  zu  stellen   haben. 


280     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

Und  wir  sind  gezwungen,  es  in  Frage  zu  stellen,  es  nicht  von 
vornherein  hinzunehmen  wie  etwas  Gewisses.  Wir  müssen 
hier  prinzipiellen  Bedenken  und  Zweifeln  Raum  geben ;  um  so  besser, 
wenn  es  kritischer  Einsicht  gelingt,  sie  zu  verflüchtigen.  Wider  den 
naturwissenschaftlichen  Charakter  psychologischer  Erkenntnis  wendet 
sich  eine  Gruppe  neuerer  Denker  aus  den  verschiedensten  Lagern 
mit  Gründen  von  solcher  Bedeutsamkeit,  daß  wir  ihnen  Raum  zu 
geben  haben.  Können  wir  diesen  Gründen  auch  nicht  beipflichten, 
so  zeigen  sie  uns  doch  Fragestellungen  an,  denen  wir  auf  unserem 
Wege  zur  Systemeinheit  der  Psychiatrie  unbedingt  zu  genügen 
haben  werden,  wenn  anders  wir  unserer  Aufgabe  gerecht  werden 
wollen. 

In  der  Tat  ist  es  von  vorherein  gar  nicht  gesagt,  daß  psychologisches 
Erkennen  nach  Art  einer  Naturwissenschaft  erworben  werde,  und 
erworben  werden  müsse.  Die  Annahme  einer  modalischen  Gleich- 
heit alles  Empirischen  kann  bestritten  werden.  Und  auch  wenn  sie 
nicht  bestritten  wird,  so  braucht  dann  noch  nicht  zu  folgen,  daß  die 
für  die  physische  Natur  geltenden  Erkenntnismittel,  logische  und 
kritische  Wege  und  Ziele,  auch  auf  das  ganz  andersartige  psychische 
Gegebenheitsgebiet  anwendbar  sein  müßten.  Läßt  man  die  Tat- 
sachen entscheiden,  so  zeigen  sie  ja  gerade  die  Willkür  und  Ergebnis- 
armut der  naturwissenschaftlich  ausgebildeten  konstruktiven  Psy- 
chologie. Mehr  noch:  Stellt  man  ihnen  unser  tatsächhches  Wissen 
vom  Seelischen  gegenüber,  so  scheint  sich  zu  zeigen,  daß  dieses  Wissen 
vom  seelischen  Geschehen  auch  tatsächlich  ein  toto  genere  anders- 
artiges ist,  als  jedes  naturwissenschaftliches  Wissen.  Es  richtet  sich 
auf  individuelle  Gegebenheiten  und  Geschehnisse;  es  setzt  sich 
nicht  zum  Ziel,  diese  unter  quantitativen  Regeln  und  Gesetzen  in 
ihrer  allgemeinen  Gültigkeit  zu  erkennen,  sondern  sie  gerade  um- 
gekehrt in  ihrer  individuellen  Besonderheit  und  Bedeut- 
samkeit erfassend  zu  begreifen;  nicht  ihre  Typik,  sondern  gerade 
ihre  Einmaligkeit  ist  anscheinend  das  Ziel  psychologischer  Erkenntnis - 
einst  eilung.  Von  ihnen  aus  die  Totalität  des  individuellen  Bewußt- 
seins, der  sie  entstammen,  zu  erfassen,  erscheint  als  Preis  psycho- 
logischen Erkennens.  Dieses  Bewußtsein  aber  ist  jedesmal  ein  ein- 
maliges, eine  einzelne  Persönlichkeit.  Wirklich  gegeben  ist  dem 
Erkennenden  auf  diesem  Gebiet  aber  nur  eine  einzige  Persönlichkeit, 
nämlich  seine  eigene ;  und  auch  diese  nur  in  demjenigen  momentanen 
Querschnitt  ihrer  Zeitkontinuität,  in  dem  er  sich  jedesmal  gerade 
auf  sie  einstellt.  Zu  jedem  Zeitpunkt  ist  selbst  diese  identische  Per- 
sönlichkeit in  ihrer  Gegebenheitskomplexion  eine  andere;  daß  ihre 
Identität  gewußt  wird,  ist  etwas  Rätselhaftes.  Von  dieser  Individuali- 
tät aus  aber  versteht  er  durch  irgendein  problematisches  »einfühlen- 
des« Analogisierungsverfahren  seelischer  Art  auch  die  anderen  Indi- 
vidualitäten, mit  denen  er  sich  erkennend  befaßt;  er  versteht  sie 
nach  Art  seines  eigenen  Ich  und  doch  gerade  in  ihrem  besonde- 
ren   Anderssein.     Die   Vollendung    dieses   Verständnisses   zu   un- 


Probleme  des  WiMcn«  um  SecliBcheH  2ftl 

beirrbarer    Sicherheit     gerade    im    Erfassen    des    individuell- 
Idealen  sclifiiit  diis  Ziel  wiilirhufter  psychologiHcher  Erkennt  nis. 

Unter  dieser  Einstellung  der  psychologisehen  (Grundfrage  öffnen 
sich  neue  Rätsel:  Was  ist  das  für  eine  Art  von  Erkennen  dea 
Individuellen,  die  hier  geübt  wird?  Wie  weiß  ich  um  die 
Identität  und  Kontinuität  des  Ich  bei  verschiedenen  seelischen 
Zuständen?  Wodurch  unterscheidet  sich  die  materiale  Ge- 
gebenheit des  eigenen  Ich  von  den  niaterialcn  Gegebenheiten 
fremder  Iche?  Wie  weiß  ich  um  den  Iclicharakter  fremder 
Iche?  Wie  weiß  icli  ül>erhaupt  um  die  Zusammengehörigkeit  de» 
jetzigen  seelischen  Soseins  mit  irgendwelchen  jetzt  erinnerten 
früheren  Zustünden  von  Anderssein,  die  mir  als  »in  mir«  gegeben 
unmittelbar  bewußt  sind?  Mit  welchem  Recht  wende  ich  eine  äh.n- 
liche  Identifizierung  zeitlich  verschiedener  Geschehnisse  als  in  einer 
Persönlichkeit  ablaufend  auf  andere  Leiber  an,  in  denen  ich 
seelisches  Geschehen  voraussetze?  Was  sind  das  für  Methoden, 
vermittels  deren  ich  das  seelische  Geschehen  in  fremden 
Ichen  begreife?  Mit  welchen  Erkenntnismitteln  kann  ich  den 
psychologischen  Widersinn,  welcher  in  den  Begriffen  »Fremd« 
und  »Ich«  liegt,  bei  meiner  seelischen  Erkenntnis  anderer  Pei- 
sönlichkeiten  überwinden?  Wie  ist  es  möglich,  das  Individuelle 
in  seinem  Einzelsein  zum  Gegenstand  allgemeiner  und  not- 
wendig geltender  Erkenntnis  zu  machen?  Wie  sind  allgemeine 
Gesetze  vom  Individuellen  möglich?  Was  bedeutet  unter  allen 
diesen  Bedenken  überhaupt  noch  der  Begriff  des  seelischen 
Gegebenseins?  Wo  liegt  die  Gewißheit  des  Tatsächlichen 
des  Seelischen,  welches  mir  jetzt  und  früher  in  völlig  verschiedenen 
Umständen  gegeben  ist?  Gemeint  ist  hier  sowohl  die  Realität  selber 
als  auch  besonders  die  Bestimmung  dessen,  was  als  Tatsache  im 
Psychischen  zu  gelten  Anspruch  hat.  Und  endlich:  Wie  weit 
läßt  sich  die  Erkenntnis  des  Fremdich  ausdehnen?  Wie 
weit  geht  die  Vorausset zungs berecht  igung  der  seelischen  Homo- 
logien? Ist  die  Gebundenheit  an  den  menschlichen  Leib, 
ein  außerpsychisches  Kriterium,  sind  die  Ausdrucksbewegungen 
genügende  Rechtsgründe  zu  dieser  Voraussetzung?  Diese  Frage 
wird  sich  erst  nach  Untersuchung  der  psychologischen  Analo- 
gisierungsmechanismen  aufklären  lassen,  welche  das  Ich  in 
fremden  Ichen  wiederfinden  und  dennoch  von  ihnen  abheben  — 
jene  Vorgänge,  welche  triviale  Simplifizierung  mit  den  Deckworten 
»Einfühlung«,  »Verstehen  «  usw.  zu  erledigen  glaubt.  Die  Breite 
der  Homologien,  oder  wenn  man  will  Homopsychien :  Wo  findet  sie 
ihre  (Jrenze  ?  Beim  Menschen?  Bei  den  Tieren?  Im  Bereich  des 
Lebendigen  ?  Ist  diese  Gemeinsamkeit  des  Lebendigen  durch  diese 
Homologctik  unmittelbar  gegeben?  —  Oder  ist  umgekehrt  die  Ge- 
bundenheit psychischen  Gegebenseins  durch  den  Umkreis  des  Lebens 
überhaupt  manifestiert?  Diese  Fragen  sind  für  die  Psychiatrie 
deshalb  so  besonders  wichtig,  weil  in  denjenigen  fremden  Ichen,  um 


2  82     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

deren  seelisches  Erfassen  es  sieh  gerade  für  sie  handelt,  ja  seitens  der 
Medizin  irgendein  gemeinsames  Merkmal  mit  dem  Begriff  des  Kran- 
ken oder  Krankhaften  analogisch  bezeichnet  worden  ist;  wir  wissen 
hier  noch  nichts  von  diesem  Merkmal,  welches  wir  erst  viel  später 
an  die  Dinge  heranzutragen  für  berechtigt  halten  dürfen;  es  sagt  hier 
nicht  mehr  aus  als  das  Negative,  daß  diese  Menschen  eben  in  irgend- 
einem Punkt  ihrer  seelischen  Komplexion  nicht  nach  Analogie 
anderer  Fremdiche  erfaßbar  sind.  Wie  verhält  sich  jene  ge- 
heimnisvolle Analogisierungstendenz,  welche  uns  hier  das  Wesen 
seelischen  Erfassens  anderer  Persönlichkeiten  auszumachen  schien, 
diesen  besonderen  Ichen  gegenüber?  Wie  wird  hier  psycho- 
logische Erkenntnis  von  »Geisteskranken«? 

Psychiatrie  als  Geisteswissenschaft  —  eine   mögliche 
Fragestellung? 

Die  Häufung  dieser  Fragen  hat  etwas  Erschreckendes.  Gerade 
weil  sie  nicht  von  der  schönen  logischen  Bestimmtheit  und  Über- 
sichtlichkeit sind,  die  der  Naturforscher  in  seiner  Materie  zu  stellen 
gewohnt  ist,  gerade  weil  sie  etwas  von  dem  dunklen  und  verschwom- 
men-geheimnisvollen Charakter  haben,  den  das  Licht  empirischer 
Naturforschung  vor  allem  zu  vertreiben  und  zu  durchleuchten  be- 
stimmt ist,  darum  —  müssen  sie  aufgeworfen  werden.  Sie  bestreiten 
der  Naturforschung  im  Prinzip  die  Möglichkeit,  sie  beantworten  zu 
können,  ja  sie  nur  zu  sehen.  Es  gibt  zwei  Möglichkeiten:  Entweder 
diese  Fragen  sind  mit  denselben  Methoden  auflösbar  und  beantwort- 
bar, welche  wir  bisher  als  die  Wege  zum  Ziel  systematischen  Wissens 
von  empirischen  Dingen  bezeichnet  haben,  also  mit  denen  der  Natur- 
wissenschaft. Dann  ist  es  unsere  Pflicht,  sie  nicht  zu  verschleiern 
und  beiseite  zu  schieben,  wie  dies  bisher  stets  geschah,  sondern  gerade 
zu  zeigen,  wie  diese  Einfügung  ihrer  Lösung  in  den  systematischen 
Rahmen  des  Ganzen  sich  vollziehen  läßt.  Das  wäre  dann  nicht  nur 
die  Pflicht,  sondern  auch  das  Recht  und  der  Triumph  der  Natur- 
wissenschaft auf  einem  Gebiete,  wo  man  ihre  Zuständigkeit  aufs 
stärkste  bezweifelt  und  zu  untergraben  gemeint  hat.  Oder  —  und 
dies  ist  die  andere  Möglichkeit:  Die  Naturforschung  in  dem  von  uns 
verstandenen  Sinne  ist  in  der  Tat  nicht  berufen  und  befähigt,  diese 
Fragen  beantworten  zu  können.  Dann  wird  nicht  die  Berechtigung 
dieser  Fragen  erschüttert,  sondern  die  sachliche  Ausschließ- 
lichkeit naturwissenschaftlicher  Bearbeitungsweisen  in 
der  Psychologie  wird  zu  verneinen  sein.  Dann  aber  haben  wir  die 
Pflicht,  diesen  Fragen  jenseits  der  naturwissenschaftlichen  Be- 
arbeitungsweisen eine  Lösung  zu  suchen,  eine  Sonderwissensohaft 
von  ihren  Lösungen  zu  intendieren. 

Nun  sind  diese  Fragen  in  der  vollständigen  Explizitheit,  wie  sie 
oben  gestellt  wurden,  tatsächlich  bisher  noch  nirgends  gestellt  worden. 
Aber  das  ihnen  wesentliche  Gemeinsame  findet  sich  doch  schon  in 


Psychiatrie  alä  ticistcswissonBchaft  —  eine  mögliche  FragttitelJungT      283 

sehr  durchdachter  Form  bei  zahlreichen  und  hervorragenden  Geistern. 
Und  diese  haben  aucli  Antworten  auf  die  ihnen  wichtige  Heraus- 
Bonderung  einzehier  Fragestellungen  dieser  Art  jeweila  ge.sucht  und 
zu  finden  vermeint.  All  diesen  Antworten,  so  verschieden  sie  in  sich 
sind,  ist  das  Eine  gemeinsam,  daß  sie  in  bewußten  Gegensatz  traten 
zu  denjenigen  Erkenntnisweisen,  welche  wir  bisher  als  für  alle  Er- 
fahrung gültig  vorausgesetzt  haben,  zur  Induktion,  zur  Naturwissen- 
schaft. Psychologie  als  Geisteswissenschaft  wird  von  ihnen 
gefordert  und  metliodisch  auszubilden  versucht.  Hätten  diese 
Denker  recht,  so  würde  auch  in  der  Psychiatrie  neben  eine  Psychiatrie 
als  Naturwissenschaft,  eine  Psychiatrie  als  Geisteswissenschaft 
zu  treten  haben.  Diese  würde  zum  mindesten  ein  Teilgebiet  der 
Psychologie  umfassen  müssen.  Es  kann  natürlich  nicht  unsere  Auf- 
gabe sein,  anstatt  daß  wir  zu  positiver  eigener  Arbeit  kommen,  uns 
zuvor  mit  jedem  einzelnen  der  hierher  gehörigen  literarischen  Doku- 
mente kritisch  zu  befassen.  Des  ehrwürdigen  Dilthey  beschrei- 
bende Individualpsychologie  —  oder  vielmehr  der  schwache  Ver- 
such, den  er  zu  einer  solchen  unternimmt  —  wird  im  ersten  Teil 
unserer  psychologischen  Untersuchungen  selber  behandelt.  Der 
spielerische  Geißtreichtum  Simmeis  in  seiner  systemlosen  Einfalls- 
mäßigkeit  gerade  zu  diesen  Problemen  erscheint  uns  kritischer  Vor- 
untersuchung nicht  bedürftig:  Ihm  fehlt  die  Lebenskraft,  um  das 
Gebäude  der  Psyciiologie,  wie  es  bisher  war,  ernstlich  zu  erschüttern. 
Ähnlich  stehen  wir  zu  Bergsons  hierher  gehörigen  Ausführungen. 
Wir  haben  uns  als  vorbildlichen  Denker  dieser  Gruppe  einen  Mann 
gewählt,  mit  welchem  uns  das  Streben  nach  systematischer  Voll- 
endung und  der  wissenschaftliche  Ernst  eines  inneren  Zentrums 
ebenso  verbindet,  wie  die  klare  Stellung  zum  Problem  naturwissen- 
schaftlicher Erkenntnis;  einen  Mann,  der  zugleich  der  erste  Anreger 
des  größten  Teiles  dieser  Fragestellungen  war  und  der  klarste  Ex- 
ponent ihrer  geisteswissenschaftlichen  Beantwortungsmöglichkeiten 
ist:  Heinrich  Rickert.  An  seinen  Ausführungen  haben  wir  bereits 
genau  untersucht,  wie  es  um  diese  Probleme  der  Psychologie  als 
Geisteswissenschaft  bestellt  ist^).  Eine  letzte  hierher  gehörige  Gruppe 
der  Denker,  die  Phänomenologen  der  Husser Ischen  Schule,  ins- 
besondere Husserl  und  Scheler,  aber  auch  Geiger,  Pfänder  usw. 
nehmen  zu  allen  diesen  Dingen  und  Problemen  noch  eine  Sonder- 
stellung ein.  Diese  ist  aber  prinzipiell  ganz  andersartig;  ihre  Be- 
handlung erfordert  besondere  Voraussetzungen.  Zu  den  genannten 
Denkern  treten  nun  noch  eine  Reihe  von  Verfechtern  bestimmter 
theoretischer  P^inzelmoinungon  über  das  Wesen  psychologischer  Er- 
kenntnis, welche  auf  Grund  besonderer  systematischer  Standpunkte 
gewoinien  worden  sind.  Hier  seien  nur  Natorp,  Meinong,  Lipps. 
Münstorberg,  Max  Weber  genannt. 

Im  allgemeinen   kann    man   drei  große  Gruppen   von   Antworten 

1)  Vgl.  S,  195ff. 


284     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

unterscheiden,  welche  in  einem  von  der  naturwissenschaftlichen 
Psychologie  abweichenden  Sinne  gegeben  werden.  Die  erste  dieser 
drei  Gruppen  weist  der  psychologischen  Erkenntnis  eine  besondere 
Evidenz  im  Gegensatz  zur  physischen  Erkenntnis  zu,  wenngleich 
sie  deren  empirischen  und  damit  naturwissenschaftlichen  Charakter 
in  gewisser  Weise  aufrecht  erhält.  Durch  diese  Evidenz  werden 
viele  Fragen,  die  wir  oben  aufgeworfen,  beseitigt  und  als  nicht  vor- 
handen erklärt.  Die  zweite  Gruppe  stellt  die  psychologische  Er- 
kenntnis, soweit  sie  aufs  Individuelle  und  »Historische«  geht,  als 
eine  Grundform  geisteswissenschaftlicher  Erkenntnis  in  Gegen- 
satz zu  aller  Naturwissenschaft.  Eine  dritte  Gruppe  hebt  die  Be- 
trachtung rein  qualitativer  Momente,  des  reinen  phänomenalen 
Bestandes,  jenseits  aller  Existenz-  und  Realitätsfragen,  als  ein 
besonderes  Gebiet  reiner  Intuition  über  alle  Empirie  und  damit 
alle  Naturwissenschaft  hinüber  ins  Gebiet  der  apriorischen  idealen 
Einsicht.  Es  ist  ihr  hierbei  gleichgültig,  ob  es  sich  um  ein  physisches 
oder  psychisches  Gegenstandsgebiet  handelt.  Die  zweite,  wichtigste 
Gruppe  haben  wir  bereits  in  unserer  psychologischen  Wissenschafts - 
lehre  abgetan.  Die  grundlegenden  Gedankengänge  der  ersten 
und  der  dritten  Gruppe  aber  gilt  es  bei  der  Grundlegung  der  Phäno- 
menologie noch  zu  verfolgen  und  zu  prüfen,  um  sich  über  das 
Problem  einer  nicht  naturwissenschaftlichen  Psychologie  ganz 
endgültig  klar  zu  werden.  Aus  dieser  Prüfung  müssen  sich  die  Lö- 
sungen der  genannten  Fragen  ergeben,  welche  allein  ein  systema- 
tisches Wissen  vom  Seelischen  als  möglich  oder  unmöglich  erkennen 
lassen.  Die  allgemeine  Psychiatrie  ist  zur  Ermöglichung  ihres  eigenen 
Aufbaus  befugt  und  berufen,  die  Lösung  dieser  Fragen  als  eine  ihrer 
Vorarbeiten  in  Angriff  zu  nehmen.  Wir  halten  es  für  notwendig, 
diese  ihre  Aufgaben  schon  hier  besonders  zu  bezeichnen. 

Allgemeiner  Rahmen  für  die  vorliegenden  Untersuchungen. 

Mit  allen  diesen  Ausführungen  haben  wir  nunmehr  den  Kreis 
der  Grundfragen  und  Voruntersuchungen,  welcher  das  Problem  der 
Psychiatrie  als  Wissenschaft  umgibt,  abgesteckt.  Die  Möglichkeit 
der  Psychiatrie  als  Wissenschaft  aber  war  uns  der  Vorwurf  für  eine 
allgemeine  Psychiatrie.  Die  folgenden  Untersuchungen  sollen  nur 
der  Aufgabe  gewidmet  sein,  auf  der  Basis  der  Lösung  des  oben  ab- 
gesteckten Problemkreises  das  Gebäude  einer  allgemeinen  Psychiatrie 
in  seinen  Grundmauern  zu  errichten.  Wir  können  nicht  versprechen, 
daß  die  Aufrichtung  dieses  wissenschaftlichen  Gebäudes  in  gänzlich 
voraussetzungsloser  Weise  erfolgt.  Voraussetzungslose  Wissenschaft 
gibt  es  nicht.  Aber  dies  eine  können  wir  sagen :  Wir  werden  zur  Aus- 
führung unserer  Aufgabe  weniger  voraussetzen,  als  irgendeine  wissen- 
schaftliche Bearbeitung  der  Psychiatrie  bisher  vorauszusetzen  ver- 
mocht hat.  Nicht  einmal  die  Voraussetzung  werden  wir  machen, 
daß  Psychiatrie   nur  eine  Naturwissenschaft  sei  und  lediglich  nach 


AJlgfmoiner  Rühmen  für  die  vorliegenden  UnttTHUchungen.  285 

natuiwissenschuftliclier    Mctliude    ausgebildet    werden    dürfe.       Die* 
Mittel,  mit  welchen  wir  Psychiatrie  als  Wissenschaft  durch  unsere 
allgemeine   Psychiatrie  sichern   wollen,  sollen  lediglich  von  der  for- 
malen Logik,  von  den  niaterialen  apriorischen  Voraussetzungen  jeder 
möglichen   wissenschaftlichen   Erkenntnis    —   welche   wir  in   unserer 
Wissenschaftstheorie  gerechtfertigt  haben    —  und   von  den   Bedin- 
gungen geliefert   werden,   welche  dem   Gegenstandsgebiet  der   Psy- 
chiatrie   methodisch    und   heuristisch   immanent   sind.      Nichts   soll 
gesagt  werden,  was  nicht  mit  diesen  angegebenen  Mitteln  gedacht 
zu   werden   vermag.     Da  nun  die  formale  Logik  und  die  materialen 
Voraussetzungen  jeder   möglichen   wissenschaftlichen   Erkenntnis  in 
gleicher   Weise    für   alle  Gegenstände  Geltung  haben,  so  kann  eine 
Einteilung  des  Werkes  zwanglos  nur  nach  eben  den  Gegenstandsge- 
bieten erfolgen,    welche  das  Material  und  die  Ausgangspunkte  psy- 
chiatrischer    Forschung     sind:      den    unmittelbaren    Gegebenheiten 
seelischer   und  somatischer   Art.     Freilich   werden   wir  selbst   diese 
Gegebenheiten,  so  sehr  sie  den  Anfang  aller  Forschung  bilden,  nicht 
ohne   weiteres   hinzunehmen  haben:     Vielmehr  gilt   es  selbst,   nach 
ihrem  Gegebenheitscharakter    das   besondere  Wesen  ihrer  Tat- 
sächlichkeit   zu     problematisieren.      Hierzu    zwingt    uns    die 
schon  gekennzeichnete   Heterogenio   beider   GiJgebeuheitsreihen,   der 
physischen  und  der  psychischen;  »Tatsache«  bedeutet  im  Physischen 
etwas  Eindeutiges  und  durch  die  Weise  ihres  anschaulichen  Gegeben- 
seins Bestimmtes;  hier  liegt  keine  Unklarheit  vor.     »Tatsache«  aber 
im  Psychischen  —  was  ist  dies?     Hier  gilt  es  erst  noch  die  Proble- 
matik des  »Bewußtseins«,  des  »inneren  Sinns«  und  aller  jener  Fragen 
zu  klären,  die  wir  bei  Erwähnung  der  geisteswissenschaftlichen  Psy- 
chologie berührt  haben.     Wir  werden  über  diese  Fragen  nicht  mit 
schönen   und   wohlgesetzten   Worten  hinwegkommen;   bedeuten  sie 
doch  für  uns  den  Schlüssel  zur  Verwirklichung  unserer  Arbeit,  und 
da  fühlen  wir  die  ganze  Schwere  der  Verantwortung,  die  an  ihrer 
Bearbeitung   hängt.      Aber  aucli   die   physischen   Tatsachen  sind  in 
sich    von    ungleichem   Cliarakter:   Hirnbefunde,  Biochemismen,   Pu- 
pillensymptome,    Bewegungsanomalien,    Ausdrucksphänomene    und 
Konstitutionsdaten  —  alle  diese  einzelnen  Kla.'^sen.  und  noch  manche 
andere,  sind  von  verschiedener  wissenschaftlicher  Dignität  und  von 
verschiedenem    systematischen    Range.      Auch    hier  gilt   es   für  eine 
allgemeine  Psychiatrie,  zu  klären  und  abzugrenzen. 

Indem  wir  auf  diese  eise  die  Gegebenheiten  unserer  Gegenstands- 
gebiete zur  Grundlage  unseres  Aufbaus  machen,  gedenken  wir  so  zu 
verfahren,  daß  bei  der  Einzelarbeit  die  bestehenden  Feststellungen 
bisheriger  Forschung  zunächst  hingenommen  werden,  und  nur  so 
weit  sieh  eine  immanente  Kritik  notwendig  nuuht,  formal  durch- 
gebildet werden.  Diese  Durchbildung  soll  immer  an  der  Hand  der 
bestehenden  Forschung  erfolgen  und  in  ständigem  Fortschreiten  mit 
immer  stärkerer  begrifflicher  Präzision  bis  zu  Feststellungen  von 
grundsätzlicher   Geltung    und    formalem   Charakter   gelangen.      Auf 


286     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  WisBenschaft. 

diese  Weise  immanenter  Weiterbildung  wird  beim  Einzelaufbau 
überall  an  Bestehendes  angeknüpft,  alle  Konstruktionen  und  Theorien 
werden  zugunsten  der  geforderten  immanenten  Theoretik  ab- 
gewiesen. So  beginnen  wir,  um  nur  ein  einzelnes  Beispiel  für  viele 
zu  nennen,  bei  der  Erörterung  des  Wesens  geistiger  Erkrankung 
nicht,  wie  dies  selbst  in  manchen  Lehrbüchern  heute  noch  beliebt  ist, 
mit  irgendeiner  Behauptung  darüber,  was  Kjankheit  im  Psychischem 
sei,  nicht  mit  irgendeiner  willkürlichen  Definition  oder  Deduktion 
eines  Krankheits  begriff  es  —  weil  ein  solches  Verfahren  mit  Not- 
wendigkeit zu  steriler  Dogmatik  führen  müßte.  Wir  übernehmen 
vielmehr  fürs  erste  die  bisherige  unbegriffliche  Geltung  der  Be- 
zeichnung Krankheit,  ohne  Abgrenzung  ihres  gegenständlichen  Um- 
fanges  und  ihrer  Merkmale.  Wir  suchen  uns  darüber  klar  zu  werden, 
in  welchen  logisch  verschiedenen  Bedeutungen  diese  Bezeichnung 
Krankheit  in  der  psychiatrischen  Forschung  auftritt.  Die  einzelnen 
materialen  Bestimmungsstücke  und  Kriterien  aber  entwickeln  wir 
für  diese  Bedeutungen  erst  ganz  allmählich  bei  der  Klärung  der 
materialen  Einzelfragen  psychiatrischer  Forschung,  bis  wir  ange- 
sichts des  vollendeten  Gesamtsystems  der  allgemeinen  Psychiatrie 
glauben  dürfen,  uns  auch  des  Krankheits  begriff  es  oder  vielmehr  der 
Krankheitsbegriffe  derselben  wissenschaftlich  versichert  zu  haben. 
Und  so  wird  bei  allen  für  das  systematische  Ganze  der  Psychiatrie 
wesentlichen  Begriffen  verfahren  werden. 

Wir  behandeln  in  diesem  Werke  zunächst  allein  die 
psychische  Reihe  und  die  Möglichkeit,  aus  ihr  Erkenntnis 
zu  gewinnen.  Wir  untersuchen  die  Kriterien  und  Geltungsgrund- 
lagen dieser  Erkenntnis  und  ihrer  Bearbeitungsmöglichkeiten.  In 
unseren  wissenschaftstheoretischen  Grundlagen  haben  wir  bereits 
ausgeführt,  aus  welchen  Hauptabschnitten  eine  derartige  Unter- 
suchung zu  bestehen  hat.  Es  war  zunächst  die  Wissenschafts - 
theorie  psychischer  Erkenntnis  selber,  welche  wir  als  das  Funda- 
ment jeder  möglichen  Erkenntnis  des  Seelischen  von  allgemeiner 
und  notwendiger  Geltung  auffaßten  und  in  einem  besonderen  Teil 
dieses  Buches  durchgebildet  haben.  Ihr  schließt  sich  die  Phäno- 
menologie und  deskriptive  oder  ontologische  Theorie  des 
Psychischen  an.  In  ihr  werden  die  Probleme  geklärt,  wie  uns 
Psychisches  als  ein  Wirkliches  gegeben  ist,  sei  es  im  eigenen,  sei  es 
im  fremden  Ich,  und  wie  diese  Gegebenheit  des  Psychischen  zur  Er- 
kenntnis desselben  wird.  Hierüber  wird  der  folgende  Teil  dieses 
Buches  ausführlich  handeln.  Der  zweite  Band  dieses  Werkes  wird, 
auf  Grund  dieser  phänomenologischen  Grundlagen,  das  psychisch - 
pathologische  Material,  so  wie  es  als  symptomatisch  wesentlich  vor- 
gefunden wird,  zunächst  zergliedernd  zur  phänomenologisch-theo- 
reitschen  Darstellung  bringen.  Als  nächster  Teil  in  einer  allgemeinen 
Psychiatrie  muß  die  genetische  Theorie  seelischen  Zusammen- 
hanges und  Auseinandervorgehens  entwickelt  werden.  Wir  fassen 
diese   genetische   Theorie,   kraft   unserer   wissenschaftstheoretischen 


Allgemeiner  Ralimcn  für  die  vorliegenden  Untersuchungen.  287 

ytatuierungen,  als  eine  dynamische  Erklärung  des  psychischen 
Geschehens  auf.  Diese  Psychodynamik  ist  nun  für  das  Gegen- 
standsgebiet der  Psychiatrie  eine  wesentlich  andere  als  für  das  der 
gewöhnlichen  Psychologie.  Aus  diesem  Grunde  entwickeln  wir  iliren 
Aufbau  —  abgesehen  von  den  ersten  Fundamenten,  welclie  die  Wiii.sen- 
schaftstheorie  bereits  für  ihn  festlegte  —  nicht  mehr  in  diesem  Bande, 
sondern  erst  in  dem  zweiten  Bande  dieses  Werkes  im  Anschluß  an 
die  phänomenologische  Symptomatik.  Dort  wird  auch  die  Lehre 
Freuds,  Adlers  und  ihrer  Scliüler,  als  der  einzige  grundlegende 
Versuch  einer  Psychodynamik,  der  bisher  überhaupt  unternommen 
worden  ist,  gewürdigt  und  in  das  Ganze  einer  psychodynamischen 
Theorie  hineinverarbeitet  werden.  —  Einen  Teil  der  genetischen 
Theorie  des  Psychischen  muß  auch  die  Psychophysik  bilden.  Und 
zwar  nicht  in  ihrem  ganzen  Umfange  —  welcher  erst  bei  der  Durch- 
arbeitung der  physischen  Reihe  bloßgelegt  werden  kann,  sondern 
nur  insofern  als  sich  physische  Zwischenglieder  in  die  Kette  dyna- 
mischer Verknüpfungen  von  Psychischem  tatsächlich  eingeschaltet 
finden.  Darauf  soll  hier  noch  nicht  näher  eingegangen  werden.  Eia 
weiterer  Hauptabschnitt  hat  sich  mit  der  Frage  zu  beschäftigen,  wie 
sich  die  Ergebnisse  der  bisher  geannnten  Grundlegungen  zu  einer 
Typenlehre,  zu  einer  Charakterologie  und  Persönlichkeits- 
psychologie verbinden  lassen.  Es  wird  sich  hier  zeigen,  daß  ihrer 
theoretischen  Struktur  nach  verschiedene  Arten  von  Typenbildungen 
psychischer  Ganzheiten  vorkommen.  Es  finden  sich  statisch - 
deskriptive  Typen,  bei  welchen  ein  bestimmtes  Nebeneinander 
und  Übereinander  von  funktionalen  Dispositionen  in  gleichbleibender 
Weise  für  die  Beschreibung  erfaßbar  wird  und  die  Persönlichkeit  be- 
stimmt. Es  finden  sich  dynamische  Typen,  bei  welchen  nicht  so 
sehr  die  Dispositionen  selber,  als  vielmehr  die  besondere  Anord- 
nung in  den  dynamischen  Beziehungen  derselben  es  ist,  welche 
das  innere  Gesetz  dieser  Typen  ausmacht  (Lügner,  Phantast  usw., 
reaktive  Psyciiopathen).  Es  finden  sich  ferner  Kombinationen 
beider  Gruppen  miteinander  zu  komplizierteren  Charakteren.  Es 
findet  sich  endlich  eine  logische  Beziehung  dieser  im  weitesten  Sinne 
noch  deskriptiven  theoretischen  Grundlagen  zu  Wertbegriffen » 
sei  es  sozialer,  sei  es  sonstiger  (»biologischer«)  Art,  welche  gerade  in 
der  Psychiatrie  vielfach  ganz  ungeklärt  angewendet  werden.  Die 
Probleme  der  Entartung  und  des  Degenerativen  und  andere  ähnliche 
haben  hier  ihre  psychologische  Stelle.  Alle  diese  Fragen  werden 
gleichfalls  erst  im  folgenden  Bande  dieses  Werkes  systematisch  dar- 
jiestellt  werden.  In  diesem  Bande  aber  wird  es  zweckmäßig  sein, 
wenigstens  noch  dasjenige  theoretische  Problem  der  Typenlelire  vor- 
wegzunehmen, welches  für  sie  von  einer  gewissen  prinzipiellen  Be- 
deutung ist  :  nämlich  das  Problem  der  theoretischen  Struktur  des 
Typus  überhaupt.  Insbesondere  wird  hier  die  Tragweite  und  das  Gel- 
tungslxjreich  von  Wertbestimmungen,  Normen  und  Normalitäten  im 
wissenschaftlichen  Ganzen  der  Psychiatric  untersucht  werden  müssen. 


288     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

Zur  Typenforschung  gehört  auch  die  experimentelle  Psycho- 
pathologie, welche  nur  eine  besondere  Methodik  der  differentiellen 
Psychologie  des  Pathologischen  ist.  Auch  sie  soll  im  folgenden  Bande 
gewürdigt  werden. 

Mit  dieser  Einteilung  ist  die  allgemeine  Psychiatrie,  soweit  sie  in 
diesem  Werke  zur  Darstellung  gelangen  soll,  erschöpft.  Nicht  aber 
ist  damit  schon  das  Gebiet  der  allgemeinen  Psychiatrie  überhaupt 
völlig  umgrenzt.  Es  hätte  sich  vielmehr  an  diese  theoretische  Dar- 
stellung der  psychischen  Reihe  die  der  physischen  Reihe  anzu- 
schließen. Hier  wäre  es  notwendig,  Grundfragen  psychophysischer 
Theoretik  überhaupt  einmal  grundsätzlich  nach  allen  Seiten  zu  klären, 
um  aus  dem  ungelösten  Dilemma :  Parallelismus  oder  Wechselwirkung 

—  zu  einer  logischen  und  theoretischen  Entscheidung  zu  gelangen. 
Ferner  wäre  es  notwendig,  jene  psychophysischen  Arbeitshypothesen 
der  Lokalisationslehre  und  Nervenphysiologie  zur  Darstellung  zu 
bringen,  welche  sich  für  die  bisherige  psychiatrische  Forschung  als 
so  überaus  fruchtbares  Arbeitsprinzip  erwiesen  haben.  Endlich 
müßte  in  dem  Rahmen  dieser  Psychophysik  eine  Ordnung  der  somato- 
logischen  Daten  erfolgen,  von  den  Hirnbefunden  an  bis  zu  den  bio- 
logischen Gesichtspunkten  der  Entartung,  von  den  psychophysischen 
Begleitsymptomen  der  Motilität  und  der  reflektorischen  Erregbar- 
keiten bis  zu  den  Ausdrucksbewegungen.  Hierbei  müßte  auch  die 
Rolle  des  körperlichen  Symptoms  bei  Geistesstörungen  in  jener  theo- 
retischen Verschiedenwertigkeit,  welche  etwa  ein  Pupillensymptom, 
ein  Stoffwechselbefund,  eine  Liquorreaktion  und  eine  Veränderung 
der  Muskelspannung  exemplifizieren,  ihre  Begründung  erfahren.  Aus 
einer  derartigen  Untersuchung  würde  als  wertvollster  allgemeiner 
Gewinn  die  Klärung  der  pathogenetischen  und  ätiologischen 
Fragestellungen  in  der  Psychiatrie  hervorgehen. 

So  wäre  die  klinische  Heuristik  der  speziellen  Psychia- 
trie und  ihrer  Forschungs weisen  systematisch  vorbereitet. 

In  diesem  Werke  wird  der  vorgezeichnete  Weg  nur  für  die  psy- 
chische Reihe  eingeschlagen  werden.  Für  diese  ist  eine  allgemeine 
Psychiatrie  auch  von  dringendster  Notwendigkeit:  Die  abgeklärte, 
methodisch  und  sachlich  zielsichere  Forschung  in  der  physischen 
Datenreihe  bedarf  keiner  neuen  systematisch-kritischen  Fundierung 

—  zum  mindesten  nicht  in  dem  Maße  wie  die  psychische  Seite  der 
Forschung.  Für  diese  gilt  als  unmittelbare  Gegenwartsforderung, 
daß  sie  herausgelöst  werden  muß  aus  den  konventionellen  Regeln 
und  Schematismen,  welche  zurzeit  in  ihr  verschwommen  herum- 
gehen. Ebenso  muß  sie  aber  herausgehoben  werden  aus  der  klinischen 
Schilderei  und  der  willkürlichen  Abgrenzung  von  »Krankheiten«, 
»Krankheitseinheiten«,  »Symptomverkupplungen«  und  der  dog- 
matischen Statuierung  von  Symptomen;  sie  muß  herausgehoben 
werden  aus  dem  Wust  unbeglaubigter  normativer  Typenbildungen 
mit  scheindeskriptiver  Fassade,  welche  unsere  klinische  Arbeit  bisher 
durchsetzen  und  zersetzen. 


Anhaiig.  289 

Anliuiig: 

Bemerkungen  über  ininiunente  theoretische  Kritik  an  kon- 
struktiven Hypothesen  in  der  Psychologie. 

Ich  schließe  hier  einige  Bemerkungen  an,  welche  mit  den  bisher 
behandelten  Themen  in  innigem  Zusammenhang  stehen;  und  die  ich 
daher  nicht  unterdrücken  wollte,  obwohl  der  äußere  Anlaß  zu  ihnen 
ein  scheinbar  abseitiger  ist.  Ich  wies  schon  darauf  hin,  daß  im  zweiten 
Bande  dieses  Werkes  ein  systematischer  Grundriß  der  psychi- 
schen Dynamik  gegeben  werden  soll,  und  daß  ich  dort  aucii  den 
Lehren  Freuds  und  seiner  Schule  gerecht  zu  werden  hoffen  dürfe. 
Mit  diesen  Lehren  habe  ich  mich  bereits  einmal  ausführlicher  be- 
schäftigt, und  zwar  hinsichtlich  ihrer  theoretischen  Voraussetzungen  i). 
Den  materialen  Bestand  der  Freudschen  Entdeckungen  habe  ich 
damals  nicht  zum  Gegenstand  einer  Kritik  gemacht,  und  zwar  aus 
Mangel  an  eigener  Erfahrung  und  eigener  Kenntnis.  Ich  habe  aller- 
dings betont,  daß  der  Freudsche  und  Bleulersche  Begriff  von 
Tatsachen  den  Erwerb  der  Kenntnis  von  solchen  Tatsachen,  völlig 
getrennt  von  jenen  theoretischen  Präsumtionen,  außerordentlich 
erschwere.  Ich  bin  der  Überzeugung,  und  werde  diese  in  einem 
späteren  Abschnitt  dieses  Buches  begründen,  daß  diese  Schwierig- 
keit nicht  nur  an  Freuds  oder  Bleulers  Ansicht  von  dem  liegt, 
was  eine  Tatsache  im  Psychischen  sei,  sondern  daß  sie  auch  im  Wesen 
der  psychischen  Tatsächlichkeit  überhaupt  begründet  ist. 

Meine  Untersuchung  über  die  Theoretik  Freuds  hat  nun  unter 
seinen  Schülren  eine  Reihe  von  Gegenschriften  gezeitigt,  als  deren 
bedeutsamste  ich  hier  die  Abhandlungen  von  Rosenstein  *), 
Stärcke^)  und  Bleuler*)  betrachte.  Außerhalb  der  Freudschen 
Schule  hat  sich  Lewandowsky^)  ausführlicher  zu  meiner  Arbeit 
geäußert.  Wenn  meine  folgenden  Bemerkungen  an  Ausführungen 
dieser  Kritiker  anknüpfen,  so  ist  dies  für  den  Inhalt  dessen,  was  ich 
sagen  will,  gewissermaßen  zufällig.  Meine  Absicht  ist  vielmehr  die. 
am  Beispiel  einer  Überlegung  an  der  Hand  dieser  kritischen  Ein- 
wendungen das  Wesen  einer  immanenten  Kritik  an  irgend- 
welchen Arbeitshypothesen  im  allgemeinen  darzulegen,  und  zu  zeigen. 
daß  die  Immanenz  einer  Kritik  mit  ihrem  theoretischen 
Charakter    durchaus    vereinbar     ist.      Diese    Feststellung    ist 

*)  Kronfeld,  ('ber  die  psycholopischen  Theorien  Freuds  und  verwandte 
Anschauungen.  Archiv  f.  d.  ge.s.  Psychol.  Bd.  22.  Heft  2/3.  Auch  als  Buch 
Leipzig   1912. 

-)  Jalirbuch  f.  pgychoanalyt.  Forschung.     Bd.  IV.     S.  741 — 798. 

3)  Psychoanalyse  vom  theoretischen  Standpunkt.  Psych,  en  Neur.  Bladon 
1912.  No.  3.  Dies  ist  die  beste  Arbeit  über  Freuds  Lehre,  welche  überhaupt 
aus  seiner  Schule  hervorging.  Sie  hat  meine  Stellung  in  vieler  Hinsicht  entscheidend 
beeinflußt. 

*)  Arch.  f.  d.  ges.  Psychol.     Bd.  23. 

*)  Ztschr.  f.  d.  ges.  Neurol.  u.  Psych.,  Referate.     1913. 

Kronfeld,  PsycblatrUchc  Erkenntnis.  19 


290     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft.  ' 

nämlich  auch  für  den  Wert  der  kritischen  Untersuchung  des  ganzen 
vorliegenden  Buches  von  einschneidender  Bedeutung.  Der  hier  zu 
erbringende  Nachweis  tut  dar,  daß  die  Bestrebungen  dieses  Buches 
nicht  etwa  eine  abseitige  Eigenbrödelei  oder  ein  philosophisches 
Spintisieren  sind,  daß  sie  keine  Standpunktsfrage  sind  und  ihre  An- 
nahme oder  Ablehnung  nicht  in  das  Belieben  des  einzelnen  gestellt 
ist,  sondern  daß  sie  sachlich  der  Psychiatrie  immanent  sind,  unbe- 
schadet ihres  theoretischen  Charakters.  Diese  Immanenz  ist  eine 
grundsätzliche  und  notwendige;  und  damit  werden  die  Untersuchun- 
gen dieses  Buches  zu  einen  brennenden  praktischen  Postulat  der 
psychiatrischen  Forschung. 

Nur  so  weit  als  ich  diesen  Nachweis  hier  noch  einmal  erbringen 
will  —  eigentlich  steckt  er  schon  in  allem  bisher  Gesagten  immer 
wieder  drin  — ,  nur  so  weit  besteht  für  mich  ein  äußerer  Anlaß  zur 
Anknüpfung  an  die  Äußerungen  meiner  Kritiker  und  zu  einer  Polemik 
gegen  dieselben.  Bezüglich  meiner  Stellung  zu  Freud  selber  und 
seinen  Forschungen  will  ich  aber,  zur  Vermeidung  von  Mißverständ- 
nissen, nochmals  ausdrücklich  bemerken:  Über  seine  Theorie  habe 
ich  hinsichtlich  ihres  Wertes  als  Theorie  in  meiner  Arbeit  gesagt, 
was  damals  zu  sagen  war.  Der  negativen  Aufgabe  jener  Kritik  will 
ich  im  zweiten  Bande  dieses  Buches  die  positive  folgen  lassen, 
jene  Theorien,  deren  Richtigkeit  ich  angefochten  habe,  einwandfrei 
umzugestalten  und  so  durchzubilden,  daß  die  bisherigen  logischen 
und  theoretischen  Widersprüche,  die  ich  aufwies,  in  Fortfall  geraten. 
Dies  wird  möglich  durch  Einordnung  der  Freud  sehen  Lehren  in 
den  Gesamtrahmen  der  psychologischen  Theoretik.  Natürlich  besteht 
diese  Möglichkeit  nur  so  weit,  als  auch  eine  materiale  Überein- 
stimmung meiner  Auffassungen  mit  denen  Freuds  und  seiner  Schule 
besteht.  Diese  aber  besteht  in  wesentlich  weiterem  Umfange,  als 
meine  Ki'itiker  merkwürdigerweise  voraussetzen.  Hierüber  verweise 
ich  an  die  zuständigen  Stellen  des  zweiten  Bandes. 

Ich  möchte  vor  allem  an  die  recht  leidenschaftliche  Arbeit  Rosen  - 
Steins  anknüpfen.  Dieser  Autor  ist  überzeugt,  trotz  meinem  »großen 
Aufwände  an  logischen,  psychologischen  und  philosophischen  Argu- 
menten« i)  die  »Unsachlichkeit «  meiner  Kritik  der  Theorien bildung 
Freuds  »genügend  gekennzeichnet  zu-  haben «2).  Er  äußert  die 
Absicht,  nach  der  Abrechnung  mit  mir  »wieder  zur  geordneten  Arbeit 
überzugehen  «2),  scheint  also  für  seine  eigene  Kritik  den  Anspruch 
auf  das  Prädikat  einer  »geordneten  Arbeit«  nicht  zu  erheben.  Ich 
finde  diese  Schärfe  unangebracht.  Persönlich  neige  ich  nicht  dazu, 
die  Achtung  vor  dem  sachlichen  Wollen  eines  anderen  zu  negieren, 
mit  welchem  ich  gemeinsame  Probleme  bearbeite  —  mag  auch  der 
Standpunkt  ein  verschiedener  sein.  Ich  werde  mich  also  Rosen - 
Steins  Urteil  über  seine  Arbeit  nicht  anschließen,  obwohl  ich  seine 


1)  S.  741. 

2)  S.  798. 


Anhang.  2'Jl 

Argumente  und  die  Art,  wie  er  sie  vorbringt,  nicht  für  l>erechtigt 
halte.  Der  alte  Lotze  sagt  einmal^):  »Den  Verstimmungen  der 
Gefühle  halten  wir  im  täglichen  Leben  viele  Unarten  und  Ungerechtig- 
keiten zugute.«  Rosen.steins  Kritik  i.sl  mir  sachlich  wertvoller, 
als  sehr  viele  zustimmende  Kritiken,  welche  mein  Freudbuch  erfuhr 
und  welche,  zuweilen  in  recht  unkritischer  Weise,  meine  Absicht 
völlig  mißverstehend,  die  Meinung  vertreten,  als  sei  n\inmehr  die 
Freudsche  Lehre  und  das  Freud problem  definitiv  erledigt  und 
aus  der  Welt  geschafft.  Wie  wenig  das  meiner  eigenen  Meinung  ent- 
spricht, geht  aus  verschiedenen  Stellen  meines  Freudbuches  2)  klar 
hervor,  und  ich  habe  es  auch  schon  betont. 

Beide  Seiten  sind  eben  voreingenommen;  und  beide  halten  mich 
für  voreingenommen.  Nun  war  Voreingenommenheit  bisher 
überhaupt  derjenige  Vorwurf,  welchen  Anhänger  und  Gegner  der 
Freud  sehen  Lehren  einander  am  häufigsten  machten,  und  fast 
immer  mit  Recht.  Beispiele  für  diese  tatsächliche  Voreingenommen- 
heit auf  beiden  Seiten,  und  ebenso  für  die  Verbitterung,  die  sie  er- 
zeugte, sind  zu  lebhaft  im  allgemeinen  Gedächtnis,  als  daß  man  an 
dieser  Stelle  nochmals  auf  sie  zurückgreifen  müßte.  Das  Wort  Vor- 
eingenommenheit hat  aber  einen  doppelten  psychologischen  Sinn. 
Die  eine,  die  umfänglich  weitere  seiner  Bedeutungen,  enthält  eine 
unentrinnbare,  subjektiv  notwendige  Stellungnahme  des  in  be- 
stimmter Weise  disponierten  Menschen  zu  allen  Gegebenheiten  und 
Problemen.  Sie  ist  eine  Teilerscheinung  der  Determiniertheit  alles 
Psychischen,  der  unausschaltbaren,  gefühlsmäßigen  und  intellek- 
tuellen Begrenztheit  jedes  einzelnen  psychischen  Subjekts.  Zu  ihr 
sich  offen  zu  bekennen  und  ihr  unvermeidbares  Wirken  nicht  hinter 
dem  Schein  einer  historischen  oder  relativistischen  »Objektivität  a 
zu  verschleiern,  ist  ein  Gebot  wissenschaftlicher  Ehrlichkeit.  Sie  ist 
in  der  psychologischen  Forschung  genau  so  eine  subjektive  Fehler- 
konstante, wie  dies  bei  pliysikalischen  und  astronomischen  Versuchen 
etwa  der  subjektive  Beobachtungsfehler  ist.  Nur  der  Unterschied 
besteht,  daß  letzterer  berechenbar  ist,  ersterer  aber  nicht.  In  ihr 
liegt  auch  der  tatsächliche  Grund  dafür,  daß  sich  die  Bearbeiter  des 
gleichen  psychologischen  Problems  in  Anhänger  und  Gegner  bestimm- 
ter Lösungs versuche  spalten.  Man  soll  sie  sich  gerade  bei  kritischer 
Arbeit  stets  vor  Augen  halten,  und  schon  deshalb  empfinde  ich  es 
als  sinnlos,  in  meiner  Kritik  der  Freudschen  Theorienbildung  etwa 
eine  positive  Erledigung  der  Probleme  zu  erblicken,  deren  Lösung 
Freud  sich  zur  Aufgabe  gestellt  hat. 

Eine  ganz  andere  Bewertung  muß  dagegen  die  zweite  Bedeutung 
des  Wortes  Voreingenommenheit  erfahren.  So  stark  jeder  einzelne 
diircli  seine  affektiven  Präokkupationen,  sein  geistiges  Niveau  und 
überhaupt  die  Besonderheiten  seines  seelischen  Habitus  in  bestimmten 


1)  Mo(l.   Psychol.      1852.     S.  G.'^O. 
«)  z.  B.  S.  134,  136,  222  u.  a.  m. 


19* 


292     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

Richtungen  und  Weisen  begrenzt  ist:  Seine  Reflexion  wird  grund- 
sätzlich von  Irrtümern  durch  Gründe  überzeugbar  bleiben,  wofern 
Wille  zur  Wahrheit  besteht  und  über  ein  gleiches  Tatsachengebiet 
unter  gleichen  rationalen  Voraussetzungen  geforscht  wird.  Diese 
Überzeugbarkeit  durch  in  der  Sache  selbst  gelegene  Gründe  kann 
einen  Kampf  kosten.  Aber  sie  ist  prinzipiell  psychologisch  möglich  ;^ 
und  diese  Möglichkeit  hängt  mit  der  allgemeinen  Stellung  der  reflek- 
tierenden Funktionen,  ihrer  Grundlagen  und  ihrer  Ausbildungs- 
fähigkeit innerhalb  des  Ganzen  der  Psyche  zusammen,  die  wir  in 
einem  späteren  Bande  dieses  Werkes  zur  Darstellung  bringen 
werden.  Und  sie  ist  in  solchem  Grade  die  erste  Voraussetzung  und 
sittliche  Norm  wissenschaftlichen  Arbeitens,  daß  ihr  Fehlen  mit  Recht 
einen  moralischen  Einwand  darstellt.  Dennoch  begegnet  man  ihr 
in  der  Praxis  wissenschaftlicher  Arbeit  aller  Orten.  Heftige  Gegen- 
gefühle gegen  bestimmte  Annahmen,  oder  das  Sichfestgelegthaben 
auf  eine  bestimmte  Meinung,  das  nicht  Unrechtbehalten  wollen 
überhaupt,  alle  sthenischen  egozentrischen  Affekte,  Stolz,  Eitelkeit 
und  jenes  Überlegenheitsbestreben,  welches  oft  nur  ein  Ressentiment 
gegen  die  eigene  innere  Schwäche  und  Leere  ist,  gesteigerte  Empfind- 
lichkeit und  Reizbarkeit  gegen  Andersdenkende,  jener  Zustand  des 
Nichthörenwollens,  des  Parteigängertums,  und  manche  andere 
psychische  Situationen,  endlich  vor  allem  auch  die  Rücksicht  auf  die 
Meinung  der  Umwelt,  auf  die  eigene  soziale  oder  wissenschaftlich- 
offizielle Stellung  und  ihre  Verantwortlichkeiten :  Alle  diese  Faktoren 
schränken  das  Prinzip  der  überzeugbarkeit  durch  Gründe  ein.  Sie 
schaffen  jene  Voreingenommenheit  im  zweiten  Sinne,  die  den  Gang 
der  Forschung  aufhält,  persönliche  reaktive  Verbitterung  schafft, 
das  Verständnis  der  Streitenden  mehr  und  mehr  erschwert  und 
Foreis  hübsches  Wort  von  den  »alten  Negativisten «  rechtfertigt, 
welches  Stärcke  zitiert  i). 

Die  Einräumung  der  Möglichkeit  einer  positiv  fördernden  Kritik, 
also  das  Zugeständnis  der  Möglichkeit  eigenen  Irrtums,  und  der 
Wille,  sich  durch  Gründe  überzeugen  zu  lassen,  ebenso  wie  durch 
Gründe  überzeugen  zu  wollen :  Diese  Dokumente  der  ethischen  Norm 
wissenschaftlichen  Arbeitens  schließen  Voreingenommenheit  in  diesem 
zweiten  Sinne  aus.  Natürlich  aber  sind  die  Bekenner  einer  bestimm- 
ten Theorie,  und  mehr  noch  die  Schöpfer  derselben,  voreingenommen 
in  der  ersten  Wortbedeutung,  genau  ebenso  wie  es  ihre  Kritiker  in 
entgegengesetztem  Sinne  sind.  Jedoch  damit,  und  nur  damit,  ist 
der  Wille  zur  Sachlichkeit,  ist  sachliche  Arbeit  an  dem  umstrittenen 
Problem  vereinbar. 

Es  ist  fast  beschämend,  daß  es  notwendig  ist  —  aber  es  ist  tat- 
sächlich nötig,  sich  dies  alles  einmal  besonders  zu  vergegenwärtigen. 
Denn  so  bereit  ein  jeder  Forscher  ist,  diesen  Willen  zur  Sachlichkeit 
in  abstracto  als  etwas  Selbstverständliches  anzuerkennen,  so  oft  wird 

1)  S.  104. 


^Vnhang.  29S 

wider  Beine  konkrete  Betätigung  verstoßen.    Ich  will  nicht  in  Abrede 
stellen,  daß  wir  hier  alle  gleich  schuldig  sind. 

Eine  Konsequenz  aus  diesen  Darlegungen  wäre  folgende :  Es 
lierrsclie  über  gewisse  Themen  Uneinigkeit.  Damit  folgt  allein 
aus  dieser  Uneinigkeit,  daß  die  betreffenden  Themen  Probleme 
darstellen.  Der  einzelne  Forscher  mag  die  Bedeutung  ihrer  Lösung 
für  die  eigene  Arbeit  so  gering  bemessen,  wie  er  wolle:  Für  das  syste- 
matische Ganze  bleiben  ungeklärte  Probleme  diskussionsbedürftig. 
Kein  Forscher  hat  also  das  Recht,  eine  derartige  Dis- 
kussion als  überflüssig  abzulehnen.  Mithin  hat  auch  kein 
Forscher  das  Recht,  die  logische  Analyse  der  Lösungsraöglichkeiten 
eines  psychologischen  Problems  als  überflüssig  abzulehnen,  weil  er 
mit  bestimmten  heuristischen  Arbeitshypothesen  auf  diesem  Gebiet, 
gleichviel  ob  sie  richtig  seien  oder  falsch,  Positives  leiste.  Nichts 
anderes  tut  aber  Bleuler,  wenn  er  derartige  Analysen  ala  »Theorie« 
oder  »Philosophie«  oder  dgl.  ablehnt.  Jene  Analyse  wird  freilich 
möglicherweise  seinen  heuristischen  Arbeitsmaximen,  aber  niemals 
seinen  positiven  Leistungen  gefährlich  werden  können,  wenn  ihm 
jene  Hypothesen  wirklich  nur  provisorische  Hilfen  sind.  Jemand, 
welcher  gegen  die  theoretische  Kritik  einer  Hypothese  den  gering- 
schätzigen P^inwand  der  »Philosophie«  oder  der  »Scholastik«  macht, 
beweist  damit  nur,  daß  er  sich  seinen  Hypothesen  mit  Haut 
und  Haar  zu  verschreiben  gewillt  ist,  und  es  nicht  verträgt, 
wenn  ihre  Unzulänglichkeit  von  innen  heraus  erschüttert  wird.  Statt 
»eine  positiven  Leistungen  möglichst  schroff  von  seinen  Arbeits- 
liilfen  abzusondern,  kettet  er  sie  zweckloserweise  fester  an  dieselben 
und  setzt,  was  sonst  von  größter  wissenschaftlicher  Bedeutung  sein 
könnte,  der  Gefahr  der  Zerstörung  aus.  So  ist  die  Behauptung  und 
der  Nachweis  einer  Dynamik  der  psychischen  Inhalte  durch  Freud 
und  ihr  Ausbau  im  einzelnen  eine  große  wissenschaftliche  Leistung. 
Ihre  grundsätzliche  Verc^uickung  aber  mit  seinen  falschen  Hypo- 
thesen gefälirdet  sie  nicht  bloß  in  ihrer  Anerkennung  durch  andere, 
sondern  auch  in  ihrem  wissenschaftlichen  Bestände.  Theoretische 
Kritik  nützt  der  Freud  sehen  Leistung  hier  gegen  den  Willen  ihres 
Schöpfers. 

Eine  weitere  Konsequenz  aus  unseren  Erwägungen  über  Vor- 
eingenommenheit läßt  sich  negativ  als  das  Vermeiden  eines  vor- 
gefaßten Standpunktes,  nie  positiv  als  Forderung  immanenter 
Kritik  bezeichnen.  Dasjenige,  was  durch  diese  Forderung  aus- 
geschlossen werten  soll,  ist  pben  ein  Sonderfall  jener  Voreingenom- 
menheit, der  sich  gerade  beim  Gewinn  psychologisclier  Erfahrungen 
»ind  Erkenntnisse  besonders  häufig  herausbildet. 

Wir  wiescji  bereits  darauf  hin,  wie  es  im  Wesen  der  psychologi- 
schen Erfalirnng  liegt,  von  aller  naturwissenschaftlichen  Empirie 
in  einem  Punkte  unterschieden  zu  sein;  und  wir  werden  darauf  noch 
bei  der  Analyse  der  Gegebenheit  im  Psychischen  zurückkommen. 
Der  Unterschied  liegt  darin,  daß  nicht  nur  wahrnehmende,  wie  bei 


294     Prolegomena  zur  aUgemeineu  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

den  äußeren  Naturwissenschaften,  sondern  zugleich  viele  andere 
psychische  Funktionen  am  Werden  von  psychologischen  Erfahrungen 
beteiligt  sind:  daß  psychologische  Wahrnehmungen  immer  zugleich 
innere  Erlebnisse  sind,  gebunden  an  das  psychische  Ganze  des 
Subjekts  mit  all  seinen  determinierenden  und  konstellierenden  Ten- 
denzen. Unsere  Forderung  wird  hier  erfüllt,  wenn  jeder  Teil  sich 
bemüht,  das  psychologische  Material,  welches  die  Grundlage  für  die 
Arbeit  des  anderen  Teiles  bildet,  von  diesen  inneren  Voraus- 
setzungen aus  begrifflich  hinzunehmen,  sich  also,  wie  man  sagt, 
in  den  anderen  einzufühlen.  Genaueres  über  die  Mechanismen,  welche 
hierbei  ins  Spiel  kommen,  wird  an  späterer  Stelle  gesagt  werden. 
Aber  diese  Forui  der  Immanenz  ist  die  weniger  wichtige.  Psycho- 
logie als  Wissenschaft  beginnt  erst  danach,  da,  wo  Gesetze,  wo  System 
und  Lehre  aus  dem  gewonnenen  Material  .gebildet  wird.  Hierbei 
nun  wird  die  Methode  der  immanenten  Kritik  besonders  wichtig 
sein.  In  meinem  Freudbuch  habe  ich  diese  Methode  angedeutet i): 
»Außer  der  Geltung  der  formalen  Logik,  sowie  der  materialen  Grund- 
lagen unserer  wissenschaftlichen  Erkenntnis  überhaupt  wird  sie 
nichts  voraussetzen,  was  es  ihr  versagte,  sich  den  Prämissen  und 
dem  Schluß  verfahren  der  jeweils  zu  beurteilenden  Materie  anzupassen. « 

In  bezug  auf  diese  Anpassung  des  Kritikers  an  die  Voraussetzungen, 
Schlußweisen  und  Absichten  der  Kritisierten  herrscht  nun  zwar  eben- 
falls grundsätzliche  Einigkeit ;  praktisch  aber  wird  sie  oft  nicht  geübt. 
Wenn  man  z.  B.  meine  Ausführungen  im  Freudbuch  über  die  Trag- 
weite der  Rückassoziation  beim  psychoanalytischen  Verfahren  auf- 
merksam verfolgt,  und  wenn  man  dann  liest,  was  Rosenstein  als 
meine  Ausführungen  zusammenfaßt  und  bekämpft,  so  wird  man  leicht 
erkennen,  daß  er  sich  meinen  Gedankengängen  nicht  angepaßt  hat. 
Sein  polemischer  Versuch  nimmt  eine  Entstellung  meiner  Darlegungen 
zum  Gegenstand,  anstatt  meiner  Darlegungen  selber. 

So  einig  man  sich  über  die  Forderung  einer  immanenten  Kritik 
ist,  so  weitgehende  Differenzen  bestehen  in  der  Frage,  wie  die  Gren- 
zen dieser  Immanenz  zu  bestimmen  seien,  wie  weit  die  Anpassung 
des  Kritikers  an  die  Voraussetzungen  und  Schlüsse  des  Kritisierten 
zu  gehen  habe.  Bleuler,  Rosenstein  und  Lewandowsky  wenden 
mir  ein,  meine  Kritik  an  Freud  sei  durchaus  nicht  immer  dem  Vorsatz 
der  Immanenz  treu  geblieben.  Stärcke  hingegen  hat  gerade  hier- 
über keinerlei  Einwände  zu  machen,  obwohl,  —  oder  besser  weil  — 
seine  Ausführungen  an  Gründlichkeit  und  eindringendem  Verständnis 
in  bezug  auf  meine  Absichten  alle  anderen  Ki'itiken  weit  überragen. 
Bleuler  meint,  ich  berücksichtige  nicht,  daß  von  den  führenden 
Freudianern  jeder  »eine  andere  Psychologie  habe  «.  Aber  von  diesen 
kann  doch  höchstens  eine  die  richtige  sein!  Rosenstein  hält  mir^) 
die   Benützung    eines   Gedankenganges   von   Husserl  als    »größten 


1)  S.  188. 

2)  S.  794. 


Anhang.  295 

Fehler  einer  immanenten  Kritik«  vor.  Lewandowsky  meint,  es 
ließe  sich  nicht  einsehen,  warum  nicht  der  forschende  Empiriker  sicli 
seine  Begriffe  und  Gesetze  beliebig  nach  den  Erfordernissen  der  zu 
bearbeitenden  Materie  und  nach  seinem  Kenntnisstande  derselben 
sollte  bilden  dürfen,  unabhängig  von  irgendwelchen  Voraussetzungen 
theoretischer  Ai't.  Diese  Auffassungen  decken  sich  zum  Teil  mit 
Bleulers  Forderung,  philosophische  Gesichtspunkte  aus  den  empi- 
rischen Arbeiten  auszuschalten.  Dieser  Einwand  bedarf  der  Klärung : 
er  könnte  sonst  gegen  die  genannte  Absicht  des  vorliegenden  Werkes 
ebenso  ausgesprochen  werden,  wie  er  gegen  mein  Freud  buch  aus- 
gesprochen worden  ist. 

Aller  Streit  in  der  Wissenschaft,  soweit  er  nicht  ein  Streit  um 
Tatsachen  ist  —  und  auch  soweit  er  ein  Streit  um  Tatsachen  ist  — 
kommt  immer  wieder  auf  allgemeinste  methodische  und  logisch- 
kritische Dissense  hinaus;  und  es  ist  für  die  zukünftige  Sicherung 
des  Wertvollen  und  Bleibenden  einer  jeden  beliebigen  Lehrmeinung 
gut,  wenn  man  bemüht  ist,  sie  diesem  Streit  ein  für  allemal  zu  ent- 
rücken. Besonders  muß  dies  ein  jeder  empfinden,  der  dies  Wert- 
volle und  Bleibende  nicht  lediglich  in  den  neuen  Tatsachen,  sondern 
vielmehr  in  den  neuen  Zusammenhängen  und  Gesetzen  seelischen 
Lebens  erblickt,  welche  den  einzelnen  Lehrmeinungen  zu  verdanken 
sind. 

Die  ideale  Lösung  dieser  Aufgabe,  und  zugleich  einer  der  Haupt- 
zwecke des  vorliegenden  Werkes  wäre  es,  der  Forschung  die  Kri- 
terien für  die  Gültigkeit  aller  möglichen  theoretischen 
Konzeptionen,  welche  irgendwie  gemacht  werden  könnten, 
an  die  Hand  zu  geben  Dies  schließt  den  Nachweis  in  sich,  daß  diese 
Kriterien  jeder  möglichen  derartigen  Konzeption  de  facto  und  de 
jure  immanent  sind.  Der  Gedanke  freilich,  daß  es  derartige  Kri- 
terien für  jede  mögliche  Konzeption  geben  könne,  ist  den  meisten 
Forschern  selber  ungewohnt  und  unbequem.  Es  muß  aber  gegen 
den  trägen  Relativismus  Front  gemacht  werden,  welchen  sich  Le- 
wandowsky zu  eigen  macht,  wenn  er  eine  »anderartige  philo- 
sophische Vorbildung«  oder  Ansicht^)  in  Fragen  logischer  und  theo- 
retischer Richtigkeit  für  gleichberechtigt  mit  seiner  eigenen  oder 
einer  sonstigen  hält. 

Derartige  Kriterien  lassen  sich  nur  entwickeln  als  psychologische 
Theorie:  Wir  haben  dies  in  der  Wissenschaftslehre  des  Psychischen 
getan;  und  wir  haben  dabei  die  Voraussetzung  gemacht,  daß  die 
Form  aller  empirischen  Theorie  auch  für  die  psychologische  Empirie 
notwendig  und  verbindlich  ist.  Unsere  wissenschaftstheoretische 
Aufgabe  bestand  in  der  Prüfung  ihrer  Anwendbarkeit  auf  Psychisches. 

Diese  Voraussetzung  einigt  uns  völlig  mit  Freud  und  seiner 
Forschung.  Daß  sie  aber  berechtigt  ist,  muß  erst  besonders  erwiesen 
werden.     Es  gibt  Forscher,  welche  dieses  Recht  zum  mindesten  ein- 

')  S.  833. 


296     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

schränken  oder  teilweise  bestreiten.  Einige,  wie  Rickert.  haben 
wir  schon  widerlegt.  Andere  werden  wir  anläßlich  der  Erörterungen 
der  Gegebenheit  des  Psychischen,  seiner  Seinsweisen  und  Erfahr- 
barkeit,  zu  beurteilen  haben. 

Nehmen  wir  an,  jene  Voraussetzung  psychologischer  Theorie  sei 
in  verbindlicher  Weise  erwiesen.    Was  ist  dann  das  Wesen  der  Kritik? 

Kritik  hat  zu  untersuchen,  ob  die  von  ihr  zu  prüfenden  Be- 
hauptungen und  Lehren  richtige  Erkenntnis  oder  Irrtümer  sind. 
Das  Ergebnis  dieser  Prüfung  hat  sie  zu  begründen.  Die  Kriterien 
für  Richtig  und  Falsch  werden  also,  ihrer  grundsätzlichen  Geltung 
und  Bestimmung  nach,  für  das  Geschäft  dieser  Kritik  nicht  erst 
abgeleitet  und  entwickelt,  sondern  bereits  als  gültig  vorausgesetzt. 
Ihre  Ableitung  und  Entwicklung  ist  die  Aufgabe  der  Wissenschafts - 
theorie  und  Methodologie.  Die  Leistung,  welche  die  Kritik  an  einer 
bestimmten  Lehrmeinung  vollzieht,  besteht  darin,  die  Inhalte  dieser 
Lehrmeinung  auf  die  durch  die  vorausgesetzten  Kriterien  bestimmten 
Gültigkeitsgrundlagen  zurückzuführen . 

Diese  Kriterien  nun  sind  für  die  immanente  Kritik  einer  wissen- 
schaftlichen Lehrmeinung  genau  die  gleichen,  wie  sie  für  die  Auf- 
stellung dieser  Lehrmeinung  sind.  Die  Forderung  der  immanenten 
Kritik  ist  verwirklicht  bei  voller  Gleichheit  ihrer  Kriterien 
mit  denen,  unter  welchen  diese  Lehrmeinung  gebildet  wurde.  Der 
Unterschied  liegt  nur  darin,  daß  der  Schöpfer  einer  Lehrmeinung 
sich  ihrer  Kjiterien  nicht  immer  bewußt  zu  sein  braucht,  ja  sich  ihrer 
in  der  Regel  durchaus  nicht  mit  Vollständigkeit  bewußt  sein  wird, 
während  die  Voraussetzung  der  Kritik  das  Wissen  um  diese  Kri- 
terien ist.  Daß  der  Schöpfer  einer  Lehre  sich  dieser  Kriterien  nicht 
abstrakt  bewußt  ist,  liegt  einmal  an  der  schöpferischen  Persönlich- 
keit selber,  deren  synthetische  Fähigkeiten  das  Zugleichbestehen 
kritischer  Momente  in  ihrer  Reflexionsweise  nur  zu  ihrem  eigenen 
Schaden  zu  dulden  scheinen.  Ferner  liegt  es  aber  auch  in  der  Neuheit 
und  dem  ungeformten  Zustande  des  schöpferisch  erschlossenen  Ge- 
bietes. Der  Kritiker,  welcher  es  dank  der  schöpferischen  Arbeit  des 
Entdeckers  in  fertiger  Form  vorfindet,  hat  es  viel  leichter,  es  in  das 
Wissenschaftsganze  einzuordnen  und  durchzuprüfen.  Nennt  der 
Kritiker  dem  Schöpfer  einer  Lehre  nun  seine  Kriterien  und  begründet 
die  Notwendigkeit  sie  anzuwenden,  so  kann  der  Fall  eintreten,  daß 
der  Schaffende  eines  dieser  Kriterien  zurückweist.  Dann  wäre  es 
zunächst  kein  immanentes  Kriterium  in  dem  Sinne,  daß  der  Schöpfer 
der  Lehre  es  bei  deren  Bildung  angewendet  hätte  und  angewendet 
wissen  wollte.  Dennoch  könnte  es  ein  immanentes  Kriterium  in 
einem  anderen  Sinne  sein.  Der  Bildner  der  Theorie  könnte  nämlich 
zu  seiner  Ablehnung  des  Kriteriums  durch  einen  Irrtum  gelangen,  in 
welchem  er  sich  über  die  Gültigkeitsgrundlage  seiner  Lehre  befindet. 
Natürlich  könnte  auch  der  Kritiker  irren.  Eine  Entscheidung  wird 
hier  stets  nur  durch  ein  regressives  Verfahren,  einen  Rückgang  zu 
den  allgemeinsten  Grundlagen  der  Gültigkeit  der  betreffenden  Lehre 


Anhang.  297 

und  ihrer  systematischen  Aufweisung  herbeigeführt  werden.  Erweist 
sich  hierbei  das  Kriterium  als  eine  weder  notwendige  noch  hinreichende 
Bestimmung  der  Gültigkeit  dieser  Lehre,  so  ist  es  in  der  Tat  keia 
immanentes  Kriterium,  obwohl  es  an  sich  nicht  falsch  zu  sein  braucht, 
sondern  für  ein  anderes  Erkentnisgebiet  richtig  sein  kann.  Erweist 
es  sich  aber  als  eine  solche  Bestimmung,  so  ist  es  ein  Kriterium  für 
die  Gültigkeit  der  betreffenden  Lehre:  nicht  immanent  in  defia 
»Sinne,  daß  es  unter  den  Kriterien,  deren  der  .Schöpfer  jener  Lehre 
sich  bewußt  war,  niclit  vorkommt,  dennoch  aber  immanent  in 
dem  Sinne,  daß  es  eine  notwendige  und  hinreichende  Bestimmung 
für  die  Grundlagen  der  Geltung  dieser  Lehre  abgibt. 

Nur  in  diesem  letzteren,  objektiven  Sinne  sollte  man  von  der 
Immanenz  einer  Kritik  sprechen.  Ich  habe  also,  wenn  ich  irgendeine 
psychologische  Hypothese  oder  Konstruktion,  z.  B.  die  Lehre  von 
Freud,  kritisch  prüfen  will,  die  Aufgabe,  diejenigen  Kriterien,  welche 
ich  dieser  Lehre  für  immanent  erachte,  also  als  hinreichende  und  not- 
wendige Bestimmungen  der  Grundlage  ihrer  Geltung  ansehe,  als  die 
Voraussetzungen  meiner  Kritik  anzugeben.  Bezweifeln  die  Ver- 
fechter dieser  Lehre  die  Berechtigung  von  einem  oder  dem  anderen 
dieser  Kriterien,  so  habe  ich  dessen  tatsächliche  Immanenz,  dessen 
faktisches  Zugrundeliegen  für  die  Lehre  nachzuweisen.  Dabei  ist 
noch  die  weitere  Frage  ganz  außer  Spiel,  ob  irgendein  Rechts - 
grund  für  die  Zugrundelegung  dieser  Kriterien  besteht.  Ich  habe 
nur  die  tatsächliche  Notwendigkeit  darzutun,  es  auf  den  betreffen- 
den Fall  anzuwenden. 

Ich  habe  nun  in  meinem  Freudbuch  zwei  Reihen  dieser  Kriterien 
genannt:  die  formale  Logik,  und  die  materialen  Grundlagen  wissen- 
schaftlicher Erkenntnis  überhaupt.  Als  weitere  Kriterien  habe  ich 
nur  solche  angedeutet,  welche  bereits  bei  der  Konzeption  der  Lehre 
den  Forschern  selber  als  Kriterien  vorgeschwebt  haben.  Den  Rechts- 
anspruch dieser  Kriterien  habe  ich  nicht  begründet,  ganz  entsprechend 
den  obigen  Darlegungen.  Diese  beiden  Reihen  von  Kriterien,  die 
formale  Logik  und  die  materialen  Grundlagen  wissenschaftlicher 
Erkenntnis  überhaupt,  sind  nun  die  immanenten  Kriterien  für  jede 
im  Bereich  der  Psychologie  überhaupt  mögliche  Theorie,  Konstruk- 
tion und  Hypothese.  Ihr  theoretischer  Charakter  ist  mit  dieser  tat- 
sächlichen Immanenz  absolut  vereinbar.  Keine  Theorie,  welche 
diesen  Kriterien  nicht  genügt,  kann  richtig  sein.  Die  Begründung 
des  Rechtsanspruchs  dieser  Kriterien  braucht  nicht  in  der  Kritik 
beliebiger  Theorien  selber  zu  erfolgen;  in  diesem  Werke  ist  sie  in  der 
Wissenschaftstheorie  erfolgt;  den  Nachweis  ihres  tatsächlichen  Im- 
manenzcharakters für  jede  psychologische  Theorie  erbringt  zugleich 
die    Begründung  ihres   Rechtsanspruchs. 

Aus  den  Gegenschriften  gegen  mein  Freudbuch  habe  ich  ersehen 
müssen,  daß  dieser  Standpunkt  nicht  überall  geteilt  wird.  Die  kriti- 
sierten Forscher  waren  nicht  einmal  alle  mit  der  formalen  Logik  als 
immanentem  Kriterium  einverstanden.     Vollends  ist  ihnen  der  Be- 


298     Prolegomena  zur  allgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

griff  der  »materialen  Grundlagen  wissenschaftlicher  Erkenntnis 
überhaupt«  nicht  deutlich  geworden.  Was  sie  unter  dem  letzteren 
verstanden  haben,  lehnen  sie  mit  großem  Rechte  ab.  So  Rosen - 
stein,  welcher  im  Ernst  meint,  ich  bezeichne  damit  »Konzeptionen 
der  Bewußtseinspsychologie «,  »besten  Falles  so  viel,  als  die  Schul- 
psychologie Kenntnisse  zu  vermitteln  vermag  «i).  Dafür  behaupten 
sie  andererseits,  ich  dürfe  mich  nur  derjenigen  Kriterien  bedienen, 
welche  sie  selber  mit  Bewußtsein  beim  Aufbau  der  Lehre  verwendet 
hätten;  ich  müsse  berücksichtigen,  daß  jeder  Forscher  seine  eigene 
Psychologie,  seine  eigenen  Arbeitshypothesen  habe. 

Ein  Teil  der  hierin  liegenden  Mißverständnisse  dürfte  bereits  ge- 
klärt sein.     Im  übrigen  ist  folgendes  zu  sagen: 

Eine  jede  empirische  Theorie,  also  auch  die  psychologische  Lehre 
Freuds  usw.,  steht  unter  zwei  Arten  von  Kriterien  ihrer  Gültigkeit: 
gegenständlichen  und  methodischen. 

Was  die  gegenständlichen  Kriterien  anbetrifft,  so  ist  es  selbst- 
verständlich, und  ich  habe  es  auch  in  meiner  Freud -Kritik^)  mehr- 
mals betont,  daß  in  erster  Linie  das  Material  der  zu  prüfenden 
Schlußweisen,  also  das  was  jene  Forscher  die  Tatsachen  nennen,  Kri- 
terien der  Gültigkeit  einer  hierüber  aufgestellten  Lehre  abgibt  s). 
Das  ist  eine  Binsenwahrheit;  und  Rosenstein  irrt,  wenn  er  glaubt, 
ich  lehnte  das  Studium  der  Tatsachen  für  meine  Kritik  an  Freud 
»prinzipiell«  ab*).  Ich  stelle  mir  vielmehr  ausdrücklich  die  Auf- 
gabe^), »zu  erörtern,  wie  weit  eine  Verifizierung  oder  Kritik  der  Tat- 
sachen Freuds  möglich  sei«.  Erst  eine  methodische  Untersuchung 
über  die  Art  der  Gewinnung  und  Darstellung  der  Tatsachen  0)  bei 
Freud  führt  mich  zu  der  Überzeugung,  daß  man  »die  Tatsachen  im 
Wege  von  Freuds  und  Bleulers  Verfahren  weder  zu  bestätigen 
noch  zu  widerlegen  vermag«.  Ob  diese  Überzeugung  und  ihre  Be- 
gründung in  meiner  Arbeit  richtig  ist  oder  nicht,  ist  eine  andere 
Frage;  daß  man  aber  auch  die  Tatsachen  nach  Art  ihrer  Gewinnung 
und  Beobachtung  kritisch  prüfen  kann,  wird  man  mir  wohl  zugeben. 
Daß  man  es  sogar  tun  muß,  werde  ich  noch  in  demjenigen  Abschnitt 
dieses  Buches  nachweisen,  in  welchem  vom  Wesen  der  Tatsache  im 
Psychischen  und  ihrer  Stellung  zur  psychologischen  Theorie  die  Rede 
ist.  In  meinem  Freudbuch  sage  ich  ausdrücklich,  wir  müßten  uns, 
»wohl  oder  übel«  an  die  Theorie  halten'),  da  aus  den  Tatsachen 
selber  —  auf  Grund  genau  begründeter  kritischer  Erwägungen  — 
der  Kritiker  Einsicht  über  die  Gültigkeit  oder  Ungültigkeit  Freud - 
scher  Lehre  nicht  zu  gewinnen  veimag.     Ich  bestreite  also  die  Tat- 


1)  S.  754. 

2)  Vgl.  Freudbuch.     S.  135,  193. 

3)  a.  a.  O.  135,  136,  193. 

4)  S.  742. 

5)  s.  um. 

6)  S.  190-197. 

7)  S.  197. 


Anhang.  299 

Sachen  uicht,  noch  »verschmähe  ich  die  Wahrnehmung«»),  ich  stehe 
lediglich  auf  dem  Standpunkt,  den  Stärcke  mir  mit  Recht  zuweist: 
daß  in  einer  Kritik  allerdings  »für  Phantasie  kein  Platz  «2)  iHt.  Ich 
lehne  freilich  andererseits  durchaus  ah,  was  Stärcke  mir  zutraut, 
der  schöpferischen  Persönlichkeit,  dem  Entdecker  von  wissenschaft- 
lichem Neuland  das  Recht  an  diese  »Phantasie«  zu  schmälern,  welche 
ich  gerade  bei  der  Gewinnung  und  Verwertung  seiner  Tatsachen  für 
sein  wertvollstes  geistiges  Werkzeug  halte.  Dieser  Unterschied 
scheint  mir  gerade  die  notwendige  Ergänzung  von  Neuschöpfung 
und  kritischer  Selbstbesinnung  in  der  wissenschaftlichen  Forschung 
schlagend  auszudrücken»). 

Hier  ist  mir  nur  dies  wichtig:  daß  ich  in  meinem  Freudbuch,  an- 
gesichts der  Ergebnisse  meiner  damaligen  Prüfung  der  Tatsächlichkeit 
psychischer  Tatsachen,  ausdrücklich  nur  als  einen  Notbehelf  die 
methodischen  Kriterien  und  die  Theorie  herangezogen  habe.  Wie 
deutlich  ich  mir  der  begrenzten  Tragweite  einer  solchen  auf  das  Theo- 
retische eingeengten  Kritik  bewußt  war,  zeigt  der  Satz  meines  Buches, 
welchen  alle  meine  Kritiker  vernachlässigt  haben:  »Eine  Kritik  an 
dem  systematischen  Aufbau  eines  Lehrgebäudes  vermag  nur  zu 
prüfen,  ob  die  Formulierung  und  der  Zusammenhang  seiner  einzelnen 
Inhalte  den  Forderungen  der  Logik  und  der  Theorie  des  Erkennens 
Genüge  tut  oder  nicht.  Die  tatsächlichen  Ausgangspunkte  könnten 
trotz  aller  Fehler  in  den  daraus  gewonnenen  Gesetzen  ganz  richtig 
sein«*).  Ich  glaube,  die  mir  von  Rosenstein  usw.*)  angemutete 
»prinzipielle  Gegnerschaft«  gegen  Freud  fällt  nach  diesem  einen 
Satze  schon  ebenso  in  sich  zusammen,  wie  meine  »prinzipielle«  Be- 
streitung der  Tatsachen. 

Eine  weitere  Frage  ist,  ob  neben  den  »Tatsachen«  noch  irgendein 
anderes  Kriterium  zu  Recht  besteht.  Bleuler  scheint  das,  wenn  ich 
seine  Polemiken  gegen  Isserlin  und  mich  und  seine  sonstigen  Äuße- 
rungen richtig  auffasse,  überhaupt  zu  bestreiten.  Rosenstein 
billigt  wenigstens  noch  die  formale  Logik  als  ein  solches  Kriterium. 
Nun  sagte  ich  bereits :  die  Immanenz  der  formalen  Logik  wie  der 
materialen  Grundlagen  möglicher  wissenschaftlicher  Erkenntnis  über- 
haupt besteht  für  jede  mögliche  psychologische  Theorie,  also  auch 
für  die  Freudsche.  Beide  Kriterienreihen  gehören  zu  den  metho- 
dischen Kriterien  im  weitesten  Sinne. 

Jede  empirische  Theorie  verbindet  die  Tatsachen,  welche  ihr  Ma- 
terial bilden,  zu  Gesetzen.  Das  Auffinden  dieser  Gesetze  vollzieht 
sich  durch  Schlußweisen.  Die  Schlußweisen,  die  zu  diesen  Gesetzen 
geführt  haben,  durchyuprüfen,  ist  die  Aufgabe  der  formalen  Logüc. 


*)  Rosenstein  749. 
2)  S.  70. 

3)  Daß  ich  den  Schöpfern  tltr  Freud.-chcn  Lehre  dieses  Recht  lasse,  geht 
aus  vielen  Stellen  meines  Freudbuches  hervor:  so  8.  13.?,  213,  247,  248. 
*)  S.   136. 
5)  S.  756. 


300     Prolegomena  zur  aUgemeinen  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

Diese  formale  Logik  wird  von  der  Kritik  als  faktisch  immanent  und 
als  gültig  vorausgesetzt.  Ihren  Rechtsgrund  besonders  darzutun 
ist  nicht  Aufgabe  der  Einzelkritik.  Sie  braucht  mithin  Bleulers 
Satz  nicht  zu  widerlegen,  daß  »die  Formen  unserer  Logik  nur  die  durch 
die  Erfahrung  gegebenen  Assoziationen  wiederholen  oder  Analogien 
dazu  bilden«^);  und  kann  dennoch  behaupten,  Kriterium  auch  für 
diese  imsinnige  Auffassung  Bleulers  von  Logik  zu  sein.  Lediglich 
die  faktische  Immanenz  der  formalen  Logik  für  jede  mögliche  psycho- 
logische Theorie  ist  noch  nachzuweisen.  Sie  folgt  aus  der  Tatsache, 
daß  es  ebenso  möglich  ist,  sich  in  den  Formen  der  Begriffsbildung, 
der  Unterordnung  und  des  Schließens,  kurz  der  denkenden  Bearbeitung 
zu  irren,  wie  man  sich  in  den  Tatsachen  zu  irren  vermag.  Die  Mög- 
lichkeit des  Irrtums  setzt  aber  bereits  voraus,  daß  es  hier  ein  Richtig 
und  ein  Falsch  und  eine  mögliche  Entscheidung  darüber  gibt.  Die 
formale  Logik  hat  diese  Entscheidungen  über  richtiges  und  falsches 
Denken,  soweit  sie  die  Form  des  Denkens  betreffen,  bereits  grund- 
sätzlich getroffen.  Bleulers  besonderes  Verfahren  für  den  Einzel- 
fall seiner  Theorie  ist  also  nur  ein  spezieller  Anwendungsfall  dieser 
generellen  Entscheidungen;  und  diese  letzteren  sind  mithin  ein  im- 
manentes Kriterium  für  seine  Schlußweisen. 

Über  die  zweite  Reihe  von  Kriterien,  welche  wir  als  materiale 
Voraussetzung  wissenschaftlicher  Erkenntnis  überhaupt  bezeichnet 
haben,  genügen  nach  den  Ausführungen  des  wissenschaftstheoretischen 
Teiles  dieses  Buches  wenige  kurze  Worte.  Die  Notwendigkeit  dieses 
Kriteriums  folgt  aus  dem  Wesen  der  wissenschaftlich  ausgebildeten 
Naturtheorie.  Auch  fällt  die  Begründung  dieses  Kriteriums  hinsicht- 
lich seines  Rechtsanspruchs  nicht  mehr  in  den  Rahmen  der  Kritik 
einer  einzelnen  Lehrmeinung  selber  hinein.  Nur  die  tatsächliche 
Immanenz  dieses  Kriteriums  für  jede  mögliche  empirische  Theorie 
muß  nachgewiesen  werden.  Dieser  Nachweis  aber  ist  durch  die  tat- 
sächliche Feststellung  erbracht,  daß  es  sich  bei  den  Lehren  Freuds 
und  Bleulers  wirklich  um  Naturtheorie  handelt.  Diese  Feststellung 
habe  ich  in  meinem  Freudbuch  gemacht  2) ;  ich  habe  dort  den  induk- 
tiven Charakter  des  Schlußverfahrens  jener  Forscher  nachgewiesen 
und  dabei  die  völlige  logische  Korrektheit  ihrer  induktiven  Gebilde 
bestätigt.  Daß  aber  allen  Induktionen,  sie  mögen  über  ein  Gebiet 
angestellt  werden,  welches  es  sei,  nicht  bloß  formal-logische  Voraus- 
setzungen, sondern  auch  materiale  Voraussetzungen  wissenschaft- 
licher Erkenntnis  überhaupt  zugrunde  liegen,  dies  wird  in  der  Wissen- 
schaftstheorie und  in  der  Theorie  der  Induktion  nachgewiesen.  Es 
handelt  sich  um  dasjenige  nichtlogische  Notwendige,  welches  im 
Inhalte  des  Obersatzes  jeder  möglichen  richtigen,  vollständigen  In- 
duktion enthalten  ist,  und  daraus  durch  ein  regressives  Verfahren 
aufgefunden  werden  kann.    Das  Schema  der  Induktion  ist  ein  Schluß- 


1)  Dementia  praecox.     Leipzig  1911.     S.  292. 

2)  S.  188—190. 


4 
Anhang.  301 

verfahren,  in  dessen  Untersatz  das  empirische  Material,  in  dessen 
Obersatz  die  Existenz  einer  gesetzesmäßigen  Verknüpfungsform  über- 
haupt steht.  Diese  gesetzmäßige  Verknüpfungsform  findet  sich  in 
demjenigen  Schema  der  Anwendungsart  schematisiert,  welches  für 
die  Erfahrungsweisen  des  betreffenden  Tatsachengebiets  gilt.  Die 
Konsequenz  aus  beiden  Prämissen,  der  induktive  Schluß  selber,  ver- 
bindet die  empirische  Mannigfaltigkeit  des  Untersatzes  mit  der 
apriorischen  Notwendigkeit,  mit  der  Gesetzesform  des  Obersatzes. 
Das  System  dieser  apriorischen  Notwendigkeiten,  befreit  von  jeder 
empirischen  Bestimmung,  ist  die  materiale  Voraussetzungsreihe  jeder 
möglichen  wissenschaftlichen  Erkenntnis  überhaupt.  Es  gehört  nicht 
der  formalen  Logik  an,  denn  es  hat  sjmthetischen  Charakter,  während 
die  Logik  nur  analytische  Urteile  aus  sich  erzeugt.  Es  sind  jene 
synthetischen  Grundsätze  a  priori  aus  Begriffen,  welche  wir  seit 
Kant  als  »Grundsatz  der  Antizipationen  der  Wahrnehmung«,  »Ana- 
logien der  Erfahrung«  und  »Postulate  des  empirischen  Denkens 
überhaupt«  bezeichnen^).  Sie  geben  jeder  möglichen  wissenschaft- 
lichen Erfahrung  das  Fundament.  Hiergegen  meint  Rosenstein: 
»Gegen  Bleuler  wird  Kant  mobilisiert «2),  Das  ist  natürlich  nicht 
richtig.  Bleuler  und  Kant  stehen  sich  nicht  als  gleichberechtigte 
Gegner  in  einer  Einzelfrage  der  Naturwissenschaft  gegenüber.  Viel- 
mehr verfehlen  sich  Bleulersche  Einzelbehauptungen  gegen  die 
Grundlagen  jeder  möglichen  Naturtheorie  überhaupt.  Denn  jede 
mögliche  Naturtheorie  muß  die  genannten  Grundsätze  bereits  als 
gültig  voraussetzen,  so  gut  wie  sie  die  Formen  der  Logik  voraus- 
setzen muß,  um  gültig  zu  sein.  Möge  doch  Bleuler  selbst  einmal 
entscheiden,  ob  ein  Widerspruch  seiner  Lehre  möglich  ist  oder  gar 
angestrebt  wird  zu  Gesetzen  wie:  Alle  Qualitäten  sind  von  stetig 
abstufbarer  Intensität;  jede  Veränderung  der  Erscheinung  ist  die 
Wirkung  einer  Ursache  —  oder:  das  Kriterium  der  Wirklichkeit  ist 
das  Dasein  zu  einer  bestimmten  Zeit.  Nicht  darin  liegt  irgendein 
dogmatisches  Hinausschreiten  über  das  Prinzip  der  Immanenz,  daß 
man  diese  Sätze  als  faktische  Inhalte  des  Obersatzes  jeder  möglichen 
Naturtheorie  anerkennt.  Denn  dieses  tatsächliche  Zugrundeliegen 
derselben  wird  lediglich  durch  formale  Logik,  durch  Regreß  aus  be- 
liebigen empirischen  Sätzen  jederzeit  aufgewiesen,  also  durch  eine 
Methodik,  über  welche  Rosenstein  und  ich  einig  sind.  Der  Ein- 
wand, das  Prinzip  der  Immanenz  würde  überschritten,  könnte  irgend- 
einen Sinn  überhaupt  nur  dadurch  erhalten,  daß  er  bemängeln  will, 
daß  ich  einen  bestimmten  richtigen  Grund  der  Gültigkeit  für  ejne 
Grundsätze  anerkenne,  welcher  ein  anderer  ist  als  der,  den  Bleuler 
anerkennen  würde.  Allein  genau  so  lag  die  Sache  doch  schon  bei  der 
formalen  Logik.  Die  Begründung  des  Rechtsanspruchs  dieser  Kri- 
terien geht  weder  dem  Schöpfer  noch  dem  Kritiker  einer  empirischen 


1)  Kritik  rl.  r.  Vernunft.     I.  Ausgabt-.    5>.  187 ff. 

2)  S.  TOS. 


302     Prolegomena  zur  allgemeineu  Psychiatrie  als  strenger  Wissenschaft. 

Theorie  etwas  an:  beide  interessiert  nur  der  Nachweis  ihrer  tatsäch- 
lichen Immanenz  für  diese  Theorie.  Über  die  Rechtsgründe  und 
Ursprünge  jener  allgemeinsten  materialen  Grundsätze  mögen  Bleuler 
und  ich  gerade  so  verschiedener  Meinung  bleiben,  wie  über  die  Rechts- 
gründe der  Geltung  formaler  Logik:  Über  das  Faktum  der  Geltung 
sind  wir  uns  Jedenfalls  einig.  Und  nur  dieses  Faktum  entscheidet 
über  die  Immanenz  unserer  wissenschaftstheoretischen  Grundsätze, 
so  wie  wir  sie  in  diesem  Buche  entwickelt  haben,  als  Kriterien  für 
jede  mögliche  psychologische  Theorie. 


Grundlinien  der  Pliänonienologie  und  deskriptiven 
Theorie  des  Psychisehen. 

Zur  Einführung. 

In  den  bisherigen  Darlegungen  hatten  wir  die  Frage  erörtert,  ob 
und  inwieweit  eine  erkenntnismäßige  Bearbeitung  des  psychischen 
Materials  Psychiatrie  als  Wissenschaf t  zu  konstituieren  oder  zu  fördern 
vermöge.  Wir  hatten  diese  Frage  vorerst  noch  offen  gelassen  und  als 
Problem  aufgestellt.  Wir  hatten  auch  die  herrschende  Meinung 
nicht  unbesehen  hinzunehmen  empfohlen,  nach  welcher  die  erkenntnis- 
mäßige Bearbeitung  des  psychischen  Materials  den  naturwissen- 
schaftlichen Methoden  und  der  Psychologie  ohne  weiteres  zu  über- 
lassen  sei.  Allerdings  hatten  wir  die  naturwissenschaftliche  Metho- 
dologie und  Fundierung  der  Psychologie  gegen  die  grundsätzlichen 
individualpsychologischen  und  historisch-geisteswissenschaftlichen  An- 
sprüche Rickerts  und  seiner  Schule  wohl  behaupten  können  und  durch 
genaue  wissenschaftstheoretische  Untersuchung  gesichert.  Was  hier- 
nach allein  noch  problematisch  bleibt,  ist  lediglich  die  Ausschließ- 
lichkeit, mit  der  die  naturwissenschaftlich  orientierte  Psychologie 
für  die  psychologische  Erkenntnis  überhaupt  maßgeblich  sein  soll. 
Denn  die  Widerlegung  Rickerts  ist  noch  nicht  eine  solche  jeder  an- 
deren Mögliclikeit. 

Daß  hierin  ein  Problem  bestehe,  wird  den  wenigsten  einleuchten. 
Und  doch  hat  sich  auf  die  Frage  nach  der  Methode,  dem  Erkennt- 
nisanspruch und  dem  wissenschaftlichen  Charakter  der 
Psychologie  bisher  noch  niemals  eine  ebenso  eindeutige  und  allge- 
mein aiieikennende  Antwort  gefunden,  wie  dies  hinsichtlich  der 
gleichen  Frage  für  die  physischen  Gegenstandsgebiete  beinahe  mit 
Selbst verständliclikeit  der  Fall  war.  Es  bestünde  nun  zwar  die 
Möglichkeit,  durch  eine  systematische  Erkennt nislehre  der  Psyciio- 
logie  die  Antwort  auf  diese  Frage  zu  suchen.  Und  diesen  Weg  sind 
wir  in  der  Wissenschaftstheorie  auch  gegangen.  Jedoch  eine  solche 
Loslösung  der  Arbeit  aus  der  Kontinuität  des  wissenschaftlichen 
Denkens  und  Forschens  scheint  uns  allein  nicht  völlig  ausreicliend. 
Sie  entspräche  auch  dem  Vorsatz  nicht,  den  wir  in  unseren  pro^ram- 
matischen  Ausführungen  kundgetan  haben:  uns  überall  bei  unseren 
kritischen  und  fortnalen  Untersuchungen  an  das  Bestehende  zu 
halten  und  dieses  logisch  bis  zu  strengeren  Fassungen  weiter  durch- 


304     ^  Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

zubilden.  Wir  werden  also  auch  in  der  Phänomenologie  an  die  be- 
stehenden Ansichten  und  Lehren,  Methoden  und  Grundlegungen 
hinsichtlich  der  Gegebenheit  und  der  Erkenntnisweisen  vom  Psy- 
chischen anknüpfen,  so  wie  wir  sie  —  in  jeweils  verschiedener  Klärung 
und  theoretisch  verschiedener  Bedingtheit  —  nebeneinander  vor- 
finden. Daß  wir  vom  kranken  Seelenleben  handeln,  davon  müssen 
wir  freilich  zuerst  absehen;  denn  es  ist  vorerst  und  im  Prinzip  nicht 
anderen  Erkenntnisquellen  zugänglich,  als  das  nicht  »kranke« 
Seelenleben. 

Das  eingangs   angedeutete  Problem  des  naturwissenschaftlichen 
Charakters  der  Erkenntnis  vom  Seelischen  ist  nun  in  der  Tat  in  der 
gegenwärtigen   Zeit   durch   das   Auftreten   einer  neuen   Erkenntnis - 
methode,  die  sich  als  spezifisch  phänomenologisch  ausgibt,  in  den 
Vordergrund  der  Erörterungen   gerückt   worden.     Und  wir  werden 
gut  tun,   an   den   Entwicklungsgang    dieser   Methode   anzuknüpfen, 
um  von  hier  aus  kritische  Klarheit  über  die  Möglichkeit  wissenschaft- 
licher Psychologie  und  Psychopathologie  zu  gewinnen.    Die  phäno- 
menologische Methode  —  unter  der  früher  nur  die  naturwissen- 
schaftliche   Beschreibung    des    Beobachteten    verstanden   wurde    — 
ist  in  der  letzten  Zeit  von  ihren  hervorragendsten  Vertretern  nach 
ganz  anderer  Richtung  entwickelt  und  ausgebaut  worden,  mit  dem 
Anspruch,  eine  geisteswissenschaftliche  Methode,  ja  gleichsam  die 
Vorwissenschaft  aller  geisteswissenschaftlichen  Disziplinen  zu  sein. 
Ob  dieser  Anspruch  zu  Recht  besteht,  bedarf  einer  Untersuchung. 
Ihr  wird  im  folgenden  die  ihr  zustehende  Stellung  angewiesen  werden. 
Dabei  wird  noch  einmal  geprüft  werden,  ob  es  möglicherweise  über- 
haupt berechtigt  ist,  einen  solchen  Unterschied  der  Wesensart  von 
Natur-   und   Geisteswissenschaften  anzuerkennen.     Wir   lassen   den 
Anspruch    der    Phänomenologie,    eine    Geisteswissenschaft    zu    sein, 
vorerst  ganz  außer  acht.    Wir  nehmen  es  hin,  daß  ihr  auch  das  Gegen- 
standsgebiet des  psychologischen  inneren  Lebens  zufallen  soll.    Und 
indem  wir  ihren  Entwicklungen  vorerst  folgen,  stellen  wir  nicht  etwa 
Psychologie  als  Geisteswissenschaft  in  den  triumphierenden  Gegen- 
satz über  eine  entthronte  Naturwissenschaft.    Nichts  liegt  uns  ferner: 
Wir  betrachten  diesen  Gedanken  vielmehr  zunächst  als  einen  mög- 
lichen   geistigen  Weg,   der  uns   von  der  TTQiorri  (pikooocpia,   von  den 
ersten  unmittelbarsten  und  wahrhaftesten  Selbstbestimmungen  des 
eigentätigen  Geistes  hinüberleiten  soll  zum  Verstehen  und  Begreifen 
aller  Einzelzüge  im  Innenleben  des  fremden  Ich,  auch  und  gerade  da, 
wo  wir  es  »krank«  nennen.    Wir  prüfen  diesen  Weg  nur  hinsichtlich 
unserer  Forderung,  ob  er  die  Form  strenger  Wissenschaft  anzunehmen 
vermag  und  gewährleistet,  die  wir  an  Stelle  der  bisherigen  Subjek- 
tivität einfühlenden  Zu  falls  verstehens  und  symptomatologischer  Kon- 
venienzen  zu   setzen   wünschen.   —  Denn   —  dieses  Erkenntnis  und 
dieses  Bekenntnis  hat  eine  jede  Psychologie  sich  immer  wieder  zu 
erneuern   —  wir  wollen  über  der  Hirnforschung  und  der  Serologie, 
dem  Reihenexperiment   und  dem  Assoziationsschema  nicht  wieder 


Zur  Einführung.  305 

vergessen:  der  menschliehe  Geist  ist  es,  die  Seele,  doH  Ich,  dessen 
Äußerungen  auch  dort  vorliegen,  wo  wir  von  Krankheit  und  Z«*r- 
rüttung  reden.  Ihre  Reduktion  auf  Faktoren  außerhalb  dieses  Ich, 
auf  Gehirn  und  innere  Sekretion,  auf  Xervenbaiin  und  quantifizier- 
bare extensive  Funktion  ist  für  den  unbefangenen  Blick  zunächst 
ein  Umweg,  ein  Zeugnis  unserer  geistigen  Hilflosigkeit  vor  dem  Wesen 
der  Phänomene  selber.  Die  Aufgabe  wäre,  diese  Phänomene  durch 
sich  selber  in  ihrer  eigenen  Ganziieit  und  eigenen  Struktur  begrifflicli 
zu  erfassen.  Es  muß  also  an  diesen  Pliänomenen  untersuclit  worden, 
worauf  diese  seltsame  Konstellation  unseres  Wissens  und  Nicht- 
wissens bisher  beruht  hat,  und  ob  es  da  nicht  jenen  behaupteten 
Weg  jenseits  der  Naturwissenschaft,  einen  direkten,  wesenhaften 
imd  zum  Wesen  führenden  Weg  gibt,  Als  solcher  bietet  die  phäno- 
menologische Methode  sich  an.  Wir  werden  zu  prüfen  iiaben,  ob 
und  inwieweit  er  gangbar  ist ;  wie  er  die  bisherigen  psychopatho- 
logischen  Errungenschaften,  jene  der  Psychologie  nach  natur- 
wissenschaftlicher Methode,  stützt  und  vertieft;  und  inwieweit 
diese  zu  ihrer  eigenen  Möglichkeit  der  Phänomenologie  bedürfe  und 
nicht  entraten  könne.  Wir  werden  sciiließlich  den  modalischen 
Grund  dieser  neuen  Methode  unter  dem  besonderen  Gesichtspunkt 
betrachten,  ob  da  wirklich  ein  Gegensatz  zur  naturwissenschaftlichen 
Psychologie  schon  in  den  Fundamenten  des  Erkennens  besteht.  Was 
in  der  einen  Erkenntnismethode  als  richtig  erkannt  ist,  kann  in  der 
anderen  nicht  falsch  sein.  Die  Frage,  ob  das  paradoxe  Nebenein- 
anderstehen zweier  Erkenntniswissenschaften  vom  Psychischen  hier 
wirklich  angenommen  werden  muß,  oder  ob  ein  Verhältnis  gegen- 
seitiger Über-  und  Unterordnvmg  beider  Erkenntniswissenschaften 
vorliegt,  und  welcher  Art  dieses  Verhältnis  ist,  werden  wir  zu  ent- 
scheiden haben.  Damit  wird  sich  uns  der  Weg  zum  Aufbau  der 
Seelenerkenntnis  als  strenger  Wissenschaft,  den  die  psychologische 
Wissenschaft  st  lieorie  begonnen  hat,  auch  für  das  Gebiet  der  Psycho- 
pathologie vollenden. 

Diese  Untersuchungen  selber  sind  keine  systematische  Pliäno- 
menologie  des  Psychischen.  Sie  sind  überhaupt  nocli  keine 
Phänomenologie.  Vielmehr  legen  sie  überall  erst  den 
Grund  zu  einer  solchen  und  klären  ihre  Positionen.  Diese 
Grundlegung  ist  ihrerseits  in  Wesen  und  Methode  naturgemäß  etwas 
außerhalb  der  phänomenologischen  Forschung  liegendes, 
soll  doch  diese  Forschung  auf  der  hier  errichteten  Basis  innerhalb 
des  wissenschaftlichen  Ganzen  erst  möglich  und  gesichert  werden. 
Sie  ist  ein  logisches  und  theoretisches,  von  empirischen 
Tatbeständen  ausgehendes  und  sich  in  regressiven  Ab- 
straktionen bewegendes  Verfahren.  Dies  sei  besonders  betont, 
um  fehlgreifende  Erwartungen  nicht  zu  enttäuschen. 

Bevor  nun  im  folgenden  auf  die  Sache  selber  eingegangen  wird, 
seien  noch  einige  Worte  über  den  Gang  der  Untersuchung  vorauf- 
geschickt.    Es    wird  zunächst,    in    dem  Abschnitt    »Erlebnis    und 

Eroafcld,  Psychiatrische  Erkenntnis.  20 


306      Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

seelische  Funktionen«,  der  Entwicklungsgang  phänomenolo- 
gischer Fragestellungen  heuristisch  und  an  Beispielen  ihrer  hervor- 
ragendsten Vertreter  entwickelt,  und  die  Hauptprobleme  gleichsam 
auf  ihrem  Werdegang  begleitet  und  beleuchtet,  bis  sie  zuletzt  in 
ihrer  gegenwärtigen  Ungelöstheit  verlassen  weiden.  In  einem  kurzen 
weiteren  Abschnitt  prüfen  wir,  was  uns  bisherige  Forschung  über 
die  Gründe  unseres  »Wissens  vom  fremden  Ich«  gelehrt  zu 
haben  behauptet.  Auch  hier  verlassen  wir  den  Gegenstand,  sobald 
wir  seine  gegenwärtige  Problematik  beleuchtet  haben.  Sodann  wird 
in  einer  ergänzenden  Gedankenreihe  »die  Gegebenheit  des  Psy- 
chischen und  der  Gang  ihrer  Erkenntnis«  wenigstens  in  den 
Grundzügen  durch  eine  von  Differenzen,  Mehrdeutigkeiten  und 
Unklarheiten  möglichst  gereinigte  Entwicklung  dargelegt.  Hier 
sollen  die  ungelöst  stehengebliebenen  Fragen  ihre  Auflösung  finden. 
Insbesondere  zwei  Darlegungen  waren  bisher  mit  großen  Schwierig- 
keiten behaftet,  und  dies  sind  gerade  die  Fragestellungen,  die  für 
das  Problem  der  theoretischen  Psychiatrie  von  größter  Bedeutung 
sind:  die  Stellung  der  Phänomenologie  zur  Psychologie,  und  ihre 
Beziehung  zu  logischen  und  theoretischen  Bearbeitungen.  Eine 
kritische  Prüfung  des  vorliegenden  Materials  hat  mich  dazu  geführt, 
in  beiden  Fragen  einen  Standpunkt  zu  vertreten,  der  vom  herrschen- 
den der  Hus serischen  Richtung  sich  wesentlich  entfernt.  Ich  sehe 
den  Sondercharakter  der  phänomenologischen  Einstellung  nicht  in 
apriorischen  Intuitionen,  deren  modalische  Reinheit  es  sei,  welche  die 
Wesenserfassung  der  Phänomene  verbürge,  sondern  bei  aller  Wür- 
digung des  »grundwissenschaftlichen«  Charakters  phänomenologischer 
Einstellungen  für  die  psychologische  Forschung  vermag  ich  ihre  Be- 
sonderheit nicht  auf  eine  modalische  Ungleichheit  mit  letzterer 
zu  reduzieren.  Damit  wird  Phänomenologie  wieder,  was  sie  vor 
Errichtung  des  Husserlschen  Lehrgebäudes  war,  die  Ausgangs- 
und Vorwissenschaft  der  Psychologie  und  in  ein  bestimmtes 
eindeutiges  Verhältnis  zu  dieser  gebracht.  Verlassene  Lippssche 
Standpunkte  werden  damit,  von  den  Irrungen  einzelner  Behaup- 
tungen und  grundsätzlichen  Psychologisierens  befreit,  wieder  auf- 
genommen. Es  sind  vor  allem  unwiderlegliche  Argumente  Nelsons, 
die  mich  zu  diesem  Standpunkt  bringen.  Es  bedarf  keiner  Worte 
darüber,  daß  schon  die  Ehrfurcht  vor  dem  gewaltigen  Werke  Hus- 
serls  es  erforderlich  macht,  diese  Abweichung  zu  rechtfertigen. 

Ebenso  schwierig  liegt  das  andere  Problem:  Die  Stellung  der 
Phänomenologie  zu  den  logischen  und  insofern  bereits  theoretischen 
Weisen  des  formalen,  bestimmten  adäquaten  Erfassens.  Ist  ein 
unmittelbar  reines  phänomenologisches  Erfassen  seelischer  Tat- 
bestände vor  jeder  Begrenzung,  Unterscheidung,  Bestimmung  durch 
formale  und  damit  ihrerseits  nicht  mehr  »unmittelbare«,  sondern 
schon  der  Reflexion  und  damit  der  Theorie  zugehörige  Faktoren 
möglich?  Eine  genauere  Untersuchung  dieser  Frage  führt  zu  ihrer 
Verneinung,  schon  aus  dem  Wesen  des    »seelischen  Tatbestandes « 


Zur  Eiofiihrung.  307 

und  seiner  nur  rcflekliven   Bcgrenzungöinöglichkeit,  sowie  aus  den 
Grundfunktionen  des  Vergleichens  und  Unterscheidcns  in  ihrer  An- 
wendung auf  Seelisches  heraus,  welche  bereits  am  phänomenologischen 
Erfassungsprozeß  konstitutiv  beteiligt  sind,  und  Brückenbögen  von 
intuitiven    zu    abstraktiven    Funktionen    darstellen.      Auch    dieses 
Problem,    welches    in    dem    der    »inneren    Wahrnehmung«   aufgeht, 
verlangt   eine  sorgfältige   Prüfung,   denn  seine  Lösung  hat   für  das 
ganze    vorliegende    Unternehmen    eine    weitreicliende    Konsequenz. 
Nicht    in    ihrer   Trennung    von    Reflektion    und    Theorie, 
sondern    in    ihrer   Verbindung    wird    Phänomenologie    als 
Wissenschaft    erst    möglich.     Dies  wurde  ja  an  früherer  Stelle 
dieses  Buches  schon  dargetan.     Natürlich  bedarf  diese  Konsequenz 
genauer  Begründung.     Weisen  und  Formen,  Siclierheiten,  Ansprüche 
und  Kriterien  für  die  Tragfähigkeit  dieser  Bindung  —  welche  durch 
das  Vorwiegen  und  die  Fehlbarkeit  der  reflektiven  Vollzüge  in  der 
phänomenologischen  Einstellung,  so  wie  sie  hier  begründet  werden 
wird,   besonders  dringlich  gefordert   werden    —  müssen  genau  fest- 
gelegt   werden.     So  kommt  diese  Untersuchung  zu  einer  manchem 
gegenwärtigen  Intuivisten  paradox  und  ketzerisch  klingenden  phä- 
nomenologischen   Theoretik.      Und    diese    Theoretik    führt    zu 
Theorien,   welche,   in  innigster  Anlehnung  an  die  Phänomene  des 
Seelischen,   in  denen  sie  Ausgangspunkt,  Grund  und  Sicherheit  ge- 
winnen, weit  über  die  Phänomenalität  des  Seelischen  in  seine  dunklen 
formalen    und    strukturellen    Quellen    abstraktiv    und    sjTithetisch- 
induktiv  hineinfinden.    Hier  schließt  sich  die  Kette  zwischen  Wissen- 
Bchaftstheoric  und  Phänomenologie.    Es  sei  wiederholt :  diese  ganzen 
theoretischen  Grundlegungen  erzeugen  nicht  neue,  willkürliche  Theo- 
rien der  Psyche  o4cr  des  Psychotischen.     Sie  sind  vielmehr  die  logi- 
schen   und    materialen    Voraussetzungen     jedweder      möglichen 
Erkenntnisse    dieser   Gegenstandsgebiete,    welche    mit    dem    An- 
spruch auf  Wissenschaftlichkeit  auftreten.     Sie  geben  die  Kriterien 
des    Richtigen    und   Falschen   in   der   psychopathologischen   Arbeit, 
soweit  diese  Begriffe  bildet  und  Hypothesen  aufstellt.    Sie  sind  gleich- 
sam der  Kanon  des  geistigen  Rüstzeuges,   welches  über  die   »Beob- 
achtung« der  Tatsachen  hinaus   —  die  ihrerseits  in  der  phänomeno- 
logischen Einstellung  ihre  Methoden  und  Korrektive  findet    —  zur 
Errichtung  der  Psychopathologie  als  Wissenschaft  erfordert  wird. 

Im  zweiten  Bande  dieses  Werkes  soll  dann  gleich  eingangs  ein 
Grundriß  vom  funktionalen  Aufbau  des  seelischen  Ge- 
schehens selber  gezeichnet  werden,  wie  er  sich  als  erstes  Ergebnis 
systematischer  phänomenologischer  Theoretik  in  dem  hier  begründe- 
ten Sinne  darstellt.  Aus  ihm  folgen  entscheidende  Gesichtspunkte 
für  die  Untersuchungen  der  pathologischen  Symptomatik  in  den  spä- 
teren Studien  dieses  Werkes. 


20« 


308     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 


1.  Erlebnis  und  seelische  Funktionen  (heuristische  Entwick- 
lung der  phänomenologischen  Grundbegriffe). 

Vorbegriffliche  Umschreibung  der  phäziomenologischen 
Einstellungs  weise. 

Wir  treten  unseren  kritischen  Weg,  der  uns  zur  Psychologie  als 
Wissenschaft  führen  soll,  in  einem  Augenblick  an,  wo  bedeutende 
Vorgänger  bereits  begonnen  haben  ihn  ihrerseits  zu  beschreiten. 
Nicht  nur  das  Gegenstandsbereich  des  Psychotischen,  auch  das  des 
Psychischen  wollen  sie  mit  einer  neuen  Erkenntnismethode  der 
wissenschaftlichen  Bearbeitung  in  einem  ganz  anderen  Umfang  zu- 
gänglich machen,  als  dies  bisher  geschehen  ist.  Und  wir  können 
vorerst  nichts  Besseres  tun,  als  uns  diesen  Wegebahnern  beobachtend 
anzuschließen,  um  die  neuen  Bereicherungen  des  Wissens  und  Wissen- 
könnens, die  sie  ja  zu  verwirklichen  behaupten,  luisererseits  auf- 
zunehmen bis  zu  dem  Punkte,  wo  wir  sie  in  Irrtum  und  schädliche 
Übertreibungen  verfallen  sehen.  Hier  werden  wir,  immer  das  Ganze 
der  Wissenschaft  vor  Augen  und  eingedenk  der  positiven  Errungen- 
schaften, die  wir  in  der  Wissenschaftstheorie  gesichert  haben,  mit 
besonderer  Vorsicht  vmd  Genauigkeit  Fruchtbares  und  Unfrucht- 
bares scheiden.  Die  Methode  des  phänomenologischen  Er- 
fassens und  Erschauens  stellt  in  der  Tat  den  Anspruch,  in  dem 
ganzen  Arbeitsfelde  der  Wissenschaft  den  forschenden  Geist  in  bisher 
ungekannte  Tiefen  zu  führen  und  mit  dem  Reichtum  neuen  Lichtes 
zu  übi^strahlen.  Ursprünglich  ausgebildet  als  eine  besondere  Weise 
der  Einstellung  auf  Seelisches,  und  in  dieser  Einstellung  zunächst 
noch  mit  Bewußtsein  psychologische  Disziplin,  hat  sie  in  jüngster 
Zeit  ihr  Gegenstandsgebiet  wie  ihren  Erkenntnisanspruch  über  alle 
Grenzen  ausgedehnt.  Gegenständlich  genommen  ist  sie  zu  einer 
besonderen  Weise  des  Wissens  von  allen  Dingen  geworden,  und  in 
der  besonderen  W^eise  ihres  Erkenntnischarakters  vermeint  sie,  die 
Grund-  und  Vorwissenschaft  zu  sein,  welche  die  Quelle  des  begriff- 
lichen Erkennens  und  seiner  formalen  Struktixren  im  Rückgang  auf 
letzte  Evidenzen  ebenso  erhellt,  wie  die  Seins  weisen  des  Seelischen 
vor  und  unabhängig  von  seiner  empirischen  Gebundenheit  an  das 
einzelne  zufällige  Ich, 

Für  den  in  der  Schule  strenger,  gegenständlich  und  methodisch 
begrenzter  Empirie  erzogenen  Forscher  klingt  in  der  Ankündigung 
so  fantastischer  und  in  ihrem  Umfang  ebenso  ungeheuerlicher  wie 
unbestimmter  Ansprüche  einer  geisteswissenschaftlichen  Forschungs- 
richtung immer  ein  bedenkenerregender  Unterton  mit,  den  er  leicht 
in  Ablehnung  umsetzt.  Noch  ist  ihm  das  Zeitalter  Schellingscher 
Naturphilosophie  eine  Erinnerung,  allem,  was  sich  als  geisteswissen- 
schaftliche Errungenschaft  für  die  Naturerkenntnis  ausgibt,  in  der 
methodisch  gesicherten  Tatsachenforschung  von  vornherein  aus  dem 


Erloblüä  und  seeÜBche  Funktionen  uew.  301i 

Wege  zu  gehen.  Wenn  wir  aber  andererseits  hervorragende  Denker 
unter  den  Aiibahnern  dieser  Forschungsrichtung  walirnehmen,  frei- 
lich einen  jeden  auf  einer  anderen  Stufe  der  Ausbildung  und  des 
Erkenntnisanspruehes  dieser  Disziplin  — ,  so  werden  wir  nicht  ohne 
weiteres  geneigt  sein,  diese  Methode  oline  Prüfung  von  vorniierein 
abzulehnen.  Betrachten  wir  den  gegenwärtigen  Stand  der  Psycho- 
logie und  der  Psychopathologie,  so  werden  wir  gewiß  eine  jede  Be- 
fruchtung dieser  Disziplinen  durch  psychologische  Neuerungen  für 
wünschenswert  erachten.  Wir  l>rauchen  bloß  die  Frage  aufzuwerfen: 
Sind  diese  beiden  Disziplinen  bei  dem  bisiierigen  Stande  ihrer  Aus- 
bildung in  das  Wesen  des  Seelischen,  seine  Strukturen  und  Gesetze 
auch  nur  über  die  äußersten  Außenflächen  eingedrungen?  In  das 
Seelische,  nicht  nur  wie  wir  es  an  einem  Zipfel  seiner  äußeren  Hülle 
packen,  messen  und  quantifizieren,  sondern  so,  wie  wir  aus  ganz 
unwissenschaftlicher  Quelle  wissen,  daß  es  eigentlich  und  wirk- 
lich ist  —  in  dem  ganzen  Reichtum  seiner  inneren  Entfaltungen, 
der  Mannigfaltigkeit  seiner  Differenzierungen,  der  inneren  Ver- 
wicklung seiner  Abläufe  und  Erscheinungsweisen,  der  Dunkelheit 
seines  schöpferischen  Leistens,  der  scheinbar  unauflöslichen  Schwie- 
rigkeiten seiner  Bewußtwerdungen  und  ihrer  Bestimmtheit  in 
Formen  und  Strukturen,  der  immer  wieder  besonderen  Djniamik 
seiner  inneren  Zusammenhänge:  kurz  in  allem  dem,  was  in  uns  als 
Besonderheit  und  Wesen  der  Persönlichkeit  zum  Erfassen 
gelangt,  werten  wir  sie  nun  als  »gesund«  oder  »krank«.  Weiß  die 
Wissenschaft  davon?  Wohnt  ihr  die  Fähigkeit  inne,  gerade  über 
dieses  eigentliche  Wesen  des  Seelischen  begründbare  Aussagen  mit 
dem  Anspruch  wissenschaftlicher  Geltung  und  Lehrbarkeit  zu  machen  ? 
Diese  Frage  für  die  gegenwärtige  Psychologie  stellen,  heißt  sie 
verneinen.  Und  es  geht  auch  nicht  an,  dieses  unbequeme  Einge- 
ständnis mit  dem  riclitigen  und  doch  fehlgleitcnden  Gegengrund  zu 
erledigen,  daß  vom  Individuellen  nun  einmal  eine  Wissenschaft  nicht 
möglich  sei,  da  Wissen  immer  den  Charakter  des  Allgemeinen  trage. 
Wo  haben  wir  denn  bisher  auch  nur  ein  heuristisches  Unterscheidungs- 
merkmal für  das  gehabt,  was  von  dem  seelischen  Ablaufen  und  Sein 
der  genannten  Phänomene  individuell  sei  und  was  nicht  —  wobei 
überdies  individuell  und  gesetzlos  noch  zwei  völlig  verschiedene 
Begriffe  sind!^)  Das  Allgemeine  des  Wissens  bezieht  sich  auf  sein 
Gelten,  nicht  auf  seinen  Gegenstand.  Auch  das  Vereinzelte  vermag 
Gegenstand  allgemeingültigen  Wissens  zu  werden.  Bisher  wurden 
derartige  Unterscheidungen  des  Wißbaren  und  nicht  Wißbaren  vor- 
wiegend unter  konventionellen,  abstrakt iven  Gesiehtspunkten  ge- 
troffen, oder  mit  Rücksicht  auf  irgendwelche  vorgebildeten  theore- 
tischen Lehrmeinungen,  oder  auf  psychoplij-sische  oder  didaktisch- 
schematische  oder  klinische  Zweckgesichtspunkte,  oder  gar  auf  philo- 
sophische Annahmen.     Wir  waren  dies  so  gewohnt,  daß  wir  es  schon 


1)  Vgl.  dicsea  Buch,  S.  225ff. 


310     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

gar  nicht  mehr  bemerkten.  Aber  es  ist  Tatsache,  daß  wir  aus  dem 
Strom  des  Psychischen  herausgreifen,  was  uns  unter  irgendeinem 
dieser  Gesichtspunkte  verarbeitbar  erscheint;  dies  wird  zu  verein- 
fachten, schematischen  festen  Formen  von  allgemeiner  Anwendung, 
die  sich  mit  Vergnügen  immer  wieder  finden  lassen;  der  Rest  wird 
als  »individuell «  für  die  Wissenschaft  vernachlässigt.  Diese  Kenn- 
zeichnung des  methodischen  Charakters  der  herkömmlichen  Psycho- 
logie gerade  auch  des  kranken  Seelenlebens  mag  übertrieben  sein, 
aber  den  hier  in  Frage  stehenden  Gesichtspunkt  ihrer  Schwierig- 
keiten, an  das  eigentliche  Seelische  in  seinem  mannigfaltig  ver- 
wickelten Sein  exakt  heranzukommen  —  diesen  Gesichtspunkt  über- 
treibt sie  wahrhaftig  nicht.  Man  denke  nur  an  Theorie  und  Praxis 
unserer  psychopathologischen  Arbeit,  Von  der  eigentlichen  und 
wesentlichen  inneren  Leistung  des  Psychopathologen,  dem  verständ- 
nisvollen Erfassen  des  seelischen  Geschehens  und  seiner  Erschei- 
nungsweisen in  den  Kranken,  vermag  man  in  die  theoretischen 
Formulierungen  und  Bildungen  nur  recht  wenig  mit  hinüber  zu 
nehmen. 

Indem  wir  die  methodologische  Bedürftigkeit  des  Ausbaues  der 
psychologischen  Disziplinen  nach  dieser  Richtung  hin  anerkennen 
müssen,  sind  wir  weit  davon  entfernt,  die  schärfste  und  genaueste 
Kritik  an  jeder  neuen  Methode,  und  somit  auch  an  der  phänomeno- 
logischen, beeinträchtigen  zu  wollen. 

In  det"  Geschichte  aller  empirischen  Wissenschaften  treten  mit 
einer  Art  von  Notwendigkeit  Zeitpunkte  ein,  in  welchen  der  stetige 
Weg  zur  Gewinnung  neuer  Tatsachen  und  Gesetzeserkenntnisse 
unterbrochen  werden  muß  durch  eine  methodologische  Be- 
sinnung über  das  bisher  Erreichte,  über  die  Ziele  der  Forschung 
und  die  möglichen  Mittel,  sich  diesen  Zielen  weiter  anzunähern,  als 
es  bis  dahin  möglich  war;  oder  doch  wenigstens  neue  Gesichtspunkte 
ihrer  Betrachtung  zu  gewinnen.  Und  fast  niemals  sind  diese  Unter- 
brechungen bisher  begangener  Wege  eine  bloße  Verzögerung  der 
Arbeit  und  ohne  allen  Gewinn.  Historisch  läßt  sich  beobachten, 
daß  sie  zumeist  es  sind,  in  welchen  die  neuen  Fragestellungen 
entstehen;  und  diese  neuen  Fragestellungen  erzeugen  aus  sich  heraus 
mit  Unausweichlichkeit  die  neuen  konformen  Methoden.  Insofern 
aber  die  neuen  Methoden  zum  Wissen  um  neue  Tatsachen  hinleiten, 
insofern  sie  die  Forschung  neu  beleben  und  bereichern:  insofern 
sind  jene  Momente  methodenkritischer  Besinnung  nicht  zwecklose 
Ruhepunkte  oder  Abwege,  wie  dies  der  reine  Tatsachenforscher 
gern  glaubt;  sondern  sie  erzeugen  gerade  die  Leitideen  neuen  Fort- 
schreitens und  werden  so  ebenfalls  zu  fördernden  Momenten  wissen- 
schaftlicher Arbeit. 

Stellen  wir  auf  diese  Weise  die  Psychologie  und  die  Psycho- 
pathologie ihren  eigentlichen  Zielen,  so  wie  sie  soeben  kurz  und  ohne 
begriffliche  Klarheit  angedeutet  wurden,  gegenüber:  der  Erfassung, 
und  zwar  der  wissenschaftlichen  Erfassung,   des   wesentlich   und 


Erlebnis  und  ßeeliflche  Funktionen  usw.  Sil 

spezifisch  Seelischen,  nicht  in  den  abgeleiteten  Schematismen 
einer  vergewaltigenden  Vereinfachung  und  nicht  in  den  willkür- 
liehen  Bildern  literarischer  Aufmachung,  sondern  gemäß  den  un- 
mittelbaren Weisen  seines  Erscheinens  und  Soseins  — ,  so  ergibt 
diese  Gegenüberstellung  den  Anlaü  zu  jener  Forderung  methodis^chcr 
Besinnung,  von  der  allein  die  Seelenkunde  in  neuen  Wegen  weiter 
entwickelt  werden  kann.  Und  nun  ist  es  interessant,  daß  überall, 
wo  im  Verlaufe  der  letzten  Jahrzehnte  unsere  großen  Forscher  auf 
diesen  Gebieten  Anlaß  zu  solcher  methodologischen  Selbst l)e8innung 
nahmen,  die  Geburt s stunde  der  Phänomenologie  schlug  — 
nicht  als  Wissenschaft,  verschiedenartig  und  verschiedenwertig  in 
ihrem  methodischen  Gehalt,  aber  überall  gleich  als  neuartige  Weise 
des  Sichcinstellens  auf  das  seelische  Gegenstandsgebiet,  Daß  diese 
neue  Einstellung  ihr  ursprüngliches  seelisches  Gegenstandsgebiet 
dann  später  weit  überschritt,  ist  eine  Sache  für  sich;  und  darüber 
wie  über  ihre  Grenzen  und  ihre  methodische  Fassung  wird  noch  zu 
sprechen  sein,  ebenso  wie  über  ihren  von  mancher  Seite  geltend  ge- 
machten Anspruch  auf  ihre  Stellung  unter  den  Geisteswissenschaften. 
Aber  soviel  möchte  hier  klargestellt  sein:  nicht  aus  Neuerungssucht, 
weil  gerade  irgendein  aktuelles  Verfahren  auftaucht  und  sich  unter 
vielleicht  angemaßten  Ansprüchen  als  den  wahren  Fortschritt  der 
Wissenschaft  anpreist,  nicht  darum  soll  Phänomenologie  gewaltsam 
in  den  Gesichtskreis  des  Seelenforschers  gezogen  werden.  Sondt-iu 
der  historische  und  heuristische  Gang  der  Entwicklung  phänomeno- 
logischer Einstellungen  in  der  Seelenkunde  ist  gerade  der  umgekehrte 
gewesen:  aus  einer  Lücke,  einem  Mangel  des  methodologischen  Rüst- 
zeuges unserer  Disziplin  iliren  Zielen  gegenüber  entstanden  mit 
innerer  Notwendigkeit  jene  methodischen  Neuerungen,  die  sich  noch 
nicht  irrtumsfrei  und  restlos  konsolidiert  haben,  in  ihren  Ansprüchen 
und  Grundlagen  aneinander  noch  vielfach  widerstreiten,  aber  doch 
schon  sichtbar  das  Antlitz  innerer  Einheit  und  Zusammengehörigkeit 
tragen,  und  sich  unter  dem  Begriffe  der  phänomenologischen  Ein- 
stellung zusammenfassen  lassen.  Aus  ihr  soll  Phänomenologie  als 
Wissenschaft  hervorgehen. 

Natürlich  ist  hiermit  bloß  ein  Sachverhalt  angedeutet,  und  weder 
seine  Berechtigung  dargetan,  noch  seine  Bedeutung  umrissen.  Ja. 
es  ist  mit  der  Andeutung  dieses  Sachverhaltes  noch  niclit  einmal  die 
Möglichkeit  gewährleistet,  klar  und  eindeutig  zu  sagen,  was  denn 
nun  phänomenologische  Einstellung,  was  Phänomenologie  sei  und 
sein  solle. 

Und  diese  Frage  ist  sehr  viel  schwieriger  zu  beantworten,  als  es 
den  Anschein  erweckt.  Das  liegt  an  der  Vieldeutigkeit  der  Bezeich- 
nung Phänomenologie  und  ihrer  Anwendung  in  verschiedenem  Sinni-. 
Die  Phänomenologie  des  Hegeischen  Philosophems  ist  etwas  völlig 
anderes  als  der  Begriff  Phänomenologie  in  der  physikalischen  Theorie, 
die  phänomenologische  Eidetik  Husserls  ist  völlig  verschieden  von 
der  psychischen  Phänomenologie  Lipps';  nirgends  decken  sich  völlig 


312     Grundlinien  der  Pliänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Gegenstandsgebiet  und  Methodik  dieser  mit  gleichem  Namen  be- 
zeichneten Forschungsrichtungen.  Wir  können  uns  der  begrifflichen 
Bestimmung  dessen,  was  in  diesen  Bedeutungen  nicht  nur  das  Ge- 
meinsame, sondern  schließlich  und  vor  allem  auch  das  Richtige  ist, 
nur  schrittweise  annähern,  und  wir  weiden  nicht  eher  präzise  und 
aussagbar  wissen,  was  Phänomenologie  für  uns  bedeute,  als  in  dem 
Augenblick,  wo  wir  ihre  Grundlagen  systematisch  geklärt  und  ge- 
sichert haben. 

Auf  diesen  Weg  der  heuristischen  Annäherung  begeben  wir  uns 
jetzt.  Und  damit  uns  zugleich  mit  dem  Wesen  auch  die  innere  Be- 
rechtigung der  phänomenologischen  Einstellung  und  ihr  Erfordernis 
für  die  Seelenkunde  einleuchte  —  oder  wenn  nicht  einleuchte,  so 
doch  zu  kritischer  Stellungnahme  Gelegenheit  biete  —  so  knüpfen 
wir  am  zweckmäßigsten  ohne  jede  eigene  Vorwegnahme  an  jene 
Anlässe  zu  methodologischer  Besinnung  an,  von  denen  wir  oben 
sprachen,  und  die  den  Gedanken  der  phänomenologischen  Einstellung 
aus  sich  haben  hervorgehen  lassen.  Tatsächlich  ist  in  diesen  An- 
lässen zunächst  noch  das  allein  gemeinsame  Ausgangs-  und  Erzeu- 
gungsmoment gelegen,  aus  dem  die  auseinanderstrebenden  Tendenzen 
und  Einstellungen  der  Phänomenologie  hervorgehen,  und  welches 
uns  vor  aller  Klärung  ihres  Gehaltes  und  ihrer  Widersprüche  erlaubt, 
von  der  Phänomenologie  als  einer  im  Wesen  einheitlichen  Forschungs- 
richtung  zu  sprechen.  Nun  trafen  jene  Vorboten  methodologischer 
Klärung  freilich  nicht  zu  einem  bestimmten  historischen  Zeitpunkt 
aufeinander.  Wohl  aber  bilden  sie  eine  Einheit  in  dem  Sinne,  daß 
aus  dem  Werdegang  der  Psychologie  in  bestimmten  Momenten  eine 
Reihe  von  Schwierigkeiten  sich  ergeben  mußte,  wie  wir- sie  bereits 
oben  angedeutet  haben;  und  diese  Gleichförmigkeit  der  heu- 
ristischen Situation  in  der  Seelenkunde  soll  der  Ausgangspunkt 
und  die  erste  gemeinsame,  wenn  auch  vor  der  Hand  negative  Eigenart 
der  phänomenologischen  Einstellung  und  Fragestellung  für  mis  sein. 

Hieraus  folgt  für  uns  sogleich,  daß  wir  mit  der  Darstellung  der 
phänomenologischen  Grundlinien  da  beginnen,  wo  sie  sich  aus  den- 
jenigen Disziplinen  herausbilden,  die  sich  mit  dem  seelischen 
Geschehen  beschäftigen.  Wir  wissen  noch  nicht,  ob  dieser  Genese 
für  das  Wesen  der  Phänomenologie  koiistitutiv  oder  nur  zufällig  ist. 
Nur  das  eine  wissen  wir  schon,  daß  sie  für  die  Psychologie  nicht 
zufällig,  sondern  an  einem  bestimmten  Punkte  ihrer  Entwicklung- 
notwendig  ist.  Demnach  wird  sich  für  unseren  Ausgangspunkt 
Phänomenologie  als  eine  besondere  und  ihrem  Anspruch  nach  neu- 
artige Weise  darstellen,  Seelisches  zu  erfassen.  Somit  wäre  die  nächste 
allgemeine  Aussage,  die  sich  von  diesem  Ausgangspunkte  aus  über 
die  Bedeutung  der  Phänomenologie  machen  läßt,  diese:  Phäno- 
menologie ist  die  reine  Beschreibung  des  Seelischen  gemäß 
seinen  Seinsweisen. 

Diese  Aussage  sieht  zunächst  recht  harmlos  aus,  und  nichts  von 
so  prinzipieller  Neuheit  und  Bedeutung  scheint  ihr  anzuhaften,  daß 


Erlebnis  und  Bcelißcho  Funktionen  uhw.  313 

ßio  den  Anspruch  auf  eine  fundunientale  Neuerung  in  den  seelen- 
wissenschaft liehen  Methoden  zu  rechtfertigen  vermöchte.  Dennoch 
involviert  sie  eine  gar  nicht  zu  ahnende  Fülle  von  Problemen  von 
teilweise  großer  Schwierigkeit  und  Dunkcllieit,  denen  wir  noch 
Schritt  für  »Schritt  begegnen  werden.  Hier  sei  zuvörderst  auf  zwei 
Momente  hingewiesen,  welche  jene  allgemeine  Aussage  mit  einem 
programmatischen  Gegensatz  zu  belasten  scheinen  gegen  die  grund- 
legenden Methoden,  die  sonst  ausschlieülich  die  Psychologie  beherr- 
schen. Auch  hierbei  unteisuciien  wir  nocli  nicht  das  Recht  dieser 
Entgegensetzung,  sondern  stellen  sie  fest:  in  der  Aufnahme  des 
Begriffes  reiner  Beschreibung  liegt  die  Ablehnung  aller  konstruk- 
tiven Psychologie;  in  der  Bestimmung  des  Seelischen  gemäß  seinen 
Seinsweisen  liegt  die  Ablehnung  der  »objektiven«  Psj-chologie 
und  ihrer  experimentellen  Methodik.  Wir  verfolgen  den  Gedanken- 
gang über  das,  was  mit  dieser  Entgegensetzung  gemeint  ist,  und 
dringen  so  genauer  in  die  heuristische  Situation  ein,  aus  welcher  die 
phänomenologische  Forschung  hervorgeht. 

Da  ist  zunächst  klar,  daß  beide  Ablehnungen  herrschender  Me- 
thoden nicht  etwa  für  die  Psychologie  schlechthin,  sondern  lediglich 
für  die  besonderen  Ziele  gellen  sollen,  deren  Erreichung  die  phäno- 
menologische Einstellung  als  angepaßtere  Methode  zu  erstreben 
gedenkt.  Daß  die  Phänomenologie,  sowie  sie  bis  jetzt  bestimmt 
wurde,  sich  zunächst  in  diesen  beiden  Ablehnungen  als  einzigen  Be- 
stimmungsstücken konsolidiert,  hat  den  einfachen  und  fast  naiven 
Gedanken  zum  Grunde,  daß  sowohl  die  konstruktive  als  auch  die 
objektive  experimentelle  Methodik  der  Erfüllung  bestimmter  wesent- 
licher Aufgaben  in  der  Seelcnforschung  nicht  gewachsen  sind.  Beiden 
methodischen  Formen,  so  wird  dieser  Gedanke  etwa  ausgedrückt,  ist  es 
gemeinsam,  das  seelische  Fließen  gleichsam  von  außen  zu  betrachten, 
als  bloßes  Ablaufen  und  ohne  die  Rücksicht  daiauf,  wie  es  dem  »Ich  ^ 
erscheint,  in  welchem  es  erfolgt.  Sie  betrachten  seinen  Bewußtseins- 
bestand nicht  anders  als  seinen  objektiven  Effekt :  nach  dem  Ge- 
sichtspunkte, was  durch  ihn  bewirkt  oder  verändert  wird,  was  für 
eine  Leistung  sich  in  ihm  vollzieht.  Es  ist  kein  Wunder,  daß  dem 
so  ist;  sondern  es  liegt  das  im  Wesen  ihrer  Aufgaben  und  ihrer  Ziele. 
Der  Gesichtspunkt  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  ist  es,  der 
in  ihnen  herrscht,  und  dessen  Anwendung  auch  auf  das  Seelische, 
als  einen  Teil  des  empirischen  naturgegenständlichen  Gebietes,  zur 
Quantifizierung,  zur  kausalen  und  konditionalen  Mechanisierung 
hindrängt.  Maß,  Größe,  Zahl  und  Wirkung  bilden  die  Bausteine 
zu  dem  Ganzen  der  Naturforschung.  Unter  diesen  Gesichtspunkten 
wird  auch  der  seelische  Ablauf  beobaelitet  und  durchforscht  ;  der 
Zeit  verlauf  seines  Zustandekommens,  die  Bedingungen  seines  Ein- 
tretens, seine  Phasen,  Komponenten,  seine  Intensitätsschwellc  werden 
gemessen  und  experimentell  isoliert.  Qualitäten  des  Seelischen,  die 
ihrem  Wesen  nach  nicht  wie  die  der  extensiven  Natur  in  Quantitäten 
auf  löslich  sind,  werden  nur  hinsichtlich  des  einzig  Meßbaren  an  ihnen. 


314     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

ihrer  Intensitätsgrade,  als  Material  in  diesen  Arbeitsrichtungen  ver- 
wertet; Inhalte  nur  soweit  sie  zählbar  und  beliebig  reproduzierbar 
sind;  ihre  Beziehungen  zum  »Ich«,  ihre  Bedeutsamkeit  für  das  Ich, 
ihre  Stellung  im  und  zum  »Bewußtsein«  fallen  unter  den  Tisch. 
Vom  Bewußtsein  redet  die  bisherige  psychologische  Forschung,  als 
von  etwas,  das  ihr  immer  wieder  unangreif liehen  Trotz  bietet,  über- 
haupt nicht  gerne.  Sie  vermeidet  auch,  das  willenshafte  Eingreifen 
des  Ich  in  seine  seelischen  Vollzüge  so  ganz  ernst  zu  nehmen.  Lieber 
löst  sie  es  in  »Gefühlen«  auf;  nur  kein  irreduzibles  Aktualitäts- 
moment, das  schematischer  Zergliederung  trotzen  könnte!  So  macht 
sie  sich  —  und  das  ist  ebenso  begreiflich  wie  es  erfolgreich 
war  —  ein  schematisches  Bild  des  seelischen  Ablaufens  nach  Ana- 
logie physikalischer  oder  physiologischer  Annahmen,  wonach  das 
Psychische  konstruierbar  wird  aus  einer  begrenzten  Zahl  isoliert 
faßlicher  materialer  Bausteine  von  grundsätzlich  gleicher  Wesensart, 
an  denen  alles,  bis  auf  die  quantitativ  nicht  auf  löslichen  elemen- 
taren Qualitäten,  die  sozusagen  das  seelische  Molekül  darstellen, 
in  Größen-  und  Maßbeziehungen  aufgelöst  werden  kann.  Aus  diesen 
wird,  vermittels  einer  Reihe  von  quantitativ  bestimmbaren  Mecha- 
nismen, das  seelische  Ablaufen  in  seinen  Formen  und  Strukturen 
konstruktiv  nachgeschaffen.  Die  Ergebnisse  dieser  Quantifizierung 
bilden  das  Gesetz  jeweiligen  seelischen  Leistens -und  sich  Veränderns, 
als  einer  Bewirktwerdung,  für  dasjenige  Teilgebiet,  welches  gerade 
durchforscht  wird.  Und  dieses  Gesetz  enthält,  nach  Analogie  physi- 
kalischer und  physiologischer  Gesetze,  die  konstruktiven  Bedin- 
gungen und  Bestimmungsstücke  des  kausalen  Mechanismus,  der 
dieser  seelischen  Leistung  zugrunde  gelegt  wird.  So  ist  ja  seit  langem 
die  Wahrnehmung,  Auffassung,  Reproduktion  und  Übung  usw. 
quantifiziert  und  gesetzmäßig  bestimmt  worden. 

Das  alles  ist  nicht  falsch  und  kein  Irrweg,  und  die  Ergebnisfülle 
dieses  Verfahrens  wird  hier  nicht  verkleinert.  Aber  es  läßt  eine  Seite 
des  Seelischen,  die  auch  zu  ihm  gehört,  außer  acht.  Diese  Seite  nun 
vermeint  die  phänomenologische  Einstellung  zu  treffen,  wenn  sie, 
ohne  sich  durch  theoretische  Präsumtionen  und  konstruktive 
Schematisierungen  festzulegen,  ohne  nach  Möglichkeit  künstliche 
Trennungen  und  Isolierungen  in  dem  Strom  des  Seelischen  vorzu- 
nehmen, zur  Aufgabe  stellt,  den  ganzen  phänomenalen  Bestand 
eines  seelischen  Ablaufes  in  reiner  Beschreibung  zu  erschöpfen,  und 
zwar  von  der  Seite  her,  wie  er  unmittelbar  da  und  für  die  Erfassung 
gegeben  ist,  seinem  immanenten  Wesennach.  (Über  Husserls  andere 
Formulierung  der  reinen  Phänomenologie  wird  später  besonders 
gesprochen.) 

Das  ist  vorerst  nur  eine,  und  nicht  einmal  sehr  klar  ausgedrückte 
Forderung.  Wie  sie  uns  deutlicher  wird,  wie  ihre  Verwirklichung 
versucht  wird,  wieweit  sie  überhaupt  durchführbar  ist,  und  wohin 
sie  führt,  davon  sollen  die  folgenden  Abschnitte  handeln.    . 


Erlebais  und  seelische  Funktionen  osw.  315 

Die  Konzeption  des  Erlebnisbegrif fcs  bei  Uilthey. 

Die  Forderung,  die  wir  am  Schluß  der  bisherigen  Darlegungen 
wiedergegeben  haben,  ist  im  Grunde  nichts  anderes,  als  eine  Wieder- 
aufnahme der  Einwände,  welche  von  Seiten  der  Historiker  und  der 
transzendentalistischen  Philosophen  von  jeher  gegen  eine  an  der 
naturwissenschaftlichen  Methode  orientierte  Psychologie  vorge- 
bracht worden  waren.  Einen  Schritt  über  diese  unfruchtbaren  Nega- 
tionen hinaus  führte  aber  erst  eine  Arbeit  Diltheys  aus  dem  Jahre 
1894.  Damals  herrschte  die  konstruktive  und  quantifizierende 
Richtung  der  Elementarpsychologie  und  des  Reihenexperimentes 
fast  unbeschränkt.  Der  Schritt,  den  Diltheys  betrachtende  Be- 
sinnung in  dieser  heuristischen  Situation  tat,  führte  noch  zu  keiner 
methodischen  Klärung,  wohl  aber  brachte  er  doch  schon  einen  Hin- 
weis auf  neue  Arbeitsmöglichkeiten  an  die  Seelenforschung  heran; 
und  mit  der  Fassung  des  Erlebnisbegriffs,  der  im  Mittelpunkt 
seiner  Arbeit  steht i),  fand  eine  Konzeption  ihren  Ausdruck,  die  in 
der  späteren  Entfaltung  der  Phänomenologie  maßgebend  werden 
sollte. 

Der  Inhalt  der  kritischen  Besinnungen  Diltheys,  welche  ihn 
in  jene  heuristische  Situation  drängten,  aus  der  diese  Konzeption 
einen  Ausweg  sucht,  dieser  Inhalt  geht  über  die  vorher  angedeutete 
Kritik  der  bisherigen  Seelenkunde  nicht  wesentlich  hinaus.  Die 
erklärende  Psychologie  nach  naturwissenschaftlicher  Methode,  so 
führt  er  etwa  aus,  sieht  ihr  Ziel  in  der  »Unterordnung  der  seelischen 
Erscheinungen  unter  Kausalzusammenhänge«.  Sie  verfährt  dabei, 
wie  wir  schon  vorher  sagten,  konstruktiv  und  hjrpothetisch,  und 
ihre  einzelnen  Hypothesen  lassen  sich  zu  Systemen  kombinieren. 
Aber  diese  Hypothesen  sind  weder  restlos  stringent,  noch  unver- 
meidlich, nocli  wesentlich.  Denn  sie  erfordern  zu  ihrer  Ermög- 
lichung Hilfsbegriffe,  welche  ihrer  Art  nach  unpsychologisch  sind; 
mag  es  sich  nun  um  spezielle  psychologische  Erklärungsgesichts- 
punkte oder,  allgemeiner,  um  das  alte  Kantsche  Stetigkeitsprinzip 
handeln,  welches  zur  Begründung  von  quantitativen  Fragestellungen 
überhaupt  und  aller  Messung  im  Psychischen  herhalten  muß:  nir- 
gends wird  mit  allem  diesen  das  Wesen  des  Seelischen  selber  getroffen. 
Ferner  lassen  sich  diese  Hypothesen  in  verschiedenen  Systemen 
zusammenfassen,  ohne  daß  diese  verschiedenen  Zusammenfassungen 
einander  ausschließen.  Soll  aber  auf  diese  Art  echte  systematische 
Erkenntnis  zustande  kommen,  so  muß  ein  System  richtig,  die  an- 
deren falsch  sein;  logische  und  sachliche  Verträglichkeit  ist  das 
Zeichen  und  Eingeständnis  dafür,  wie  unzulänglich  diese  ganze  Art 
von  konstruktiven  Hypothesen  hinsichtlich  ihres  systematischen 
Erkenntniswertes  ist.  Und  ebenso  weist  Dilthcy  auf  die  Gewalt- 
samkeit hin,  mit  welcher  die  elementare  Psychologie  verfahren  muß. 


*)  Ideen  über  eine  beschreibende  und  zergliedernde  Psychologie.    Sittungs- 
berichte  der  Pmiß.  Aknd.  d.  Wiss.,  philow.-hist.  Klas-se.     1894.    S.  309ff. 


316     Grundlinien  der  Phänomenologie  ii.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

um  die  seelischen  Tatbestände  aus  jenen  von  ihr  unterstellten  »Ele- 
menten« von  gleicher  Art  und  begrenzter  Zahl  konstruktiv  nachzu- 
schaffen.  Dilthey  hält  diese  Unzulänglichkeiten  nicht  für  zufällige 
Mängel,  vielmehr  sieht  er  in  ihnen  nur  den  notwendigen  Ausdruck 
des  grundsätzlichen  Irrtums,  der  darin  liegt,  Seelisches  wie  ein  Natur- 
geschehen erkennen  zu  wollen.  Die  Erkenntnis  des  Seelischen,  so 
wie  es  wirklich  sei,  sei  eine  generisch  völlig  andere.  Er  prägt  dafür 
die  Formel:  »die  Natur  erklären  wir,  das  Seelenleben  ver- 
stehen wir«.  Wir  verstehen  es  »als  einen  ursprünglich  gegebenen, 
lebendigen  Zusammenhang«.  Und  dieser  Zusammenhang  ist  uns 
wesenhaft  und  ausschließlich   »im  Erlebnis«  gegeben. 

Diesen  lebendigen  Zusammenhang  gilt  es  wissenschaftlich  zu  er- 
fassen. Die  zu  fordernde  »beschreibende  Psychologie«  hat  somit  zur 
Aufgabe  »die  Darstellung  der  in  jedem  menschlichen  Seelenleben 
gleichförmig  auftretenden  Bestandteile  und  Zusammenhänge,  so  wie 
sie  in  einem  einzigen  Zusammenhang  verbunden  sind,  der  nicht  hinzu- 
gedacht, oder  erschlossen,  sondern  erlebt  ist«. 

Wie  läßt  sich  nun  diese  neue,  und  angeblich  von  der  Naturwissen- 
schaft grundlegend  verschiedene  Weise  des  Wissens  um  Seelisches 
verwirklichen?  Dilthey  spricht  sich  hierüber  nicht  klar  aus.  Er 
sagt:  »Jeder  Zusammenhang  muß  durch  innere  Wahrnehmung  ein- 
deutig verifiziert  werden  können«.  Die  Mittel  hierzu  seien  »alle 
Hilfsmittel  künstlerischer  Vergegenwärtigung«.  Man  mag  dies  zu- 
nächst hinnehmen;  aber  es  drängt  sich  die  Frage  auf,  wie  aus  diesem 
ästhetischen  Erfassen  ein  Wissen  um  Seelisches,  eine  Wissenschaft 
werden  soll.  Dilthey  begnügt  sich  mit  der  bloßen  Andeutung: 
»die  volle  Wirklichkeit  des  Seelenlebens  muß  zur  Darstellung  und 
tunlichst  zur  Analysis  gelangen«.  Hiermit  könnte  man  ganz  ein- 
verstanden sein.  Nur  scheint  die  Forderung,  daß  der  Gang  der  Be- 
schreibung ein  analytischer  zu  sein  habe,  nicht  ohne  weiteres  die 
scharfe  Stellungnahme  zu  rechtfertigen,  welche  Dilthey  in  solcher 
Grundsätzlichkeit  gegen  die  bisherige  wissenschaftliche  Psychologie 
eingenommen  hat.  Aber  auch  diese  Forderung  selber  ist  auf  keine 
ersichtliche  Weise  mit  Diltheys  eigenem  Programm  in  Einklang  zu 
bringen.  Dilthey  erklärt,  die  Gegebenheitsweise  des  Seelischen  ist 
»eine  völlig  andere  als  von  Naturobjekten«.  »Die  innere  Wahr- 
nehmung ist  ein  unmittelbares  Innewerden,  ein  Erleben.«  Das  Er- 
lebte wird  erlebt  »als  ein  unteilbares  Einfaches«;  »diese  Einfachheit 
und  Unteilbarkeit  haftet  auch  an  den  Funktionen«,  ja  sogar  an  den 
Funktionszusammenhängen;  »so  erleben  wir  ständig  Verbindungen, 
Zusammenhänge  in  uns  .  .  .  Was  wir  so  erleben,  können  wir  vor  dem 
Verstände  niemals  klar  machen. «  Daß  in  diesen  Sätzen  ein  richtiger 
und  großer  Gedanke  steckt,  empfindet  man  unmittelbar  bei  ihrem 
Innewerden;  ebenso  aber  empfindet  man  die  Unzulänglichkeit  und 
Fehlerhaftigkeit  seiner  Formulierung.  Sie  ist  daran  schuld,  daß 
Dilthey  uns  die  auf  Grundfrage:  wie  er  von  dieser  Basis  zu  seiner 
beschreibenden   Psychologie  als   Wissenschaft  denn  nun  eigentlich 


Erlebnis  und  Bcelische  Funktionen  usw.  3l7 

kommen  will,  —  keine  rechte  Antwort  zu  geben  vermag.  Die  von  ihm 
beliauptete  Einfachheit  und  Unteilbarkeit  des  Innewerden.s  von 
Seelischem  widerspricht  jeder  diskursiven  Erkenntnisweise,  und  daher 
bleibt  es  völlig  unklar,  wie  analytische  Beschreibung,  also  abstraklive 
Denkvollzüge,  als  wissenschaftliche  Verarbeitung  eines  so  gearteten 
»Innewerdcns«  von  Seelischem  überhaupt  möglich  sein  sollten. 
Dennoch  ist  dies  die  Meinung  Diltheys:  die  Sonderungen  der  Ab- 
läufe und  Zusaminenhänge  müßten  sich  abstraktiv  vollziehen  lassen. 
Dali  wir  tatsächlich  die  Abstraktionen  vornehmen  können  und  vor- 
nehmen, ist  richtig  aber  nicht  neu.  Die  Schwierigkeit  liegt  nur  da, 
diese  fast  triviale  Feststellung  mit  seinem  neugeforderten  Vermögen 
einer  inneren  Evidenz  durch  Erleben  in  Einklang  zu  bringen. 
Nun  spricht  Dilthey  im  Laufe  seiner  Untersuchungen  der  inneren 
Wahrnehmung,  deren  Stellung  zum  Erleben  er  nirgends  klärt,  »eine 
Mitwirkung  der  elementaren  logischen  Funktionen«  zu.  Er  spricht 
ganz  im  Sinne  von  Locke ^)  von  einer  Intellektualität  der  inneren 
Wahrnehmung.  Liest  man  diese  Feststellungen,  so  fragt  man  sich 
vergebens,  inwiefern  denn  nun  die  Gegebenlieitsweise  des  Seelischen 
eine  völlig  andere  als  die  von  Naturobjekten  sei  —  wie  Dilthey 
anfangs  behauptet  hatte.  Man  fragt  sich,  ob  nicht  schon  durch  diese, 
als  unumgänglich  erkannte  Nötigung  zu  abstraktiver  Zergliederung 
der  angeblich  grundsätzliche  Unterschied  der  Diltheyschea  be- 
schreibenden Psychologie  von  der  bisherigen  Psychologie  ins  Wanken 
komme.  In  der  Tat  scheint  hiernach  das  Schwergewicht  der  Tren- 
nung der  neuen  Psychologie  von  der  alten  nur  in  dem  Überwiegen 
des  für  sie  bezeichnenden  Gesichtspunktes  zu  liegen,  wonach  der 
beschreibende  Psychologe  einfach  das  Tatsachenmaterial,  so  wie  es 
unmittelbar  gegeben  ist,  ohne  theoretische  Befangenheit  möglichst 
vollständig  beobachtet,  während  der  konstruktive  Psychologe  ver- 
sucht, in  die  Mannigfaltigkeit  des  Beobachteten  das  Gesetz  ihres 
Werdens  hineinzutragen.  Dann  wäre  Diltheys  Verdienst  eigentlich 
dies,  daß  er  die  Unzulänglichkeit  des  reinen  Beobachtens  in  der  bis- 
herigen Psychologie  aufgedeckt  hätte,  ihre  Befreiung  von  vorgefaßten 
konstruktiven  Dogmen  gefordert  hätte,  und  auf  das  unmittelbare 
Gegebensein  der  seelischen  Abläufe  für  eine  genauere  beobachtende 
Durchforschung  und  abstraktive  Zergliederung  hingewiesen  hätte. 
Und  es  ließe  sich  nicht  einschen,  inwiefern  diese  Psychologie  einen 
grundsätzlichen  Gegensatz  zur  naturwissenschaftlichen  Psychologie 
bilden  sollte.  Dilthey  ist  aber  keineswegs  dieser  Meinung.  Er 
})eharrt  darauf,  seine  beschreibende  Psychologie  von  der  bisherigen 
grundsätzlich  abzutrennen.  Auch  sein  Zergliederungs verfahren  be- 
hält grundsätzlichen  Sondercharakter;  und  dieser  wurzelt  in  seiner 
»Verbindung  mit  dem  Erlebnis«,  aus  dem  es  entsteht  und  in 
das  es  noch  gewi.ssermaßen  hineingehört.  Dies  Erleben  des  Seelischen 
als  einer  Ganzheit    »bleibt   das  ursprünglich  Gegebene;  es  bestimmt 


*)  Essay  on  human  undcrtit.     Buch  2.  Kap.  I.     §  4 ff. 


318      Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

die  Interpretation  des  einzelnen«.  Die  Gesichtspunkte  dieser  Inter- 
pretation und  des  Abstrahierens  sind  ebenfalls  nicht  theoretisch  er- 
fordert, sondern  dem  Erlebnis  immanent;  denn  die  einzelnen  seeli- 
schen Vorgänge  treten  mit  einem  verschiedenen  Bewußtsein  ihres 
Wertes  für  den  Erlebenden  auf;  und  hiernach  hebt  sich  Wesentliches 
\ind  Unwesentliches  im  Erlebnis  selber  ab. 

Für  die  Wissenschaft  müßte  die  hieraus  folgende  Fragestellung 
eine  doppelte  sein:  nach  dem  psychologischen  Unterbau  dieses 
Erlebens  als  einer  unmittelbaren  Erkenntnisquelle  —  und  nach  dem 
Charakter  und  der  Art  des  Wissens  um  dieses  Erleben,  des  Ver- 
ßtehens,  wie  Dilthey  es  nennt.  Gerade  über  diese  beiden  Fragen 
aber  spricht  sich  Dilthey  nur  höchst  summarisch  aus.  Vom  Er- 
leben sagt  er  nicht  mehr,  als  wir  bisher  erwähnt  haben.  Und  vom 
Verstehen  des  Erlebens :  es  komme  zustande  »durch  das  Zusammen- 
wirken aller  Gemütskräfte  in  der  Auffassung«.  Hiermit  ist  wenig 
anzufangen.  Er  betont  wiederholt,  daß  die  verstehende  Einstellung 
weder  zur  Erkenntnis  von  kausalen  Zusammenhängen  noch  zur 
widerspruchsfreien  Klarheit  begrifflicher  Formulierung  geführt  zu 
werden  vermöge.  Beides  sei  im  Verstehen  aber  auch  nicht  ange- 
strebt. Damit  wird  wieder  die  Frage,  wie  eine  beschreibende  Wissen- 
schaft auf  dieser  Erkenntnis  quelle  aufgebaut  werden  sollte,  zum 
unlösbaren  Problem.  Dilthey  hätte  mit  seinen  Feststellungen 
vielmehr  bloß  die  Psychologie  ent wissenschaftlicht,  soweit  sie 
nicht  nach  naturwissenschaftlichen  Methoden  konstruktiv  betrieben 
wird,  und  zu  einer  Kunst,  einem  Gebiet  ästhetischen  Erfassens, 
gemacht. 

Allein  diese  iimeren  Widersprüche  dürfen  uns  nicht  Wert  und 
Bedeutung  der  Diltheyschen  Anregungen  verwischen.  Sie  fordern 
zum  ersten  Male  eine  wissenschaftliche  Durchdringung  des  Erlebens 
der  Seele  als  Kern  aller  Seelen  Wissenschaft.  So  sind  sie  der  erste 
Versuch  einer  Grundlegung  der  phänomenologischen  Forschung.  Seien 
wir  uns  auch  darüber  klar,  daß,  so  ärmlich  und  verworren  diese 
Grundlegung  sein  mag,  sie  praktisch  durchaus  genügt  um  anwendbar 
zu  sein.  Dilthey  selber  hat  sie  dazu  geschaffen,  um  die  Grund- 
legung für  eine  soziologische  und  historische,  eine  individuelle  Psy- 
chologie zu  geben.  Ihre  Mängel  aber  werden,  wie  wir  im  folgenden 
sehen  werden,  gar  bald  in  entscheidender  Weise  behoben  werden. 

Die  Entwicklung  des  Erlebnisbegriffs  bei  Lipps. 

Diltheys  Arbeit  blieb  in  den  Kreisen  der  Psychologen  zunächst 
ohne  größeren  Einfluß.  Aber  die  heuristische  Situation,  aus  welcher 
sie  entstanden  war,  erzeugte  sich  immer  wieder  neu.  Es  waren  zwei 
Entwicklungsreihen  in  der  Psychologie,  welche  den  von  Dilthey 
angeregten  Ideen  zu  weiterer  Durchbildung  verhalfen.  Diese  zwei 
Entwicklungsreihen,  so  wenig  sie  gemeinsam  zu  haben  scheinen, 
tragen   den   Stempel   des    gleichen   äußeren  Bildungsanstoßes :   des 


Erlebnie  und  aeelische  FunktioDcn  usw.  319 

grundsätzlichen  Gegensatzes  zum  Lehrgebäude  Wundts.  Sie  sind: 
erstens  der  Entwicklungsgang  der  jwychologischen  Lehre  von  Lipps 
und  seinen  iSchülern,  welchem  die  Phänomenologie  die  Klärung  de« 
Erlebnisbegriffes  verdankt;  und  zweitens  der  Sieg  der  analytischen 
Psychologie  Brentanos  und  seiner  Schule  über  die  künstlichen 
assoziativen  Synthesen  der  seelischen  Strukturen  aus  ebenso  künst- 
lichen Elementen.  Dieser  Richtung  verdankt  die  Phänomenologie 
die  Durchbildung  des  Funktionsbegriffes,  Beide  Richtungen 
fanden  ihre  kritische  Klärung  und  Vereinigung  in  dem  Gedanken- 
werke Husserls.  Der  Funktionsbegriff  wurde  ferner  auch  für  die 
experimentelle  Psychologie  von  Bedeutung  J),  indem  er  sie  ent- 
scheidend weiterführte  zur  Ausbildung  der  sogenannten  Denkpsycho- 
logie, die  einen  Teil  ihrer  Vertreter  unter  Wundts  eigenen  Schülern 
fand.  Hierbei  eifuhr  dann  nucli  die  Stellung  des  Experimentes  selber 
eine  grundlegende  Änderung,  wovon  bereits  an  anderer  Stelle  dieses 
Buches  die  Rede  war. 

Lipps  hatte  noch  1890  in  seiner  Arbeit  zur  Psychologie  der  Kau- 
salität 2)  sich  völlig  in  assoziationstheoretischen  Lehren  bewegt. 
Zwei  Jahre  nach  Diltheys  Arbeit  trat  er  zum  ersten  Male  in  eine 
Polemik  gegen  Wundt  in  bestimmten  Fragen  der  Psychologie  der 
Gefühle*).  Dasjenige,  was  ihn  in  diese  Polemik  trieb,  ganz  abgesehen 
von  ihrem  äußeren  Gegenstand  und  Anlaß,  war  eine  tiefere  Kenntnis 
des  Reichtums  seelischer  Strukturen  und  Abläufe,  als  sie  das  Wundt  - 
sehe  System  einzufangen  und  zu  ordnen  vermochte,  als  sie  die  experi- 
mentellen Methoden  herausheben  konnten.  Da  war  ja  alles  nur 
assoziatives  oder  apperzeptivcs  Gebilde,  und  hatte  seine  intensiven 
und  zeitlichen  Merkmale  und  seine  physischen  Begleitzustände  und 
war  nach  ihnen  genugsam  bestimmt.  Lipps  hat  sich  in  der  Folge 
konsequent  von  diesem  Standpunkt  fortentwickelt;  seine  experi- 
mentellen Arbeiten  wurden  seltener  und  hörten  bald  ganz  auf.  Sein 
Interesse  galt  vor  allem  noch  dem  grundlegenden  Problem:  was 
ist  mir  seelisch  gegeben,  und  wie  weiß  ich  um  dieses  Ge- 
gebensein? Wir  erkennen  hier  dieselbe  Frage  wieder,  deren  Be- 
antwortungsversuch Dilthey  zu  den  Konzeptionen  des  Erlebens 
und  des  Verstehcns  geführt  hat. 

Was  ist  mir  seelisch  gegeben  ?  An  dieser  Frage  lassen  sich  wieder- 
um zwei  Seiten  unterscheiden.  Die  erste  Seite  bezieht  sich  auf  das 
objektive  W'as  dieses  Gegebenseins;  sie  betrifft  den  Gegenstand 
des  psychischen  Gegebenseins.  Die  zweite  Seite  geht  auf  das  Wesen 
der  seelischen  Gegebenheit,  insofern  diese  Gegebenheit  ein  letzter 
subjektiver  Tatbestand  ist,  welcher  seiner  wesenhaften  Artung  nach 
nicht  auf  weitere  seelische  Tatbestände  zurückführbar,  sondern  nur 
künstlich  und  begrifflich  aufzuspalten  ist.    Auch  Lipps  nennt  diesen 

1)  Vgl.  hierzu  S,  103  £f.  dieses  Buche«. 
«)  Ztschr.  f.   Psychol.     Bd.  1.     1890. 

')  Zur  Lehre  von  den  Gefühlen,  insbesondere  den  Ssthetiachen  Elenient&r- 
gefühlen.     Ztschr.  f.   l'sychol.     Bd.  8.     8.  321  ff. 


320     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Tatbestand  Erlebnis.  Und  als  er  1905  in  seiner  Arbeit  über  Bewußt- 
sein vind  Gegenstände  seine  Lösung  dieser  zwei  Fragen  systematisch 
darstellte  1),  hatte  er  den  Erlebnisbegriff  in  wertvoller  Weise  vertieft 
und  psychische  Phänomenologie^),  wie  er  selber  sagt,  als  Dis- 
ziplin der  Psychologie  ausdrücklich  gefordert.  Der  erstgenannten 
Seite  unserer  Grundfrage,  dem  Problem  des  Gegenstands  für  das 
Erleben,  hat  er  freilich  nach  unserer  Meinung  eine  gültige  Lösung 
nicht  geschaffen.  Dafür  hatte  er  aber  auch  die  zweite  Frage,  die 
wir  oben  stellten,  die  Frage  nach  dem  Grunde  und  der  Art  des  Wissens 
um  Psychisches,  sowohl  um  das  eigene  als  um  das  fremde,  weiter- 
geführt als  bisher. 

Seinen  Gedankengängen  liegen  etwa  folgende  Überlegungen  zu- 
grunde. Unter  dem  Worte  Erkenntnis  verstehen  wir  etwas  Doppeltes : 
erstens  den  Akt,  den  Vorgang  des  Erkennens,  zweitens  das  in 
diesem  Vorgang  Erkannte  oder  den  Inhalt  des  Erkennens.  Er- 
kenntnis ist  nur  ein  Teilphänomen  des  Seelischen  überhaupt,  eine 
besondere  Art  des  Erlebens  von  Etwas.  Die  gleiche  doppelte  Be- 
deutung haftet  aber  an  allem  Seelischen,  sofern  dasselbe  ein  Bewußt- 
sein von  Etwas  ist.  Wir  nennen  dieses  Bewußtsein  von  Etwas  das 
Erleben  des  Etwas.  Man  muß  also  demgemäß  im  Psychischen,  im 
Erleben  unterscheiden  den  Inhalt  und  das  Haben  dieses  Inhaltes 
als  sein  Erleben.  Inhaltsein  ist  Erlebt  werden.  Inhalt  vmd  Erleben 
sind  zwei  Seiten  des  gleichen  seelischen  Ganzen:  die  objektive  und 
die  subjektive  Seite.  —  Es  sei  bereits  hier  kurz  auf  den  Irrtum  hin- 
gewiesen, welcher  im  Li pps sehen  Begriff  des  Inhaltes  steckt.  Wenn 
ich  ein  Bewußtsein 3)  von  Etwas  habe,  so  ist  dieses  Etwas  nicht  der 
Inhalt  des  Bewußtseins,  sondern  es  ist  der  Gegenstand  des  Be- 
wußtseins, das  ich  von  ihm  habe.  Der  Inhalt  des  Bewußtseins  ist 
vielmehr  die  besondere  jeweilige  seelische  Mannigfaltigkeit  und  Ge- 
staltung des  Bewußtseins,  das  ich  von  diesem  Etwas  habe.  Der 
Baum  etwa  ist  nicht  Inhalt,  sondern  Gegenstand  meiner  Wahr- 
nehmung; Inhalt  meiner  Wahrnehmung  ist,  kurz  und  unscharf  ge- 
sagt, die  diese  Wahrnehmung  zusammensetzende  seelische  Mannig- 
faltigkeit. Diese  Trennung  des  Inhalts  vom  Gegenstand  des  Be- 
wußtseins ist  nicht  etwa  eine  erkenntniskritische  Unterscheidung, 
sondern  gilt  bereits  vor  allen  Realitätsfragen  für  meine  eigene  un- 
befangene Selbstbeobachtung.  Der  Irrtum  von  Lipps,  welcher 
auch  die  verborgene  Wurzel  seiner  erkenntniskritischen  Irrtümer, 
seines  Psychologismus  und  seines  ästhetischen  Subjektivismus  ist, 
trägt  schon  hier  in  der  Psychologie  seine  Früchte;  nämlich  sowie 
Lipps  nähere  Aussagen  über  die  Art  des  Bewußtseins  um  Er- 
lebtes machen  will.  Er  sagt  da  mit  Recht,  daß  auch  das  Erleben 
von  Etwas  seinerseits  erlebt  werden  kann,  also  Gegenstand  —  oder 

1)  Psychol.  Untersuchungen.     Bd.  1.     1905. 

2)  a.  a.  O.     S.  8. 

3)  Wir  übernehmen  diesen  Begriff  hier  noch  ganz  ungeklärt  und  unkritisch 
so,  wie  wir  ihn  bei  Lipps  vorfinden. 


Erlebnis  und  aeelische  Funktionen  uxw.  321 

nach  Lipps  Inhalt  —  eines  besonderen  Krkl)ens  zu  werden  vermag. 
Das  Erleben  des  Erlebens  ist  nun  nach  Lipps  nicht  ein  phänonional 
besonderes  Geschehen,  sondern  steckt  bereits  im  Erlebnis  von  Etwab 
mit  drin.  Man  erlebt  hiernach  sowohl  Etwas,  als  auch  das  Erleben 
dieses  Etwa.s  in  einem  und  demselben  ßewuÜtseinsakt.  Das  »Sein 
dieses  Erlebens,  sagt  Lipps,  ist  einfaches  Dasein  oder  Stattfinden 
vor  dem  Bewußtsein.  Hier  sondert  sich  nicht  mehr  Erlebtes  und 
Erleben :   »das  Erlebte  selbst  ist  das  Erleben «. 

Lipps  nennt  das  Erleben  des  Erlebnisses  »Vorstellen«.  Das  ist 
aber  vieldeutig.  Denn  das  Vorstellen  bezieht  sich  nicht  auf  das  Er- 
lebnis, sondern  auf  den  Gegenstand  des  Erlebnisses.  Wenn  ich  mir 
den  wahrgenommenen  Baum  vorstelle,  so  ist  nicht  mein  Erleben 
des  Baumes,  sondern  der  Baum  der  Gegenstand  meiner  Vorstell- 
lung.  Wenn  aber  Lipps  vom  Erleben  des  Erlebens  spricht,  so  ist 
seine  Behauptung,  dies  beides  vollziehe  sich  in  einem  und  demselben 
Bewußtseinsakt,  irrig.  Denn  das  Erleben  des  Erlebens  kann  doch 
seinerseits  wiederum  erlebt  werden,  d.  h.  Gegenstand  eines  Bewußt- 
seinsaktes sein,  usw.  Schon  daraus  geht  hervor,  daß  es  sich  nicht 
um  einen  identischen  Bewußtseinsvollzug  handeln  kann.  Wir  er- 
halten hier  einen  wichtigen  Anhaltspunkt  für  die  später  zu  begrün- 
dende Tatsache,  daß  jeder  Bewußtseinsvollzug,  je  nach 
seinem  Gegenstand,  ein  phänomenologisch  besonderer 
ist.  Diese  Erkenntnis,  die  wir  in  ihrer  allgemeinen  Formulierung 
zuerst  bei  Aristoteles  finden,  ist  zur  vollen  Bedeutung  für  die  Aus- 
bildung der  von  uns  erstrebten  Wissenschaft  vom  Seelischen  erst 
durch  Brentanos  und  Husserls  Lehre  gekommen^). 

Wenn  wir  —  um  der  prinzipiellen  Bedeutung  dieser  Frage  zu 
genügen  —  noch  einen  Moment  bei  dem  Lippsschen  Gedanken 
verweilen,  so  erscheint  uns  von  der  größten  Bedeutung  dabei  die 
Trennung  des  Bewußtseinsvollzuges  in  eine  objektive  und  eine 
subjektive  Seite,  zugleich  mit  der  klaren  Erkenntnis,  daß  es  im 
Wesen  eine  Einheit  ist,   was  man  so  trennt.     Es  ist  dasselbe  Ge- 


1)  Brentano  (Psychologie.  S.  166ff.)  ist  freilich,  was  das  »Erleben  dos  Er- 
lebens« anlangt,  ganz  derselben  Meinung  wie  Lipps:  daß  »Vorstellung  und  Vor- 
stellung von  einer  Vorstellung  in  einem  und  demselben  Akte  vollzogen  werde«. 
Man  dürfe  nicht  nach  den  Gegenständen  die  Zahl  und  Verschiedenheit  der  Vor- 
stellungen bestimmen;  denn  dann  würden  in  der  Tat  für  diesen  Fall  zwei  ver- 
schiedene Vorstellungen  angenommen  werden  müssen:  die  Vorstellung  des  Objekts 
und  die  Vorstellung  von  dieser  V^orsteliung.  Man  müsse  vielmehr  nach  der  Zahl 
der  psychischen  Akte  fragen,  die  hier  aufträten;  und  da  »scheine  die  innere  Er- 
fahning  unzweifelhaft  zu  zeigen«  (S.  HiT),  daß  nur  ein  Akt  bestehe,  oder  besser, 
daß  das  Bestehen  d<'r  einen  Vorstellung  »zum  Sein  der  anderen  innerlich  beiträgt«. 

Letzteres  bestreitet  nun  zwar  niemand;  wohl  aber  die  Identität  beider  »Vor- 
stellungen«; und  zwar  solange,  als  die  sonnenklare  Tatsache  zweier  differontor 
Objekte  besteht  und  der  Gnindsjitz  gilt,  daß  jedes  gegebene  Objekt  durvh  einen 
besonderen  auf  es  gerichteten  -\kt  zur  Gegeb<>nh«'it  gilangt.  Brentano  kommt, 
wie  Lipps,  zu  seiner  irrigen  Meinung  nur  dadurch,  daß  er  fort%rähr»^nd  Inhalt 
und  Gegenstand  der  V()rst<>llungen  verwechselt,  wa«  übrigens  auch  aus  dem  Wort- 
laut seiner  Darlegungen  hervorgeht. 

Kronfcld,  Psychiiitri.orhe  Krkouutnl*  21 


322     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Tiieorie  des  psychischen. 

schehen,  welches  sich  einmal  als  ein  objektiver  Ablauf  darstellt, 
andererseits  als  subjektive  Gegebenheit  in  mir  erfahren  wird.  Und 
hierbei  ist  dieses  subjektive  Erfahren  unmittelbarer  und  ursprüng- 
licher ein  Gregenstand  für  mein  Wissen,  als  es  sein  objektiver  Verlauf 
sein  kann.  Dies  liegt  an  der  von  Lipps  betonten  irreduziblen  Un- 
mittelbarkeit des  Erlebens.  Das  Wissen  um  den  objektiven  Ablauf 
ist  etwas  Abgeleitetes,  Späteres;  ursprünglich  allein  und  unmittelbar 
ist  das  subjektive  seelische  Werden  und  Sein,  das  Erleben,  dessen 
verschiedene  Weisen  es  zu  erfassen  gilt,  um  überhaupt  auf  die  ob- 
jektiven Gebilde  des  Ablauf ens  zurückgreifen  zu  können.  Diese 
Feststellung  ist  für  die  Erkenntnis  der  Stellung  der  Phänomenologie 
im  Ganzen  der  Psychologie  schon  jetzt  von  Wichtigkeit. 

Lipps  beschäftigt  sich  weiterhin  in  mehreren  Arbeiten i)  mit  der 
Untersuchung,  wie  dieses  unmittelbare  psychische  Sein  zu  den  ab- 
geleiteten Arten  des  Bewußtseins  steht,  wie  ich  es  wahrnehme,  wie 
ich  um  es  weiß,  und  wie  ich  dabei  um  mich,  den  Erlebenden  weiß. 
Auch  zu  der  weiteren  Frage  hat  er  und  seine  Schule  Beiträge  ge- 
liefert, wie  der  Grund  meines  Wissens  vom  fremden  Ich  und  seinem 
Erleben  beschaffen  sei.  Diese  letzte  Frage,  welche  für  die  Psy- 
chiatrie von  großer  Wichtigkeit  ist,  aber  fast  niemals  gründlich  von 
ihr  untersucht  wurde,  wird  uns  später  noch  beschäftigen.  Wir  ver- 
bleiben zunächst  bei  dem  Problem  des  Verhältnisses  vom  Erleben 
und  Erlebendem,  so  wie  es  sich  für  Lipps  darstellt. 

Erlebnisse,  lehrt  Lipps,  werden  unmittelbar  als  meine  erlebt. 
Dies  gilt  schon  von  den  Empfindungsinhalten:  Stets  erlebe  ich  mich 
gleichzeitig  mit,  als  den,  welcher  den  Empfindungsinhalt  hat.  Dieses 
unmittelbar  erlebte  Ich,  das  Bewußtseinsich,  steckt  mit  in  allem 
Erleben,  und  zwar  nicht  in  jedem  einzeln  und  diskontinuierlich, 
sondern  in  allem  als  ein  einziges.  Es  ist  seinerseits  psychologisch 
irreduzibel. 

Der  Weg  des  Erlebten  in  der  Seele  geht  nun  nach  Lipps  vom 
Haben  des  Inhaltes  weiter  zur  Konstituierung  des  Gegenstandes  und 
zur  Anerkennung  seiner  dinglichen  Realität. 

Wir  sagten  schon,  daß  dieser  Standpunkt  von  Lipps  irrig  ist. 
Es  kommt  uns  hier  aber  nicht  auf  die  erkenntniskritischen  Fragen 
der  Objektivation,  der  Realität  und  ihrer  Assertion  an,  welche  wir 
in  diesem  Werke  schon  anderen  Ortes  geklärt  haben,  sondern  auf  die 
dem  Erleben  folgenden  psychischen  Vollzüge, 

Das  Erlebnis  —  sowohl  das  darin  Erlebte  als  auch  das  Erleben 
desselben  —  kann  nämlich  nach  Lipps  noch  in  besonderer  Weise 
Gegenstand  meines  Bewußtseins  sein.  Das  geschieht,  indem  ich  es 
durch  ein  »Innerlich  ins  Auge  fassen«  mir  gegenüberstelle  oder  auch 
mich  ihm  gegenüberstelle.  Dasjenige,  dem  ich  mich  gegenüberstelle 
wird  dadurch  für  mich  zum  Gegenstand.     Wenn  ich  etwa  zunächst 

1)  Bewußtsein  und  Gej^enstände,  a.  a.  O.,  Kap.  2,  3,  4.  Ferner:  Die  Erschei- 
nungen, a.  a.  0.  S.  523  ff.  Das  Ich  und  die  Gefühle,  a.  a.  O.  S.  641  ff.  Das  Wissen 
vom  fremden  Ich,  a.  a.  O.     S.  684  ff.    Ferner  Leitfaden.     1906  pasa. 


ErlebniK  und  seelische  Funktionen  umw.  323 

nur  den  Empfindung-sinhalt  blau  habe,  so  wird  blau  durch  die»ett 
Gegenübersielleu  oline  qualitative  Änderung  zum  Gegenstand  meines 
Bewußtseins.  Der  Inhalt  ist  im  Bewußtsein,  der  Gegenstand  für 
das  Bewußtsein  da.  Jene  geistige  Tat,  durch  welche  so  für  mein 
Bewußtsein  Gegenstände  entstehen,  ist  ein  »Aufmerksamkeits- 
phänomen«. Lipps  findet  zur  Begründung  dieses  gewagten  Ge- 
dankensprunges  den  Vergleich  mit  unserem  Blick  auf  die  Bühne 
eines  Theaters:  Die  Vorgänge  auf  der  Bühne  sind  (Gegenstand  meines 
Bewußtseins,  alles  übrige  im  Theater  ist  nur  chaotischer  Empfin- 
dungsinhalt. 

Nun  muß  man  unterscheiden  die  Zuwendung  der  Aufmerksam- 
keit —  die  Auffassungstätigkeit  —  und  deren  Erfolg.  Dan  Ent- 
stehen des  Gegenstandes  bezeichnet  das  Wesen  dieses  Erfolges,  es 
bezeichnet  das  Wesen  des  Denkaktes.  Die  im  Denkakt  vollzogene 
Setzung  des  Gegenstandes  geschieht  durch  die  Tätigkeit  der  Auf- 
merksamkeitszuwendung, ist  aber  nichts  neu  zu  ihr  Hinzutretendes, 
sondern  ihr  natürliches  Ergebnis;  sie  ist  nicht  selbst  eine  Tätigkeit, 
sondern  etwas  aus  einer  solchen  Entspringendes.  Die  gegenständ- 
liche Setzung,  der  Akt,  veriiält  sich  zur  Auffassungstätigkeit  »wie 
das  Einschnappen  der  Klinge  eines  Taschenmessers  zu  der  voran- 
gegangenen Scliließbewegung«.  Der  Denkakt,  das  Einschnappen  der 
Kiinge,  hat  sozusagen  ein  punktförmiges  Dasein:  Der  Gegenstand 
ist  mit  einem  Male  da. 

Wenn  aber  durch  diesen  Denkakt  der  (Gegenstand  blau  aus  dem 
Inhalt  blau  gleichsam  herausgelöst  wird,  so  muß  er  von  vornherein 
darin  enthalten  gewesen  sein.  D.  h.  also  der  Inhalt  des  Bewußtseins 
repräsentiert  mir  den  Gegenstand,  er  ist  mir  Hinweis  oder  Symbol 
für  denselben.  Der  Gegenstand  ist  mit  dem  Symbol  des  inhaltlich 
Erlebten  »gemeint«.  Nicht  jeder  Inhalt  braucht  einen  Gegenstand 
zu  repräsentieren,  wohl  aber  muß  jeder  Gegenstand  durch  einen 
Inhalt  repräsentiert  sein.  Diese  Repräsentation  braucht  aber  durch- 
aus keine  bildhafte  zu  sein.  Zu  ihr  tritt  der  Glaube  an  die  dingliche 
Realität  des  Gegenstandes  »mit  ursprünglicher  und  instinktiver  Not- 
wendigkeit «  beim  Entstt-Iien  desselben  hinzu. 

Diese  gesamten  Darlegungen  von  Lipps  stellen  eine  verfehlte 
Lösung  des  Phänomenalitätsproblems  in  mehrerer  Hinsicht  dar: 
Dem  psychischen  Grescheheu  fehlt  jedes  immanente  Kriterium  dafür, 
was  denn  nun  Gegenstand  sei  und  was  nicht;  und  die  Assertion  der 
Dingliclikeit,  der  Angelpunkt  der  ganzen  Realitätsfrage,  wird  gar 
nicht  psychologisch  aufgelöst,  sondern  tritt  wie  ein  deus  ex  machina 
»mit  instinktiver  Notwendigkeit«  hinzu.  Diese  beiden  Fehler  gehen 
auf  den  Grundfehler  der  Lippsschen  Gegenstandstheorie  zurück, 
welchen  wir  schon  bezeichnet  haben  und  welcher  sich  besonders 
schön  in  jenem  Gredankensprunge  zeigt,  vermittels  dessen  ein  Auf- 
raerksainkeitsakt  den  (regenstand  ans  dem  »Inhalt  «  herauslösen  soll. 
Für  die  Phänomenologie  aber  iiandelt  es  sich  nicht  um  diese  Irr- 
tümer.    Für  sie  steht  vielcmhr  einzig  und  allein  in  Frage,  ob  durch 

21  • 


324     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

seelische  Vollzüge  der  angedeuteten  Art  neue  Weisen  der  Bewußt - 
seinsgegebenheit  konstituiert  zu  werden  vermögen,  und  diese  Frage 
ist  zu  bejahen.  Diese  Vollzüge  sind  freilich  nichts  anderes  als  der  alte 
Begriff  des  »inneren  Sinnes«  in  der  Fassung  Lockes,  der  reflection. 
Aber  Lipps  bildet  ihn  doch  in  einer  Weise  weiter,  daß  dadurch  er- 
klärbar wird,  wie  ein  Wissen  um  Erlebnisse  zustande  kommen  kann, 
wie  das  Erlebnis  zum  Wissen  wird.  »Die  innere  Wahrnehmung  ist 
jederzeit  ein  Denken«,  sagt  Lipps.  Sie  ist  ein  Bewußtsein  der 
Wirklichkeit  des  Erlebnisses  und  zugleich  meiner  Wirklichkeit. 
Sie  ist  stets  rückschauende  Betrachtung;  ihr  Gegenstand  ist  die  Er- 
innerung an  ein  Erleben.  Es  handelt  sich  hierbei  nicht  um  eine 
»mittelbare  Wiedererzeugung«  des  schon  Entschwundenen,  sondern 
um  ein  »unmittelbares  Festhalten«  des  gerade  Erlebten.  Aber  auch 
dieses  ist  Reproduktion.  Das  gleiche  gilt  auch  vom  Wissen  um  mich 
selbst.  Betrachte  ich  mich  selbst,  so  stehe  ich,  der  Gedachte,  mir 
dem  Bewußtseinsich  gegenüber.  Beides  kann  nicht  dem  gleichen 
Moment  angehören.  Das  Objektich  ist  also  nach  Lipps  ein  re- 
produziertes Bewußtseinsich.  Das  gegenwärtige  Ich  kann  nie  Ob- 
jekt sein. 

Hier  würde  sich  die  Frage  auf  werf  en :  Woher  weiß  ich  denn  dann 
um  die  Identität  des  »Objektich«  mit  dem  »Bewußtseinsich«?  Lipps 
beantwortet  diese  Frage  nicht.  Er  sagt:  ich  weiß  mich  nicht,  ich 
»fühle«  mich  mit  dem  Objektich  identisch.  Und  dieses  Identitäts- 
bewußtsein des  gegenwärtigen  mit  dem  vergangenen  Bewußtsein  ist 
etwas  phänomenologisch  nicht  weiter  Auflösliches  und  Zurückführ- 
bares. Die  Identität  wird  erlebt,  unmittelbar  erfaßt,  und  ist  ihrer 
Seins  weise  nach  etwas  Letztes.  Das  Denken  dieser  Identität  ist  die 
Erinnerung.  Ist  sie  volle  und  intensive  Betrachtung,  so  wird  sie 
zum  Nacherleben.  Dieses  Nacherleben  ist  ein  Sichhineinversetzen, 
eine  Art  Einfühlung  meiner  Selbst,  des  Bewußtseinsich,  in  das  Ob- 
jektich. 

Auch  hier  muß  man  wieder  fragen,  woher  Lipps  denn  das  weiß 
und  wissen  will,  ohne  sein  Bewußtseinsich  schon  zum  Objekt- 
ich gemacht  zu  haben.  Seine  Aussage  über  sein  einfühlendes 
Bewußtseinsich  ist  doch  bereits  ein  «Gedanke«,  und  in  diesem  kann 
das  Bewußtseinsich  ex  definitione  gar  nicht  mehr  gegenwärtig  sein. 
Kann  es  doch  angeblich  gar  nicht  zum  Objekt  werden!  Wir  sind 
einem  ähnlichen  Gedanken  bereits  bei  Rickert  in  ganz  anderem 
Zusammenhange  begegnet i)  und  haben  ihn  als  Irrtum  erwiesen. 
Lipps  versucht  sich  der  logischen  Unmöglichkeit  seiner  Statuierung 
zu  entziehen:  Die  Identifizierung  beider  Seinsweisen  des  Ich  kann 
er  nicht  »wissen«,  sondern  nur  »fühlen«;  und  dieses  Gefühl  sei  etwas 
psychologisch  Letztes,  einfach  Hinzunehmendes.  Damit  ist  der 
wissenschaftlichen  Auffassung  der  Selbstbeobachtung  und  des  inne- 
ren Sinnes  wenig  gedient.     Aber  wir  wollen  diese  Schwierigkeiten 


i)  Vgl.  S.  208  ff.  dieses  Buches. 


Erlebnis  und  Kceliüche  Funktionen  usw.  325 

hier  außer  acht  lassen.  Nach  Lipps  besteht  in  der  ScHjsteinfülüung 
alle  Kunst  der  »Sell)stbeol)iichtung,  und  letztere  hat  in  der  Objekti- 
vation  des  unmittelbar  erlebten  Ich  ihre  zweite,  wissenschaftlieh  be- 
deutsamste Seite.  iSo  erkennt  die  innere  Wahrnehmung,  was  daa 
unmittelbare  Bewußtsein  erlebt. 


Einige  Korrekturen  am  Erlebnisbegriff. 

Was  ist  an  den  bisherigen  noch  wenig  geklärten  und  vorläufigen 
Darlegungen  unanfechtbarer  Besitzstand?  Ich  glaube,  vor  allem 
dies,  daß  die  Phänomenologie  hier  als  psychologische  Disziplin 
gefordert  wird,  im  (Jegensatz  zu  der  apriorischen  Geltung  und  dem 
unabgrenzbarcn  Gegenstandsgebiet  der  Husscrlschen  Konzeption. 
Dies  wird  später  noch  zu  begründen  sein.  Sodann,  daß  die  Phäno- 
menologie bei  Lipps  zwar  eine  vortheoretische  Beschreibung  des 
im  Bewußtsein  unmittelbar  Aufgefundenen  sein  soll,  aber  die  theo- 
retische Bearbeitung  unter  keinem  Gesichtspunkte  ausschließt,  sondern 
vielmehr  als  notwendige  Ergänzung  fordert.  Die  phänomenologische 
Beschreibung  liefert  nicht  mehr  als  das  tatsächliche  Material,  aus- 
einandergefaltet und  in  allen  Beziehungen  verdeutlicht  und  auf  un- 
mittelbare Ausgangsphänomene  soweit  als  möglich  zurückgeführt. 
Dies  Material  erfordert  die  Verarbeitung,  sowohl  eine  rein  abstraktive 
als  auch,  wenn  notwendig,  eine  konstruktive.  So  wird  durch  Lipps* 
Darlegungen  in  glücklicher  Weise  eine  Entgegensetzung  von  natur- 
wissenschaftlicher und  geisteswissenschaftlicher  Seelenlehre  ver- 
mieden, ohne  daß  durch  konstruktive  Schemata  dem  Reichtum  und 
der  Kompliziertheit  seelischen  Geschehens  G<?walt  angetan  werden 
müßte. 

Für  unsere  Zwecke  wesentlich  ist  ferner  Lipps'  Entwicklung  des 
Erlebnisbegriffs  und  der  Stellung  des  Ich  im  und  zum  Erleben;  so 
wie  die  Trennung  der  unmittelbaren  Bewußt  Seinsgegebenheiten  von 
ihrem  inneren  Wahrgenommenwerden.  Freilieh  erschöpft  Lipps 
keines  dieser  Probleme.  W^ir  gebrauchen  hier  vorerst  noch  den  Ter- 
minus Bewußtsein  im  Lippsschen  Sinne:  als  die  allgemeine  Form 
der  Gegebenheit  von  Gegenständen.  Dann  kann  man  Lipps  zweierlei 
einwenden:  Es  ist  tatsächlich  nicht  im.mer  richtig,  wenn  gesagt  wird, 
jedes  inhaltliche  Bewußtsein  enthielte  implizite  eine  lehkomponente. 
Das  unmittelbare  Bt-wußtsein  blau  (Mithält  z.  B.  gar  nichts  von  mir. 
Erst  wenn  das  Empfinden  des  Blau,  der  seelische  \'ollzug.  zum  Gegen- 
stand meines  Bewußt.seins  wird,  erscheint  implizite  das  Bewußtsein, 
daß  dieses  Empfinden  mein  Empfinden  ist.  Lipps  trennt  zwar 
im  unmittelbaren  Bewußtsein  Vollzug  und  Inhalt  scharf,  und  doch 
setzt  er  fälsehlieh  Empfinden  als  Bt-wußtseinsbestand.  als  inhaltlicho 
Maimigfaltigkeit ,  und  Kiiipfiindtius  gleich;  er  identifiziert  Erlebnis, 
zwar  nicht  als  seelischen  X'oll/ug,  wohl  aber  als  dessen  inhaltlich 
konstituierende  Mannigfalt  igk«it .  und  Erlebnisgcgenstand.  Wir 
haben   auf    diese   Verwechslung    von   Inhalt    und   Gegenstand   schon 


326     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

hingewiesen.  Daher  ist  bei  ihm  das  Bewußtsein  des  Erlebens  und 
des  Ich  überall  auch  unmittelbar  in  den  Erlebnissen  mit  enthalten. 
Tatsächlich  aber  kommt  es  für  diese  Frage  darauf  an,  was  gerade 
der  Gegenstand  des  Bewußtseins  ist.  Ist  es  ein  Ablauf  in  mir, 
so  ist  das  Ich  in  seinem  Bewußtsein  mit  enthalten;  sonst  aber  ist 
der  Baum,  das  Haus,  blau  in  meinem  Bewußtsein  ohne  alle  Ver- 
tretung des  Ich.  Der  zweite  Einwand  gegen  Lipps  betrifft  seine 
Fassung  des  Erlebnisbegriffes.  Bei  ihm  ist  schließlich  alles  seelische 
Sein  Erlebnis,  welches  nicht  schon  Verarbeitung  ist.  Dies  mag  ja 
schließlich  eine  äußerliche  Frage  der  Bezeichnung  sein,  aber  man 
wird  den  Phänomenen  besser  gerecht,  wenn  man  noch  genauer  trennt. 
So  muß  man  zunächst  unterscheiden  das  Bewußtsein  um  äußere 
Gegenstände  von  dem  Bewußtsein  innerer  Abläufe.  In  dem  Be- 
wußtsein äußerer  Gegenstände  oder  dem  Bewußtsein  einer  Beziehung 
solcher  Gegenstände  aufeinander  ist  keinerlei  Ichbewußtsein  mit- 
gegeben. Um  zu  erkennen,  daß  dieses  Bewußtsein  auf  Vorgängen 
in  mir  beruht,  bedarf  es  einer  besonderen  Einstellung  auf  den  Vor- 
gang meines  Wahrnehmens  und  Urteilens  über  diese  Gegenstände. 
Diese  Einstellung  auf  den  Vorgang  meines  Wahrnehmens  und  Ur- 
teilens ist  —  wie  schon  Kant  und  Comte  zeigten  — ■  etwas  Künst- 
liches. Denn  gewöhnlich  ist  das  Subjekt  auf  den  Gegenstand 
dieser  Vollzüge  eingestellt.  Aber  sowie  die  »Aufmerksamkeit«  von 
diesen  Gegenständen  fort  und  auf  die  Vollzüge  selber  gelenkt  wird, 
tritt  das  Bewußtsein  ihrer  Ichzugehörigkeit  auf.  Ich  erlebe  mich 
Avahrnehmend  und  urteilend.  So  entsteht  tatsächlich  das  Bewußt- 
sein des  Ich  bei  der  Wahrnehmung  subjektiver  Tätigkeit. 

So  liegt  die  Sache  bei  der  äußeren  Wahrnehmung.  Bei  den  Gegen- 
ständen innerer  Wahrnehmung  ist  diese  absichtliche  Einstellung  der 
Aufmerksamkeit  nicht  erst  nötig.  Daß  ich  handele  oder  denke 
oder  einen  Schmerz  spüre,  ist  ein  Urteil  aus  innerer  Wahrnehmung, 
dessen  Subjekt  nur  möglich  ist,  weil  das  Ich  sich  dieser  Vorgänge 
in  ihrer  Ichbezogenheit  unmittelbar  bewußt  ist.  Worin  dieser  Tat- 
bestand seinen  notwendigen  Grund  hat,  haben  unsere  wissenschafts- 
theoretischen Untersuchungen  über  die  zugrunde  liegende  Form  des 
reinen  Selbstbewußtseins  für  alles  Psychische  gezeigt. 

Von  den  Gegenständen  innerer  Wahrnehmung  habe  ich  somit 
unmittelbar  ein  Bewußtsein  des  Ich.  Sie  sind  meine  inneren  Vor- 
gänge und  sind  mir  zugleich  mit  ihrem  Gegebensein  als  meine  gegeben. 

Diese  unmittelbar  bewußte  Ichbeziehung  haftet  nicht  nur  an  den 
Gegenständen  inneren  Wahrnehmens,  sondern  auch  am  Vollzuge  des 
inneren  Wahrnehmens  als  subjektiver  Tätigkeit.  Er  gleicht  darin 
völlig  dem  äußeren  Wahrnehmen,  sobald  mir  dieses  als  Ablauf  be- 
wußt wird. 

Was  ist  nun  Gegenstand  innerer  Wahrnehmung?  Wir  sind  hier 
ganz  mit  Lipps  in  Übereinstimmung,  wenn  wir  sagen:  alles  Seelische, 
auf  welches  die  Aufmerksamkeit  sich  einzustellen  vermag.  Wir 
finden  also  ebenfalls,  daß  das  innere  Wahrnehmen  in  einem  Auf- 


Erlebnis  und  seelische  Funktionen  u>w.  327 

merksamkoitspliänomeu  besteht.  Und  wir  finden,  daß  durch  dieses 
innere  Siclirichten  das  seelische  Geschehen  in  einer  besonderen  Weise 
deutlich  bewußt  wird.  Wir  wollen  diese  besondere  Weise  deut liehen 
B  wußtseins  als  »bemerkt«  bezeichnen.  Dies  Bemerken  ist  sicher- 
lich ein  phänomenologiscli  besonderer  und  besonders  zu  untersuchen- 
der Akt.  Er  ist  aber  kein  reiner  Denkakt,  wie  Lipps  will;  diese 
Auffassung  hieße  die  anschaulichen  und  nicht  reflektierten  Züge  des 
B^'raorkens  verkennen.  Freilich  können  andere  Weisen  der  Zu- 
wendung des  Ich  zu  seinem  inneren  Gcsdiehen  mit  diesem  Bemerken 
versclimolzen  sein,  es  sind  dies  wohl  immer  vorhandene  gefühls- 
mäßige und  wertende,  aber  auch  reflektierende  Einstellungen. 

Nicht  bemerktes  Seelisches  braucht  aber  deshalb  noch  nicht 
unbewußt  zu  sein.  Es  gibt  vielmehr  eine  Reihe  innerer  Abläufe, 
welche  ganz  unabhängig  davon,  daß  sie  wie  alles  Psychische  Gegen- 
stand innerer  Walirnehmung  und  also  bemerkt  sein  kann,  an  sich 
schon  als  unmittelbar  bewußt  gegeben  ist.  Es  handelt  sich  hier 
nicht  etwa  um  einfache  Empfindungsqualitäten.  Für  diese  gilt 
zwar  die  Unmittelbarkeit  des  Bewui3tseins  ilxrer  Gegebenheit  auch, 
jedoch  ermangeln  sie  des  wesentlichen  Merkmales,  welches  wir  in- 
neren Abläufen  zuschreiben:  der  Gleichzeitigkeit  des  unmittelbaren 
B- wußtseins  des  Ich  mit  dem  Bewußtsein  ihrer  Gegebenheit.  Und 
nur  von  solchen  inneren  Abläufen  reden  wir  hier.  Diejenigen  inneren 
Abläufe,  welche  diesem  Kriterium  des  unmittelbaren  Bewußtseins 
ihrer  Gegebenheit  ohne  besonderes  Bemerkt  sein  genügen,'  diese 
nennen  wir  in  ausschließlichem  Sinne  Erlebnisse.  Als  Beispiele  von 
ihnen  nennen  wir  die  verschiedenen  Arten  von  Vorstellungen  und 
Gefühlen  und  Komplexen  beider  und  anderen  diesem  Kriterium  ge- 
nügenden seelischen  Strukturen.  V'on  diesen  weiß  ich  unmittelbar, 
daß  sie  die  meinigen  sind,  auch  ohne  besonders  bemerkt  zu  sein. 

Es  ist  mithin  phänomenologisch  deutlieh,  daß  mit  dem  Bewußt- 
sein aller  derartigen  inneren  Vorgänge  gleichzeitig  und  in  unmittel- 
barer WVise  das  Bi-wußtsein  gegeben  ist,  daß  diese  inneren  Vorgänge 
in  mir  ablaufen.  Sie  enthalten  offenbar  eine  unmittelbare  Beziehung 
auf  das  Ich,  die  überall  die  eine  und  gleiche  ist  und  zu  den  Voraus- 
setzungen der  Möglichkeit  dieser  inneren  Vorgänge  gehört.  " 

Innerhalb  dieser  Klasse  innerer  Phänomene,  welche  dem  obigen 
Kriterium  genügt,  stehen  nun  die  Erlebnisse.  Phänomenologisch 
unterscheiden  sich  Erlebnisse  von  inneren  Vorgängen  überhaupt 
dadurch,  daß  ihnen  die  Unmittelbarkeit  ihrer  Bewußtseinsge- 
grbenheit  wesentlich  ist.  Dies  gilt  für  diejenigen  inneren  Abläufe, 
denen  der  Erlebnischaraktcr  fehlt,  nicht.  Von  diesen  Nichterieb- 
nissen kommt  ein  Teil  nur  als  Gegenstand  inneren  Wahrnehmens 
oder  Bemerkens,  ein  anderer  durch  Reflexion  zum  Bewußtsein  oder 
B'-merktsein.  Dies  gehört  aber  zu  ihrem  Wesen  nicht  hinzu.  Es 
kann  sogar  sein,  daß  ein  Teil  von  ihnen  überhaupt  nicht  zum  Bewußt- 
sein zu  gelangen  fällig,  also  weder  phänomenologisch  noch  wahr- 
iiehmungsmäßig   verifizierbar,   sondern   nur   theoretisch   konstruktiv 


328     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen- 

postulierbar  ist^).  Ein  anderer  Teil  hat  zwar  eine  unmittelbare 
Bewußtseinsvertretung,  unabhängig  vom  Bemerktwerden,  ist  aber 
doch  kein  reines  Erlebnis.  Hierher  gehören  z.B.  die  Willens  Vorgänge. 
Erlebnisse  nämlich  erschöpfen  ihr  Wesen  in  der  Art  ihrer 
unmittelbaren  Bewußtseinsgegebenheit.  Diese  phänome- 
nale Weise  ihrer  unmittelbaren  Bewußtseinsgegebenheit  ist  nicht  nur 
ihr  notwendiges,  sondern  auch  ihr  hinreichendes  Merkmal.  Für  die 
Qualität  und  den  Ablauf  der  bewußtseinsrepräsentierten  Nicht- 
erlebnisse,  z.  B.  der  Willens  Vorgänge,  ist  ihre  Bewußtseins  Vertretung, 
ihre  phänomenologische  Seite,  nicht  konstitutiv  hinreichend.  Wir 
sprechen  dann  von  phänomenologischen  Momenten  an  ihnen. 

Wir  definieren  also  die  Erlebnisse  nicht  durch  die  Art  ihres  Wahr- 
genommenwerdens oder  Bemerkt  Werdens,  weil  dieses  Bemerken 
selbst  ein  sekundäres  Phänomen  ist.  Die  Bewußtseinstatbestände 
sollen  aber  ohne  Rücksicht  auf  solche  sekundären  Modifikationen 
gemäß  den  unmittelbaren  Weisen  ihres  Soseins  unterschieden  werden. 
Andererseits  hat  es  nur  Sinn,  von  Erlebnissen  zu  reden,  wenn  das 
Erlebnis  sein  Wesen  darin  erschöpft,  daß  es  ein  Erlebtes  ist.  Nur 
diese  Bestimmung  kann  es  rechtfertigen,  das  Erleben  zum  Objekt 
einer  besonderen  Betrachtungsweise  zu  machen,  welche  seinen  Er- 
lebnischarakter als  sein  Wesen  nimmt,  und  dessen  phänomenalen 
Bestand  beschreibt.  Durch  diese  Aufgabe  aber  ist  Phänomenologie 
als  besondere  Disziplin  gegenständlich  definiert, 

Stellen  wir  nochmals  in  Kürze  die  drei  Begriffe  des  Gegebenseins, 
des  Bewußtseins  und  des  Erlebens  gegeneinander,  so  weit  es  uns 
bisher  möglich  gewesen  ist,  sie  abzugrenzen.  Das  Gegebensein  oder 
die  Phänomenalität  aller  Objekte  ist  durch  bestimmte  voneinander 
verschiedene  Weisen  psychologisch  charakterisierbar.  Die  allge- 
meine Form  dieser  verschiedenen  Weisen  verstehen  wir  unter  dem 
Begriff  des  Bewußtseins.  Dies  Bewußtsein  kann  je  nach  der  beson- 
deren Weise  des  Gegebenseins  ein  unmittelbares  oder  abgeleitetes 
sein.  Dies  gilt  von  allen  Objekten.  Beschränken  wir  uns  nunmehr 
auf  die  psychischen  Gregenstände,  so  nennen  wir  Erlebnisse  solche 
psychischen  Gegebenheiten,  welche  unmittelbar  bewußt  gegeben 
sind  und  für  welche  diese  unmittelbare  Bewußtseinsgegebenheit  ein 
konstitutives  Merkmal  bildet.  Alle  anderen  psychischen  Gegeben- 
heiten sind  nicht  Erlebnisse,  gleichviel  ob  sie  unmittelbar  bewußt 
oder  abgeleitet  bewußt  gegeben  sind.  Unbewußtes  Psychisches  ist 
hiernach  theoretisch  postulierbar;  um  jedoch  Gegebenheitscharakter 

1)  Vgl.  Unbewußtes,  dieses  Buch,  S.  169 ff..  Natürlich  ist  ihr  Angenommen- 
werden auf  Grund  hypothetischer  Konstruktionen  schließlich  ebenfalls  ein  Be- 
wußtsein von  ihnen,  nämlich  ein  reflektiertes;  und  insofern  besteht  auch  für  sie 
die  allgemeinste  Form  der  Gegebenheit  überhaupt,  das  Bewußtsein,  und  somit 
ihr  phänomenaler  Charakter.  Allein  wie  akzidentell  ist  dieser  zu  ihrer  psycho- 
logischen ratio  essendi  !  Hier  wird  es  ganz  deutlich,  daß  der  Bewußtseinscharakter 
zwar  ein  allgemeines  Kriterium  von  Phänomenalität  sein  kann,  ohne  aber  für  das 
Wesen  des  Psychischen  konstitutiv  zu  sein  —  so  wie  wir  dies  bereits  auf 
S.  177  ff.  ausgeführt  haben.    Meist  aber  wird  beides  verwechselt. 


Erlebnis  und  soolische  Funktionen  usw.  329 

/.u  gewinnen,  muß  es  mindestens  gedacht  werden,  d.  h.  Gegenstand 
abgeleiteten  Bewußtseins  srin  können-  Der  Bewußtseinscharakter 
ist  für  psycliische  Gegenstände  etwas  Aktzidentcllcs;  ob  er  als 
allgemeine  Form  dtr  Gegebenheit  überhaupt  ein  Kriterium  der 
Phänomenalitiit  bildet,  ist  eine  Frage,  welche  weit  über  den  Kalimeu 
der  Psychologie  hinausgelit;  die  Sonderart  der  psychischen  Phäno- 
menalität  ist  in  bezug  auf  dies  Kriterium  jedenfalls  nicht  gegenüber 
der  nichtpsychischen  charaktcrisierbar.  Insofern  aber  Gegeben- 
heit immer  eine  solciie  für  ein  Subjekt  ist,  ist  das  Bewußtseins- 
probli'ui  restlos  ein  Problem  der  Psychologie. 

Von  Phänomenologie  könnt i>  man  iiiernach  in  zwei  Bedeutungen 
sprechen:  einmal  insofern  ihr  Problem  die  Gegebenheitsweise 
irgendwelcher  möglicher  Gegenstände  wäre.  Diese  Fassung 
ist  uns  zu  allgemein,  da  sie  die  gesamte  Erkenntnislehre  und  Logik 
mit  umfassen  müßte.  Auch  unterliegt  diese  Fassung  mit  Notwendig- 
keit der  inneren  Unmöglichkeit,  die  wir  für  jedes  Erkenntnistheorera 
bewiesen  ^).  Dieser  Begriff  von  Phänomenologie  könnte  freilich  auch 
die  Frage  zu  entscheiden  haben,  inwiefern  das  Bewußtsein  als  all- 
gemeinste Form  aller  Gegebenheit  von  Gegenständen  überhaupt 
ein  konstitutives  Merkmal  der  Phänomenalität  bildet.  In  dieser 
Fassung  der  Frage  erkennen  wir  aber  das  Problem  wieder,  welches 
sich  die  psychologische  Erkenntniskritik,  wie  sie  durch  Fries  be- 
gründet wurde,  gesetzt  hat.  Und  aus  dem  Terminus  Bewußtsein 
läßt  sieh  ihr  psychologischer  Charakter  besonders  deutlich  ablesen. 
Die  zweite  Fassung  des  Begriffs  von  Phänomenologie  wäre  eine 
weit  engere.  Sie  setzt  den  akzidentellen  Charakter  des  Bewußtseins 
für  das  Wesen  des  Psychischen  voraus,  und  hält  sicli  an  dasjenige 
Psychische,  für  welches  der  Bewußtseinscharaktcr,  und  zwar  der 
unmittelbare  Bewußt  seinscharakter,  zum  konstitutiven  und  er- 
schöpfenden Kriterium  wird.  Dieses  ausgezeichnete  Psychische, 
welches  wir  Erleben  nennen ,  wird  der  Gegenstand  ihrer  Bear- 
beitung. In  diesem  engeren  Sinne  wollen  wir  von  Phänomenologie 
sprechen. 

Zweierlei  ist  schon  nier  ersichtlich:  erstens  daß  dieser  Begriff 
von  Phänomenologie  sie  in  ein  ganz  bestimmtes  Verhältnis  zur  Psycho- 
logie überhaupt  stellen  muß,  —  wovon  noch  zu  sprechen  sein  wird. 
Jedenfalls  aber  ist  Psychologie  hiernacli  das  weitere  Gebiet,  Phäno- 
menologie das  engere.  Zweitens  hat  hiernach  auf  dem  Wege  von 
Dilthey  bis  zu  unseren  Erwägungen  die  besondere  Bedeutung  von 
Pliänomenologie  einen  Wandel  erfahren.  Gedacht  war  sie  als  reine 
vortheoretische  Beschreibung  des  Psychischen.  Es  hat  sich  bereits 
in  der  Wis.sensehaftstlu'orie,  und  ferner  auch  in  den  Arbeiten  von 
Dilthey  und  Lipps  gezeigt,  daß  reine  Beschreibung  ohne  theo- 
rt-tisehe  Präsumtionen  unm()glieh  ist,  solange  als  Begriffe  und 
Denken  auch  in  der  Beschreibunj'  nicht  entbehrt  werden  können.  An 


1)  Vgl.  S.  22  ff.  dieses  Buches. 


330     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  dea  Psychischen. 

Stelle  einer  Aufgabe,  welche  zwei  logisch  unvereinbare  Forderungen  — 
die  Beschreibung  und  das  Vortheoretische  —  methodisch  vereinigen 
sollte,  ist  hier  nunmehr  die  gegenständliche  Abgrenzung  der 
Phänomenologie  als  Wissenschaft  getreten.  Warum  aber  die  ana- 
lytische Theorie  der  Erlebnisse  innerhalb  der  Psychologie  eine  Sonder- 
stellung einnimmt  und  einnehmen  soll,  dies  beantwortet  am  besten 
der  Sinn  des  Begriffes  Erlebnis  selber,  so  wir  ihn  definiert  haben. 
Es  ist  ganz  klar,  daß  von  Nichteriebnissen  eine  analytische  Theorie 
gar  nicht  möglich  ist;  für  diese  kann  es  sich  immer  nur  um  konstruk- 
tive Hypostasierungen  handeln.  Denn  nur  Erlebnisse  ermöglichen 
die  immanente  Analyse  vermöge  der  besonderen  Weise  ihrer  Wesens 
merkmale,  die  in  ihrem  konstitutiven  Bewußtseinscharakter  gründen. 
Ferner  aber  sind  es  die  Weisen  des  Erlebens,  welche  für  das  Ganze 
der  Seele  in  ursprünglicher  Weise  besonders  bedeutsam  sind.  Beide 
Gesichtspunkte  rechtfert'igen  die  Stellung  der  Phänomenologie  an 
die  Spitze  aller  Wissenschaft  von  psychischer  Phänomenalität  über- 
haupt. 

Mit  den  Erörterungen  dieses  Absatzes  haben  wir  unsere  eigene 
Ansicht  über  eine  Reihe  von  Problemen  vorweggenommen,  deren 
ausführliche  Begründung  wir  zum  Teil  erst  später  geben  werden. 
Dies  war  notwendig,  um  in  dem  Chaos  unscharfer  Begriffe,  in  welches 
wir  zu  geraten  drohten,  einige  feste  Leitlinien  zu  ziehen.  Wir  haben 
jedenfalls  einen  vorläufigen  Standpunkt  gewonnen,  aus  welchem 
sich  ergibt: 

die  Forderung  einer  psychischen  Phänomenologie  als  psycho- 
logischer Disziplin, 

die  Umgrenzung  einer  seelischen  Geschehensklasse,  des  Erlebens, 
als  ihren  Gegenstand, 

die  Untersuchung  der  Beziehungen  des  Erlebens  zum  Ich,  zum 
Bewußtsein,  zu  den  Formen  seelischer  Abläufe,  und  darunter  auch 
zur  inneren  Wahrnehmung. 


Allgemeines   über   assoziative   Strukturen. 

Die  Frage,  deren  Erörterung  uns  über  das  bisher  Festgestellte 
hinausführen  muß,  wird  nun  die  nach  der  Struktur  der  Erleb- 
nisse sein.  Wir  haben  gesehen,  daß  das  Erlebnis  etwas  psycho- 
logisch als  Ganzheit  Letztes  und  nicht  weiter  in  andere  Ganzheiten 
Zurückführbares  ist  und  nur  künstlich  aufspaltbar  ist  durch  Begriffs- 
bildungen, denen  allein  jeweils  keine  seelische  Realität  entspricht. 
Dennoch  ist  eine  solche  künstliche  Aufspaltung  notwendig,  wenn 
wir  überhaupt  dahin  kommen  wollen,  Erlebnisse  in  der  jeweils  be- 
sonderen Art  ihres  Soseins  zu  beschreiben.  Ohne  sie  ist  eine  formu- 
lierte diskursive  Bestimmung  der  Erlebnisse  durch  Merkmale,  ist 
ihre  Vergleichung,  Unterscheidung  und  Ordnung  gar  nicht  möglich. 
Daher  gehört  dieses  Geschäft  der  Aufspaltung  wesentlich  zur  Phäno- 
menologie hinzu,  ja  es  macht  ihr  eigentliches  Wesen  aus.     Schon 


Erlebni.s  und  seelische  Funktiouen  uaw.  331 

zur  Heraushebung  doa  Klassoncbarakters  der  Erlebnisse  gegenüber 
dem  seelischen  Geschehen  überhaupt  dienten  uns  ja  bisher  Merkmale, 
welche  an  sich  ebenfalls  keine  seelische  Realität  besitzen,  sondern 
Abstraktionen  sind.  Aber  diese  Abstraktionen  bezeichnen  eine  be- 
sondere Art  der  Beziehung  der  Teile  des  Erlebnisses  zueinander  und 
zum  Ganzen  desselben.  Und  diese  Beziehung,  so  wenig  davon  die 
Rede  sein  kann,  daß  sie  an  sich  als  psychisches  Datum  auftritt,  ist 
mit  dem  Ganzen  des  Erlebnisses,  sobald  dieses  Realität  annimmt, 
immanent  gegeben  und  dann  von  impliziter  Realität.  Es  wird  sich 
also  bei  der  Untersuchung  der  Struktur  der  Klasse  Erlebnis  um  nichts 
anderes  handeln,  als  um  das  Aufsuchen  von  Merkmalen  seiner  je- 
weiligen Besonderheit,  welche  den  bisherigen  Merkmalsbedingungen 
an  logischer  Dignität  gleichstehen.  Dem  einzelnen  Merkmal  ent- 
spricht keine  an  sich  vorkommende  Realität,  wolil  aber  ein  Wirk- 
lichkeitscharakter von  immanenter  Natur  des  Erlebnisganzen, 
den  wir  in  künstlicher  Abstraktion  hcrausspalten,  aus  Gründen  und 
unter  Gesichtspunkten,  über  die  wir  an  anderer  Stelle  Rechenschaft 
ablegen.  Der  allgemeine  Gesichtspunkt  unserer  Abstraktionen  ist 
kein  anderer,  als  der  für  die  Abstraktion  —  ohne  Ansehen  ihrer 
psychologischen  Artung  —  in  der  Logik  überhaupt  geltende,  der 
zur  Auffindung  des  Genus  und  der  Differentia  specifica  anleitet. 
Es  soll  festgestellt  werden,  weiche  Merkmale  das  Erlebnis  in  eine 
logisch  übergeordnete  Klasse  seelischer  Strukturen  hineinstellen; 
welche  Merkmale  es  in  seinem  Sondercharakter  von  ihr  unterscheiden; 
welche  Unterteilungen  in  ihm  die  Erlebnisarten  ermöglichen^). 

Wenn  wir  bei  diesem  Geschäft  von  Erlebnis  reden,  so  meinen  wir 
zunächst  das  seelisch  nicht  weiter  zurückführbare  Ganze.  Aber 
in  ihm  haben  wir  ja  bereits  mit  Lipps  eine  (künstliche)  Unterschei- 
dung getroffen:  zwischen  dem  Haben  des  Erlebnisses,  dem  Vollzuge, 
dem  seelischen  Ablaufen  desselben  — ,  und  seinem  Erfolge,  dem  durch 
dieses  Ablaufen  sich  konstituierenden  Erlebnisganzen  einerseits,  und 
der  gegenständlichen  Gegebenheit  desselben  andererseits.  Uns 
interessiert  zunächst  die  Struktur  des  Ablaufes,  des  Vollzuges,  des 
Erlebens,  aus  dieser  Struktur  muß  ihr  Erfolg,  das  Erlebnis  ver- 
vollständigt werden  können. 

Fragen  der  Struktur  sind  erstens  Fragen  der  Bedingungen  ihres 
Zustandekommens  —  aber  mit  der  Beantwortung  solciier  Fragen 
gingen  wir  über  die  rein  logische  Zergliederung  hinaus;  und  zwei- 
tens Fragen  des  Verhältnisses  der  Teile  zueinander  und  zum  Ganzen 
des  beobachteten  Vollzuges. 

In  diesem  Sinne  sind  Fragen  der  Struktur  von  Seelischem  Fragen 
des  Zusammenhanges   von  Seelischem.     Fragen  des  Zusammen- 


i)  Die  i)sychologi.scho  Natur  der  Vollzüge,  welche  wir  Abstruktion  nennen 
und  die  besonders  von  Cornelius  und  Meinong  studiert  worden  ist,  hat  mit 
den  logischen  Kriterien  gar  nichts  zu  tun;  diese  allein  gehen  uns  hier  an.  Vgl. 
Lipps,  Leitfaden.  Kap.  IX.  Cornelius,  Ztäclir.  f.  Psvchol.  Bd.  24.  S.  117., 
Meinong  desgl.  Bd.  ü.    S.  340£f. 


332     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

hanges  von  Seelischem  gibt  es  nun  in  doppeltem  Sinne.  Erstens 
versteht  man  unter  der  Frage,  wie  Seelisches  zusammenhänge,  die 
Bestimmung  der  zeitlichen  Reihenfolge  seines  Ablaufes,  sein  Nach- 
einander, sofern  es  ein  Auseinander  ist,  die  Bestimmung  dessen,  wie 
Seelisches  aus  anderem  Seelischen  hervorgeht,  sich  mit  anderem 
Seelischen  verflicht.  Auch  hier  ist  klar,  daß  die  Beantwortung  dieser 
Frage  aus  bloß  logischen  Gesichtspunkten  hinaus  und  in  eine  dyna- 
mische Theoretik  des  Seelischen  hineinführt,  deren  Erörterung  wir 
anderen  Abschnitten  dieses  Werkes  vorbehalten  haben.  Zweitens 
aber  versteht  man  unter  den  Problemen  des  Zusammenhanges  von 
Seelischem  eben  die  Frage  nach  der  Struktur,  und  wie  wir  oben 
Struktur  definiert  haben,  bedeutet  diese  Frage  eine  solche,  welche 
in  analytischer  Beschreibung  beantwortet  zu  werden  vermag, 
d.  h.  den  rein  logischen  Mitteln  reiner  Abstraktionen  zugänglich  ist. 
In  diesem  letzteren  Sinne  —  der  Struktur  —  ist  das  Problem 
des  seelischen  Zusammenhanges  hier  gemeint;  und  soweit  es  sich 
dabei  um  Erlebnisse  handelt,  verbleiben  wir  bei  seiner  Lösung  ganz 
im  Bereich  der  Phänomenologie  stehen. 

Es  wird  sich  zeigen,  daß  Aussagen  über  das  Wesen  dieses  Zu- 
sammenhanges ihrem  Gehalte  nach  unmittelbar  abhängig  sind  von 
der  Beantwortung  des  Gegenstandsproblems  und  der  Beziehung  von 
Gegenstand  und  Erlebnis  —  einer  Fage,  die  wir  schon  aus  der  Dar- 
stellung der  Lippsschen  Lehre  kennen.  Wir  wollen  zunächst  sehen, 
wie  dieses  Problem  des  Zusammenhanges  von  Seelischem  in  der 
bisherigen  Psychologie  beantwortet  oder  behandelt  worden  ist.  Da 
finden  wir,  daß  man  die  beiden  von  uns  getrennten  Bedingungen  des 
Begriffes  Zusammenhang,  die  zeitlich-dynamische  und  die  logische 
strukturelle,  bisher  nicht  prinzipiell  getrennt  hat.  Man  erklärte 
vielmehr  das  Wesen  alles  seelischen  Zusammenhängens  durch 
Assoziation. 

Über  diesen  Begriff  von  Assoziation  und  seine  Anwendung  im 
Psychischen  müssen  wir  hier  einige  weitere  Aussagen  allgemeiner 
Art  machen,  nachdem  wir  bereits  in  der  Wissenschaftslehre  damit 
begonnen  haben  i);  in  eine  eigentliche  Erörterung  der  speziellen 
Assoziationslehre  brauchen  wir  nicht  einzutreten,  diese  erfolgt  in 
der  psychologischen  Dynamik.  Hier  handelt  es  sich  nur  darum, 
die  logischen  Möglichkeiten  des  durch  Assoziation  Erklärbaren  auf- 
zustellen. 

Assoziation  kann  drei  verschiedene  Bedeutungen  haben: 

Erstens  kann  damit  gesagt  sein,  alle  psychischen  Inhalte  seien 
verbunden.  Ihre  zeitliche  Folge  sei  kein  äußerer  Zufall,  sondern 
entspreche  einem  Gesetz  ihrer  Zusammengehörigkeit.  Gegen  diesen 
allgemeinsten  Sinn  von  Assoziation  bestehen  weder  logische  noch 
psychologische  Bedenken.  Das  liegt  daran,  daß  er  überaus  nichts- 
sagend ist.    Er  sagt  eigentlich  nur  aus,  daß  das  seelische  Geschehen 


1)  S.  187  ff.  dieses  Buches. 


Erlebnis  und  seeli.schc  Funktionen  ühw.  333 

nicht  regellos  überhaupt,  sondern  nach  dem  Gesetz  einer  Zusammen- 
gehörigkeit verlaufe;  welches  aber  dieses  Gesetz  ist,  darüber  besagt 
er  nichts.  Er  ist  also  keine  Antwort,  keine  Erklärung  des  Problems 
des  seelischen  Zusammenhängens;  er  ist  ein  neuer  Ausdruck  für  dieses 
Problem  selber.  Denn  daß  das  seelische  Geschehen  Gesetzen  des 
Zusammenhanges  gehorcht,  dies  ist  ja  die  Voraussetzung  jeder  wissen- 
schaftlichen Psychologie.  Für  diese  ist  es  ja  gerade  die  Aufgabe, 
zu  bestimmen,  welche  Gesetze  es  sind,  die  das  seelische  Geschehen 
regeln.  Darauf  gibt  uns  der  erste  Sinn  von  Assoziation  keine  Ant- 
wort, er  setzt  dafür  nur  das  inhaltleere  Wort. 

Der  zweite,  am  häufigsten  gemeinte  Sinn  von  Assoziation  gibt 
den  assoziativen  Verbindungen  wenigstens  das  eine  negative  Merk- 
mal, daß  sie  keine  vom  Willen  oder  vom  Nachdenken  des  Subjekts 
gestifteten,  sondern  selbsttätig  erfolgende  sind:  Hierbei  ist  denn  die 
Frage,  welches  die  positiven  Bedingungen  sind,  unter  denen  ihr 
Eintritt  erfolgt.  Ferner  muß,  wenn  diese  Bestimmung  des  Sinnes 
von  Assoziation  richtig  sein  soll  und  ein  Gesetz  ausdrücken  soll, 
zuvorderst  nachgewiesen  werden,  daß  auch  die  scheinbar  vom  wollen- 
den und  denkenden  Subjekt  gestifteten  Verbindungen  in  Wirklich- 
keit selbsttätig  und  ohne  Zutun  desselben  erfolgt  sind.  Nur  dann 
ist  man  berechtigt,  diese  Verknüpfung  Assoziation  zu  nennen. 

Drittens  kann  endlich  behauptet  werden,  die  assoziative  Ver- 
bindung sei  nur  ein  Gesetz  für  die  Reproduktion  der  psychischen 
Inlxalte. 

Hier  interessiert  uns  vorläufig  die  zweite  Bedeutung  von  Asso- 
ziation. Bei  ihr  ist  das  Problem  am  wichtigsten,  welche  positiven 
Merkmale  es  sind,  die  den  Eintritt  der  Verknüpfung  bestimmen. 
Diese  positiven  Bestimmungsstücke  des  gesetzmäßigen  Eintritts  der 
Assoziation  können  nun  ganz  allgemein  entweder  psychologische 
oder  außerpsychisehe  sein. 

Die  nicht  psychischen  Assoziationsmomente  werden  in  gelürn- 
dynamischen  oder  anatomischen  Situationen  gesucht.  Es  ist  klar, 
daß  derartige  Aufstellungen  Hilfshypothesen  sind,  deren  Geltung  be- 
stimmte psychoplij'sische  Mechanismen  voraussetzt  und  als  Er- 
klärungsgründe für  Seelisches  benützt.  Wir  werden  später  sehen, 
ob  und  wie  weit  das  erlaubt  ist ;  schon  hier  ist  aber  klar,  daß  eine  der- 
artige Aufstellung  durch  theoretische  Vorwegnahmen  nichtpsychi- 
scher Art  den  Charakter  der  P.sychologie  als  Eigen  Wissenschaft  in 
seinen  Grundfesten  gefährdet,  und  daß  daher  zu  ihnen  erst  dann  ge- 
griffen werden  sollte,  wenn  psychiselie  Erklärungsgründe  für  den 
Eintritt  von  Verknüpfung  im  Seelischen  ihrer  prinzipiellen  Möglich- 
keit nach  ausgeschieden  sind. 

Das  sind  sie  aber  noch  keineswegs.  Freilich  ist  unklar,  wo  wir  im 
einzelnen  denn  nun  die  p.sychisehen  Bestimmungsstüeke  für  das  Ein- 
treten von  Verknüpfungen  im  Seelischen  zu  suchen  haben.  Zwar 
haben  schon  Herbart  und  Fechner  das  bestimmende  Moment  des 
Assoziationsvollzuges    ins    Psychische    selber    verlegt;    die    Voraus- 


334     Gnindlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Setzung  dieser  Verlegung  aber  wären  Annahmen  über  besondere 
psychische  Kräfte,  welche  den  Ablauf  des  seelischen  Geschehens 
zielsetzend  bestimmen. 

Derartige  Annahmen  bilden  also  die  erste  Möglichkeit,  den  Asso- 
ziationsmechanismus seelisch  zu  bestimmen.  Nun  läßt  sich  zwar 
nicht  einsehen,  warum  solche  Annahmen  über  seelische  Richtkräfte, 
welche  die  Verknüpfung  innerer  Abläufe  regeln,  nicht  sollten  gemacht 
werden  können.  Sie  sind  wissenschaftstheoretisch  und  logisch  ein- 
wandfrei und  sogar  notwendig^),  und  sie  fördern  die  Arbeit,  wenn  sie 
ihr  Gegenstandsgebiet  hinreichend  erklären.  Für  solche  Hjrpothesen 
über  seelische  Richtkräfte  der  Assoziation  liegt  jedoch  ein  Widerstreit 
zu  den  Tatsachen  überall  dort  vor,  wo  wir  uns  tatsächlich  durch  Be- 
obachtung überzeugen  können,  daß  das  Subjekt  willkürlich  und 
nachdenkend  seine  Inhalte  verknüpft  oder  ihre  Abfolge  regelt 2). 
Man  müßte  die  Denkvollzüge  und  Willens  Vorgänge  als  seelische  Tat- 
sachen leugnen  und  durch  assoziative  Umdeutung  verfälschen,  um 
die  Assoziationshypothese  auf  der  genannten  Basis  durchhalten  zu 
können.  Diese  umdeutende  Verfälschung  wird  ja  nun  von  vielen 
Seiten  beliebt:  Sie  hat  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  das  psychische 
Leben  in  dürren  schematischen  Formeln  erstarren  zu  lassen,  an  Stelle 
es  in  seiner  reichen  Mannigfaltigkeit  vorurteilslos  zu  beschreiben.  — 
Aber  indem  wir  einräumen,  daß  solche  Assoziationshypothesen  zu 
Erklärungszwecken  grundsätzlich  annehmbar  sind,  verlassen  wir 
bereits  wiederum  das  Gebiet  der  bloßen  Beschreibung  und  bewegen 
uns  auf  dem  schwankenden  Boden  der  Erklärung,  und  zwar  der  kon- 
struktiven generalisierenden,  mechanisierenden  Erklärung.  Besinnen 
wir  uns  auf  die  Absicht  unserer  phänomenologischen  Einstellung,  so 
werden  wir  einen  solchen  Weg  erst  dann  benützen,  wenn  die  Be- 
schreibung und  immanente  Abstjaktion  erschöpft  ist  und  versagt. 

Verbleiben  wir  bei  der  letzteren,  treiben  wir  also  in  dem  Wege 
unserer  phänomenologischen  Einstellung  vorwärts,  so  werden  wir 
die  assoziativen  Momente  aus  dem  Wesen  der  seelischen  Abläufe  selbst 
herauszulösen  versuchen  müssen.  Dies  ist  auch  in  der  Ausbildung 
der  psychologischen  Lehre  seit  Locke  und  Hume  bis  auf  Hoeff- 
ding  jeweils  versucht  worden.  Und  zwar  gab  es  hier  wiederum  mit 
logischer  Vollständigkeit  zwei  Möglichkeiten,  in  denen  das  assoziative 
Moment  gesucht  werden  könnte.  Es  muß  entweder  liegen  am  Was 
der  Inhalte  oder  im  Wie  ihres  Inhaltseins.  Danach  trennt  sich 
die  Ähnlichkeitsassoziation  von  der  Berührungsassoziation.  Die 
Ähnlichkeitsassoziation  sucht  tatsächlich  ihr  wesentliches  Moment  in 
einem  Merkmal,  das  den  Inhalten  anhaftet,  eben  ihrer  Ähnlichkeit  — 
wobei  der  Begriff  der  Ähnlichkeit  in  dieser  Anwendung  weit  davon 
entfernt  ist,  logisch  geklärt  zu  sein.    Die  Berührungsassoziation  hin- 


1)  Vgl.  S.  144  ff.  dieses  Buches. 

2)  Über  den  Begriff  der  »Tendenzen«,  sowie  die  Stellung  der  perseverativen 
und  determinierenden  zu  den  assoziativen  Tendenzen  vgl.  den  zweiten  Band. 


ürlobniB  und  seoÜKcho  Funktionen  ubw.  335 

gegen  sucht  tatsächlich  ihr  wesentliches  Moment  in  einem  Merkmal 
des  Seins,  Werdens  und  Bestehens  der  Inhalte,  nämlich  ihrer  zeit- 
lichen B  TÜhrung,  sei  diese  nun  aktuell  oder  vorgegeben.  Diese 
Trennung  ist  nun  freilich  eine  vollständige,  aber  man  muß,  um  diese 
beiden  Momente  der  Assoziation  wirklich  anwenden  zu  können,  für 
jedes  von  ihnen  eine  Voraussetzung  besonderer  Art  machen.  Diese 
Voraussetzung  ist  für  beide  Momente  die  gleiche  und  ließe  sich  so 
formulieren:  Die  Anwendbarkeit  des  assoziativen  Momentes  auf 
Psychisches  hängt  davon  ab,  daß  alles  Psychische  in  bezug  auf 
dies  Moment  eine  grundsätzliche  Gleichartigkeit  auf- 
weist. Wenn  sich  z.  B.  alles  Psychische  nach  der  Ähnlichkeit  seines 
Inhaltes  assoziiert,  so  setzt  das  voraus,  daß  alles  Psychische  ein  inhalt- 
lich Gegebenes  ist.  Läßt  es  sich  dagf  gen  gemäß  den  Zeitmomenten 
seines  Inhaltseins  zusammenfassen,  li(gt  also  eine  B'TÜhrungsasso- 
ziation  vor,  so  setzt  das  voraus,  daß  das  Zeitmoment  dieses  Inhalt- 
seins das  konstitutive  Unterscheidungsmerkmal  seiner  Inhalte  ist. 
Beide  Voraussetzungen  sind  in  ihrer  Allgeraeinheit  irrig.  Weder  ist 
alles  Psychische  Inlialt  —  oder,  um  diesen  unscharfen  Ausdruck  zu 
vermeiden  und  den  eigentlich  gemeinten  dafür  einzusetzen,  Vor- 
stellung —  noch  ist  der  Zeitpunkt  in  dem  es  bewußt  wird,  das  einzige 
Sondermerkmal  seines  sonst  gleichen  Bewußtseins.  Beides  ist 
eine  unzulängliche  Einengung  des  Reichtums  seelischer  Formen  und 
Bewußtseinsstrukturen  zugunsten  der  Bausteintheorie.  Wenn  wir 
von  den  komplexen  Tatbeständen  ausgehen,  ohne  den  Ehrgeiz,  um 
jeden  Preis  immer  auf  diese  einfachsten  Elemente  zurückzukommen, 
aber  mit  dem  Bewußtsein,  so  wenigstens  die  Tatbestände  nicht  zu 
verändern,  dann  können  wir  mit  dieser  Assoziationslehre  nichts  an- 
fangen. Wir  bestreiten  sie  nicht  etwa:  Dasjenige  seelische  Material, 
welches  sich  tatsächlich  in  generisch  gleiche  Elemente  auflösen  läßt, 
dabei  jedoch  seinem  subjektiven  Sein  nacli  kein  geformtes  Ganzes 
bildet,  kann  und  muß  assoziativ  erklärbar  werden.  Dann  aber  muß 
Art  und  Umfang  dieses  seelischen  Materials  erst  einmal  genau  fest- 
gelegt und  abg'  grenzt  werden. 

Wie  dem  nun  aber  auch  sein  möge:  Es  ist  nach  dem  Vorher- 
geschickten klar,  daß  ein  so  beschaffenes,  ungt  formtes  und  homogenes 
Geschehen  tatsächlich  nicht  der  wesentliche  Teil  des  psychi- 
,schen  Geschehens  überhaupt  ist.  So  behält  dieses  Erklärungs- 
prinzip seinen  Wert  nur  für  eine  untergeordnete  Klasse  von  psychi- 
schen GJeschehnissen.  Es  handelt  sich,  wie  man  weiß,  zum  großen 
Teile  um  Reproduktionsphänomene,  aber  auch  nicht  um  alle;  wissen 
wir  doch  s-it  Marty  uiul  Husserl,  daß  nicht  einmal  zwischen 
Wort  und  Bedeutung  eine  bloße  assoziative  Verknüpfung  vorliegen 
kann. 

Und  nun  kommen  wir  auf  das  im  B«'ginn  dieses  Abschnitts  Gesagte 
znrüek:  daß  dem  seelischen  Zusainnvnhang  zwei  wesentliche  Be- 
deutungen zugrunde  liegen,  unil  dnÜ  ilaher  As.soziation,  welclxe  seeli- 
schen Zusammenhang   überhaupt   erklären  soll,  als  Erklärungsgrund 


336     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Fsychischen. 

von  zwei  prinzipiell  verschiedenen  Arten  von  Verknüpfungen  des 
Seelischen  in  Frage  kommt.  Sie  kann  einmal  die  zeitliche  Aufein- 
anderfolge der  einzelnen  psychischen  Gebilde  regeln.  Sie  kann 
zweitens  den  Aufbau,  die  Struktur  dieser  Gebilde  aus  ihren  Ele- 
menten bestimmen.  Wir  sagten  bereits,  daß  wir  den  Assoziations- 
begriff hier  nur  in  bezug  auf  das  letztere,  die  Synthese  der  Struk- 
turen, zu  prüfen  haben.  Die  Frage,  ob  auch  das  zeitliche  Nach- 
einander psychischer  Vollzüge  durch  Assoziation  bedingt  ist  oder 
nicht  —  diese  Frage  ist  von  der  Frage  nach  dem  assoziativen  Aufbau 
der  seelischen  Strukturen  selber  grundsätzlich  zu  trennen.  Man  kann 
die  letztere  verneinen,  ohne  damit  die  erstere  zu  entscheiden.  Denn 
der  Aufbau  der  seelischen  Strukturen  ist  ein  Problem,  welches  beob- 
achtende Beschreibung  und  immanente  Abstraktion  in  Angriff  nehmen, 
ein  Problem,  das  aus  dem  Wesen  der  phänomenologischen  Einstellung 
heraus  entsteht  und  mit  ihren  Mitteln  lösbar  wird.  Das  Gesetz  des 
zeitlichen  Nacheinander  von  Seelischem  aber  kann,  wie  alles  Nach- 
einander, gar  kein  Gegenstand  bloßer  Betrachtung  oder  Wahrnehmung 
sein,  es  ist  vielmehr  ein  Problem  des  dynamisch-theoretischen  Den- 
kens. Dies  Nacheinander,  insofern  es  ein  Auseinander  ist,  ist  kein 
Beschreibungsgebiet,  sondern  ein  Erklärungsgebiet.  Und  ob  jemand 
hierfür  Assoziationstheorien  aufstellen  oder  etwa  lieber  Bergson- 
sche  Hypothesen  über  die  »Organisation  der  Bewußtseinszustände 
in  der  reinen  Dauer«  annehmen  will,  ist  für  eine  beschreibende  Tat- 
sachenwissenschaft von  Seelischem  gleichgültig.  Gerade  die  theorien- 
feindlichsten der  Phänomenologen,  besonders  führende  Forscher  in 
der  Psychopathologie,  kommen  aber  von  solchen  theoretischen  Neu- 
aufstellungen nicht  los,  anstatt  sich  auf  ihr  untheoretisches  Problem 
zu  beschränken.  Wir  sagen  nicht  wie  diese,  daß  es  unerlaubt  oder 
falsch  sei,  psychologische  Theorien  zu  bilden,  und  daß  die  Phänomeno- 
logie, wie  wir  sie  verstehen,  weil  sie  vortheoretisch  ist,  untheoretisch 
zu  sein  habe.  Wir  untersuchen  vielmehr  später  dieses  Problem  aus- 
führlich. Gegenüber  diesen  theorienfeindlichen  Forschern  aber,  die 
gerade  auf  die  Verabsolutierung  der  Assoziationspsychologie  sehr 
von  oben  herab  sehen  soll,  hier  ein  Wort  vorweggenommen  werden. 
Sie  schaffen,  wenn  sie  den  Begriff  der  psychischen  Kausalität  ab- 
lehnen oder  im  Sinne  Rickerts  individualisieren,  wenn  sie  Kon- 
zeptionen über  »genetisches  Verstehen«  usw.  bilden,  ebenfalls  Theo- 
rien, und  zwar  genau  so  einseitige,  wie  der  Assoziationspsychologe  es 
auf  seine  Weise  tut  —  ob  sie  dies  nun  wahr  haben  wollen  oder 
nicht.  Nur  der  Unterschied  besteht,  daß  die  Assoziationstheorie  als 
Erklärungsprinzip  schon  manchen  wichtigen  Dienst  geleistet  hat, 
und  sei  er  auch  bloß  in  ihrem  heuristischen  Moment  gelogen,  daß 
jedoch  die  Theorienfeindschaft  jener  »phänomenologischen«  Behaup- 
tungen, die  in  Wirklichkeit  selber  versteckte  Theorien  sind,  richtige 
theoretische  Erklärungen  nur  hemmt. 


Erlebnis  ujid  sctli>clio  Fiuiktioneu  usw.  337 

Psycliische  Eiächeiniingen.    Funktionen  un«l  Akte. 

Wir  wollen  Erlebnisse  beschreiben;  wir  müssen  dazu  Merkmale 
an  ihnen  bilden,  müssen  sie  miteinander  vergleichen  und  vontiu- 
ander  unterscheiden.  Jedes  Erlebnis  soll  gemäß  seinem  besonderen 
Sosein  beschrieben  werden.  Wir  haben  erkannt,  daß  es  dazu  not- 
wendig ist,  die  generischen  Merkmale  der  Erlebnisse  überhauj)t, 
sowie  die  spezifischen  Unterschiede  der  Erlebnisarten  a))straktiv 
herauszuheben.  Der  Gesichtspunkt  unserer  abstraktiven  Aufspaltung 
soll  dabei  der  sein,  daß  wir  zu  Merkmalen  kommen,  über  deren  aw- 
lisches  Fürsichbestehen  als  Ganzheit  wir  zwar  keine  Aussagen  machen 
können,  deren  saclUichc  Immanenz  in  dem  Ganzen  des  Erlebnis.ses 
aber  von  gleicher  Realität  ist  wie  dieses  selbst;  d.  h.  unsere  Merk- 
male dürfen  keinen  konstruktiven  Charakter  tragen,  aber  auch  keinen 
bloß  logisch  immanenten,  sondern  den  einer  sachlichen  Immanenz. 
sie  dürfen  zwar  künstlich  herausgelöst,  dürfen  aber  nicht  fiktiv  sein. 
Wir  haben  diese  Merkmale  als  solche  der  »Struktur  von  Erlebnissen 
bezeichnet.  Da  es  aber  zunächst  de  facto  immer  Avillküi'licli  ist,  wie 
man  abstrahiert,  so  müssen  wir  uns  diesen  Strukturgesichtspunkt  für 
imserc  beschreibenden  Aufspaltungen  noch  etwas  klarer  machen. 
Es  handelt  sich  hierbei  noch  nicht  um  Einteilungen  des  psychischen 
Gescheliens.  sondern  um  die  logische  Vorarbeit  dazu.  Gilien  -«nr 
davon  aus,  daß  man  unterscheiden  muß  Erlel)nis  als  fertiges  Phänomen 
und  als  ein  seelisches  Sichvollziehen,  und  daß  ferner  das  fertige  Er- 
lebnis immer  schon  ein  Erlebtes  ist,  unmittelbar  aber  nur  das  Sich- 
vollziehen jeweils  gegeben  ist,  mit  anderen  Worten,  daß  das  psychische 
Sein  immer  ein  Werden  ist,  so  klärt  sich  der  Strukturbegriff  zu  dem 
der  Funktion.  Der  Bc^griff  der  Struktur  ging  auf  das  Erlebnis  als 
ein  fertiges  abgeschlossenes  Sein;  wird  dies  Sein  als  ein  Werden  auf- 
gefaßt, so  verwandelt  der  Strukturbegriff  sich  in  den  Funktionsbegfiff. 
Es  werden  hierbei  Merkmale  an  Erlebnissen  für  wesentlich  erachtet, 
welche  auf  das  Erleben  als  ein  Sichvollziehen  gehen  und  dieses  als 
ein  WVrden  erkennen  lassen^). 

Der  Begriff  der  Funktion  im  Psychischen  ist  nicht  der  exakte 
Begriff  der  mathematischen  Logik;  oder  doch  nur  in  sehr  über- 
tragenem Sinne.  Neben  der  Zuordnung  oder  Relationsbestiramung. 
welche  er  ausdrückt,  enthält  er  noch  einen  besonderen  psychologischen 
Sinn;  dieser  haftet  ihm  mit  unausschalt barer  Notwendigkeit  an  und 
läßt  sich  nur  wissenschaftstheoretisch  rechtfertigen^).  Eine  phäno- 
menologische Begründung  desselben  läßt  sich  nicht  geben.  Dieser 
psychologische  Sinn  des  Funktionsbegriffes  besteht  darin,  daß  das 
Subjekt  des  Erlebens  als  in  diesem  Erleben  als  einem 
Vollzuge    fungierend   gedacht    und   beschrieben  wird.      Erleben 

1)  Wie  fliese  Erkenntnis  psychologi.sch  mügiich  ist,  darüber  vgl.  Moinong. 
Beiträge  zur  Theorie  der  psychischen  Analyse.  3!ltsohr.  f.  PsyohoL  Bd.  VT.  5.  An- 
hang.    S.  434  ff. 

8)  Vgl.  S.  134,  145  ff.  dieses  Buches. 

Krön  fehl,  r.^ychiiitriscbo  Krkcnntnb».  22 


338     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

als  Vollzug  wird  also  immer  auf  ein  Subjekt  bezogen,  und 
diese  Bezogenheit  wird  funktional  gedacht.  Funktionale 
Vollzüge  eines  Subjekts  sind  aber  nur  als  Tätigkeiten  desselben 
denkbar  und  vorstellbar;  auch  dies  ist  wissenschaftstheoretisch 
notwendig  und  zu  rechtfertigen.  Im  übrigen  macht  der  Funktions- 
begriff an  sich  keine  Aussagen  über  die  Art  dieses  Fungierens  des 
Subjekts;  er  überläßt  diese  völlig  der  jeweiligen  Einzelbeschreibung. 
Ebensowenig  wird  durch  die  Statuierung  des  Funktionsbegriffes  aus- 
gemacht, ob  das  Erleben  seinem  ganzen  Sein  nach  durch  ihn  erschöpft 
zu  werden  vermag;  lediglich  der  Vollzug  des  Erlebens  ist  konstitutiv 
durch  ihn  erfaßbar. 

Erscheinung  und  Funktion  verhalten  sich  also  zu- 
einander wie  Sein  und  Werden.  Die  Erscheinung  ist  das  Ergebnis 
des  fertig  abgeschlossenen  Vollzuges;  die  Funktion  ist  dieser  Vollzug 
in  seinem  Werden  selber. 

Es  besteht  also  zwischen  psychischen  Phänomenen  und  psyciii- 
schen  Funktionen  der  innigste  Zusammenhang.  Und  wir  müssen  uns, 
wie  schon  Husserl  es  tat,  entschieden  gegen  Stumpf  wenden,  der 
in  seiner  bekannten  Rede^)  darauf  ausgeht,  prinzipielle  Gregensätze 
und  logische  und  psychologische  Unabhängigkeiten  beider  Begriffs- 
sphären voneinander  darzutun.  Schon  sein  Funktionsbegriff  ist  ein 
anderer  als  der  hier  entwickelte:  er  bezieht  sich  lediglich  auf  das 
Bemerken  von  Erscheinungen  —  nicht  auf  deren  wesenhaftes  Werden. 
Ebenso  ist  sein  Erscheinungsbegriff  ein  viel  engerer  als  der  der  psychi- 
schen Phänomenalität  in  dem  hier  verwendeten,  früher  erörterten 
Sinne;  Husserl  weist  mit  Becht  darauf  hin,  daß  dem  Erscheinungs- 
begriffe Stumpfs  nur  dasjenige  entspricht,  was  Husserl  als  Hyletik 
bezeichnet  2) :  nämlich  die  unselbständigen  materialen  Bausteine  un- 
geformter  stofflicher  Art,  welche  die  Inhalte  psychischer  Gebilde  und 
Akte  aufbauen.  Stumpfs  Verdienst  in  jener  Rede,  durch  welche 
der  psychologische  Funktionsbegriff  erneut  belebt  wurde,  ist  ein 
doppeltes:  er  zeigt  wiederum,  daß  die  funktionalen  Vollzüge  im  Psy- 
chischen nicht  aufgelöst  werden  können  durch  Reduktion  auf  die 
Elemente  der  »Erscheinungspsychologie«,  des  psychologischen  Sen- 
sualismus im  weitesten  Sinne.  Und  ferner  zeigt  Stumpf,  daß  die 
funktionalen  Vollzüge  selber  unabhängig  davon  sind,  ob  sie  erscheinen; 
Erscheinung  ist  zwar  immer  —  wie  wir  gegen  Stumpf -betonen  — ■ 
funktional  bedingt,  die  Realisierung  von  Funktionen  aber  braucht 
nicht  zu  psychischen  Erscheinungen  zu  führen.  Es  ist  klar,  daß  der 
Erscheinungsbegriff  in  diesem  Zusammenhange  ein  engerer  ist,  als 
der  der  psychischen  Phänomenalität  überhaupt,  jedoch  ein  weiterer 
als  der  des  Erlebens.  Er  würde  sich  nicht  mit  dem  der  psychischen 
Gegebenheit  schlechthin,  sondern  mit  dem  der  Bewußtseinsgegeben- 
heit decken.     Stu'mpfs  Lehre  wird  hier  zur  starken  Stütze  unserer 


1)  Erscheinungen  und  psychische  Funktionen.     Berlin  1907. 

2)  Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie  usw.     1913.     S.  178ff. 


Erlebnis  und  seelische  Funktionen  usw.  33f> 

früher  geäußerten  Ansicht,  daß  es  durchaus  ein  psychisches  Sein  un'l 
Werden,  nämlich  ein  funktionales,  geben  kann,  ohne  daß  dasselbe 
durch  seinen  Bewußtscinscharakter  konstitutiv  bestimmt  wird. 
Letzterer  ist  mithin  für  Psychisches  überhaupt  nur  ein  akzidentelles 
Merkmal.    Dies  nur  nebenbei. 

Der  Funktionsl)egriff  ist  so  alt  wie  die  wissenschaftliche  Psycho- 
logie selber.  Er  bildet  den  Kern  der  Aristotelischen  Psychologie, 
er  wurde  in  die  scholastisch-Thomistische  Lehre  von  Wahrnehmung 
und  Urteil  übernommen.  Der  Sensualismus  der  Engländer  ver- 
mochte ihn  nur  zeitweise  zu  verdrängen.  In  der  P.sychologie  des 
klassischen  Idealismus  kehrt  er  unter  dem  Terminus  »Vermögen« 
wieder;  die  deutschen  Nachfahren  des  englischen  Sensualismus 
suchten  diesen  Begriff  vor  allem  zu  beseitigen^).  Seit  Lotze  und 
Brentano  aber  kehrt  der  Funktionsbegriff  im  Psychischen  in  reine- 
rer und  strengerer  Fassung  und  Ableitung  wieder;  durch  diese  For- 
scher trat  er  seinen  Siegeszug  im  eigensten  Bereiche  der  sensuahsti- 
schen  Atomistik  an,  zu  welcher  die  Psychologie  zu  erstarren  drohte. 
Der  Ausgangspunkt,  aus  welchem  sich  der  Funktionsbegriff  immer 
wieder  neu  erzeugte,  war  der  einfache  und  triviale  Satz :  daß  jedes 
erlebende  Bewußtsein  ein  Bewußtsein  von  Etwas  i.st.  L^nd  dieses 
Etwas  wird  zum  EtAvas  für  das  Ich  erst  durch  die  besondere  Weise 
seines  Bewußtseins.  Durch  diese  Weise  seines  Bewußtseins  wird  das 
Etwas  als  ein  besonderes  und  besonders  bestimmtes  erst  gebildet  '^). 
Der  Bewußtseinsvollzug  ist  also  ein  gegenstandsbildender  Akt.  Der 
Inlialt  des  Bewußtseinsvollzuges  ist  ein  gegenstandsbildendes  Ver- 
halten des  Subjekts;  eben  die  Funktion  des  Subjekts.  Brentano 
hat  für  dieses  Verhalten  des  Subjekts,  wodurch  sicli  ihm  Gegenstände' 
konstituieren,  den  scholastischen  Ausdruck  der  Intention^)  wieder 
in  Kurs  gesetzt.  Der  Bewußtseins  Vollzug  selber  führt  den  Namen 
des  Aktes*). 

Der  Gegenstand  desselben  kann  ein  solcher  der  Anschauung  sein, 
er  kann  aber  auch  ein  unanschaulicher,  ein  Sinn  oder  eine  Bedeutung 
sein,  welche  in  der  Verwirklichung  der  Intention  gemeint  ist. 

Im  Hinblick  auf  diese  Gredankengänge  lassen  sich  aus  der  Lehre 
Brentanos  —  unter  Absehen  von  ihrem  sonstigen  für  Brentano 
selber  vielleicht  bezeichnenderen  Inhalt  —  zwei  Leitsätze  heraus- 
heben, in  welchen  die  Überwindung  des  assoziativen  Sensualismus 
sinnfällig  ausgedrückt  und  die  Grundlage  weiterer  phänomenolo- 
gischer Forschung  enthalten  ist.  Der  erste  dieser  Sätze  lautet  in  der 
modifizierten  Fassung  Husserls:  Jedes  intentionale  Erlebnis  ist 
entweder  ein  objektivierender   Akt   oder   durch  einen  solchen   Akt 


1)  Vgl.  S.  153  ff.  dieses  Buches. 

-)  Brentano,  a.a.O.     S.  llöff.  und  piiss.  * 

3)  Über  den  Sinn  de.s  Terminus  Intont  ion  in  der  Scholastik  vgl.  die  Zusamra<n- 
»teliung  von  Ziehen,  (Jnindlagen  d.  Psychol.     1915.    I.    S.  77. 

•*)  a.  a.  ü.  S.  132ff.  Gnindsätziiche  Erörterung  bei  Messer.  Über  den 
Begriff  des  Aktes.    Arch.  f.  d.  ges.  Psychol.     Bd.  24.    S.  245  ff. 


340     Gnindlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

fundiert.  Der  zweite  Satz  ist:  Es  gibt  soviel  Klassen  psychischer 
Strukturen,  als  es  Arten  gibt,  in  welchen  sich  das  Ich  auf  Gegen- 
/stände  bezieht^),  2). 

Der  erste  dieser.  Sätze  drückt  den  Zusammenhang  des  Erlebens 
mit  Aktvollzügen  und  die  aktive,  formende,  gestaltende  Beteiligung 
des  psychologischen  Subjekts,  des  Ich,  beim  Zustandekommen  von 
Erlebnissen  aus.  Der  zweite  Satz  enthält  das  Prinzip  zur  Auffindung 
der  verschiedenen  Erlebnisstrukturen.  Beide  Sätze  geben  ferner 
einen  prinzipiellen  Hinweis  auf  Arten  des  Zusammenhangs  von  Er- 
lebnissen untereinander:  entweder  fundiert  ein  intentionaler  Vollzug 
den  anderen,  d.  h.  er  ist  der  analytische  Grund  des  anderen,  oder 
dieser  Zusammenliang  liegt  im  Gegenstande,  auf  den  das  Ich  sich  in 
verschiedenen  Weisen  intentional  bezieht  Natürlich  sind  dies  nicht 
alle  Arten  des  Erlebniszusammenhanges,  und  vielleicht  nicht  einmal 
die  wesentlichen. 

Damit  hätten  wir  eine  vorläufige  Fassung  des  Aktbegriffes  ge- 
Avonnen,  welche  für  alle  phänomenologischen  Zergliederungen  von 
Bedeutung  zu  werden  vermag.  Die  Phänomenologie  wird  eine  ihrer 
Aufgaben  darin  finden,  diesen  Begriff  weiter  zu  untersuchen.  Sie 
wird  feststellen  müssen,  welche  Arten  von  Erlebnissen  und  von 
seelischem  Geschehen  überhaupt  unter  Aktklassen  zu  subsumieren 
sind,  sie  wird  ferner  die  Unterscheidungsmerkmale  der  Aktklassen 
als  solcher  generisch  aufzuweisen  haben.  Und  es  wird  sich  zeigen, 
daß  jede  mögliche  Psychologie  sich  ausschließlich  auf  der  Grundlage 
der  logischen  Unterscheidungen  aufbauen  muß,  welche  die  Phäno- 
menologie so  als  Rahmen  für  die  Deskription  psychischer  Phänomene 
überhaupt  aufstellt. 

Es  muß  nun  aber  gesagt  werden,  daß  weder  Brentano  noch 
Lotze  noch  ihre  Anhänger  beabsichtigt  haben,  Phänomenologie 
zu  treiben  in  einem  Sinne,  welcher  diese  Disziplin  irgendwie  aus  dem 
Ganzen  der  Psychologie  herauszusondern  berufen  wäre.  Lediglich 
Husserl  bildet  hierin  seiner  ganzen  Absicht  nach  eine  Ausnahme; 
aber  wo  er  seiner  Idee  nach  reine  Phänomenologie  treibt,  ist  er  gar 
nicht  so  weit  davon  entfernt,  Brentano  sehe  Funktionspsychologie 
zu  treiben,  wie  er  sich  den  Anschein  gibt.  Auch  jene  beiden  Leit- 
sätze Brentanos,  die  wir  soebe'n  herausgehoben  haben,  sollten  nicht 
irgendwelchen  phänomenologischen  Sonderzwecken  dienen,  sondern 
fungieren  bei  Brentano  als  heuristische  Prinzipien  psychologisch- 
analytischer Theorie.  Mit  Ausnahme  von  Husserl  also  betrachten 
jene    großen  Führer  der  Funktionspsychologie  die   Phänomenologie 


r^^  1)  Brentano,  a.  a.  0.  S.  104,  848ff.  Husserl,  Logische  Untersuchungen. 
Bd.  IL  1.  Aufl.  S.  399ff.,  bes.  458.  Brentano  hat,  ebenso  übrigens  auch  Marty 
und  Meinong,  an  Stelle  des  Terminus  »objektivierender  Akt«  in  diesem  Zu- 
sammenhang den  der  »Vorstellung«.  Alle  psychischen  Phänomene  gehen  auf 
Vorstellungen  zurück.  Daß  und  warum  diese  Fassung  mißlich  ist,  darüber  Husserl, 
a.  a.  0. 

^)  a.  u.  0.     S.  2G0  u.  pas». 


Krlebim  und  .seelisobe  Funktionen  usw.  341 

nur  als  einen  impliziten  Teil  der  deskriptiven  psycho- 
logischen Theorie,  und  heben  sie  keineswegs  aus  dt-m  Ganzen 
der  Psychologie  besonders  hervor.  Und  zwar  ist  die  psychologi.sche 
Theorie  von  Brentano,  Marty,  Meinong,  Hoefler,  Witasek, 
Messer  und  anderen  Forschern  dieser  Riclitung  ihrem  Grundgehalt 
nach  Erkenntnispsychologie.  insbesondere  Psycliologie  der  Vor- 
stellungen und  des  Urteils.  Wir  brauchen  uns  an  dieser  Stelle  auf 
den  Inhalt  der  einzelnen  Lehren  nicht  einzulassen;  heben  wir  aber 
einen  besonderen  Wert  an  dieser  psychologischen  Forscliungsrichtung 
heraus,  so  ist  es  der:  durch  sie  wird  eine  systematische  Theorie  der 
Erkenntnis  und  ilirer  G<>ltungsgrundlagen  möglich.  Avelche  ganz  im 
iSubjekt  und  .seinen  Erkennensweisen  verbleibt.  Nicht  transzcnden- 
talistische  Fiktionen  entscheiden  mehr  über  die  erkenntniskritischen 
Grundfragen,  sondern  klare  und  eindeutig  beantwortbare  p.sycho- 
logische  Fragestellungen.  Dies  rückt  diese  gesamte  Forschungsrich- 
tung in  die  Nähe  unserer  Friesschen  Erkenntnislehre.  Etwas  ähn- 
liches hat  auch  später  Lipps  in  seiner  Grundwi.s.sen.schaft  zu  geben 
versucht.  Und  es  ist  nun  interessant,  wie  bei  Husserl  gerade  diese 
Seite  der  Brentanoschen  Forschungsrichtung,  welche  sich  die  for- 
malen Voraussetzungen  alles  Erkennens  zum  Problem  einer  — 
psychologisclx  gedachten  —  Methode  stellt,  versclimilzt  mit  dem 
Gedanicen  der  Phänomenologie,  welcher  aus  ganz  anderen  Ausgangs- 
punkten entwickelt  wurde.  Bei  Husserl  wird  die  Phänomenologie 
zur  Grundwissenschaft  aller  möglichen  Erkenntnis;  und  da  sie  auch 
zur  Grundwissenschaft  psychologischer  Erkenntnis  wird,  also  die  Vor- 
au.ssetzung  jeder  möglichen  P.sychologie  bildet,  kann  sie  selber  nicht 
Psychologie  sein.  So  wird  sie  bei  Husserl  zur  apriorischen  Eidetik. 
Für  uns  bleibt  liier,  ohne  daß  wir  uns  auf  irgendeine  dieser  ver- 
schiedenen Möglichkeiten  festlegen,  die  Frage  bis  auf  weiteres  noch 
offen,  wie  sich  Phänomenologie  zur  deskriptiven  Tlieorie  des  Psy- 
chischen verhält^).  Und  aus  dem  gewaltigen  Gedankenwerke  Hus- 
serls  cntnelimen  wir  an  dieser  Stelle  nur  soviel,  als  wir  brauchen, 
um  unsere  eigene  Konzeption  des  Aktbegriffes  noch  weiter  klären 
zu  können. 

Akte  und   »Bewußtsein«. 

Husserl  zeigt,  daß  man  den  Akt  nicht,  wie  Brentano  das  tut, 
definieren  kann,  indem  man  ihn  auf  Vorstellungen  zurückführt  ^). 
Ebensowenig  ist  Akt,  wie  wir  ebenfalls  von  Brentano  übernommen 
haben,  als  Betätigung  des  Bewußtseins 3)  definierbar,  sofern 
nicht  der  Begriff  des  Bewußtseins  selber  eine  besondere  Klärung 
erfährt. 


^)  Vgl.  Messer,  Hu-sserls  Phänomenologie  in  ihrem  Verhältnis  7.ur  IM-eho- 
logie.     Arch.  f.  d.  ges.   I'sychol.     Bd.  22.    .<:.  II 7 ff. 
a)  Log.  Unt.    2.  Aufl.    B<i.  II.    S.  34.^>. 
3)  ft.  a.  Ü.  S.  346  ff. 


342     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Husserl  sieht  drei  Möglichkeiten  einer  Definition  des  Bewußt- 
seins: erstens  durch  die  Sphäre  des  Psychischen  überhaupt,  zweitens 
durch  seine  Beziehung  zu  Akten,  drittens  durch  die  innere  Wahr- 
nehmung. 

Die  erste  Definition  des  Bewußtseins  durch  den  Inbegriff  des 
Psychischen  überhaupt  verwirft  auch  Husserl  aus  den  verschieden- 
sten Gründen.  Ebenso  verwirft  Husserl  die  Definition  des  Bewußt- 
seins durch  die  innere  Wahrnehmung.  Die  innere  Wahrnehmung 
kann  sich  auf  Erlebnisse  richten.  Sie  ist  aber  auch  selbst  ein  Er- 
lebnis. Wollte  man  nun  den  Bewußtseinscharakter  von  Erlebnissen 
durch  sie  definieren,  so  käme  man  zur  Erklärung  dieses  Sachverhaltes 
auf  einen  unendlichen  Regreß :  um  nämlich  Aussagen  über  den  Be- 
wußtseinscharakter eines  Erlebens  zu  machen,  müßte  man  dieses 
Erleben  innerlich  wahrnehmen,  und  diese  innere  Wahrnehmung 
müßte  bewußt  sein,  d.  h.  Gegenstand  einer  inneren  Wahrnehmung 
sein,  die  ihrerseits  bewußt  sein  müßte  usw. 

Auch  der  an  anderer  Stelle  dieses  Buches^)  bereits  erwähnte 
Ausweg  von  Brentano  und  Lipps,  daß  nämlich  Erleben  und  Er- 
leben dieses  Erlebens  sich  in  einem  und  demselben  Akt  vollziehen, 
würde,  wenn  er  selbst  psychologisch  möglich  wäre,  nicht  ausreiche)!, 
um  den  Bewußtseinscharakter  als  etwas  von  den  Erlebnissen  ab- 
gelöstes und  auf  ihr  bloßes  Bemerken  bezogenes  zu  definieren. 

Mit  dieser  Feststellung  ist  aber  nichts  gegen  die  Möglichkeit 
einer  inneren  Wahrnehmung  überhaupt  ausgemacht;  diese  Möglich- 
keit ist  fälschlich  von  Natorp  bestritten  worden.  Darüber  später 
noch  einiges. 

So  bleibt  als  dritte  Möglichkeit  der  Definition  des  Bewußtseins 
bloß  die  Beziehung  desselben  zu  Akten  übrig.  In  dieser  Be- 
ziehung könnte  man  Bewußtsein  deuten  als  die  phänomenologische 
Einheit  der  Icherlebnisse.  Bisher  haben  wir  Erlebnis  definiert  als 
psychisches  Geschehen  von  unmittelbarem  Bewußtsein,  welches  sein 
Wesen  in  dieser  unmittelbaren  Bewußtseinsgegebenheit  besitzt.  Be- 
wußtsein war  uns  hierbei  eine  Form  der  Gegebenheit  überhaupt. 
Husserl  meint  nun,  in  diesem  Sinne  sei  bespielsweise  auch  die  äußere 
Wahrnehmung  ein  Erlebnis.  Das  Empfindungsmoment  der  Farbe, 
der  Akt  des  Wahrnehmens,  die  Gegenstandserscheinung  —  alles  dies 
seien  erlebte  Inhalte.  Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung  hingegen, 
obgleich  er  wahrgenommen  sei,  sei  nicht  erlebt  oder  bewußt.  Existiere 
er  nicht,  so  existiere  auch  die  Farbe  nicht.  Wohl  aber  bleibt  das 
Empfindungsmoment  der  Farbe  ebenso  wie  deren  Halluzination 
ein  Erlebnis.  Das  erscheinende  Objekt  als  solches  gehört  nicht  zum 
Erlebnis,  welches  in  dem  Erscheinen  des  Objekts  besteht. 

Mir  erscheint  diese  Ausführung  Husserls  nicht  richtig.  Wir  er- 
leben immer  etwas,  und  dieses  Etwas  ist  auch  deskriptiv  dem  Er- 
lebnis wesentlich.     Tatsächlich  wird  in  der  äußeren  Wahrnehmung 

1)  Vgl.  8.201). 


Erlebnis  und  seolische  Funktionen  usav.  343 

«in  Gegenstand  bewußt,  niclit  h^inpfindungsinonientc  und  nidit  Akto 
des  Wahrnehmens.  Die  Realität  die.ses  Uegenstande-s  im  erkenntnis- 
kritischen Sinne  ist  hierbei  nicht  im  Spiele;  Existenz  und  Wahrge- 
nommenwerden stehen  nieht  in  deskriptiver  Beziehung.  Die  Unter- 
schiede zwischen  riclitigcr  und  trügeri.scher  Wahrnehmung  gehen, 
soweit  sie  sich  auf  dieses  Richtig  und  Falsch  beziehen,  den  deskrip- 
tiven Charakter  der  Wahrnehmung  nicht  an. 

Weisen  wir  also  die  Husser Ische  Fassung  der  äußeren  Wahr- 
nehmung als  Erlebnis  zurück,  so  treffen  wir  uns  eigentlich  mit  den- 
jenigen Begriff  des  phänomenologischen  Erlebnisses,  den  er  später 
selber  entwickelt^).  Er  sagt:  Das  »Erleben <<  äu(3erer  Vorgänge  ist 
etwas  ganz  anderes  als  der  phänomenologische  Begriff  des  Erlebens. 
Ersteres  besagt  gewisse  Akte,  welche  auf  diese  Vorgänge  gerichtet 
sind.  Das,  auf  was  das  Ich  gerichtet  ist,  ist  eben  sein  Erlebnis  in 
diesem  Sinne.  Anders  liegen  die  Dinge  bei  psychischen  Erleb- 
nissen im  phänomenologischen  Sinne.  Für  sie  fällt  der  Ck-genstand 
nicht  mit  dem  Erlebnis  zusammen,  er  fällt  vielmehr  überhaupt  aus 
ihnen  heraus.  Ihr  Inhalt  ist  ihr  Inbegriff,  sofern  sie  Erlebnisse  sind; 
und  dieser  Inhalt  ist  das  Ganze  der  reellen  Bcwußtscinseinheit.  in  der 
sie  stehen.  Damit  nähert  sich  Husserl  unserem  eigenen  Standpunkt 
bis  zur  Identität. 

Akte   und   >>Ich<<. 

Die  Beziehung,  in  welcher  wir  hier  die  Erlebnisse  zum  Ich  denken, 
bildet  keinen  eigentümlichen  phänomenologischen  Befund.  Das  Ich. 
das  eigene  wie  das  fremde,  ist  ein  empirisches  Datum,  Es  ist  lediglich 
durch  die  Einheit  seiner  Inhalte  bcschreibbar.  Es  ist  die  Einheit 
<ler  Erlebnisse.  Ob  diese  Einheit  eine  beobachtbare  oder  eine  theo- 
retisch postulierte  ist,  ent.scheidet  nicht  die  Phänomenologie,  sondern 
die  Wissenschaftstheorie  des  P.sychisclven;  und  diese  Entscheidung 
haben  wir  schon  dort  getroffen*). 

Akte   und  Nichtakte. 

An  späterer  Stelle  führt  Husserl  aus:  Der  Ursprung  des  Be- 
griffes Erk'bnis  liegt  im  Gebiet  der  jjsychisehen  Akte.  Und  wenn  die 
Ausdehnung  des  Gebiets  der  psychischen  Erlebnisse  uns  zu  einem 
Erlebnisbegriff  führen  sollte,  der  auch  Niehtakte  umfaßt,  so  bleibt 
doch  die  Beziehung  auf  einen  Zusummeuliang.  der  sie  Akten  ein- 
ordnet oder  angliedert,  kurz  auf  eine  Bewußt.>*eins(Mnheit.  so  wesent- 
lich, daß  wir.  wo  dergleichen  fehlte,  von  Krleben  nicht  mehr  sprechen 
würden^).  Hierzu  ist  zu  sagen:  CJewiß  sind  Nichtakte  als  zum  Psy- 
chischen   hinzugehörig   denkbar,    ohne    daß    unserer    Definition   d«*.s 


1)  a.a.O.     S.  3;-)2ff. 

2)  Dieses  Buch  S.  l.!-'.    \'M\U. 

3)  a.  a.  ().    s.  '^a:,. 


344     GruncUinieu  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Psychischen  hinsichtlich  seiner  funktionalen  Beschaffenheit  Avider- 
sprochen  würde.  Das  nicht  gegenständlich  interpretierbare  Psy- 
chische allein  wäre  niemals  psychisches  Geschehen.  Es  ist  nur  als 
unselbständiges  Teilmoment  an  funktionalem  psychischen  Geschehen 
wirklich,  oder  es  geht  als  stoffliches,  als  »hyletisches  <<  Datum  in  die 
Materie  von  Intentionen  ein  — wie  z.  B.  Empfindungselemente  o.  dgl. 


Zur  Systematik  der  Aktklassen. 

An  früherer  Stelle  haben  wir  schon  die  Kriterien  erwähnt,  welche 
Brentano  für  Psychisches  aufgestellt  hat  ^).  Ihr  erstes  war  die  inten- 
tionale  Inexistenz  oder  die  immanente  Gegenständlichkeit;  und  wir 
haben  oft  gesagt,  die  Einteilung  der  psychischen  Phänomene  erfolge 
nach  der  BeziehungSAveise  des  Subjekts  auf  diese  Gegenständlichkeit. 
Hubs  er  1  nimmt  hierzu  völlig  die  gleiche  Stellung  ein  wie  die  vor- 
liegenden Studien:  »ob  man  Brentanos  Klassifikation  der  psychi- 
schen Phänomene  (in  drei  grundverschiedene,  sich  mannigfach  spezi- 
fizierende Arten)  für  zutreffend  erachte,  darauf  kommt  es  hier  nicht 
an.<<  Wichtig  ist  nur,  daß  es  wesentliche  spezifische  Verschieden- 
heiten der  intentionalen  Beziehung,  die  den  deskriptiven  Gattungs- 
charakter des  Aktes  ausmacht,  gibt.  >>Die  Weise,  in  der  eine  bloße 
Vorstellung  eines  Sachverhaltes  ihren  Gegenstand  meint,  ist  eine 
andere  als  die  Weise  des  Urteils,  das  den  Sachverhalt  für  Avahr  oder 
falsch  hält.  Wieder  eine  andere  ist  die  Weise  der  Vermutung  und  des 
Zweifels,  die  Weise  der  Hoffnung  oder  Furcht,  die  Weise  des  Wohl- 
gefallens und  Mißfallens,  des  Begehrens  und  Fliehens,  der  Entschei- 
dung eines  theoretischen  Zweifels  (Urteilsentscheidung),  oder  eines 
praktischen  Zweifels  (Willenseutscheidung  im  Falle  einer  abwägenden 
Wahl),  der  Bestätigung  einer  theoretischen  Meinung  (Erfüllung  einer 
Urteilsintention),  oder  einer  Willensmeinung  (Erfüllung  einer  Willens- 
intention).« Mit  dieser  Statuierung  tut  Husserl  einen  entscheiden- 
den Schritt  über  den  orthodoxen  Brentanismus  hinaus,  in  ähnlicher 
Weise,  wie  ihn  auch  schon  Meinong  in  seiner  Theorie  der  Annahmen 
tat;  vergeblich  hat  sich  Marty  zornerfüllt  gegen  diesen  Versuch 
gewendet,  welcher  allein  imstande  ist  zu  verhindern,  daß  Brentanos 
heuristisches  Prinzip  zum  Dogma  toter  abgeschlossener  Systematik 
wird.  Dennoch  liegt  auch  dieser  unabschließbaren  Heuristik  ein 
systematisches  Moment  zugrunde.  »Gewiß  sind,  wo  nicht  alle,  so 
doch  die  meisten  Akte  komplexe  Erlebnisse,  und  sehr  oft  sind  dabei 
die  Intentionen  selbst  mehrfältige.  Gemütsintentionen  bauen  sich 
auf  Vorstellungs-  und  Urteilsintentionen.  Aber  zweifellos  ist  es, 
daß  wir  bei  der  Auflösung  dieser  Komplexe  immer  auf  primitive 
intentionale  Charaktere  kommen,  die  sich  ihrem  deskriptiven  Wesen 
nach  nicht  auf  andersartige  psychische  Erlebnisse  reduzieren  lassen; 


1)  Dieses  Buch  S.  132,  139  ff. 


Erlebnis  und  seelische  Funktionen  usw.  345 

und  wieder  ist  es  zweifellos,  daß  die  Einheit  der  deskriptiven  Gattung 
Intention  (Aktcharakter)  spezifische  Verschiedenheiten  aufweist  .  .  . 
Es  gibt  wesentlich  verschiedene  Arten  und  Unterarten  der  Intention«  ^) 
»Die  intentionale  Beziehung,  rein  deskriptiv  verstanden,  als  innere 
Eigentümlichkeit  gewisser  Erlebnisse,  fassen  wir  als  Wesensbestimmt- 
heit der  psychischen  Phänomene  oder  Alvte.<< 

Akt  und  Gegenstand. 

Jedes  intentionale  Erlebnis  ist  ein  psychisches  Phänomen.  Phä- 
nomen bedeutet  erscheinender  Gegenstand.  Also  hat  jedes  inten- 
tionale Erlebnis  nicht  nur  Beziehung  auf  eine  G^egenständlichkeit, 
sondern  ist  auch  selbst  Gegenstand  intentionaler  Erlebnisse.  Diese 
Erlebnisse  können  speziell  die  des  inneren  Wahrnehmens  oder  Be- 
inerkens sein.  Es  ist  jedoch  damit  nicht  gesagt,  daß  die  innere  Wahr- 
nehmung sich  tatsächlich  auf  jedes  Erleben  erstreckt,  sondern  nur, 
daß  die  Möglichkeit  dazu  besteht.  Das  weitere  ist  Sache  der  De- 
skription. 

Erlebnisse  enthalten  nach  dem  bisher  Gesagten  immer  ein  Objekt 
oder  beziehen  sich  auf  ein  solches.  Diese  Feststellung  ist  nicht  so  zu 
verstehen,  als  wenn  zweierlei  erlebnismäßig  vorhanden  wäre:  >>es  ist 
nicht  der  Gegenstand  erlebt  und  daneben  das  intentionale  Erlebnis, 
das  sich  auf  ihn  richtet,  sondern  nur  eines  ist  präsent,  das  inten- 
tionale Erlebnis,  dessen  wesentlicher  deskriptiver  Charakter  eben  die 
bezügliche  Intention  ist.  Ist  dieses  Erlebnis  präsent,  so  ist  eo  ipso, 
das  liegt  an  seinem  eigenen  Wesen,  die  intentionale  Beziehung  auf 
einen  Gegenstand  vollzogen,  eo  ipso  ist  ein  Gegenstand  intentional 
gegenwärtig,  denn  das  Eine  und  das  Andere  besagt  genau  dasselbe^).« 
Und  zwar  ist  das  Gegebene  ein  wesentlich  Gleiches,  ob  der  vorgestellte 
Gegenstand  nun  existiert  oder  ob  er  fingiert  oder  widersimiig  ist; 
in  phänomenologischer  Hinsicht  ändert  das  nichts.  Die  Überzeugung 
von  der  Existenz  des  Vorgestellten  ist  von  besonderen  Setzungs- 
charakteren besonders  erwirkt. 

Ichvorstellung  und  Intention. 

Welche  Rolle  nimmt  in  der  intentionalen  Beziehung  das  Ich 
})hänomenologisch  ein?  Tatsächlich  erscheint  zunächst  nicht  der 
Akt,  sondern  das  Ich  und  der  Gegenstand  als  die  Beziehungspunkte 
der  Beziehung.  Das  Ich  scheint  sich  durch  den  Akt  oder  in  ihm  auf 
den  Gegenstand  zu  beziehen.  In  allen  diesen  Beziehungen  ist  das 
Ich  eine  identische  Einlieit.  Diese  ist,  wie  bemerkt,  nur  Wissenschaft s- 
theoretisch  begründbar. 

Phänomenologisch  tritt  aber  im  Akte   selber  die  Ich  Vorstellung 

1)  Log.  Unters,    2.  Aiifl     1 1.     S.  367. 

2)  a.  a.  0.  372. 


346      Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

nicht  hervor  —  obwohl  man  sie  sich  besonders  bewußt  machen  kann. 
Vielmehr  ist  die  Sache  so:  es  ist  (dem  Ich)  ein  bestimmtes  Erlebnis 
gegenwärtig,  und  der  Akt  enthält  für  die  Beschreibung  zwar  dieses 
Icli  unumgänglich  mit,  aber  das  jeweilige  Erlebnis  selbst  besteht  nicht 
in  einer  Komplexion,  welche  die  Ich  Vorstellung  als  Teilerlebnis  ent- 
hielte. Diese  vielmehr  erhalten  wir  erst  durch  objektivierende  Re- 
flexion; wird  aber  auf  sie  reflektiert,  so  wird  der  Akt,  dadurch  daß 
wir  auf  ihn  achten  und  über  ihn  urteilen,  auch  deskriptiv  verändert. 

Qualität  und  Materie  der  Intentionen. 

Bei  der  weiteren  Analyse  der  Aktnatur  von  Akten  müssen  wir  mit 
Husser  1  trennen :  den  reellen  phänomenologischen  Inhalt  eines  Aktes, 
gleich  dem  Inbegriff  der  ihn  aufbauenden  Teilerlebnisse,  und  dem 
gegenüber  den  intentionalen  Inhalt,  gleich  dem  Begriff  der  spezifischen 
Natur  des  Aktes.  An  diesem  intentionalen  Inhalt  hat  die  Analyse 
einzusetzen;  und  sie  wird  hier  drei  Momente  unterscheidend  heraus- 
heben können :  den  intentionalen  Gegenstand,  die  intentionale  Materie 
und  das  intentionale  Wesen  des  Aktes. 

Hier  interessiert  uns  für  unsere  deskriptiven  Absichten  vor- 
wiegend Materie  und  Wesen  von  Akten.  Husserl  nämlich  trifft 
hier  eine  außerordentlich  wichtige  Unterscheidung :  er  trennt  Qualität 
und  Materie  der  Intention.  Diese  sehr  schwierigen  Begriffe  kann 
man  sich  zunächst  an  einem  Beispiel  klar  machen:  die  Qualität  ist 
es,  wodurch  sich  etwa  ein  Urteil  von  anderen  intentionalen  Akten 
unterscheidet,  beispielsweise  Wünschen,  Hoffnungen  o.  dgl.  Die 
Materie  der  Urteilsintention  ist  das,  was  dieses  Urteil  von  jedem 
wesentlich  anderen  Urteil  phänomenologisch  unterscheidet. 

Also  der  Charakter  des  Aktes,  seine  Qualität,  ob  er  behauptend, 
fühlend  o.  dgl.  ist,  ist  zu  unterscheiden  von  seiner  Materie,  welche 
ihn  als  Vorstellung  dieses  Vorgestellten,  als  Urteil  dieses  Beurteilten 
kennzeichnet.  Es  ist  klar,  daß  die  gleiche  Materie  Akten  ganz  ver- 
schiedener Qualität  zukommen  kann.  Die  intentionale  Gegenständ- 
lichkeit ist  in  diesen  Fällen  identisch;  somit  ist  auch  dasjenige  an 
ihnen  identisch,  was  den  Akten  diese  gegenständliche  Beziehung  ver- 
leiht: die  Materie. 

Alle  Unterschiede  in  der  gegenständlichen  Beziehung  sind  deskrip- 
tive Unterschiede  der  intentionalen  Erlebnisse.  Jedoch  erschöpft  die 
gegenständliche  Beziehung  nicht  das  ganze  Wesen  des  Aktes;  das 
Wie  dieser  Beziehung,  die  Aktqualität,  muß  hinzutreten.  Jede 
Qualität  ist  mit  jeder  gegenständlichen  Beziehung  zu  kombinieren. 

Husserl  sagt^):  »Die  Qualität  bestimmt  nur,  ob  das  in  bestimmter 
Weise  bereits  vorstellig  Gemachte  als  Erwünschtes,  Erfragtes 
o.  dgl.  intentional  gegenwärtig  sei.  Die  Materie  muß  als  dasjenige 
im  Akte  gelten,  was  ihm  allererst  die  Beziehung  auf  ein  Gegenständ- 

1)  S.  415ff. 


Erlebnis  und  seelische  Funktionen  usw.  347 

liches  verleiht,  und  zwar  in  so  vollkommener  Bestimmtheit,  daß  da- 
durch nicht  nur  das  Gegenständliche  überhaupt,  welches  der  Akt 
meint,  sondern  auch  die  Weise,  in  der  er  es  meint,  fest  bestimmt  ist: 
nicht  nur  daß  der  Akt  seinen  Gegenstand  auffaßt,  sondern  auch  als 
was  er  ihn  auffaßt,  welche  Merkmale,  Beziehungen,  kategorialen 
Formen  er  in  sich  selbst  ihm  zumißt.«  Die  Materie  also  ist  der  die 
Qualität  fundierende  Sinn  der  gegenständlichen  Auffassung.  Gleiche 
Materien  können  niemals  eine  verschiedene  gegenständliche  Beziehung 
geben;  wohl  aber  verschiedene  Materien  eine  gleiche  gegenständliche 
Beziehung.  Die  Aktqualität  hingegen  ist  ein  abstraktes  Moment 
des  Aktes,  welches  abgelöst  von  jeder  Materie  undenkbar  ist.  Hus- 
serl  beschäftigt  sich  in  der  Folge  sehr  genau  mit  dem  logischen  Ver- 
hältnis dieser  beiden  Momente  und  sucht  es  durch  eine  Reduktion 
aller  Akte  auf  Vorstellungen  im  Sinne  Brentanos  zu  erklären,  wobei 
die  Vorstellung  hinsichtlich  ihres  intentionalen  Wesens  von  allen 
anderen  Akten  dadurch  unterschieden  ist,  daß  ihr  intentionales  Wesen 
bloße  Materie  oder  bloße  Qualität  ist,  daß  der  Unterschied  von  Qua- 
lität oder  Materie  für  Vorstellungen  nicht  besteht.  Mit  der  Unter- 
scheidung von  Akten,  welche  nicht  Vorstellungen  sind,  treten  dann 
die  qualitativ  verschiedenen  Momente  der  bezüglichen  Intentionen 
phänomenologisch  auf.  Die  Verfolgung  dieser  schwierigen  Frage 
würde  uns  an  dieser  Stelle  zu  weit  führen ;  es  genügt  uns  festzustellen, 
daß  die  genannten  beiden  Abstraktionsmomente  hinreichen,  um  eine 
deskriptive  Charakteristik  funktionaler  Vollzüge  hinsichtlich  ihrer 
Einzelheiten  zu  erlauben. 

Fügen  wir  zum  Schluß  noch  hinzu,  daß  wir  einfache  und  zusammen- 
gesetzte Akte  deskriptiv  in  uns  vorfinden.  Zusammengesetzte  Akte 
sind  solche,  welche  aus  Teilakten  zusammengesetzt  und  dennoch 
eine  Akteinheit  sind.  Die  Einlieit  des  Gegenstandes  und  die  inten- 
tionale  Beziehung  auf  diesen  konstituiert  sich  nicht  außerhalb  der 
Teilakte,  sondern  in  diesen  selbst  und  zugleich  in  der  Weise  ihrer 
Verbundenheit,  welche  den  einheitlichen  zusammengesetzten  Akt  zu- 
stande bringt.  Dieser  Typus  zusammengesetzten  Aktes  ist  bei  kom- 
plexeren Erlebnissen  und  höheren  geistigen  Vollzügen  der  in  der  Regel 
vorfindbare. 

Wir  können  hier  abbrechen,  nachdem  wir  den  Weg  deskriptiver 
und  logischer  Zergliederung  angedeutet  haben,  welchen  die  Phäno- 
menologie als  deskriptive  Theorie  der  Erlebnisse  mit  Aussicht  auf 
Erfolg  zu  beschreiten  hat.  An  mehr  als  an  dieser  Andeutung  des 
Weges,  auf  dem  dann  eine  unendliche,  kaum  erst  begonnene  Arbeit 
zu  leisten  sein  wird,  liegt  uns  an  dieser  Stelle  nicht. 

Intention  und  Apperzeption. 

Nur  zwei  kurze  Schlußbetrachtungen   Avollen  wir  dem  Gesagten 
noch  hinzufügen.    Die  erste  betrifft  die  Beziehung  dieser  deskriptiven    i 
Theorie   intentionaler  Funktionen  zu   der  bisher  in  der  Psvchologie 


348      Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

geltenden  —  und  mit  Recht  geltenden  —  Theorie  der  Apper- 
zeption. 

Es  ist  ja  von  vornherein  klar,  daß  die  intentionalen  Vollzüge 
irgendeine  Beziehung  zu  dem  haben  müssen,  was  man  in  der  bis- 
herigen Psychologie  unter  Apperzeption  verstanden  hat. "  Nun  ist 
freilich  die  strenge  Fassung  und  Fundierung  des  Apperzeptionsbegriffs 
bei  allen  Psychologen  eine  andere.  Und  demgemäß  ist  dieser  Begriff 
überall  mit  Schwierigkeiten  behaftet,  welche  aus  seiner  besonderen 
jeweiligen  theoretischen  Holle  erwachsen.  Will  man  wirklich  ver- 
suchen, das  allen  seinen  verschiedenen  Fassungen  von  Kant  und 
Herbart  bis  auf  Wundt  Gemeinsame  ungefähr  zu  bezeichnen,  so 
wird  man  sagen  müssen:  Apperzeption  ist  der  Erklärungsgrund  für 
die  Tatsache,  daß  wir  imstande  sind,  Gegenstände  in  den  Mittelpunkt 
unseres  Bewußtseins  zu  stellen  und  hier  in  ihrer  Gegenständlichkeit 
aus  ihren  Bestandteilen  synthetisch  und  in  identischer,  adäquater 
Weise  zu  erfassen.  Lassen  wir  alles  andere  unerörtert,  da  es  ja  nicht 
zu  unserer  Aufgabe  gehört,  so  erledigt  sich  das  Verhältnis  des  so 
umschriebenen  Apperzeptionsbegriffs  zu  dem  Begriff  der  Intention 
sehr  leicht.  Beide  entsprechen  einander  bis  zu  einem  gewissen  Grade; 
die  Apperzeption  erklärt  theoretisch  die  Möglichkeit  bestimmter 
tatsächlicher  intentionaler  Vollzüge.  Um  es  etwas  genauer  zu  formu- 
lieren: Apperzeption  ist  der  theoretische  Erklärungsgrund  dessen, 
was  wir  phänomenologisch  als  Intentionsqualität  setzender  und  an- 
schaulich sich  erfüllender  Akte  vorfinden.  Oder  in  der  Sprache  der 
Stumpf  sehen  Arbeit  ausgedrückt:  Apperzeption  ist  der  Erklärungs- 
grund des  synthetischen  Charakters  der  »Gebilde«^),  welche  die  auf- 
fassende Funktion  erzeugt.  Zum  Erlebnis  selber  gehört  sie  so  wenig 
wie  die    »Gebilde«. 

Hören  wir  noch  Husserl.  Er  sagt,'  »daß  die  moderne  Apper- 
zeptionslehre nicht  ausreicht«.  »Dem  phänomenologischen  Sach- 
verhalt wird  sie  nicht  gerecht,  auf  seine  Analyse  und  Beschreibung 
läßt  sie  sich  gar  nicht  ein.  Die  Unterschiede  der  Auffassung  sind  aber 
vor  allem  deskriptive  Unterschiede;  und  nur  solche  allein,  nicht 
irgend  welche  verborgenen  und  hypothetisch  angenommenen  Vor- 
gänge .  .  .  gehen  den  Erkenntniskritiker  etwas  an.  <<  Apperzeption  ist 
»der  Überschuß,  der  im  Erlebnis  selbst,  in  seinem  deskriptiven 
Inhalt  gegenüber  dem  rohen  Dasein  der  Empfindung  besteht;  es 
ist  der  Aktcharakter <<2).  Was  in  Beziehung  auf  den  Gegenstand 
vorstellende  oder  sonstige  Intention  heißt,  das  heißt,  in  Beziehung 
auf  das  Empfindungsmaterial,  dessen  Auffassung  oder  Apperzeption. 
Diese  ist  also  eine  theoretische  Begriffsbildung  an  Stelle  einer- 
deskriptiven. 


1)  a.a.O.     S.  31ff. 

2)  a.  a.  O.     S.  384. 


Erlobnib  und  seelische  Funktionen  usw.  349 

Die  Erlebbarkeit  von  Akten. 

Diese  Unterscheidung  theoretischer  und  phänomenologischer  Be- 
griffe, die  wir  hier  nicht  prinzipiell  machen,  sondern  exemplarisch, 
leitet  zu  einem  nochmaligen  Rückblick  auf  die  Frage  über:  sind  die 
Akte  als  solche  —  welche  es  sein  mögen  —  ihz'erseits  wiederum  ein 
Erlebnis?  Mit  der  Frage  ist  nicht  gemeint,  ob  sie  Gegenstand  eines 
Erlebens,  etwa  eines  Bemerkt  Werdens,  zu  werden  vermögen;  das  ist 
selbstverständlich.  Vielmehr  ist  mit  der  Frage  gemeint,  ob  der 
Aktcharakter  sein  Erlcbtwerden  wesensnotwendig  einschließt.  Noch 
Meinong  leugnete  es.  Akte  seien  >>  wahrnehmungsflüchtig  «^). 
Stumpf  vertritt  ebenfalls  die  Meinung,  daß  Funktionen  an  sich  einen 
vollen  Gegensatz  zu  allem  Erscheinenden  bilden,  was  aber  ihre  Be 
Ziehung  zu  Erscheinungen  nicht  ausschließt.  Husserl  und  die  Phäno- 
menologen  dagegen  erfassen  die  Akte  und  ihre  Teile  unmittelbar  in 
der  Ausschauung.  —  Daß  darüber  Streit  bestehen  kann,  ob  etwas 
anschaulich  zugänglich  ist  oder  erschlossen,  darf  nicht  wundernehmen ; 
schon  Stumpf  weist  darauf  hin.  Denn  auch  das  anschauliche  Er- 
fahren könnte  in  seiner  Adäquatheit  durch  irgend  etwas  beirrt  werden. 

Folgende  Überlegung  hilft  vielleicht  weiter.  Akte  nennen  Avir 
die  Abläufe,  vermittels  derer  ein  Etwas  erlebt  wird.  Dies  Etwas 
ist  nicht  objektiv,  d.  h.  unabhängig  vom  Erlebtwerden,  gegeben  — , 
sondern  nur  in  den  Weisen,  in  welchen  es  erlebt  wird.  Sein  objektives 
Korrelat  gehört  nicht  zum  Erleben  hinzu.  Dies  betont  Stumpf 
wie  Husserl 2).  Durch  die  Weise,  in  welcher  dies  Etwas  erlebt  wird, 
bestimmen  wir  nun  die  Abläufe,  vermittels  derer  es  als  ein  Etwas 
erlebt  wird.  Mithin  sind  alle  Festsetzungen  über  die  Natui'  und  die 
Komponenten  der  Aktvollzüge  sicherlich  unmittelbar  ausgehend  vom 
Gegenstandserlebnis,  von  einem  Tatbestand,  der  sich  iimerlich  wahr- 
nehmen läßt,  und  gehören  somit  zum  echten  Material  der  Phänomeno- 
logie. Aber  freilich,  sobald  wir  generelle  Formgruppen  und  Merk- 
male dieser  Tatbestände  herausheben,  abstrahieren  wir  und  bilden 
Begriffe,  vollziehen  also  Denkakte.  Aber  wir  gehen  damit  nicht  über 
Tatsachenmaterial  hinweg,  das  wir  uns  jederzeit  vergegenwärtigen 
können;  denn  wir  stellen  kein  induktives  Erklärungsgesetz  derselben 
auf,  sondern  verbleiben  im  Rahmen  des  Beschreibens.  Deskription 
aber  ist  ihrer  Natur  nach  unanschaulich.  Und  sie  ist  ja  nicht  Selbst- 
zweck, sondern  Mittel  und  Hinweis  der  Vergegenwärtigung. 

Der  klarste  Beweis,  daß  es  sich  bei  diesen  Deskriptionen  wirklich 
um  solche  erlebter  seelischer  Tatbestände  handelt,  wird  erbracht 
durch  die  experimentelle  Denkpsychologie.  Hier  haben  die  Selbst- 
beoachtungen  der  Versuchsperson  bei  der  intendierten  Erfüllung  ex- 
perimentalcr  Aufgaben  die  Versuchsleiter  sozusagen  direkt  auf  die 
Akte  und  Funktionen,  die  Achsehen  »Bewußtheiten«  und  Marbe- 
schen    >>Bewußtseinslagen«   gestoßen.      Die    Arbeiten   der    Kuelpe- 


1)  Ztschr.  f.  Psyohol.     Bd.  21.     S.  239 ff. 

2)  a.  a.  O.     S.  348,  400ff. 


350     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

schule,  Achs  usw.  sind  sachlich  ja  allgemein  bekannt;  und  so  wichtig 
ihre  Einzelresultate  sein  mögen,  auch  für  die  Phänomenologen,  so 
haben  sie  prinzipiell  über  das  phänomenologisch  auch  ohne  sie  Er- 
mittelte nicht  wesentlich  hinausgeführt.  Grundsätzlich  bedeutungs- 
voll ist  nur  ein  methodischer  Gesichtspunkt  an  ihnen:  Sie  wurden 
unternommen  mit  Methoden,  Avelche  ganz  exquisit  die  Methoden 
der  objektiven  Psychologie  sind.  Und  sie  führten  zu  Resultaten, 
welche  dem  reinen  phänomenalen  Tatbestand  näher  kommen,  als 
ihm  das  Experiment  —  wenn  man  von  der  Sinnespsychologie  ab- 
sieht —  je  zuvor  gekommen  ist.  Und  während  dies  geschah,  vollzog 
sich,  wie  schon  früher  betont,  in  der  Stellung  des  Experimentes  zu 
den  wissenschaftlichen  Zielen  selber  eine  fundamentale  Änderung. 
Vorher  war  das  Experiment  ein  Mittel  gewesen,  die  Selbstbeobachtung 
und  ihre  Subjektivitäten  auszuschalten.  Objektive  Kriterien,  Zeit, 
Maß  und  Zahl  traten  an  ihre  Stelle.  Jetzt  ist  es  das  Mittel,  die  Selbst- 
beobachtung anzuregen;  es  schafft  besondere  variierbare  Bedin- 
gungen, unter  denen  sie  fungiert.  Daß  der  Meister  der  Experimente 
alter  Richtung,  Wundt,  gegen  die  »Ausfragemethode«  protestiert, 
ist  ebenso  begreiflich,  wie  seine  Argumente  sachlich  vorbeigehen. 
Aber  daß  diese  experimentale  Richtung  im  Endziel  auf  phänomeno- 
logische Untersuchungen  hinauskommt,  beweist  ebenso  die  innere 
Notwendigkeit  phänomenologischer  Forschungstendenzen  überhaupt, 
wie  speziell,  worauf  es  uns  hier  ankommt  —  den  tatsächlichen  Er- 
lebnischarakter funktionaler  Vollzüge. 


2.  Zum  Problem  des  Wissens  von  Fremdpsychischem. 

Die  einzelnen  Ergebnisse  der  phänomenologischen  Forschung 
können  und  sollen  an  dieser  Stelle  nicht  wiedergegeben  werden. 
Soweit  sich  aus  ihnen  ein  Rückschluß  auf  die  Zukunft  dieser  Arbeits- 
weise ermöglicht,  läßt  sich  annehmen,  daß  die  Phänomenologie  ihre 
weitaus  wichtigste  Aufgabe  im  Gebiete  der  Gefühlspsychologie  er- 
füllen wird.  Hier  lagen  auch  in  ihren  bisherigen  Untersuchungen 
ihre  Hauptwerte;  ich  erinnere  an  die  Arbeiten  von  Geiger i)  und 
Schelerä). 

Ihre  reichste  Ausbeute  aber  wird  die  Phänomenologie  im  Gebiete 
der  Psychiatrie  finden.  Schon  bisher  war  ein  Teil  der  psychopatho- 
logischen  Untersuchungen  ihrer  Tendenz  nach  phänomenologisch 
gerichtet,  ohne  daß  dies  freilich  den  betreffenden  Forschern  metho- 
disch klar  geworden  wäre.  Aber  auch  tatsächlich  ist  die  Psycho- 
pathologie mehr  als  jede  andere  psychologische  Disziplin  auf  das 
reine  Erfassen  und  Beschreiben  des  krankhaften  Einzel-Erlebens  an- 


1)  Über  da>s  Bewußtsein  von  Gefühlen,  Festschr.  f.   Lipps.     Beiträge  zur 
Phänomenologie   des   ästhetischen  Genusses.      Jahrbuch  von  Husserl.     Bd.  1. 

2)  Ressentiment  und  moraUsches  Werturteil.   Leipzig  1912.    Zur  Phänomeno- 
logie und  Theorie  der  Sympathiegefühle.     Halle  1913. 


Zum  Problem  des  Wissens  von  Fremdpsychischem.  351 

gewiesen  —  wenn  man  will  eingeschränkt.  Jaspers  hat  auf  diese 
methodische  Sonderstellung  der  Psychopathologie  wiederholt  hin- 
gewiesen^). Denn  um  aus  den  bisher  üblichen,  von  theoretischen 
Beimischungen  und  vulgär-psychologischen  Begriffen  nicht  freien 
Darstellungen  der  Psychopathologie  eine  echte  deskriptive  Sympto- 
matologie zu  entwickeln,  dazu  bedarf  es  nichts  weiter  als  der  phäno- 
menologischen Einstellung.  Warum  das  so  ist  und  welchen  Nutzen 
die  Psychiatrie  davon  hat,  das  kann  an  diesem  Orte  nicht  nochmals 
ausgeführt  werden:  wir  verweisen  auf  das  in  diesem  Werke  an  vielen 
Stellen  schon  früher  Gesagte.  Jaspers  hat  diese  Fragestellung  in 
mehreren  Arbeiten  ausführlich  gewürdigt.  Er  hat  auch  in  einzelnen 
Untersuchungen  und  in  seinem  Werk  mit  Bewußtsein  Phänomeno- 
logie der  psychotischen  Symptome  getrieben;  und  seine  Unter- 
suchungen sind  trotz  mancher  Irrtümer  im  einzelnen  auf  diesem  Ge- 
biete ein  vielversprechender  Anfang. 

An  diesem  Orte,  wo  es  sich  nicht  um  den  tatsächlichen  Einzel- 
gewinn der  Forschungen,  sondern  um  ihre  Prinzipien  und  Methoden 
handelt,  ist  es  wichtiger,  zu  dem  letzten  grundsätzlichen  Problem 
der  Phänomenologie,  zu  ihrer  Methode,  Stellung  zu  nehmen. 

Soweit  es  sich  um  das  eigene  Seelenleben  handelt,  ist  die  Methode 
der  Phänomenologie  ganz  klarerweise  eine  solche  der  systematischen 
Selbstbeobachtung  und  der  abstraktiven  Zergliederung.  Über  diese 
Selbstbeobachtung  sprechen  wir  später  noch.  Sobald  es  sich  aber 
um  das  Seelenleben  überhaupt  handelt,  treten  ge^\-isse  Sch^vierig- 
keiten  auf,  welche  den  objektiven  psychologischen  Methoden  fern- 
liegen. Das  Erleben  eines  andern  ist  mir  nur  in  seinem  objektiven 
Ausdruck  gegeben,  sei  er  sprachlich  oder  gestatorisch.  Wie  ver- 
mag ich  nun  von  diesem  Ausdruck  zum  Fremderleben  selber  zu  ge- 
langen, so,  daß  dieses  nicht  als  gedachter,  sondern  als  wirklicher 
Tatbestand  mit  allen  seinen  Qualitäten  mir  zugänglich  ist  ?  Denn 
nur  dann  vermag  ich  Phänomenologie  des  fremden  Seelenlebens 
zu  treiben. 

Antwort  auf  diese  Frage  suchen  zu  geben: 

Erstens  die  alte  Analogieschlußtheorie, 

zweitens  die  Einfühlungstheorien, 

drittens  die  Theorien  des  >>Verstehens<<  als  primärer  seelischer 
Fähigkeit, 

viertens  —  unter  Zugrundelegung  besonderer  weltanschaulicher 
Fundamentalüberzeugungen  — die  Theorien  des  apriorischen 
Intuitivismus  in  ihren  verschiedenen  phänomenologischen 
Zuspitzungen  von  Bergson  bis  Husserl. 

Die  Analogieschlußtheorie  —  die  Lehre,  daß  ich  die  wahr- 
genommenen Bewegungen  anderer  nach  der  Art  meiner  eigenen 
Bewegungen  als  Handlungen   deute    und  daraus  per  analogiam  zu 


1)  Ztschr.  f.  d.  gcs.  Neuroi.  u.  Psych.    Bd.  XIV  u.  pass.   Allgemeine  Psycho- 
pathologie.   Berlin  1913. 


352     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiverf  Theorie  des  Psychischen. 

meinen  eigenen  entsprechenden  Handlungsmotiven  auf  Seelen- 
vorgänge beim  anderen  zurückschließe  —  diese  Lehre  hat  lange  ge- 
herrscht. Sie  läßt  sich  sinnentsprechend  auch  auf  die  Ausdrucks- 
psychologie übertragen.  Ich  brauche  nur  anzunehmen,  bestimmte 
mimische  Bewegungen  seien  mimisch,  d.  h.  eben  der  Ausdruck  von 
seelischen  Vorgängen,  dann  ist  mir  die  Art  dieser  seelischen  Vor- 
gänge nach  der  Analogie  der  Zuordnung  gegeben,  welche  zwischen 
meinen  eigenen  gleichartigen  Ausdrucksbewegungen  und  ihrem 
seelischen  Korrelat  besteht.  In  dieser  Weise  ist  die  Lehre  vom  Wissen 
um  fremdes  Psychisches,  soweit  es  mir  nicht  sprachlich  mitgeteilt 
wird,  bei  Wundt^),  bei  den  alten  Herbartianern^),  zuerst  wohl  von 
allen  bei  Biunde^),  und  ferner  bei  den  Biologen,  insbesondere  Dar- 
win^) gefaßt.  Clifford  und  Romanes^)  haben  sogar  versucht, 
die  Gewißheit  derartiger  Analogieschlüsse  in  der  Tierpsychologie 
besonders  zu  präzisieren. 

Diese  Lehre  wird  aber  gerade  von  seiten  der  Phänomenologen 
heftig  angegriffen.  Lipps^)  sagt  dagegen:  die  reflektionell  gedeute- 
ten Bewegungen  sind  gar  nicht  meinen  Ausdrucksbewegungen  gleich- 
artig; sie  sind  mir  in  ganz  anderer  Weise  gegeben,  als  etwas  Fremdes; 
ich  kann  daher  nicht  ohne  weiteres  wissen,  daß  diese  psychischen 
Phänomene  ein  seelisches  Erleben  ausdrücken.  Prandtl')  weist 
darauf  hin,  daß  die  eigenen  Ausdrucksbewegungen  kinästhetisch- 
motorisch,  die  Fremdbewegungen  optisch  gegeben  sind,  und  daß 
mithin  gar  kein  Analogon  vorhanden  ist,  welches  dazu  nötigte,  diese 
Fremdbewegungen  als  Ausdruck  von  Psychischem,  von  Erleben, 
von  einem  Erleben  von  meinesgleichen,  auszudeuten.  Scheler*) 
fügt  hinzu:  bei  dem  Analogieschluß  wird  die  Existenz  fremder  Iche 
schon  vorausgesetzt;  ohne  sie  ist  er  unmöglich;  mithin  kann  er  uns 
die  Existenz  des  fremden  Ichs  nicht  erst  erschließen.  Überdies  ist 
er  eine  Quaternio  terminorum:  denn  aus  gleichen  Ausdrucksbewe- 
gungen kann  immer  nur  auf  ein  gleiches,  nicht  auf  ein  fremdes  Seelen- 
leben geschlossen  werden;  ungleichartige  Ausdrucksbewegungen  aber 
ermöglichen  keinen  Analogieschluß.  Mithin  könnte  uns  der  Analogie- 
schluß z.  B.  niemals  auf  die  Beseeltheit  von  Tieren  schließen  lassen, 
deren  Ausdrucksbewegungen  den  unseren  nicht  entsprechen. 

Die  Einfühlungstheorien  hier  auch  nur  in  Kürze  abzuhandeln, 
liegt  jenseits  der  Absichten  dieses  Berichtes.     Man  weiß,    daß  die 

1)  Physiol.  Psychol.    III  pass.,  bes.  S.  294 ff.  (der  5.  Aufl.). 

2)  Herbart,  Handbuch  d.  empir.  Psychol.     S.  30ff.  u.  pass. 

3)  Biunde,  Empirische  Psychologie.     S.  166 ff. 

*)  Darwin,  Der  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen.  Man  vergleiche  hierzu 
die  auf  unser  besonderes  Problem  abzielende  Kritik  Erdmanns,  Über  Darwins 
Erklärung  pathognomischer  Erscheinungen,  Sitz.-Ber.  d.  naturforschenden  Gesell- 
schaft zu  Halle.    1873,  bes.  S.  8  u.  9. 

^)  Romanes,  Die  geistige  Entwicklung  im  Tierreich.     1885. 

6)  Psycholog.  Studien.    I.    S.  695 ff. 

')  Die  Einfühlung.     Leipzig  1910.     S.  12ff. 

8)  Sympathiegefühle  usw.     S.  llSff. 


Zum  Problem  des  Wissens  von  Fremdpsychischem.  353 

Frage  nach  der  Struktur  derselben  seit  Lotze  trotz  der  Forschungen 
von  Sterni),  Volkelt2),  Lipps^),  PrandtH)  und  vielen  anderen 
Forschern  nocli  nicht  restlos  geklärt  ist.  Einen  guten  Überblick 
über  den  Stand  dieser  Frage  vermittelt  das  Referat  Geigers^).  Im 
allgemeinen  geht  die  Tendenz  dieser  Forschungen  dahin,  den  Ein- 
fühlungsprozeß in  einen  assoziativen  Mechanismus  aufzulösen.  So 
versucht  Stern  aus  der  Einfühlung  ein  besonderes  Reproduktions- 
vermögen zu  machen,  indem  er  sie  auf  eine  Resonanz  von  Ähnlich- 
keitsassoziationen zurückbezieht.  Volkelt  versucht  den  Anteil  der 
niederen  Empfindungen  an  der  Vermittelung  der  Einfühlungs- 
erlebnisse abzugrenzen.  Neben  den  verschiedenen  Eindrücken, 
welche  der  Gegenstand  an  sich  hervorruft,  gibt  es  besondere  Organ- 
und  Leibesempfindungen,  welche  die  assoziativen  Hilfen  bei  seiner 
Auffassung  als  Ausdruck  von  Etwas  sind.  An  sie  knüpft  sich  die 
symbolische  Einfühlung  durch  Assoziation. 

Auch  Prandtl  steht  auf  dem  Boden  der  Anschauung,  Einfühlung 
lasse  sich  »auf  bekannte  Gesetze  der  Assoziation  und  Reproduktion 
zurückführen«,  sie  sei  »nichts  als  ein  Spezialfall  derselben«.  Er 
wendet  sich  gegen  die  Lehre  von  Lipps,  als  handele  es  sich  hier  um 
einen  nicht  weiter  auflöslichen  instinktiven  Nachahmungsmechanis- 
mus. Ein  solcher  könnte  niemals  zu  einer  Einfühlung  führen  in  dem 
Sinne,  daß  ich  erlebe:  der  andere  ist  so  und  so  beschaffen,  etwa 
zornig  o.  dgl.;  immer  könnte  er  jene  Beschaffenheit  nur  als  Vorgang 
in  mir  erwecken:  also  Zorn  in  mir  hervorrufen.  Vielmehr,  wenn 
man  sich  die  Einzelheiten  dieses  Nachahmungsmechanismus  recht 
verdeutlicht,  so  gelangt  man  notwendigerweise  (nach  Prandtl) 
dazu,  seine  rein  assoziative  Natur  zu  bemerken,  welche  mit  einem 
unauflöslichen  Instinkt  nichts  gemeinsam  hat.  Wenn  ich  etwas 
nachzuahmen  bereit  bin,  so  genügt  nicht  die  imitatorische  Ein- 
stellung 8)  allein:;  ich  muß  auch  wissen,  was  und  wie  ich  es  nachahmen 
will.  Beides  setzt  voraus,]  daß  bestimmte  Assoziationen  zwischen 
dem  Gegenstande  meiner  Nachahmung  und  meiner  Nachahmungs- 
bereitschaft bestehen.  Wenn  ich  z.  B.  mich  in  eine  zornige  Miene 
einfühle  und  zwar  durch  innerlich  nachahmende  Einstellung,  so  muß 
ich  schon  wissen,  jene  Miene  sei  die  Miene  des  Zornes;  hier  müssen 
schon  Assoziationen  gestiftet  sein,  für  die  kein  ursprünglicher  In- 
stinkt einen  vollwertigen  Ersatz  bietet.  Ist  es  aber  das  bloße  optische 
Bewegungsbild,  in  das  ich  mich  einfühle,  so  kann  die  Annahme, 
jene  Einfühlung  beruhe  auf  ursprünglichen  Instinkten,  niemals  er- 
klären, warum  ich  mich  denn  nicht  in  jede  beliebige  Bewegung  ein- 

1)  Einfühlung  und  Assoziation  in  der  neueren  Ästhetik.     Hamburg-Leipzig 

2)  Ztschr.  f.  Psychol.    32.    1903.     H.  I. 

3)  Psychol.  Stud.     Bd.  I  pass. 
*)  a.  a.  O. 

5)  Referat  auf  d.  III.  Kongreß  f.  experini.  Psychologie. 

6)  Groos,  Der  ästhetische  Genuß.    Gießen  1902. 

Kronfeld,  Psycliiatrische  ErkcantuLj.  o^ 


354     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

fühle,  sondern  nur  in  bestimmte,  eben  die  mimischen  Bewegungen 
belebter  Wesen.  Auch  hier  muß  ein  Wissen  um  die  Menschennatur 
des  Nachzuahmenden  schon  vorausgesetzt  werden.  Das  gleiche  gilt 
vom  Wie  meines  Nachahmens.  Woher  das  Wissen  um  die  hierbei 
benützten  Muskeln?  Dazu  muß  die  Assoziation  zwischen  dem  op- 
tischen Eindruck  der  fremden  Bewegung  und  dem  kinästhetischen 
Gegebensein  der  entsprechenden  eigenen  Bewegung  schon  gestiftet 
sein.  Und  mehr  noch:  die  Gleichheit  beider  Bewegungen  und  ihre 
Bedeutung  als  Geberde  und  das  Was  ihres  Bedeutens  muß  in  irgend- 
einem inneren  Zusammenhange  in  mir  bereits  vorhanden  und  repro- 
duktiv erweckbar  sein. 

Aus  all  diesen  Erwägungen  folgert  Prandtl  die  assoziative 
Struktur  des  Einfühlungsprozesses.  Das  Wissen  um  die  Ausdrucks- 
natur gewisser  Fremdbewegungen  und  ihre  Zusammengehörigkeit 
mit  bestimmten  Bedeutungen  werde  durch  frühe  Wahrnehmungen 
des  Kindes  erworben,  durch  die  Erkenntnis  der  Gleichheit  der  räum- 
lichen Eigenschaften,  welche  optisch  und  welche  taktil-kinästhetisch 
gegeben  werden.  Daß  hierbei  das  isolierte  Raumbild  aus  kinästhe- 
tischen Empfindungen  eine  sehr  zweifelhafte  Hypothese  ist,  wird 
nicht  beachtet.  Es  wird,  lediglich  auf  Grund  dieser  Voraussetzungen, 
ein  Wiedererkennen  des  eigenen  Gesichtes  im  fremden  durch  Ähnlich- 
keitsassoziation für  möglich  gehalten. 

Eine  Kritik  an  dieser  ganzen  Richtung,  welche  den  Einfühlungs- 
prozeß für  assoziativ  restlos  auflösbar  hält,  wird  hier  im  einzelnen 
nicht  beabsichtigt.  Für  unseren  grundsätzlichen  Zweck  genügt  es 
festzustellen,  daß  zwischen  der  Analogieschlußtheorie  und  dieser 
assoziativen  Einfühlungstheorie  ein  durchgehender  Parallelismus 
besteht;  nur  wird,  was  die  Analogieschlußtheorie  durch  eine  Reihe 
bewußter  oder  unbewußter  Schlüsse  verband,  hier  als  durch  vor- 
gebildete Ähnlichkeitsassoziationen  verknüpft  angesehen.  Ein 
Prüfstein  für  die  Brauchbarkeit  der  assoziativen  Einfühlungslehre 
und  aller  ihrer  Unklarheiten  ist  der  Streit,  welcher  noch  jetzt  über 
den  Erlebnischarakter  der  eingefühlten  psychischen  Vorgänge  be- 
steht. Die  Frage  ist,  ob  die  eingefühlten  Gefühle  aktuelle  oder  vor- 
gestellte Gefühle  sind,  welch  letzteres  Witasek^)  mit  guten  Gründen 
behauptet  hat.  Die  Polemik  Prandtls^)  hiergegen  ist  weder  glück- 
lich noch  treffend. 

Aber  dies  alles  sind  einzelne  Fragen,  welche,  mögen  sie  wichtig 
sein  oder  nicht,  die  prinzipielle  Frage  nach  der  Tragweite  der 
durch  Einfühlung  gewonnenen  Erkenntnisse  nicht  berühren. 
Das  Problem,  von  dessen  Beantwortung  die  methodische  Sicherung 
der  ganzen  Phänomenologie  abhängt,  ist  lediglich  dieses  Eine:  wie 
erfahren  wir  durch  Einfühlung,  daß  das  eingefühlte  Erleben,  so  und 
nicht  anders,  das  Erleben  eines  fremden  Ich  ist? 


1)  Ztschr.  f.  Psychol.     Bd.  25.     1909.     S.  1—50. 

2)  a.  a.  O.     S.  40ff.,  48 ff. 


Zum  Problem  des  Wissens  von  Fremd  psychischem.  355 

Bei  Fechner  findet  sieh  an  einer  Stelle  i)  die  folgende  tiefsinnige 
Betrachtung:  »Von  vornherein  ist  zu  gestehen,  die  ganze  Seelen- 
frage ist  und  bleibt  eine  Glaubensfrage;  und  wie  wir  es  anfancren  und 
wie  wir  enden  mögen,  für  nichts  werden  AA-ir  exakte  Beweise  zu  finden 
und  zu  liefern  vermögen.  Der  exakte  Beweis  ruht  auf  Erfahrung 
und  Mathematik;  aber  nur  von  der  eigenen  Seele  ist  direkte  Er- 
fahrung möglich,  und  der  Mathematik  fehlt  jeder  Ansatz,  eine  andere 
zu  beweisen. 

Es  ist  in  dieser  Hinsicht  nicht  anders  mit  der  Seele  meines  Bruders, 
meines  Vaters,  meiner  Mutter,  als  mit  Gott,  mit  jenseitigen,  mit 
irgendwelchen  Seelen.  Man  meint,  das  Dasein  von  jenen  Seelen  sei 
selbstverständlich;  es  ist  es  auch,  und  ist  doch  ganz  ebensowenio- 
exakt  erweislich,  als  von  diesen  ...  ^ 

Mein  Bruder  ist  mir  sehr  ähnlich,  und  äußert  sich  ähnlich;  ich 
glaube  deshalb  auf  das  festeste,  daß  er  beseelt  ist.  Aber  wo  fängt 
die  zum  Seelendasein  erforderliche  Ähnlichkeit  mit  mir 
an,  und  wo  hört  sie  auf?  .  .  . 

Ebensowenig  als  ein  Beweis  für  ist  ein  solcher  gegen  das  Dasein 
irgendeiner  Seele  zu  führen.  Kann  nicht  ein  Sandkörnchen,  ein 
Pünktchen  über  dem  i,  ja  gar  ein  einfaches  Atom,  oder  gar  ein  ein- 
faches Wesen  hinter  dem  Atom  beseelt  sein?  Es  steht  jedem  frei, 
seinen  Einfall  in  dieser  Hinsicht  zu  haben,  die  exakte  Wissenschaft 
kann  eben  deshalb  nichts  Bindendes  gegen  die  Seele  in  dem  Pünkt- 
chen haben,  weil  sie  für  das  Dasein  eines  Gottes  in  der  Welt  und 
einer  Seele  in  meinem  Bruder  auch  kein  bindendes  Für  hat.<< 

Unsere  Frage  ist  im  Verhältnis  zu  dieser  gleichsam  weltanschau- 
lichen Fassung  nur  eine  unwesentliche  methodische  Unterfrage,  aber 
sie  entspringt  dem  gleichen  grundsätzlichen  Geist.  Die  A^mahme 
der  Einfühlungslehren  ist  doch:  ich  erlebe  in  den  Ausdrucksbewe- 
^ungen  eines  anderen  einfülilend  sein  Erleben  unmittelbar  nach. 
Nun  soll  einmal  die  ganze  Dynamik  dieses  einfiUilenden  Nacherlebens 
als  dmchaus  geklärt  gelten.  Dann  fehlt  mir  immer  noch  eines:  der 
Rechtsgrund  für  meine  Überzeugung,  daß  ich  mit  diesem 
ganzen  Verhalten  mich  nicht  einer  Illusion  hingebe;  daß 
da  Avirklich  ein  anderes  Ich  ist,  welches  so  erlebt,  wie  ich  in  es  ein- 
fühle; daß  es  nicht  ist  wie  bei  der  ästhetischen  Einfühlung  in  totes 
Material,  welches  meine  Selkstobjektivation  erst  illusionär  belebt 
und  zum  Ausdruck  eines  inneren  Bedeutens  erhebt. 

Prandtl  hat  noch  den  Versuch  gemacht,  hier  etwas  erklären  zu 
wollen.  Er  sagt:  Zunächst  freilich  ist  jedes  Erlebnis  mein  Erlebnis- 
auch  im  eingefühlten  Erleben  bin  ich  der  Erlebende.  Während  aber 
die  große  Masse  meines  Erlebens  in  engster  Beziehung  zueinander 
und  zu  dem  gleichen  Ich  steht,  ist  das  beim  eingefühlten  Erleben 
nicht  der  Fall;  das  fällt  völlig  aus  der  Erlebensreihe  heraus.  Gewiß 
ist  das  Subjekt  auch  dieses  Erlebens  Ich  —  aber  ein  Ich.   das  an- 

1)  Über  die  Seelenfrage.     1861.     S.  17/18. 

23* 


356     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

scheinend  mit  dem  Ich  der  großen  Masse  meines  Erlebens  nicht  iden- 
tisch ist;  ein  neues  Ich  neben  dem  eigentlichen.  Wenn  aber  fest- 
steht, daß  das  Subjekt  jener  größeren  Masse  von  Akten  wirklich  Ich 
ist,  so  kann  nicht  gleichzeitig  auch  das  Subjekt  jenes  isolierten  Er- 
lebnisgrüppchens  Ich  sein;  es  ist,  wiewohl  ähnlich  dem  Ich,  doch 
nicht  wirklich  Ich;  es  ist  —  Du. 

So  Prandtl.  Aber  Lipps^),  der  sich  mit  diesem  Problem  sehr 
gequält  hat  und  es  immer  wieder  angriff,  kam  1907  in  einer  beson- 
deren Arbeit  darüber  doch  zu  einem  völligen  Resignieren. 

Zweifellos,  führt  Lipps  aus,  weiß  ich  unmittelbar  nur  von  mir. 
Rede  ich  aber  von  »meinem«  Ich,  so  setze  ich  damit  fremde  Iche  vor- 
aus. Dasjenige  Ich,  von  dem  ich  unmittelbar  weiß,  ist  nicht  mein 
oder  dieses  Ich,  sondern  schlechthin  Ich.  Mein  Ich  wird  es  erst 
durch  das  Bewußtsein  um  die  anderen  Iche. 

Die  Analogieschlußtheorie  begeht  nun  den  gleichen  Fehler  wie 
die  Lehre,  die  etwa  aus  der  ursächlichen  Bedingtheit  der  Empfin- 
dungen auf  eine  dingliche  Realität  der  Außenwelt  schließt.  Zur  Er- 
möglichung eines  solchen  Schlusses  auf  bestimmte  dingliche  Ur- 
sachen der  Empfindungen  muß  tatsächlich  die  Realität  der  Außenwelt 
generell  bereits  vorausgesetzt  sein.  Und  diese  Voraussetzung  ist 
ihrerseits  nicht  weiter  zurückführbar;  sie  ist  eine  »instinktive  Tat- 
sache«: »das  Bewußtsein  der  objektiven  Wirklichkeit  ist  einfach 
da«;  »das  Empfundene  ist  für  mein  Bewußtsein,  einfach  auf  Grund 
davon,  daß  ich  es  empfinde,  zugleich  etwas  vom  Empfundensein 
Unabhängiges  oder  unabhängig  davon  Existierendes«. 

Genau  ebenso  ist  es  mit  dem  Wissen  um  das  fremde  Ich.  Auch 
hierbei  ist  das  generelle  Bewußtsein  der  Existenz  des  Fremdichs  die 
Voraussetzung  der  Möglichkeit  jedes  bestimmten  Wissens  davon. 
Und  dies  generelle  Bewußtsein  ist  ein  »Novum,  das  man  eben  stehen 
lassen  und  anerkennen  muß«. 

Wäre  das  nicht  so  —wäre  das  Fremdich  nicht  schon  Voraussetzung 
überhaupt,  sondern  durch  irgendeinen  Erfahrungsprozeß  erst  ge- 
winnbar, —  so  würde  man  auf  folgende  psychologische  Unzuträglich- 
keit stoßen:  An  die  Wahrnehmung  fremder  Lebensäußerung  schließt 
sich  zunächst  die  Reproduktion  eigenen  Erlebens  an,  welches  mit 
einer  analogen  Äußerung  verbunden  war;  also  Erinnerung  an  eigenes 
Erleben  und  dessen  Ausdruck.  Ferner  kann  nach  dem  Gesetz  der 
Erwartung  ähnlicher  Fälle  vielleicht  die  Erwartung  in  mir  entstehen, 
jenes  Erleben  würde  wieder  eintreten,  da  sein  Ausdruck  wieder  ein- 
trat. Diese  Erwartung  würde  vergeblich  sein;  und  aus  der  Ent- 
täuschung dieser  Erwartung  würde  nun  für  mein  inneres  Erfahren 
nur  dies  Eine  folgen:  derartige  Bewegungen  kommen  also  auch  vor, 
ohne  Ausdruck  zu  sein,  ohne  daß  ich  ihre  Bedeutung  erlebe  und  das 
Erleben  kundgebe.  Mehr  aber  könnte  nicht  daraus  gefolgert  werden; 
insbesondere  nichts  über  ein  fremdes  Ich.     Erst  wenn  ich  mein  Ich 


1)  Vgl.  besonders  Psycholog.  Studien.    I.    S.  694  ff.     1907. 


Zum  Problem  des  Wissens  von  Fremdpsycliischem.  357 

als  ein  Ich,  unterschieden  von  anderen  Ichen,  schon  weiß,  erst 
dann  würde  mehr  aus  jenem  inneren  Erfahren  resultieren,  erst  dann 
nämlich  würde  ich  wissen,  was  dieses  fremde  Ich  hier  im  einzelnen  er- 
gebt hat. 

Aber  woher  habe  ich  dieses  vorausgesetzte  Wissen  um  die  Gattung 
Ich,  in  der  mein  Ich  und  das  Ich  der  anderen  zusammen  bestehen? 
»Ich  muß  hier  auf  einen  Instinkt  rekurrieren«,  sagt  Lipps. 

Diesem  Instinktwissen  entspricht  keine  Begründbarkeit  und  keine 
Einsichtigkeit.  Es  ist  als  Gewißheit  »einfach  da<<.  Solcher  Art  von 
instinktivem  Glauben  unterliegt  die  objektive  Wirklichkeit  des  sinn- 
lich Wahrgenommenen,  das  Erinnerte,  das  Fremdich.  Vertrauen  in 
die  Untrüglichkeit  dieser  Fundamente  ist  die  Voraussetzung  jeder 
Psychologie,  überhaupt  jeder  Wirklichkeitserkenntnis. 

In  dieser  Formulierung  liegt  der  Verzicht  auf  Erklärung  und  auf 
psychologische  Analyse,  der  den  Lippsschen  Versuch  kennzeichnet. 
Es  ist  hierneben  belanglos,  w'ie  Lipps  —  wenn  das  Wissen  vom 
fremden  Ich  als  gültiges  Fundament  vorausgesetzt  wird  —  nun- 
mehr den  Mechanismus  der  Einfühlung  in  Anwendung  bringt,  um 
das  Einzelerleben  dieses  Fremdichs  jeweils  zu  bestimmen:  auf  die 
prinzipielle  Frage  jedenfalls  gibt  Lipps  nur  eine  dogmatische  Antwort. 

Wo  ein  Dogma  besteht,  da  bedeutet  das  eine  wissenschaftliehe 
Vorläufigkeit,  ein  Problem  für  künftige  Forschung. 

Wird  diese  Forschung  eine  psychologische  sein?  Scheler^)  hat 
versucht,  das  Problem  in  Angriff  zu  nehmen;  aber  nicht  mit  Hilfe 
psychologischer  Untersuchungen,  sondern  einer  metaphysischen 
Hypostasierung. 

Auch  Scheler  erkennt,  daß  der  Einfühlung  ein  Zwiefaches 
mangele:  erstens  ein  Kriterium  für  richtig  und  falsch  des  Einge- 
fühlten; zweitens  der  Rechtsgrund  für  die  Annahme,  es  sei  ein  fremdes 
Ich,  in  das  Einfühlung  sich  versetzt  und  das  sie  auf  diese  Weise  erkennt . 

Die  Deutung  der  Bewegungen  als  Ausdrucksbewegungen  setzt, 
das  Avissen  wir  schon,  das  Fremdich  als  existierend  bereits  voraus. 
Auch  die  Belebtheit  des  Einfühlungsobjektes  ist  keine  Ursache 
der  Erkenntnis  seines  Ichtums.  Von  Belebtheit  sprechen,  heißt 
sich  bereits  eingefühlt  haben!  Sie  setzt  das  Fremdich  ebenfalls  vor- 
aus.    Wie  ist  das  möglich? 

Das  Ich  gibt  sich  überhaupt  nicht  erst  durch  seine  Ausdrucks- 
tätigkeit, seine  körperliche  Bindung,  sein  »Leibbewußt sein«,  seine 
besonderen  Erlebnisse  als  individuell  besonderes  Ich,  sondern  ist  es 
unabhängig  von  all  diesen  Eigenschaften.  Gleiches  an  diesen  Eigen- 
schaften kann  zu  verschiedenen  Ichen  gehören,  ohne  daß  es  an  Merk- 
malen dieser  Eigenschaften  sichtbar  ist.  Andererseits  freilich  werden 
die  Erlebnisse  nicht  konkret,  wenn  in  ihnen  nicht  das  erlebende  leb 
miterfaßt  wird. 

Scheler  hält  es  nun  für  falsch,  wenn  behauptet  wird,  zunächst 


1)  Sympathiegefühlc  usw.     S.  118—148. 


358     Grundlinien  der  Phcänomenologie  u.  deskriptiven  Tiieorie  des  Psychischen» 

sei  mir  nur  das  eigene  Ich  gegeben,  vom  fremden  Ich  hingegen  nur 
der  Körper.  Eine  solche  Behauptung  gilt  nicht  phänomenologisch, 
sondern  ist  ein  Satz  von  theoretischem  Anspruch,  fundiert  durch 
eine  anderswoher  gegebene  Grundüberzeugung  von  der  Realität 
meines  Ich-  Phänomenal  unterscheiden  sich  meine  und  deine  Er- 
lebnisse nicht  prinzipiell  voneinander;  zuweilen  ist  das  Bewußtsein 
ihres  Gegebenseins  als  meine  oder  als  deine  im  Ez^lebnis  mit  ent- 
halten; doch  braucht  das  nicht  der  Fall  zu  sein.  So  kann  mir  einer- 
seits der  Gedanke  eines  anderen  als  mein  eigener  gegeben  sein  —  bei 
Unbewußten  Reminiszenzen,  bei  allem  Traditionellen.  Andererseits 
kann  ein  eigener  psychischer  Inhalt  mir  als  der  eines  anderen  be- 
wußt werden,  z.  B.  beim  Herauslesen  eigener  Meinungen  aus  fremden. 
Endlich  kann  ein  Erlebnis  nach  Meinung  Schelers  auch  einfach  da 
sein  ohne  jede  Ichbeziehung.  Wir  werden  dieser  Behauptung 
Schelers  phänomenologisch  nach  dem  früher  Gesagten  nicht  ohne 
weiteres  zustimmen  können. 

Wie  dem  auch  sei,  die  Frage  liegt  jedenfalls  nahe,  ob  die  Ich- 
zugehörigkeit der  Erlebnisse  wirklich  etwas  Ursprüngliches  an  ihnen 
ist,  oder  nicht  vielmehr  eine  bloße  empirische  Zufälligkeit,  die  unsere 
Erkenntnis  einengt,  ein  zum  zufälligen  So  und  Hier  des  einzelnen 
Erlebnisablaufes  Gehörendes,  weil  dieser  Ablauf  an  einen  Leib  ge- 
bunden ist.  Nur  daß  ein  Ichindividuum  mitgegeben  ist  in  jedem 
Erlebnis,  dies  trifft  phänomenal  zu;  welches  dies  sei,  das  bestimmt 
sich  nicht  primär.  Scheler  geht  dieser  Konsequenz  nach:  Es  gibt 
phänomenologisch  ursprünglich  gar  kein  psychisches  Ich  und  Du. 
Es  gibt  einen  indifferenten  Strom  kontinuierlichen  seelischen  Total- 
geschehens. Er  umfaßt  das  gesamte  existierende  Reich  alles  Seeli- 
schen aller  Seelen.  Nun  ist  aber  einzelnes  seelische  Geschehen  räum- 
lich sozusagen  gebunden,  an  Bewegungsintentionen,  an  Ausdrucks- 
tendenzen, an  einen  individuellen  Leib.  Soweit  Seelisches  daher 
Erlebnis  wird,  soweit  Ich  und  Du  auftritt,  soweit  ist  dies  eine  Folge 
der  Bindung  des  Seelischen  an  Leibeszustände.  Ich  und  Du  sind 
daher  sekundäre  Abdifferenzierungen  des  seelischen  Stromes  gemäß 
seiner  Leibesgebundenheit;  und  das  Icherlebnis  und  das  Fremd- 
icherlebnis nichts  als  eine  Folge  innerer  Leibeserfahrungen.  Hier- 
nach gibt  es  also  zunächst  nur  das  unmittelbare  Erfassen  des  Seeli- 
schen überhaupt,  nicht  als  meines  oder  fremdes,  sondern  in  seinem 
reinen  phänomenalen  Gehalt;  und  seine  Zuteilung  zum  Ich  oder 
Niphtich  ist  eine  koordinierte  Folge. 

Die  Bindungen  der  psychischen  Abläufe  an  Leibzustände  sind 
aber  nicht  für  den  Gehalt  derselben  bestimmend,  sondern  nur  für 
ihr  Wahrgenommenwerdenkönnen. 

Schelers  mystische  Hypothese  einer  transpersonalen  psychischen 
Totalität,  die  als  inneres  Naturganzes  dem  äußeren  gegenübersteht, 
unterliegt  nicht  der  psychologischen  Kritik.  Aber  die  Behauptung, 
Ich  und  Du  seien  Abdifferenzierungen  aus  inneren  Leibeserfahrungen, 
schließt  eine  Diallele  ein.     Wer   ist   denn    das  Subjekt    dieser 


Zum  Problem  des  Wissens  von  Fremdpsychischem.  359 

Leibeserfahrungen?  Denn  ein  solches  muß  doch  vorausgesetzt 
werden.  In  dieser  Voraussetzung  ist  aber  die  Trennung  von  Ich  und 
Du  schon  implizite  erhalten. 

Ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  auch,  wenn  Scheler  auf  dem 
Boden  dieser  Ansicht  behauptet,  innere  Wahrnehmung  sei  nicht 
Selbstwarhnehmung,  sie  sei  nicht  durch  ein  Objekt  definiert.  Das 
eigene  Selbst  als  Objekt  sei  ja  bereits  der  äußeren  Wahrnehmung 
zugänglich.  Die  innere  Wahrnehmung  sei  nur  eine  >> Aktrichtung«, 
zu  der  zugehörige  Akte  wir  uns  selbst  und  anderen  gegenüber  voll- 
ziehen können.  Ob  in  diesen  xA.kten  fremde  oder  Icherlebnisse  reali- 
siert werden,  hänge  von  äußeren  Bedingungen  ab,  für  das  Fremd- 
ieh  z.  B.  von  den  Bedingungen  der  äußeren  Wahrnehmung  seiner 
Worte  und  Ausdrucksbewegungen.  Aber  diese  Bedingungen  be- 
stimmten nicht  das  Verstehen  dieser  äußeren  Reize  als  Ausdruck 
eines  Erlebens,  sie  lösten  den  Akt  des  Verstehens  und  die  Auswahl 
des  bestimmten  Inhaltes  nur  aus.  In  dieser  Behauptung  Schelers 
steckt  derselbe  Irrtum  wie  in  seiner  Theorie  der  Ichbildung.  Die 
>>ilichtung <<  eines  Aktes  ist  doch  definiert  durch  das  Objekt  oder 
das  potentielle  Objekt,  auf  das  sie  sich  bezieht,  das  ihr  Ziel  ist.  Es 
gibt  keinen  Sinn,  zu  sagen,  die  innere  Wahrnehmung  sei 
nicht  durch  ihr  Objekt  definiert,  und  gleichzeitig  zu  be- 
haupten, sie  sei  eine  Aktrichtung. 

Schelers  Lösungs versuch  unseres  Problems,  den  Avir  ablehnen 
müssen,  leitet  herüber  zu  der  dritten  methodischen  Gruppe :  den 
Vertretern  des  primären  Fremdverstehens  als  neuer  irredu- 
zibler  und  untrüglicher  Erkenntnisweise.  Ihre  Vertreter  sind  Dil- 
they  und  neuerdings  Jaspers^).  Besonders  der  letztere  glaubt 
mit  den  Konzeptionen  des  evidenten  Verstehens  statischer  (soll 
heißen  auf  Zustände  bezogener)  Art  und  genetischer  Art  (die  auf 
»verständliche  Zusammenhänge«  geht)  etwas  fundamental  Neues 
zu  geben.  Hierzu  ist  zu  bemerken:  diese  Konzeptionen  sind,  wie 
die  Lipps sehen,  dogmatisch,  ohne  aber  neu  zu  sein  wie  jene.  Wer 
behauptet,  ein  Verfahren  sei  eine  Erkenntnisweise,  muI3  ihren  Rechts- 
grund bezeichnen.  Was  den  Begriff  des  genetischen  Verstehens  an- 
belangt, so  ist  er  nur  als  Folge  der  Konzeption  des  Begriffs  »ver- 
ständlicher Zusammenhang«  beurteilbar.  »Verständlich«  oder  evi- 
dent kann  hierbei  eine  besondere  Qualität  des  Zusammenhanges 
oder  eine  besondere  Qualität  seiner  Erkennbarkeit  bedeuten.  Bei 
Jaspers  gehen  beide  Bedeutungen  durcheinander.  Sollte  er  mit 
verständlichem  Zusammenhang  ein  Merkmal  des  Zusammeu- 
hängens  selber  und  nicht  seiner  Erkennbarkeit  meinen,  so  würden 
ihn  die  Einwände  treffen,  welclie  den  Rickert sehen  Begriff  der 
individuellen  Notwendigkeit  zeithcher  seehscher  Ereignisse  treffen-): 
daß  nämlich  Notwendigkeit  niemals  individuell  sein  kann,  und  daß 


1)  a.  a.  O. 

2)  Vgl.  S.  194  ff.  dieses  Buches. 


360     Grandlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

ein  notwendiger  Zusammenhang  seine  Notwendigkeit  erst  erhält 
durch  sein  Eingeordnetsein  in  die  Form  des  allgemeinen  Ge- 
setzes, welches  sich  und  damit  auch  das  einzelne  Phänomen,  das 
ihm  untersteht,  über  diese  Sphäre  zufälliger  Individualität  heraus- 
hebt. Ein  solches  Gesetz  freilich  wäre  nicht  mehr  phänomenologisch; 
und  diese  Fassung  des  verständlichen  Zusammenhanges  gehörte  nicht 
in  die  Phänomenologie  hinein. 

Oder  Jaspers  meint  die  besondere  Erkenntnisweise  seelischer 
Zusammenhänge.  Dann  fehlt  erstens  jedes  Kriterium  dafür,  welche 
seelischen  Zusammenhänge  »verständlich«  erkennbar  sind,  welche 
nicht;  und  ob  diese  Erkenntnis  richtig  ist.  Und  zweitens  ist  die 
Erkenntnis  von  Zusammenliängen,  von  zeitlichen  Abfolgen,  über- 
haupt niemals  eine  anschaulich  evidente;  sondern  sie  wird  denkend 
erkannt^). 

In  dieser  letzten  Konzeption  zeigt  sich  bereits  deutlich  der  Geist 
des  intuitiven  Dogmatismus  in  der  Phänomenologie.  Dieser, 
hineingetragen  durch  den  transzendentalen  Intuitivismus  der  Philo- 
sophie, insbesondere  Bergsons  und  Losskijs^),  sowie  des  neuen 
Schellingeanismus,  feiert  seinen  Sieg  z.  B.  in  den  Arbeiten  Schelers. 
Es  sollen  hier  nicht  alle  Intuitivisten  gestreift  werden,  deren  Ein- 
dringen die  Phänomenologie  in  ihrem  bis  jetzt  entwickelten  Wissen- 
schaftscharakter gefährdet;  nur  dem  einen  Forscher  gebührt  ein 
Wort,  der  sie  mehr  als  alle  anderen  bereichert  hat  und  dennoch 
hierher  gehört:  Husserl. 

Er  ist  seiner  faktischen  Arbeitsleistung  nach  phänomenologischer, 
empirischer  Psychologe  —  methodisch  aber  vermeint  er  die  aprio- 
rische Grundwissenschaft  aller  möglichen  Disziplinen  geschaffen 
zu  haben.  Er  ist  ein  Meister  der  klaren  und  eindeutigen  Abstraktion 
—  und  vermeint  seine  Gegenstände  in  reiner  unbegrifflicher  >>eide- 
tischer«  Intuition  zu  erfassen. 

Für  ihn  ist  Phänomenologie  die  Vor-  und  Grundwissenschaft 
aller  Wissenschaften;  auch  der  Logik.  Als  Wissen  vom  Grunde 
sogar  der  logischen  Geltung  kann  sie  nicht  empirisch  sein;  daher  die 
Behauptung  ihrer  Apriorität.  Als  Vorwissenschaft  selbst  der  Logik 
kann  sie  nicht  begrifflich  sein  —  denn  das  würde  gültige  Logik  be- 
reits involvieren;  daher  die  Behauptung  ihrer  Anschaulichkeit. 
Apriorität  und  Anschaulichkeit  sind  zunächst  nur  Postulate  für  eine 
solche  Grundwissenschaft  aller  Dinge;  die  doppelte  Frage  erhebt 
sich :  Wie  vollzieht  sich  solche  apriorische  Intuition  tatsächlich,  und 
was  wird  durch  sie  erkannt?  Die  Antwort  wird  uns  auch  über  ihre 
Stellung  zur  Psychologie  aufklären. 

Husserl  sagte  noch  in  den  logischen  Untersuchungen 3) :  »Die 
reine  Phänomenologie  stellt  ein  Gebiet  neutraler  Forschungen  dar. 


1)  Vgl.  S.  142ff.  dieses  Buches. 

2)  Die  Grundlegung  des  Intuitivismus.     Halle  1908. 

3)  Logische  Untersuchungen.     Bd.  II.     S.  2. 


Zum  Problem  des  Wissens  von  Fremdpsychischem.  361 

in  welchem  verschiedene  Wissenschaften  ihre  Wurzeln  haben.  Einer- 
seits dient  sie  zur  Vorbereitung  der  Psychologie  als  empirischer 
Wissenschaft.  Sie  analysiert  und  beschreibt  die  Vorstellungs-,  Ur- 
teils-, Erkenntniserlebnisse,  die  in  der  Psychologie  ihre  genetische 
Erklärung,  ihre  Erforschung  nach  empirisch-gesetzlichen  Zusammen- 
hängen finden  sollen.  Andererseits  erschließt  sie  die  Quellen,  aus 
denen  die  Grundbegriffe  und  die  idealen  Gesetze  der  reinen  Logik 
entspringen.« 

Bisher  hat  Analyse  und  Beschreibung  der  Vorstellungs-  und  Er- 
kenntniserlebnisse immer  als  Empirie  gegolten.  Husserl  befindet 
sich  in  der  Zwangslage,  sie  für  apriorisch  ausgeben  zu  müssen,  weil 
er  zugleich  die  logischen  Grundlagen  vermittels  ihrer  untersuchen 
will  und  sonst  dem  Vorwurf  des  Psychologismus  verfiele.  Aber 
eine  solche  künstliche  Konstruktion  schützte  ihn  nicht  davor  —  wenn 
dieser  Vorwurf  überhaupt  berechtigt  wäre.  Er  ist  es  aber  gar  nicht. 
Warum  sollte  denn  die  Untersuchung  der  »Quellen«  der  Logik  nicht 
Geschäft  der  Psychologie  sein  dürfen  ?  Das  ficht  doch  die  apriorische 
Geltung  der  Quellen  gar  nicht  an. 

Husserl  zwar  erklärt  die  psychologische  Begründung  der  Logik 
für  »absurd«.  Es  sei  eine  »Unzuträglichkeit«,  »daß  Sätze,  welche 
sich  auf  die  bloße  Form  beziehen,  erschlossen  werden  sollen  aus  Sätzen 
eines  ganz  heterogenen  Gehaltes«^).  Aus  diesen  Worten  Husserls 
geht  klar  hervor,  daß  er  unter  der  Begründung  ein  »Erschließen«, 
also  ein  Beweisverfahren  versteht.  Hierzu  sagt  Nelson:  »Aller- 
dings würde  ein  solcher  Beweisversuch,  da  er  die  psychologischen 
Sätze  als  Gründe  der  logischen  in  Anspruch  nehmen  müßte,  an  der 
modalischen  Ungleichartigkeit  der  angeblichen  Prämissen  und  Schluß- 
sätze scheitern.  Damit  ist  jedoch  die  Möglichkeit  einer  psychologi- 
schen Begründung  der  logischen  Grundsätze  noch  keineswegs  aus- 
geschlossen. Grundsätze  können  nicht  bewiesen  werden,  das  liegt 
in  ihrem  Begriff;  also  ist  ein  solcher  Beweis  auch  mit  psychologischen 
Mitteln  nicht  zu  führen.  Wohl  aber  gibt  es  eine  kritische  Deduktion 
der  logischen  Grundsätze,  und  diese  ist,  da  sie  den  Grund  der  zu  be- 
gründenden Sätze  nicht  enthält,  sehr  A\'ohl  auf  psychologischem  Wege 
möglich  «2). 

Gleichviel  wie  sich  diese  Deduktion  gestalten  möge,  —  eine  Frage, 
die  uns  hier  nicht  berührt  —  so  geht  soviel  jedenfalls  aus  Nelsons 
Darlegungen  hervor,  daß  die  Apriorität  für  Husserls  phänomeno- 
logische Anschauung  erkenntniskritisch  nicht  gefordert  ist.  Und 
damit  sollte  eigentlich  Husserls  Intuition  wieder  zu  dem  werden, 
was  das  Erfassen  irgendwelcher  Gegebenlieiten  seiner  Modalität  nach 
eben  ist:  eine  Weise  des  Erfahrens.  Husserl  selbst  sagt  ja:  »Die 
Vorstellung    als    psychisches    Erlebnis,    gleicligültig    ob    sie    sinnlich 


^)  Logische  Untersuchungen.    Bd.  1(1.  Aufl.).    S.  166  u.  p.    Vgl.  hierzu  und 
lum  Folgenden  Nelson,  Über  das  sog.  Erkcnntnisproblem.     1908.     S.  128ff. 
2)  Nelson,  Erkenntnisproblem.     S.  129. 


362      Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

oder  kategorial  ist,  gehört  in  die  Sphäre  des  inneren  Sinnes.«  Und: 
»Das  Wahrnehmen  eines  wie  immer  beschaffenen  Aktes  oder  Akt- 
momentes oder  Aktkomplexes  heißt  ein  sinnliches  Wahrnehmen,  «i) 

Leider  ist  Husserl  nicht  bei  dieser  Auffassung  stehen  geblieben. 
Vielmehr  hat  er  in  seinem  letzten  großen  Werk  2)  die  Positionen  seiner 
apriorischen  »Wesensschau«  noch  zu  erweitern  und  zu  befestigen 
versucht.  Die  »eidetische  Intuition«  ist  eine  besondere  Fähigkeit, 
hinter  dem  individuellen  und  einzelnen  Gegebenen  sein  Wesen,  sein 
Eidos,  zu  erfassen.  Wer  geglaubt  hat,  dieses  Geschäft  besorge  die 
Begriffsbildung,  die  Abstraktion,  der  irrte.  Begriffe  sind  psychische 
Gebilde;  ihren  Gehalt  mit  dem  intuitiv  erfaßten  Wesen  zu  identi- 
fizieren, wäre  Psychologismus.  Wir  können  freilich  das  Wesen  einer 
Beziehung  etwa  erfassen  in  der  Einstellung  auf  ihre  begriffliche  Formu- 
lierung, oder  das  Wesen  eines  Gegenstandes  in  der  Einstellung  der 
erfahrenden  Anschauung.  Aber  diese  Einstellungen  sind  nur  der 
äußere  Anlaß  zur  Einstellung  auf  das  eidetische  Erfassen.  Diesem 
kommt  Evidenz  zu,  jenen  nicht.  Und  diese  Evidenz  ist  Rechtsgrund 
der  Geltung  des  eidetisch  Erfaßten  und  Kriterium  seiner  Wahrheit. 

Man  sieht  wohl  bereits  jetzt  die  in  dieser  Formulierung  liegende 
Garantie  dafür,  daß  irgendeine  eidetisch  gestimmte  Seele  uns  ihre 
Gesichte  als  Wahrheit  hinzunehmen  gebieten  darf,  ohne  daß  wir  uns 
wehren  können;  ein  Verfahren,  wovon  z.  B.  Scheler  einen  recht  aus- 
giebigen Gebrauch  macht  3). 

Man  sieht  ferner  wohl  auch,  daß  Phänomenologie  nun  nicht  mehr 
ein  psychologisches  Gegenstandsgebiet  abgrenzt,  sondern  eine  Me- 
thode oder  eine  Einstellung  des  Erfassens  bedeutet,  die  sich  auf  alle 
möglichen  Gebiete  anwenden  läßt,  ohne  sich  um  deren  spezielle  Be- 
arbeitungsmethoden zu  bekümmern.  So  gibt  es  neben  unserer  alten 
empirischen  Psychologie  eine  eidetische;  sie  unterscheidet  sich  von 
ihr  durch  ihre  »philosophische«  Einstellung,  im  Gegensatz  zu  der 
»natürlichen«  oder  »dogmatischen«  der  Empirie.  Diese  ist  nämlich 
deshalb  dogmatisch,  weil  sie  die  erkenntniskritischen  Fragen  zum 
Zweck  ihrer  Arbeit  als  ausgeschaltet  betrachtet,  weil  sie  unskeptisch 
und  realistisch  ist.  Es  ist,  wie  in  Schellings  Naturphilosophie,  wo 
es  heißt :  »Wenn  Ihr  behauptet,  daß  wir  eine  solche  Idee  auf  die  Natur 
nur  übertragen,  so  ist  nie  eine  Ahnung  von  dem,  was  uns  Natur  ist 
und  sein  soll,  in  Eure  Seele  gekommen.  Denn  wir  wollen  nicht,  daß 
die  Natur  mit  den  Gesetzen  unseres  Geistes  zufällig  (etwa  durch 
Vermittelung  eines  Dritten)  zusammentreffe,  sondern  daß  sie  selbst 
notwendig  und   ursprünglich   die   Gesetze  unseres  Geistes    —  nicht 


1)  a.a.O.     Bd.  IL     S.  649  ff.  (1.  Aufl.). 

2)  Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie  und  phänomenologischen  Philo- 
sophie.    1913. 

3)  Vgl.  Messer,  Arch.  f.  d.  ges.  Psychol.  Bd.  XXXII.  S.  52ff.  und  vorher 
Bd.  XXII.  S.  117  ff.  Über  die  erkenntniskritische  und  psychologische  Seite  des 
Evidenzbegriffes  vgl.  meine  Ausführungen  Arch.  f.  d.  ges.  Psvchol.  Bd.  XXIX. 
Lit.-Ber.  S.  8—20. 


Zum  i'ioblcm  des  Wissens  von  Frcmdpsychischcm.  303 

nur  ausdrücke,  sondern  selbst  realisiere,  und  daß  sie  nur  insofern 
Natur  sei  und  Natur  heiße,  als  sie  dies  täte«^). 

Welches  ist  nun  das  Besondere  dieser  Einstellung  auf  das  Wesen? 
Es  ist  eine  »phänomenologische  Reduktion«,  wie  Husserl  sagt; 
eine  Ausschaltung  und  Einklammerung  des  Wirklichkeits-  und  Gel- 
tungscharakters des  gegebenen  Mannigfaltigen  bis  auf  sein  »phäno- 
menologisches Residuum«  vor  dem  »reinen  Bewußtsein«.  Die  Er- 
forschung dieses  reinen  Bewußtseinsbestandes  in  reiiier  Intuition  — 
dies  ist  die  Aufgabe.  Die  Befreiung  des  zufälligen  Wirklichen  von 
seiner  individuellen  Zufälligkeit,  von  seinen  Realitätscharakteren, 
von  allen  Formen  meines  Beurteilens  nennt  Husserl  seine  »trans- 
zendentale Reinigung«.  Er  gibt  das  Beispiel  von  dem  wahrgenom- 
menen Apfelbaum,  der  zunächst  ein  Daseiendes  in  der  Raumwirklich- 
keit ist,  merkmalbestimmt  —  ebenso  wie  unsere  Wahrnehmung  und 
unser  Wohlgefallen  reale  psychische  Zustände  sind.  Die  transzen- 
dentale Reinigung  der  phänomenologischen  Einstellung  streicht  aus 
diesem  Gregebenen  die  gesamte  thetische  Wirklichkeit  heraus;  über- 
haupt alles  Urteilsartige  an  ihrem  Erfassen.  Übrig  bleibt  phänomeno- 
logisch »das  BaumA\ ahrgenommene «  als  Sinn  der  gereinigten  Wahr- 
nehmung mit  seinen  wesenhaften  Qualitäten  und  Zusammenhängen 
im  reinen  Bewußtseinserlebnis.  So  kann  ich  alle  intentionalen  Er- 
lebnisse »transzendental  reinigen«,  und  wie  ich  sie  dann  als  reinen 
Bewußtseinszustand,  als  den  letzthin  erfaßbaren  Erlebnisstrom 
eines  Bewußtseins  erhalte,  kann  ich  sie  phänomenologisch  be- 
schreiben. 

Es  ist  der  alte  Piatonismus  und  seine  Lehre  von  den  Ideen,  die 
hier  —  allerdings  frei  von  der  fehlerhaften  Behauptung  Piatons,  als 
handele  es  sich  hier  um  Realitäten  —  w^enigstens  als  Methode  wieder- 
kehrt. Daß  diese  phänomenologische  Methode  nur  ein  Abstraktions- 
gesichtspunkt in  einem  rein  empirischen  Arbeitsverfahren  ist,  aller- 
dings ein  neuer  und  wertvoller  Abstraktionsgesichtspunkt  —  dies 
dürfte  klar  sein.  Aber  wir  wollen  uns  jedes  —  trotz  aller  spitz- 
findigen Proteste  des  Erfinders  —  methodologisclien  Irrtums  freuen, 
wenn  er  uns  sachlich  in  so  reichem  Maße  fördert,  wie  es  Husserls 
Lehre  in  ihrer  Anwendung  getan  hat  und  tun  wird. 

Wir  brechen  hier  unsere  berichtende  Darstellung  abermals  ab. 
Sie  ergibt  uns  einen  starren  Parallelismus  der  methodischen  Mei- 
nungen, die  unvermittelt  nebeneinander  stehen  und  sich  gegenseitig 
durch  treffende  Argumente  außer  Grefecht  setzen,  ohne  daß  eine 
einzige  von  ihnen  den  Funken  in  sich  zu  tragen  scheint,  der  allen 
Schwierigkeiten  zum  Trotz  weiter  zu  leuchten  vermöchte.  Für  uns 
läßt  sich  das  Problem  der  Erkenntnis  des  fremden  Bewußtseins  nicht 
trennen  von  dem  Methodenproblem  aller  psychologischen  Erkenntnis 
überhaupt.  Mit  dem  Wissenschaftscharakter  der  Phänomenologie 
steht  derjenige  der   Psychologie  überhaupt  in  Frage.     Warum  das 


*)  Ideen  zu  einer  Philosophie  der  Natur.     ITOl 


364     GrundUnien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

so  ist,  sollen  die  folgenden  Erwägungen  zeigen;  sie  sollen  den  wissen- 
schaftlichen Anspruch  der  Phänomenologie  begründen  und  sichern 
und  dieser  Disziplin  zugleich  ihre  Stellung  im  und  zum  wissenschaft- 
lichen Ganzen  der  Psychologie  anweisen. 


3.  Erlebnis  und  Erkenntnis  (Entwicklung  des  Verhältnisses 
der  Phänomenologie  zur  psychologischen  Theorie). 

Zwei  Grundprobleme  im  Begriff  der  Phänomenologie. 

Der  bisherige  Gang  unserer  Feststellungen  war  folgender:  Wir 
gingen  aus  von  neueren  Bestrebungen,  welche  versuchten,  der  be- 
sonderen Art  der  seelischen  Bewußtseinsgegebenheiten  ohne  alle 
theoretischen  und  begrifflichen  Präsumtionen  gerecht  zu  werden; 
von  Berichten  über  die  Versuche,  welche  gemacht  wurden,  die  be- 
sonderen Erscheinungsweisen  des  Seelischen  deskriptiv  zu  erfassen. 
Wir  erörterten  den  Erlebnisbegriff  und  die  Stellung  des  erlebenden 
Ich  zu  seinem  Erleben;  sowie  die  intentionale  Struktur  alles  Er- 
lebens. Und  wir  suchten  uns  endlich  des  Weges  zu  versichern,  welcher 
uns  dieses  Erleben  zugänglich  macht,  besonders  soweit  es  sich  hierbei 
xim  ein  fremdes  Bewußtsein  handelt.  Wir  haben  diese  Bestrebungen, 
die  man  als  psychische  Phänomenologie  zusammenfaßt,  in  ihren 
Grundzügen  dargestellt,  ohne  an  ihnen  eine  grundsätzliche  Kritik 
zu  üben.  Wir  haben  es  dahin  gestellt  sein  lassen,  ob  und  wie  weit 
diese  Bestrebungen  neben  und  jenseits  der  Psychologie  oder  als 
Vorwissenschaft  derselben  berechtigt  sind.  Allein  in  unserer  bis- 
herigen Darstellung  trafen  wir  auf  ungelöste  Fragen,  soweit  es  sich 
um  die  Grundlegung  von  Art  und  Geltung  des  phänomenologischen 
Erfahrens  handelte;  diese  ungelösten  Fragen  betrafen  sowohl  den 
Charakter  und  die  Modalität  der  Phänomenologie  als  Wissenschaft 
überhaupt,  als  auch  die  Natur  des  besonderen  Wissens  von  fremden 
Ichen. 

Schon  diese  Tatsache  zwingt  uns  zu  einer  kritischen  Durchprüfung 
der  Aufgaben  und  der  methodischen  Möglichkeiten  der  Phänomeno- 
logie und  zu  einer  Bezeichnung  der  Positionen,  welche  sie  in  und 
gegenüber  der  gesamten  Psychologie  einzunehmen  hat.  Eines  ist 
ganz  sicher:  daß  die  heuristische  Aufgabe  der  Phänomenologie,  die 
^^'ir  entwickelt  haben,  nämlich  reine  und  theoretisch  unbeirrte  Be- 
schreibung der  psychischen  Tatbestände  zu  sein,  so  wie  sie  tatsächlich 
sind,  einer  grundlegenden  und  berechtigten  wissenschaftlichen  For- 
derung entspricht.  Schon  beim  Ausspruch  dieser  Forderung  aber 
entstehen  zwei  Fragen.  Von  der  Beantwortung  der  ersten  hängt 
das  Schicksal,  von  der  Beantwortung  der  zweiten  hängt  der  Wert 
der  Phänomenologie  für  die  wissenschaftliche  Psychologie  überhaupt 
ab.  Die  erste  dieser  Fragen  ist:  Wie  ist  Wissen  und  Beschreibung 
der  seelischen  Tatbestände  möglich?    Die  zweite  Frage  ist:  Wie  ver- 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  365 

hält  diese  Beschreibung  sich  zur  Wissenschaft,  zur  Erklärung,  zur 
theoretischen  Verarbeitung  des  in  ihr  Entlialtenen  ?  ' 

Die  Entstehung  dieser  beiden  Fragen  ergibt  sich  folgerichtig  aus 
dem  Satze,  durch  den  der  Begriff  der  Phänomenologie  sich  definiert. 
Spricht  man  von  seelischen  Tatbeständen  ihrem  Wesen  nach,  so 
sind  die  Probleme,  was  denn  ein  seelischer  Tatbestand  ist, 
wie  er  gegeben,  wie  er  erkennbar  und  beschreibbar  wird,  unvermeid- 
lich. Und  man  kann  nicht  sagen,  daß  die  bloße  Statuierung  des  Er- 
lebnisbcgriffes,  wie  wir  sie  vollzogen  haben,  dieses  Problem  über- 
flüssig macht.  Diese  Feststellung  ist  jedoch  kein  Einwand  gegen  den 
Erlebnisbegriff  selber;  und  es  liegt  uns  nichts  ferner  als  einen  solchen 
Einwand  zu  erheben.  Was  uns  vielmehr  am  Erlebnisbegriff  nicht 
restlos  geklärt  erscheint,  ist  die  Art  seines  Tatsächlichkeits- 
charakters  und  sein  Verhältnis  zur  psychischen  Realität  über- 
haupt. Mit  welchem  Recht,  so  könnte  man  fragen,  beansprucht  das 
seelische  Erleben  eine  besondere  Bearbeitungsweise  durch  die  Wissen- 
schaft, die  sie  von  aller  sonstigen  theoretischen  und  erklärenden 
Deutung  scheidet  und  neben  oder  vor  dieselbe  stellt?  Es  ist  der 
Begriff  der  Tatsache  im  Psychischen,  dessen  Untersuchung 
und  methodische  und  prinzipielle  Charakterisierung  uns  das  Recht 
jener  Sonderstellung  als  Erlebnisbegriffs  erst  noch  zu  erweisen  hat. 

Ähnlich  liegt  es  mit  der  Forderung  einer  Erkenntnis  und  Be- 
schreibung dieser  Tatsachen.  Das  Verhältnis  der  seelischen  Gre- 
gebenheit zu  ihrer  Bcschreibbarkeit  setzt  besondere  Weisen  der 
Abgrenzung  und  Begriffsbildung  von  Seelischem,  der  Überführung 
des  anschaulich  Evidenten  in  Unanschauliches  voraus;  und  diese 
Voraussetzung  ist  an  das  Problem  der  Erkenntnisweise  von  seelischen 
Tatbeständen,  an  die  Möglichkeit  der  Abstraktion,  an  das  Verhältnis 
der  psychologischen  Erkenntnis  zu  den  Grundformen  der  Erkenntnis 
überhaupt,  soweit  sie  auf  Psychisches  Anwendung  finden,  streng 
gebunden.  Und  unter  diesem  Gesichtspunkte  wird  auch  das  Ver- 
hältnis der  Deskription  zur  Theorie  zu  einem  Problem,  dessen  Lösung 
die  Voraussetzung  der  Möglichkeit  der  geforderten  Phänomeno- 
logie ist. 

Nicht  also  um  die  Phänomenologie,  so  wie  sie  als  wissenschaft- 
liche Disziplin  sich  unter  großen  Forschern  bisher  entwickelt  hat 
und  Ergebnisse  zeitigt,  in  Leistungen  und  Besitzstand  irgendwie 
zu  gefährden,  vielmehr  um  sie  zu  sichern  und  dadurch  fruchtbar  zu 
machen,  wird  hier  der  Versuch  unternommen,  ihre  methodische 
und  prinzipielle  Grundlegung  unter  dem  höheren  Gesichtspunkt  der 
wissenschaftliehen  Psychologie  überhaupt  durchzuführen  und  ihr 
dann  ihre  feste  Stellung  im  System  der  Psychologie  anzuweisen. 
Geschieht  das  nicht,  so  bleibt  sie  ein  uferloses  Feld  willkürlicher 
und  vereinzelter  Intuitionen,  deren  systematischer  Wert  fraglich 
bleibt,  deren  Rechtsgrund  fraglich  bleibt,  und  die  höchstens  von  dem 
Weltbilde  eines  subjektivistisclxen  Berkeleyismus  aus  eine  gewisse 
Berechtigung  finden.     Kur  auf  Grund  einer  solchen  Prüfung  ist  es 


366     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischea. 

auch  möglich,  dem  methodischen  Problem  vom  Grund  unseres  Wissens 
um  das  fremde  Ich  den  Weg  zu  einer  Lösung  anzubahnen,  oder  zum 
mindesten  die  Trüglichkeiten  dieser  Methode,  so  wie  sie  sich  uns  bis- 
her ergaben,  in  dem  systematischen  Rahmen  einer  Wissenschaft 
unschädlich  zu  machen. 


a)  Der  Begriff  der  Tatsache  im  Psychischen. 

Wir  beginnen  mit  der  Erörterung  des  ersten  der  beiden  Grund- 
probleme jeder  möglichen  Phänomenologie:  dem  Problem  der  Tat- 
sache im  Psychischen.  Und  zwar  wollen  wir  hierüber  nichts  aus- 
sagen, was  sich  etwa  auf  Grund  vorgefaßter  theoretischer  oder  metho- 
discher Meinungen  ergäbe;  wir  halten  uns  an  die  immanenten  Befunde. 

Die  Einmaligkeit  des  Pgychischen. 

Der  erste  dieser  immanenten  Befunde  ist  die  Einmaligkeit  und 
Un Wiederholbarkeit  alles  Seelischen.  Wir  haben  an  anderer  Stelle 
dieses  Buches  schon  ausführlicher  davon  gesprochen^);  und  wir 
haben  gefunden,  daß  grundsätzlich  auch  für  die  physischen  Phäno- 
mene der  gleiche  Befund  gilt.  Auch  die  letzteren  sind  im  strengen 
Sinne  unwiederholbar,  weil  bei  der  Unendlichkeit  aller  empirischen 
Bedingungen  keine  »Wiederkehr  des  gleichen  <<  wirklich  zu  werden 
vermag.  Aber  für  die  physischen  Phänomene  ist  dieser  Umstand 
nicht  von  der  Bedeutung  wie  für  die  psychischen.  Hinreichende 
und  notwendige  Bedingungen  für  den  Eintritt  einer  ganzen  Reihe 
von  solchen  physischen  Phänomenen,  und  damit  ihre  kausalen 
Wurzeln,  lassen  sich  unschwer  experimentell  und  technisch  erneuern. 
Im  Psychischen  liegen  die  Dinge  zwar  grundsätzlich  gleichartig  wie 
im  Physischen,  aber  faktisch  besteht  noch  eine  besondere  Schwierig- 
keit; es  ist,  wie  zuletzt  noch  Bergson^)  nachgewiesen  hat,  die  eine 
wesentliche  Bedingung  des  Wiedereintritts  psychischer  Phänomene 
niemals  erneuerbar:  das  ist  das  Ich  selber,  dem  sie  angehören.  Das 
Ich  des  reproduzierten  Vorganges  a^  ist  bereits  ein  anderes,  als  das 
Ich  des  originären  Vorganges  a  gewesen  ist.  Hierzu  kommt,  daß  die 
physischen  Phänomene  einer  beliebigen  Zahl  von  Subjekten  gleich- 
zeitig gegeben  sein  können,  die  psychischen  hingegen  immer  nur 
einem  einzigen  Subjekt  gegeben  sind. 

Schon  hieraus  folgt,  daß  jede,  selbst  die  einfachste  psychologische 
Einzelbeobachtung,  und  mithin  auch  die  Phänomenologie,  .  ohne 
eine  bestimmte  theoretische  Präsumtion  nicht  auszukommen  ver- 
mag: nämlich  die  Präsumtion  einer  identischen  Kontinuität  des 
Ich.  Das  Ich  muß  als  wesensgleiches  kontinuierliches  Medium  alles 
psychischen  Geschehens   schon  für  die  bloße  Beobachtung  voraus - 


1)  Vgl.  S.  192  ff.  dieses  Buches. 

2)  Bergson,  Zeit  und  Freiheit.    Kap.  IIL 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  307 

gesetzt  \verden.  Diese  Voraussetzung  ist  durch  Beobachtung  und 
phänomenologische  Analyse  niemals  erweislich;  sie  macht  ja  die 
letztere  überhaupt  erst  möglich.  Mit  dieser  theoretischen  Voraus- 
setzung allein  würde  vielmehr  die  Beobachtung,  daß  das  erlebende 
Ich  jeweils  immer  ein  anderes  ist,  als  es  war,  paralysiert  werden. 
Das  Anderssein  des  Ich  würde  dann  einen  Erklärungsgrund  fordern 
und  unschwer  finden:  als  Folge  der  Affektion  des  Ich  durch  das 
in  ihm  ablaufende  Geschehen,  als  Folge  des  Erfülltseins  des  Ich  mit 
diesem  Geschehen.  Wir  sind  diesen  Fragen  bereits  in  der  Wissen- 
schaftstheorie des  Psychischen  nachgegangen,  und  haben  sowohl 
den  apriorischen  Charakter  des  Ich  in  der  Form  des  reinen  Selbst- 
bewußtseins, als  auch  seine  rezeptive  Modifizierbarkeit  dort  be- 
gründet. 

Mithin  würde  die  Möglichkeit  einer  Wissenschaft  vom  Ich  und  dem 
in  ihm  ablaufenden  Geschehen  hierdurch  in  keiner  Weise  berührt. 
Das  eine  aber  wäre  prinzipielle  Folge  für  alle  Psychologie  aus  dieser 
Feststellung:  bloße  Phänomenologie  ist  nicht  möglich  jen- 
seits aller  Theorie;  sie  steht  vielmehr  in  einem  ganz  besonderen 
Verhältnis  zu  ihr;  sie  bereitet  sie  zwar  material  vor,  muß  aber  doch 
formal  schon  irgendwie  abhängig  von  ihr  sein,  und  sei  es  auch  nur 
von  ihren  allgemeinsten  wissenschaftstheoretischen  Prinzipien.  Wir 
wollen  diesen  Gesichtspunkt  für  die  späteren  Erörterungen  im  Auge 
behalten. 


Die  zeitliche  Kontinuität  des  Psychischen. 

Die  zweite  Besonderheit  des  Seelischen,  die  seinem  Tatsachen- 
charakter anhaftet,  ist  aus  dem  Wie  seines  Gegebenseins  für 
das  Ich  hinzuleiten.  Wenn  auch  zugegeben  werden  muß.  daß  der 
Mangel  an  Ausdehnung  nach  den  scharfsinnigen  Erörterungen  Bren- 
tanos^) als  Kriterium  des  Psychischen  wenn  nicht  verwerflich,  so 
doch  problematisch  ist,  indem  man  möglicherweise  auch  von  aus- 
dehnungsloscn  physischen  Phänomenen  zu  sprechen  berechtigt  ist, 
so  ist  doch  sicher,  daß  das  wesentliche  Merkmal  des  Psychischen  sein 
kontinuierliches  Ablaufen  in  der  Zeit  bildet.  Alles  Psychische  ist 
ein  ständiges  und  unabgegrenztes  zeitliches  Werden  und  Geschehen. 
Die  physischen  Phänomene  finden  durch  ihre  Räumlichkeit  Grenzen 
an-  und  zueinander;  das  seelische  Geschehen  hingegen  ist  nicht  durch 
sich  selbst  begrenzt,  sondern  nur  willkürlich  und  künstlich 
begrenzbar  und  aus  beliebigen  Zeitphasen  seines  Ablaufcns  heraus- 
schneidbar. 

Will  man  als  Grenzen  nicht  Zeitpunkte,  sondern  irgendein  anderes 
dem  seelischen  Geschehen  immanentes  Moment  benutzen  —  wie 
dies  jede  wissenschaftliche  Psychologie  tut  und  tun  muß  —  so  bildet 
die   Forderung   der  willkürlichen   Begrenzung   unter  einem   solchen 

1)  a.  a.  O.     S.  111  ff. 


368     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psj^obischen« 

Momente  einen  Gesichtspunkt  der  Abstraktion,  des  Absehens 
von  gewissen  Zügen,  des  Heraushebens  anderer,  kurz  der  Formung 
und  Bearbeitung  des  reinen  phänomenalen  Bestandes  im  Hinbhck 
auf  irgendein  vorausgesetztes  wissenschaftliches  Ziel.  Die  ersten 
Anfänge  aller  Wissenschaft,  Vergleichen  und  Unterscheiden,  das 
bloße  Bestimmen  selber  enthält  bereits  den  ersten  Schritt  zur  Ab- 
wendung von  der  Anschaulichkeit  zur  Begrifflichkeit  hin;  und  soll 
diese  Begrifflichkeit  Vergleichen  und  Unterscheiden  ermöglichen,  so 
ist  die  Art  der  Verallgemeinerung  des  einzelnen  Komplexen  bereits 
abhängig  von  den  allgemeinsten  Gesichtspunkten  der  Wissenschaft 
überhaupt,  nämlich  den  notwendigen  Bestandteilen  jeder  mög- 
lichen Theorie,  welche  unabhängig  von  den  Tatsachen  vorhanden 
und  wirksam  sind. 

Die  bisherigen  Betrachtungen  haben  uns  bereits  eins  gezeigt: 
wenn  Phänomenologie  möglich  ist,  so  ist  sie  das  nicht  unabhängig 
von  aller  Psychologie  und  als  Vorwissenschaft  derselben,  sondern 
nur  im  Rahmen  derselben  als  einem  systematischen  wissenschaft- 
lichen Ganzen  und  irgendwie  eingeordnet  unter  dessen  höchsten 
Prinzipien.  Noch  aber  haben  diese  Betrachtungen  nicht  gezeigt, 
ob  Phänomenologie  tatsächlich  möglich  ist  und  worauf  sie  sich 
gründet.  Die  Bearbeitung  dieser  letzteren  Frage  nun  ist  abhängig 
von  einer  genauen  Bestimmung  der  Gründe  unseres  Wissens  um 
Psychisches.  Wir  haben  bisher  zwei  einschränkende  Bedingungen 
für  den  Tatsächlichkeitscharakter  des  Psychischen  erwähnt.  Von 
ihnen  ist  hier  die  zweite  bedeutsam:  daß  nämlich  das  Wissen  vom 
Psychischen,  sofern  es  bestimmt  ist,  immer  ein  künstliches  Heraus- 
greifen von  willkürlich  begrenztem  Einzelnen  aus  dem  psychischen 
Strom  ist,  welches  sich  unter  Abstraktionsformen  vollzieht,  die  ent- 
weder ganz  willkürlich  oder  an  gewissen  allgemeinsten  Prinzipien 
orientiert  sind,  welche  hier  unerörtert  bleiben. 

Erlebnis  als  Geschehen  und  als  Bewußtseinsform. 

Indem  wir  nun  aber  weiter  zu  den  positiven  Bestimmungen  der 
seelischen  Tatsachen  fortschreiten,  finden  wir  uns  vor  dem  Faktum, 
daß  ein  Teil  der  seelischen  Phänomene  Erlebnisse  sind,  ein  an- 
derer Teil  nicht.  Und  hier  beginnt  sich  die  besondere  Stel- 
lung der  Phänomenologie  innerhalb  der  Psychologie  zum 
ersten  Male  als  sachlich  gefordert  zu  erweisen.  Es  bestehen 
hier  nämlich  zwei  Möglichkeiten:  ist  der  Erlebnischarakter  eine 
besondere  Eigenschaft  an  der  tatsächlichen  Gegebenheit  vom  Psychi- 
schen, so  wird  eben  diese  Weise  der  Gegebenheit  es  sein,  welche  den 
Gegenstand  eines  besonderen  Forschungsgebiets  auszumachen  hätte. 
Der  Erlebnischarakter  wäre  dann  eine  Modalität  von  Seelischem 
überhaupt,  die  den  einzelnen  seelischen  Abläufen  bald  in  bestimmter 
Weise  zukäme  und  bald  nicht ;  und  natürlich  würden  die  Bedingungen 
und  Qualitäten  ihres  Auftretens  das  Feld  einer  besonderen  Disziplin 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  369 

bilden.  Man  würde  zu  untersuchen  haben,  was  für  eine  besondere 
Funktion  es  denn  sei,  unter  die  Seelisches  gestellt  würde,  sobald  es 
zu  erlebtem  Seelischen  würde.  Die  zweite  Möglichkeit  wäre  die, 
daß  der  Erlebnisbegriff  nicht  eine  bestimmte  Gegebenheitsweise  von 
Seelischem  bezeichnet  und  als  Modalität  zu  ihm  hinzuträte,  aber  von 
ihm  ablöslich  sei,  ohne  die  seelischen  Abläufe  selber  objektiv  zu  tan- 
gieren; sondern  es  würde  mit  dem  Erlebnisbegriff  ein  gegenständ- 
lich besonderes  Gebiet  seelischen  Geschehens  gemeint  sein, 
welches  von  anderem  seelischen  Geschehen  seiner  wesenhaften  Struk- 
tur nach  unterschieden  ist;  etwa  wie  »Urteilen«  und  »Hassen«  Phä- 
nomene sind,  welche  verschiedenen  seelischen  Geschehensklassen 
angehören. 

Endlich  wäre  eine  Synthese  beider  Möglichkeiten  naheliegend, 
wonach  das  Erleben  als  eine  besondere  seelische  Geschehenskiaase 
zu  einem  Sondergebiet  psychologischer  Forschung  werden  könnte, 
daß  dieses  Erleben  aber  selber  bloß  eine  besondere  Art  und  Weise 
ist,  irgendein  psychisches  Geschehen  dem  Ich  in  einer  neuen  Bewußt - 
Seinsmodalität  zugängig  zu  machen.  —  Die  herrschenden  Meinungen, 
so  ungeklärt  sie  in  diesem  Punkte  sind,  haben"  fast  alle  sich  für  die 
erste  dieser  Möglichkeiten  entschieden.  Wenn  wir  diese  Entscheidung 
nachprüfen  wollen,  so  müssen  wir  zusehen,  inwiefern  denn  die  Gre- 
gebenheit als  Erlebnis  anders  ist  als  die  sonstige  Gegebenheit  von 
Psychischem. 


Der  Bewußtseinscharakter  psychischer  Tatsachen.    Der 

»innere  Sinn«. 

Wir  würden  hierbei  zunächst  auf  den  Bewußtseinsbegriff 
stoßen  als  denjenigen  Charakter  an  psychischem  Geschehen,  durch 
welchen  es  überhaupt  und  im  allerallgemeinsten  Sinn  ein  subjek- 
tives seelisches  Geschehen,  also  ein  Erleben,  wird.  Wir  begnügen 
uns  mit  dieser  Umschreibung  des  Bewußtseinscharakters,  ohne  uns 
in  eine  Erörterung  über  seine  Merkmale  einzulassen.  Wir  verweisen 
auf  die  früheren  eingehenden  Erörterungen  dieses  Buches  zu  dem 
Bewußtseinsproblem  ^),  ferner  auf  Besprechungen  der  Vieldeutigkeit 
des  Terminus  Bewußtsein,  welche  Brentano^)  und  Husserl') 
gegeben  haben,  und  bemerken,  daß  jede  Stellungnahme,  jede  Aus- 
wahl von  einer  dieser  möglichen  Bedeutungen  von  Bewußtsein  erst 
zu  erfolgen  vermag  auf  dem  Boden  bestimmter  theoretischer  Mei- 
nungen, welche  sich  aus  reiner  Beobachtung  nicht  ableiten  lassen. 
Wir  glauben  nur,  nochmals  ein  Doppeltes  hervorheben  zu  sollen: 
erstens,  daß  wir  es  für  fehlerhaft  halten,  Psychisches  durch  seineu 
Bewußtseinscharakter  zu  definieren;   wir  haben  das  ja  auch  bei  der 


1)  Vgl.  S.  164  ff.  dieses  Buches. 

2)  a.  a.  0.     S.  131  ff. 

3)  Log.  Unters.     1.  Aufl.     IL    S.  324. 

Krön  leid,  Psychiatrische  Erkenntnis.  24 


370     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

definitorischen  Abgrenzung  des  Psychischen  vermieden.  Brentano^) 
hat  vier  prinzipiell  mögliche  Wege  nachgewiesen,  um  auf  die  Realität 
unbewußter  psychischer  Vorgänge  zurückzuschließen;  und  er  ver- 
meint ausführlich  gezeigt  zu  haben,  daß  keine  dieser  vier  möglichen 
Schlußweisen  gangbar  sei.  Wir  halten  die  von  ihm  eingeschlagenen 
Gregenbe  weis  verfahren  für  durchaus  heuristisch  und  nicht  stringent. 
Wie  es  sich  aber  mit  der  Realität  von  unbewußtem  Psychischen  — 
von  der  wir  überzeugt  sind,  ohne  diese  Überzeugung  hier  nochmals 
begründen  zu  wollen  —  verhalten  mag,  soviel  ist  gewiß :  schon 
weil  über  diese  Frage  ein  Streit  besteht,  kann  Bewußtsein  kein  im 
Wesen  des  Psychischen  liegendes  analytisches  Merkmal  sein;  schon 
deshalb  muß  es  ein  synthetisches  Merkmal  sein,  das,  von  der  Natur 
des  seelischen  Geschehens  unabhängig,  als  Weise  seines  subjektiven 
Gegebenseins  zu  ihm  hinzukommt.  Daher  ist  es  zur  Definition  des 
Seelischen  ungeeignet. 

Die  zweite  Einschränkung  die  wir  von  vornherein  machen  werden, 
ist  die,  daß  wir  eine  Identität  des  Bewußtseins  mit  der  inneren  Wahr- 
nehmung leugnen.  Wir  haben  zwar  keinen  Grund,  wie  Wundt^) 
dies  tut,  die  Bedingungen  anzugeben,  unter  denen  Bewußtsein  vor- 
kommt, denn  ein  solches  Verfahren  muß  —  wie  es  auch  bei  Wundt 
tatsächlich  der  Fall  ist  —  über  die  reine  Beobachtung  hinaus  eine 
Reihe  konstruktiver  theoretischer  Präsumtionen  machen.  Unter 
diesem  Gesichtspunkt  könnte  es  nun  als  eine  leere  Definitionsfrage 
erscheinen,  ob  man  die  Tatsache  des  Bewußtseins  mit  der  inneren 
Wahrnehmung  identifiziert  oder  sie  durch  diese  erklärt.  Dem  ist 
aber  nicht  so.  Es  ist  vielmehr  eine  reine  Tatsachenfrage,  daß  ich 
in  mir  innerhalb  der  allgemeinsten  Weise  der  Bewußtseinsgegebenheit 
noch  eine  besondere  Art  der  subjektiven  Zuwendung  zu 
meinem  inneren  Geschehen  auffinde,  welche  der  Ausdruck  einer 
eigenen  inneren  Tätigkeit  oder  Tätigkeitseinstellung  ist.  Wundt 
sagt  hier  mit  Recht,  es  handelt  sich  bein  »inneren  Sinn«  um  etwas  vom 
Bewußtsein  Unterschiedenes,  nämlich  um  eine  subjektive  Tätigkeit 
innerhalb  des  Bewußtseins^).  Er  sagt  damit  nichts  anderes,  als  seit 
Locke  die  Mehrzahl  der  Psychologen  ausgesprochen  hat.  Selbst 
Herbart ^)  konnte  diesen  Tatbestand  als  solchen  nicht  leugnen, 
wenn  er  sich  auch  gegen  seine  Erklärbarkeit  durch  ein  besonderes 
Vermögen  des  inneren  Sinnes  wendet.  Es  handelt  sich  aber  für  uns 
zunächst  gar  nicht  um  die  Frage,  welcher  Art  dies  innere  Sichhin- 
wenden zum  eigenen  psychischen  Ablauf  ist;  und  wir  wollen  Bren- 
tano gern  darin  beipflichten,  daß  es  sich  nicht  um  »Beobachtung« 
nach  Analogie  des  äußeren  Beobachtens  dabei  handelt. 

Diese  Frage  ist  neben  dem  Bewußtseinsproblem  zweifellos  die 


1)  a.  a.  0.     S.  137—165. 

2)  Physiol.  Psychol.     5.  Aufl.    III.    S.  320— 325.     Ähnlich  auch  Fortlage, 
System  d.  Psychol.     I.    S.  57  ff. 

3)  a.  a.  O.     S.  326. 

4)  Handb.  d.  emp.  Psych.    S.  30.     Psych,  als  Wissenschaft.    I.    S.  68. 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  371 

schwierigste  der  ganzen  Psychologie.  Eine  ganze  Reihe  von  For- 
schern hat  gegen  die  Möghchkeit  dieser  subjektiven,  auf  das  eigene 
psychische  Greschehen  gerichteten  Tätigkeit  des  »Bemerkens«  Ein- 
wendungen erhoben.  Die  meisten  davon  sind  nur  von  komparativer 
Allgemeingültigkeit,  wenngleich  sie  prinzipiellen  Anspruch  erheben. 
Allein  Brentano,  dieser  scharfsinnige  Meister  kritischen  Denkens 
in  der  Psychologie,  hat  einen  wirklich  prinzipiellen  Einwand  gemacht. 

Schon  Kant  meinte  die  Unmöglichkeit  dieses  inneren  Sichhin- 
wendens damit  darzutun,  daß  er  in  einer  berühmt  gewordenen  Stelle^) 
darauf  hinweist,  wie  die  >>Bcobachtung  an  sich  schon  den  Zustand  des 
beobachteten  Gegenstandes  alteriert  und  verstellt«.  Comte^) 
spottete  über  folgende  »offenbare  Unmöglichkeit«:  »Das  denkende 
Individuum  kann  sich  nicht  zu  zwei  zerteilen,  von  welchen  das  eine 
nachdenkt,  während  das  andere  es  nachdenken  sieht.  Das  Organ, 
welches  beobachtet  und  das,  welches  beobachtet  wird,  sind  in  diesem 
Falle  identisch;  wie  könnte  also  die  Beobachtung  stattfinden?  Diese 
angebliche  psychologische  Methode  ist  also  schon  von  der  Wurzel 
aus  nichtig  in  ihrem  Prinzip«.  Und  neuerdings  schreibt  Külpe'): 
»Ich  kann  mein  Denken  nicht  während  des  Denkens  selbst  beob- 
achten«. 

Das  Bedenkliche  an  diesem  Einwand  ist  der  Terminus  Beobach- 
tung; das  ist  eine  bedeutungsvolle  Einengung  auf  diese  ihr  Objekt 
anschaulich  bestimmende  Form  der  Einstellung,  welche  das  innere 
Sichhinwenden  auf  die  eigenen  Abläufe  durch  diese  Bezeichnung 
erfährt.  Davon  weiter  unten  Näheres.  Im  übrigen  hat  sowohl 
Stoerring*)  als  besonders  Meyerhof ^)  nachgewisen,  daß  diese 
Bedenken  nicht  unüberwindlich  sind,  und  auch  wenn  sie  bestehen, 
die  Tatsache  jedenfalls  nicht  aus  der  Welt  zu  schaffen  ist,  daß  das 
Subjekt  einer  solchen  Einstellung  auf  seine  inneren  Vorgänge  fähig 
ist;  wobei  es  prinzipiell  unentscheidbar  und  daher  vollständig  gleich- 
gültig ist,  ob  diese  inneren  Vorgänge  hierbei  modifiziert  werden  oder 
nicht. 

Wesentlicher  ist  der  Einwand  Brentanos.  Dieser  freilich  geht 
aus  von  besonderen  theoretischen  Annahmen.  Brentano  lehrt*): 
>>Jeder  psychische  Akt  ist  bewußt;  ein  Bewußtsein  von  ihm  ist  in 
ihm  selbst  gegeben.  Jeder  auch  noch  so  einfache  psychische  Akt 
hat  darum  ein  doppeltes  Objekt,  ein  primäres  und  ein  sekundäres. 
Der  einfachste  Akt,  in  welchem  wir  hören  z.  B.,  hat  als  primäres 
Objekt  den  Ton,  als  sekundäres  Objekt  aber  sich  selbst,  das  psychi- 
sche Phänomen,  in  welchem  dieser  Ton  gehört  wird.  Von  diesem 
zweiten    Gregenstande    ist    er    in    dreifacher    Weise    ein    Bewußtsein. 


1)  Motaphya.  Anfangsgründe  der  Naturwisserif-chaft,  Einleitung. 

2)  Cours  de  philoa.  positive.    I.    S.  30  (der  2.  Aufl.). 

3)  Cötting.  gelehrt..  An/..     1907.     S.  G03. 

*)  Vorlpsg.  über  Psychopathologie.     S.  000. 

6)  Psycholog.  Tht^)rio  d.  Geistesstörungen.     S.  24 f. 

«)  a.  a.  0.     S.  202  ff. 

24« 


372     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Er  stellt  ihn  vor,  er  erkennt  und  fühlt  ihn.  Und  somit  hat  jeder, 
auch  der  einfachste  psychische  Akt  eine  vierfache  Seite,  von  welcher 
er  betrachtet  werden  kann.  Er  kann  betrachtet  werden  als  Vor- 
stellung seines  primären  Objektes,  wie  z.  B.  der  Akt,  in  welchem  ein 
Ton  empfunden  wird,  als  Hören;  er  kann  aber  auch  betrachtet  werden 
als  Vorstellung  seiner  selbst,  als  Erkenntnis  seiner  selbst  und  als 
Gefühl  seiner  selbst.  Und  in  der  Gesamtheit  dieser  vier  Beziehungen 
ist  er  Gegenstand  sowohl  seiner  Selbst  Vorstellung,  als  auch  seiner 
Selbsterkenntnis,  als  auch  sozusagen  seines  Selbstgefühles,  so  daß 
ohne  weitere  Verwickelung  und  Vervielfältigung  nicht  bloß  die  Selbst - 
Vorstellung  vorgestellt,  sondern  auch  die  Selksterkenntnis  sowohl 
vorgestellt  als  erkannt,  und  das  Selbstgefühl  sowohl  vorgestellt,  als 
erkannt,  als  gefühlt  ist.« 

Hier  haben  wir  eine  besondere  Theorie  des  Bewußtseins  um 
seelisches  Geschehen  vor  uns.  Sicherlich  vermögen  wir  an  jedem 
einzelnen  bewußten  Vorgang  rein  tatsächlich  nicht  alle  Einzel- 
vollzüge dieses  vierfachen  Aktes  wahrzunehmen,  von  dem  Brentano 
spricht.  Nach  ihm  freilich  müßte  diese  faktische  Bestätigung  der 
einzelnen  Bewußtseinskomponenten  wiederum  ein  Bewußtsein  von 
ihnen  sein  und  daher  die  gleiche  vierfache  Aktstruktur  haben.  Und 
diese  könnte  man  wiederum  nur  verifizieren,  indem  man  ihrer  ein- 
zelnen Komponenten  sich  bewußt  wird,  was  wiederum  einen  vier- 
fachen Akt  erfordert;  und  von  diesen  gälte  das  Gleiche.  So  würde- 
durch  die  Unmöglichkeit  der  Durchführung  eines  solchen  unend- 
lichen Regresses  zu  erweisen  sein,  daß  nach  Brentano  ein  voll- 
kommen deutliches  Bewußtsein  auch  nur  eines  einzelnen  psychischen 
Ablaufes  unmöglich  wäre.  Brentano  spricht  freilich  nur  von  der 
Möglichkeit  einer  eintretenden  Verwickelung  des  seelischen  Lebens; 
die  Art  aber,  wie  er  diese  kurzerhand  abschneidet,  ist  rein  willkür- 
lich, ja  diktatorisch^).  Der  Irrtum  der  Ansicht  Brentanos  über 
das  Problem  der  inneren  Wahrnehmung  liegt  darin,  daß  er  sie  in 
dieser  Konzeption  mit  dem  Bewußtsein  identifiziert  und  vorher  das 
Psychische  durch  dieses  definiert  hat.  So  entsteht  die  Forderung 
eines  unteilbaren  vierfachen  Aktes  bei  ihm.  Ich  habe  schon  an 
anderer  Stelle  2)  darauf  hingewiesen,  daß  eine  derartige  Konzeption 
nicht  nur  fiktiv,  sondern  als  Sachverhalt  sogar  psychologisch  un- 
möglich ist.  Denn  um  einen  psychischen  Ablauf  zu  erfassen,  muß 
er  als  Gegenstand  dieses  Erfassens  bereits  vorhanden  sein.  Die  Ge- 
gebenheit des  Gegenstandes  ist  die  Voraussetzung  der  Möglichkeit 
einer  auf  ihn  gerichteten  Bewußtseinsbeziehung.  Also  kann  der- 
selbe Akt,  der  das  Erfassen  des  Gegenstandes  bewirkt,  nicht  auch 
den  Gegenstand  des  Erfassens  konstituieren.  Beruht  also  nach 
Brentano  das  Bewußtsein  von  psychischem  Geschehen  auf  solchen 
erfassenden  Akten  des  Erlebens,   so  ist  der  Ablauf  des  Geschehens 


1)  Vgl.  S.  321  dieses  Buches. 

2)  Arch.  f.  d.  ges.  Psychol.    XXIX.    L.-B.  S.  15. 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  373 

und  seine  Erfassung  jeweils  ein  wesentlich  verschiedener  psychischer 
Vollzug.  Richtig  an  der  Brentanoschen  Formulierung  und  weit 
über  die  bisherige  Bestimmung  und  Formulierung  des  inneren  Sinns 
als  bloße  Beobachtung  hinausgehend  ist,  daß  die  subjektive  Zu- 
wendung des  Ich  auf  sein  Geschehen  in  mehreren  verschiedenen 
Weisen  aktartig,  als  subjektive  Tätigkeit  erfolgt. 

Wir  haben  schon  bei  der  Erörterung  des  Funktionsbegriffs  be- 
merkt, daß  jede  Zuwendung  des  Ich  zu  einem  Gegenstand,  je  nach 
der  Weise,  in  welcher  sie  sich  vollzieht,  dem  Ich  diesen  Gegenstand 
in  einer  besonderen  Weise  gibt.  Dieses  Gregebensein  ist  ein  funktio- 
nal jeweils  besonders  bestimmtes  Bewußtsein  des  Gegenstandes. 
Der  Charakter  dieses  besonders  bestimmten  Bewußtseins  ist  der 
seiner  besonderen  Intentionalität.  Intentionalität  ist  das  Charakte- 
ristikum einer  gegenständich  gerichteten  subjektiven  Tätigkeit.  Im 
Falle  des  inneren  Sichhinwendens  zum  eigenen  psychischen  Geschehen 
ist  der  Gegenstand  des  Sichhinwendens  das  psychische  Ablaufen  im 
weitesten  Sinne.  Die  intentionale  Weise  des  Sichhinwendens  kann 
eine  qualitativ  und  material  von  Fall  zu  Fall  verschiedene  und  gene- 
tisch verschieden  bedingte  sein.  Es  kann  sich  um  ein  bloßes  Auf- 
merksamkeitsphänomen handeln:  um  ein  Bemerken.  Es  kann  sich 
um  eine  assoziativ  erwirkte  Einstellung  handeln:  um  ein  Reprodu- 
zieren. Es  kann  sich  ferner  um  urteilende  und  gefühlshafte  Ein- 
stellungen handeln.  Diese  Unterscheidungen  sind  prinzipiell  nur  in 
dem  einen  Sinn  wesentlich,  ob  ihr  Gegenstand,  auf  den  sie  sich  richten, 
zeitlich  gegenwärtig  oder  bereits  vergangen  ist.  Allein  auch  das  ist 
nicht  so  wichtig,  wie  es  den  meisten  Untersuchern  dieser  nun  mehr 
metaphorisch  gemeinten  inneren  Wahrnehmung  erschien,  z.  B. 
Lipps^).  Denn  da  wir  wissen:  Psychisches  ist  uns  niemals  als  iso- 
liertes Einzelnes  und  Bestimmtes  unmittelbar  gegeben,  sondern 
stets  in  einem  Kontinuum,  so  wird  sich  nicht  leugnen  lassen,  daß  ein 
jedes  Sichhinwenden  auf  ein  Einzelnes  und  Bestimmtes  am  Psychi- 
schen etwas  von  jener  Künstlichkeit  an  sich  hat,  von  der  schon  oben 
gesprochen  wurde.  Der  Gegenstand  ist  hierbei  immer  schon  ver- 
gangen, nämlich  aus  einem  Geschehensstrom  isoliert ;  oder  genauer : 
wenn  sein  Wiederablaufen  als  Vorgang  innerlich  eingestellt  wird, 
so  verschmelzen  derartige  reproduktive  Daten  in  künstlicher  Heraus- 
hebung mit  dem  subjektiven  Effekt  der  sich  vollziehenden  Ein- 
stellung. Sind  die  sich  hinwendenden  Einstellungen  des  Subjekts 
auf  sein  inneres  Greschehen  nun  solche,  welche  dieses  seinem  Sein 
nach  rein  erfassen  und  bestimmen,  so  nennen  wir  dies  eben  innere 
Wahrnclimung.  Es  ist  nicht  ohne  weiteres  zu  entscheiden,  wieweit 
sich  hierin  anschauliche,  urteilende  und  reproduktive  Strukturen 
mischen.  Dennoch  ist  die  Frage  von  einer  gewissen  Wichtigkeit. 
Viele  Phänomenologen  glauben,  daß  von  der  Möglichkeit  eines  an- 
schaulichen Erfassens  des  seelischen  Geschehens  die  Existenz  der  gan- 


1)  a.  a.  0.     S.  49/öOf. 


374     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen, 

zen  Phänomenologie  abhängt.  Und  in  der  Tat:  wo  bliebe  der  Unter- 
schied gegenüber  allen  beliebigen  theoretischen  Konstruktionen, 
wenn  das  bloße  Erfassen  der  Tatsachen  bereits  Beurteilungen  mit 
sich  brächte  oder  in  sich  enthielte! 


Die  Anschaulichkeit  psychischer  Tatsachen. 

Man  muß  sich  jedoch  grundsätzlich  über  folgendes  klar  sein:  der 
Begriff  der  Anschaulichkeit  kann  in  der  Psychologie,  ebenso  wie  der 
Begriff  der  Wahrnehmung  natürlich  nur  im  übertragenen  Sinne 
angewendet  werden.  Fehlt  doch  im  Psychischen  die  Grundvoraus- 
setzung seines  eigentlichen  Gebrauches:  das  extensive  Nebenein- 
ander der  Teile  im  Ganzen.  Es  ist  mit  der  psychologischen  An- 
schaulichkeit bloß  gemeint,  daß  das  anschauliche  Bewußtsein  von 
Etwas  ein  unmittelbares  ist^).  Das  heißt,  es  wird  nicht  durch  einen 
besonderen  geistigen  Prozeß  als  dessen  Endglied  erzeugt;  sondern 
es  ist  dasjenige,  welches  uns  das  Ablaufen  derartiger  Prozesse  über- 
haupt im  Bewußtsein  anzeigt.  Es  ist  der  Ausgangspunkt  für  alle 
weiteren  Bewußtwerdungen,  dasjenige,  welches  zuerst  im  Bewußt- 
sein ist.  Dies  gilt  z.  B.  von  dem  Bewußtseinscharakter  aller  Quali- 
täten, die  an  Empfindungen,  Vorstellungen  usw.  auftreten.  Wendet 
sich  das  Ich  zu  diesen  hin,  so  erfüllen  sie  diesen  Intentionsvollzug 
anschaulich,  das  heißt  unmittelbar.  Mit  dem  bloßen  Aufmerksam- 
keitsphänomen vollzieht  sich  ihr  Erlebtwerden.  Hingegen  nennen 
wir  ein  Bewußtsein,  welches  erst  vermittelt  auf  Grund  besonderer 
geistiger  Prozesse  entsteht,  reflektiert.  Nunmehr  ist  die  Frage  nach 
dem  Anschaulichkeitscharakter  der  inneren  Wahrnehmung  unschwer 
zu  beantworten.  Sie  wird  soviel  Anschauliches  enthalten,  als  sich 
an  Qualitäten  in  ihren  Daten  vorfindet,  seien  diese  nun  gegenwärtig 
oder  reproduziert.  Aber  das  unanschauliche  Bewußtsein  der  übrigen 
Komponenten  der  sichhinwendenden  Einstellungen  gefährdet  den 
Tatsächlich keitscharakter  des  Erlebten  gar  nicht.  Denn  die  ur- 
teilenden Einstellungen  sind  gar  nicht  solche  über  das  Erlebnis, 
sondern  solche  über  den  Gegenstand  des  Erlebens,  und  gehören  daher 
zum  Erleben  dieses  Gegenstandes,  zu  diesem  Komplex  von  Inten- 
tionen, notwendigerweise  hinzu.  Bleibt  als  einzige  Künstlichkeit 
die  abstraktive  Zergliederung  und  Zerreißung  der  im  Erlebnis  gegen- 


1)  Dieser  Begriff  des  Anschauhchen  in  der  Psychologie  war  solange  gang 
und  gäbe,  bis  die  Achschen  Bewußtheiten  entdeckt  wurden.  Vorher  war  die 
Unmittelbarkeit  das  konstitutive  Merkmal  der  Anschaulichkeit.  Nach  der  Ach  - 
sehen  Entdeckung  läßt  sich  das  nicht  ohne  weiteres  mehr  halten.  Unsere  De- 
finition ist  eine  angesichts  dieser  Sachlage  vorläufige  Ausflucht:  anschaulich  ist 
das  Gesamtgebiet  alles  dessen,  was  in  Qualitäten  bewußt  wird.  Wir  können  hier- 
bei nicht  begründen,  warum  dies  in  einer  andern  und  einheitlichen  Weise  bewußt 
wird  als  anderes  Psychisches.  Anschauliches  Bewußtsein  ist  damit  zu  einem  Teil- 
gebiet des  unmittelbaren  Bewußtseins  geworden.  Der  andere  Teil  sind  die  Ach- 
Bchen  Bewußtheiten.  Natürlich  ist  hier  immer  nur  von  psychischen  Gegenständen 
die  Rede. 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  375 

wärtigen  Ganzheit;  diese  ist  nicht  zu  umgehen;  über  ihren  Einfluß 
auf  die  Beobachtungstreue  und  Trüglichkcit  sprechen  wir  bei  Er- 
örterung der  Beschreibung  von  seelischen  Tatsachen.  Was  endlich 
die  gofühlshaftcn  Einstellungen  des  Subjekts  bei  der  inneren  Wahr- 
nehmung anlangt,  so  sind  sie  natürlich  vorhanden  und  mitwirksara 
und  werden  in  dieser  Wirksamkeit  erst  durch  die  Beschreibung  und 
Objektivierung  unter  wissenschaftlichen  Zwecken  ausgeschaltet^). 
Wir  kommen  auch  darauf  noch  zurück. 


Noch  einmal  der  Erlebnisbegriff. 

Und  nun  sind  wir  in  der  Lage,  zu  dem  Ausgangspunkt  dieser 
ganzen  Fragestellung  zurückzukehren:  Ist  Erleben  definierbar 
durch  eine  der  hier  festgestellten  Weisen  der  Bewußtseinsgegebenheit 
vom  Seelischen,  oder  bezeichnet  es  vielmehr  ein  Sondergebiet  seeli- 
schen Geschehens  selber?     Oder  eine  Synthese  beider? 

Zunächst  ist  das  eine  rein  terminologische  Frage.  In  der  Tat 
läßt  sich  nicht  einsehen,  warum  man  nicht  den  Bewußtseinscharakter 
überhaupt  als  Erlebnisweise  des  Seelischen  bezeichnen  soll.  Wir 
haben  ja  auch  von  der  Phänomenologie  die  allgemeine  Aussage  ge- 
macht, sie  sei  eine  Beschreibung  des  seelischen  Geschehens  gemäß 
seiner  subjektiven  Gegebenheit.  Und  hierzu  würde  der  Bewußt- 
seinscharakter überhaupt  als  Kriterium  der  Gegenstände  der  Phäno- 
menologie wohl  passen. 

Es  besteht  jedoch  folgendes  Bedenken  hiergegen:  Der  Bewußt- 
seinscharakter von  Seelischem  überhaupt  ist  die  allgemeinste  Art 
und  Weise,  wie  uns  dieses  so  gegeben  ist,  daß  wir  von  ihm  wissen. 
Würden  wir  den  Gegenstand  der  Phänomenologie  nur  hierdurch  defi- 
nieren, so  würde  ihr  Gebiet  mit  dem  der  gesamten  Psychologie  zu- 
sammenfallen. Nur  insofern  wäre  ein  Unterschied,  als  der  Psycho- 
logie über  die  Phänomenologie  hinaus  das  Bereich  des  noch  Erschließ- 
baren, des  reflexionell  Bewußten,  bliebe.  Da  nun  aber  der  Bewußt- 
seinscharakter bei  allem  Psychischen  etwas  Gleichartiges  und  nur 
intensiv  Wechselndes  ist,  welches  nicht  weiter  beschrieben  werden 
kann,  und  da  auf  der  anderen  Seite  die  Bedingungen  seines  Statt- 
findens  lediglich  zu  den  erschließbaren  Gegenständen  der  Forschung 
gehören,  die  nicht  ins  Bereich  der  Phänomenologie  fallen,  so  würde 
der  Phänomenologie  als  Gegenstandsbereich  lediglich  die  Beschrei- 
bung des  Psychischen  überhaupt  (mit  Ausnahme  des  Unbewußten, 
und  daher  nicht  Beschreibbaren)  verbleiben;  und  für  die  Natur  dieses 


*)  Borg  mann,  Unters,  z.  Problem  d.  Evidenz  d.  inneren  Wahrnehmung, 
Halle  1908,  sieht,  ohne  Achtung  auf  diesen  Komplex  von  Intentionen,  das  spezi- 
fische Wesen  der  inneren  Wahrnehmung  lediglich  in  dem  thetischen,  anerkennende 
Akt,  der  durch  jene  Intentionen  fundiert  wird.  Ihm  spricht  er  folgerichtig  Evidenz 
zu,  im  Gegensatz  zu  der  an  ihn  anschließenden  prädikativen  Deutung  des  »Wahr- 
genommenen«. Wir  halten  diese  ganze  Reduktion  auf  eine  ürteilsevideuz  für 
ebenso  irrig  wie  die  ihr  zugrunde  liegende  Evideoztheorie  von  Urteilen. 


376     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Psychischen  ist  die  Tatsache  seines  subjektiven  Gegebenseins  etwas 
Letztes,  psychologisch  nicht  weiter  Untersuchbares  und  daher  Wesen- 
loses. Hiernach  würde  der  Phänomenologie  in  diesem  Sinne  das 
Psychische  als  Gegenstand  verbleiben,  welches  bewußt  ist,  ohne 
daß  dieses  Bewußtsein  seinerseits  von  ihr  erforschbar  wäre.  Und 
dadurch  würde  die  Ansicht,  wonach  Phänomenologie  eine  bestimmte 
Ge gab enheits weise  des  Seelischen  zum  Problem  habe,  plötzlich 
ersetzt  sein  durch  diejenige,  wonach  sie  ein  bestimmtes  Gegen  st  and  s- 
gebiet  zu  bearbeiten  habe,  nämlich  das  Psychische  als  Gegenstand 
der  Beschreibung,  wobei  aber  die  Abgrenzung  dieses  Psychischen 
nach  einem  für  diese  Beschreibung  irrelevanten  Merkmal  erfolgt; 
nämlich  darnach,  daß  es  für  ein  Bewußtsein  gegeben  ist.  Phäno- 
menologie wäre  deskriptive  psychologische  Ontologie.  Ein  Erlebnis- 
begriff, der  zum  Kriterium  den  Bewußtseinscharakter  überhaupt  hat, 
ist  überflüssig.  —  Bereits  hierin  zeigt  sich,  daß  jene  Synthese  der 
Gesichtspunkte,  durch  die  das  Erlebnisgebiet  begrenzt  werden  soll, 
die  aussichtsreichste  Lösung  darbietet. 

Zunächst  würde  sich  hier  die  Möglichkeit  einer  etwas  engeren 
Begrenzung  des  Erlebnisbegriffs  anschließen.  Wir  brauchen  ihn 
nämlich  nicht  durch  die  Bewußtseinsgegebenheit  schlechthin  zu  de- 
finieren, sondern  durch  jene  besonderen  Weisen  der  Bewußtseins- 
gegebenlieit,  welche  von  den  sichhinwendenden  Einstellungen  des 
Subjekts  auf  seine  inneren  Vorgänge  bewirkt  werden.  Erleben  wäre 
dann  identisch  mit  dem  Vollzuge  inneren  Sichrichtens  auf 
das  Geschehen  im  eigenen  Subjekt.  Auch  diese  Definition 
würde  an  sich  auf  unseren  Vorbegriff  der  Phänomenologie,  Beschrei- 
bung des  subjektiven  Seins  von  Seelischem  zu  sein,  durchaus  passen. 
Allein  die  Weisen  des  Sichrichtens  sind  prinzipiell  von  generischer 
Gleichartigkeit,  auch  wenn  ihr  Gegenstand  wechselt;  auch  wenn  seine 
Sphäre  wechselt,  wenn  es  sich  nicht  mehr  um  innere,  sondern  um 
äußere  Gegenstände  handelt.  In  diesem  Sinn  kann  ich  eine  Land- 
schaft oder  ein  Eisenbahnunglück  genau  so  »erleben«,  wie  eine  Trauer 
oder  einen  Entschluß.  Dasjenige  Kriterium,  welches  bei  dieser 
zweiten  Definition  den  Erlebnisbegriff  näher  bestimmt,  wäre  also 
nicht  das  Sichhinwenden,  die  innere  Einstellung,  sondern  der  Gegen- 
stand, nämlich  das  psychische  Geschehen,  auf  welches  sie  sich  richtet. 
Im  Wesen  der  intentionalen  Einstellung  selber  liegt  zu  dieser  gegen- 
ständlichen Einschränkung  kein  prinzipieller  Grund  vor^). 

Auch  diese  Definition,  die  von  einer  besonderen  Weise  der  seeli- 
schen Gegebenheit  ausging,  schlägt  mithin  in  eine  solche  um,  deren 
einschränkendes  Kriterium  ein  Gegenstandsgebiet  wird. 

So  ist  es  in  der  Tat :  die  allein  brauchbare  Definition  des  Erlebnis- 
gebietes entspringt  aus  einer  Synthese  des  Gesichtspunktes,  wonach 


1)  Husserl,  welcher  jenes  äußere  »Erleben«  ebenfalls  aus  dem  Gebiete 
der  Phänomenologie  auszuschalten  wünscht,  weiß  seinerseits  hier  auch  kein 
anderes  Trennungsmerkmal  als  eben  dies  gegenständliche.  Log.  Unters.  2.  Aufl. 
II.    S.  352  ff. 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  377 

Erlebnis  ein  Gegenstandsgebiet  innerhalb  des  Psychischen  ist,  mit 
demjenigen,  wonach  es  eine  besondere  Weise  des  Bewußtseins  um 
Psychisches  ist.  Beide  Gesichtspunkte  schließen  sich  ja  keineswegs 
aus:  das  Bewußtsein  eines  psychischen  Geschehens  kann  seinen  ver- 
schiedenen intentionalen  Weisen  nach  wiederum  auf  verschiedenen 
Arten  besonderen  seelischen  Geschehens  beruhen.  Hiervon  war  bei 
der  Erörterung  von  Qualität  und  Materie  der  Intention  schon  die 
Rede.  Außerdem  finden  wir  auch  faktisch,  wenn  wir  von  Erlebnis 
sprechen,  in  uns  eine  Meinung  von  einem  ganz  bestimmten  Bereich 
des  psychischen  Geschehens  vor.  Wir  verstehen  tatsächlich  unter 
Erlebnissen  die  Weisen,  wie  das  Ich  sich  zu  etwas  stellt,  das  ihm 
gegeben  ist,  gleichviel  ob  es  ihm  von  außen  oder  aus  sich  selbst  heraus 
gegeben  ist.  Und  damit  kommen  wir  auf  die  zweite  prinzipielle 
Möglichkeit,  den  Erlebnisbegriff  zu  definieren.  Nämlich  durch  das 
Gebiet  alles  desjenigen  seelischen  Geschehens,  in  welchem 
das  Ich  diese  Stellungnahme  zu  irgendwelchen  Gegeben- 
heiten vollzieht.  Und  doch  ist  hier  noch  eine  einschränkende 
Bestimmung  notwendig.  Es  ist  nämlich  dieses  Geschehen,  wenn  wir 
von  Erlebnissen  sprechen,  nur  insofern  gemeint,  als  sich  sein 
Wesen  im  Erlebtwerden,  in  dieser  Stellungnahme  des  Ich 
erschöpft.  Sehr  deutlich  wird  z.  B.  beim  Willensakt,  daß  diese 
einschränkende  Bedingung  auf  ihn  nicht  zutrifft.  Er  steht  nämlich 
zugleich  unter  Bedingungen  des  Ablaufens,  die  zu  der  in  ihm  doku- 
mentierten Stellungnahme  des  Ich  nicht  wesenhaft  hinzugehören; 
und  wirkt  auch  in  einer  solchen  von  seiner  Erlebnisseite  abgrenzbaren 
Weise  weiter  fort  (determinierende  Tendenzen). 

Wenii  wir  den  Erlebnisbegriff  durch  das  allen  diesen  Geschehnissen 
gemeinsame  Moment  definieren,  so  kommen  wir  auf  den  Satz:  In- 
tentionalität  ist  das  konstitutive  Merkmal  des  Erlebens. 
Und  Phänomenologie  ist  die  Wissenschaft  vom  intentio- 
nalen Wesen  alles  Erlebens. 

Damit  hätten  wir  nun  den  Standpunkt  gewonnen,  um  Phäno- 
menologie als  Sonderwissenschaft  innerhalb  des  psychischen  Ganzen 
ausbilden  zu  können.  Ein  Standpunkt,  der  dem  Husserlschen  eng 
verwandt  ist,  insofern  sein  Gegenstandsgebiet  durch  ein  Bereich 
intentionaler  Vollzüge  abgegrenzt  ist;  der  sich  aber  von  ihm  unter- 
scheidet dadurch,  daß  er  dieses  Gebiet  nicht  aus  der  Psychologie 
heraushebt  und  methodologisch  isoliert,  sondern  in  sie  hineinordnet 
und  an  ihren  Forschungsweisen  orientiert.  Dieser  Standpunkt  ist 
auch  dem  Brentanos  eng  verwandt,  insofern  als  Brentano  das 
Wesen  des  Psychischen  selber  durch  seine  Objektbczogenlieit  defi- 
niert; mit  den  Ausführungen  dieses  Forschers  rechtfertigen  wir  po- 
sitiv Husserl  gegenüber,  wenn  wir  das  Gebiet  phänomenologischer 
Forschungen  in  die  Psychologie  hineinstellen.  Andererseits  halten 
wir  es  für  ein  wissenschaftliches  Problem,  die  Brentanosche  For- 
mulierung restlos  an  allem  Psychischen  zu  verifizieren;  an  diesem 
Problem  hat  die  Phänomenologie  mitzuarbeiten,  und  seiner  Lösung 


378     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

gemäß  wird  sich  ihr  Gebiet  erweitern.  Vorerst  jedoch  bleibt  sie  bei 
denjenigen  Tatbeständen  stehen,  welche  sie  als  intentional  im  Be- 
wußtsein vorfindet,  und  ersetzt  bei  diesen  die  objektivierende  Formu- 
lierung Brentanos  von  der  Objektbezogenheit  durch  die  den  sub- 
jektiven Bewußtseinstatbeständen  eher  genügende  Formel  von  dem 
intentionalen  Charakter  dieser  Tatbestände. 

Zu  diesen  Tatbeständen,  welche  das  Gegenstandsgebiet  der  Phä- 
nomenologie bilden,  gehören  nun  auch,  gemäß  dem  intentionalen 
Charakter  derselben,  diejenigen  subjektiven  Tätigkeiten,  welche  auf 
das  innere  Ablaufen  selber  gerichtet  sind  und  von  uns  als  inneres 
Bemerken,  inneres  Wahrnehmen  usw.  bezeichnet  wurden.  Das 
Bereich  der  inneren  Wahrnehmung  bildet  mithin  ein  phänomeno- 
logisches Teilgebiet,  insofern  inneres  Wahrnehmen  selber  eine  Weise 
des  Erlebens  ist. 


b)  Phänomenologie  als  psychologische  Wissenschaft. 
Die  Phänomenalität  der  Erlebnisse. 

In  welchem  Sinne  reden  wir  nun  von  Erlebnissen  als  von  Gegen- 
ständen einer  Phänomenenlehre;  und  was  soll  mit  dem  Worte 
Phänomenologie  in  diesem  Zusammenhange  gesagt  sein? 

Von  Phänomenen  spricht  die  Wissenschaft  im  allgemeinen  Sinn, 
wenn  sie  damit  ausdrücken  will,  daß  ihre  jeweiligen  Untersuchungs- 
gegenstände  in  ihr  nicht  so  auftreten,  wie  sie  ihrem  Wesen  nach 
»wirklich  sind<<,  sondern  so  wie  sie  »erscheinen«.  Dies  Erscheinen, 
durch  welches  das  wahre  Wesen  der  Dinge  modifiziert  wird,  erfordert 
ein  Subjekt.  Und  dies  Subjekt,  dem  die  Dinge  phänomenal  erscheinen, 
ist  eben  das  »Bewußtsein«  oder  »Ich«.  Die  Bewußtseinsgegeben- 
bcit  der  Dinge  ist,  dies  ist  die  Lehre,  anders  als  ihr  wirkliches 
Wesen. 

Diese  Phänomenalität  alles  Gegebenen  wird  in  gleicher  Weise 
von  den  Gegenständen  äußeren  Erfahrens  und  von  dem  innerlich 
Gegebenen  gelehrt.  Die  Frage,  ob  diese  Lehre  richtig  sei  und  wie 
sie  sich  begründen  ließe,  ist  ein  Zentralproblem  der  Erkenntniskritik 
und  ein  Teilgebiet  der  Philosophie.  Für  alle  empirischen  Einzel- 
untersuchungen hat  dieses  Problem  völlig  auszuscheiden.  Was  die 
psychische  Phänomenologie  anbelangt,  so  wurde  ja  bereits  dargelegt, 
daß  sie  ihr  Gegenstück  nicht  zu  haben  vermeinte  in  einer  Lehre 
vom  absoluten  Wesen  der  Dinge  an  sich,  sondern  in  einem  anderen 
Gebiete  der  empirischen  Psychologie,  welches  als  objektive  Psycho- 
logie bezeichnet  wurde.  Jener  allgemeinste  Begriff  des  Phäno- 
mens, den  wir  soeben  an  die  Spitze  gesetzt  haben,  kann  es  also 
nicht  sein,  welcher  den  Gegenstand  der  psychischen  Phänomenologie 
bestimmen  soll. 

In  der  Tat  ist  uns  ja  auch  das  ganze  Gebiet  des  Psychischen, 
soweit  es  beschreibbar  ist,  restlos  und  ausschließlich  ein  bestimmtes 


Erlebniö  und  Erkenntnis.  379 

Gebiet  des  im  Bewußtsein  Gegebenen.  Von  ihm  handelt  die  Psycho- 
logie überhaupt.  Es  ist  nicht  möglich,  den  inneren  Gegenständen 
des  Bewußtseins,  unter  Absehung  davon,  daß  sie  Gegenstände  des 
Bewußtseins  sind,  in  einer  empirischen  Einzelwissenschaft  ihr  wahres 
Ansichsein  gegenüber  zu  stellen.  Der  Begriff  der  Phänomenologie 
als  Sondergebiet  der  Psychologie  verlöre  mithin  allen  Sinn,  wenn  er 
von  einer  solchen  unmöglichen  Gegenüberstellung  ausgeht  und  den 
Begriff  des  Phänomens  im  allgemeinsten  Sinn  zu  seinem  Gegenstand 
zu  machen  beabsichtigt. 

Wir  haben  deshalb  schon  ausführlich  dargetan,  daß  eine  Phäno- 
menologie als  psychische  Sonderdisziplin  sich  überhaupt  nur  dann 
rechtfertigen  läßt,  wenn  mit  dem  Worte  Phänomen  noch  eine  zweite 
und  engere  begriffliche  Bedeutung  gemeint  werden  kann  als  der 
philosophische  Begriff.  Nur  wenn  dies  der  Fall  ist,  und  wenn  dieser 
engere  Begriff  des  Phänomens  die  Notwendigkeit  einer  besonderen 
Bearbeitungsweise  mit  sich  bringt,  nur  dann  ist  es  sinnvoll  und  be- 
rechtigt, Phänomenologie  als  psychologisches  Einzelforschungsgebiet 
neben  anderen  zu  fordern. 

Wir  wiederholen  also:  es  ist  eine  philosophische  Voraussetzung, 
die  man  mit  Kant  teilen  oder  verwerfen  mag,  daß  alle  psychischen 
Daten  im  erkenntniskritischen  Sinn  Phänomene  sind^),  insofern 
sie  uns  nicht  anders  als  in  ihrer  Bewußtseinsgegebenheit  zugänglich 
sind,  unserer  Erkenntnis  nur  unterliegen,  indem  sie  uns  erscheinen. 
Dieses  Problem  ficht  die  Einzelwissenschaft  Psychologie  nicht  an. 
Für  sie  handelt  es  sich  vielmehr  darum,  zu  untersuchen,  ob  es  not- 
wendig und  berechtigt  ist,  aus  ihren  Tatbeständen  und  Gegeben- 
heitsweisen noch  eine  Sondergruppe  herauszustellen  und  dieser 
das  Prädikat  phänomenal  im  besonderem  und  engeren  Sinn  zu 
erteilen. 

Und  wir  haben  im  vorigen  gesehen,  daß  dem  faktisch  so  ist.  Die 
psychischen  Abläufe  folgen  einander  in  ihrer  Bewußtseinsgegebenheit 
zunächst  ganz  unabhängig  davon,  wie  das  Ich,  dem  sie  erscheinen, 
sich  zu  ihnen  stellt,  und  nichts  spricht  dagegen,  diese  Abfolge  als 
gegenständliches  Geschehen  mit  den  adäquaten  Methoden  empirisch- 
gegenständlicher Forschung  zu  untersuchen  und  diese  Untersuchung 
als  objektive  Psychologie  zu  bezeichnen.  Objektiv  hat  hierbei  aller- 
dings nicht  den  Sinn,  einen  Gegensatz  zum  philosophischen  Phäno- 
menalitätsbegriff  auszusprechen;  es  verbleibt  vielmehr  seiner  be- 
grifflichen Sphäre  nach  ganz  innerhalb  des  Umfanges  jenes  Phäno- 
mcnalitätsbegriffes,  gleichviel  ob  er  als  berechtigt  vorausgesetzt  oder 
abgelehnt  wird.  Objektiv  hat  hier  vielmehr  nur  den  Sinn,  das  psy- 
chische Geschehen  als  solches  zu  bezeichnen  im  Gegensatz  zu  den 


1)  Brentano  z.  B.  spricht  zwar  auch  von  psychischen  Phänomenen,  definiert 
aber  das  Wesen  der  seeUschen  Gegebenheit  sogar  durch  die  Untrüglichkeit  des 
inneren  Wahrgenommenwerdens,  a.  a.  O.  S.  120ff.  Was  aber  untrügUch  evident 
erscheint,  »erscheint«  nicht,  sondern  ist. 


380     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Weisen,  wie  das  Subjekt  sich  zu  diesem  gegenständlichen  Geschehen 
stellt. 

Diese  Stellungnahmen  des  Ich,  bei  welchen  das  Ich  eine  philo- 
sophische Voraussetzung  und  ein  faktischer  Befund  ist,  haben  nun 
gewisse  gemeinsame  Charaktere.  Auch  diese  haben  wir  bereits  aus- 
führlich besprochen.  Es  sind  die  Charaktere  der  Intentionalität, 
der  subjektiven  Spontanität,  die  sich  an  ihrer  Materie  in  Akten 
realisieren.  Ein  Teil  von  ihnen  war  die  Bedingung  oder  die  Begleit- 
erscheinung des  objektiven  psychischen  Geschehens  selber  (z.  B. 
Willensakt).  Ein  anderer  Teil,  der  für  unseren  Zweck  wesentliche, 
erschöpfte  seine  Bedeutung  darin,  das  objektive  Geschehen  als  Ma- 
terie in  eine  besondere  Beziehung  zum  Ich  zu  bringen,  die  in  der 
Gegebenheit  des  objektiven  Geschehens  selbst  noch  nicht  enthalten 
war.  Diesen  Tatbestand  fanden  wir  vor;  wir  fanden,  daß  er  längst 
ein  allgemeines  Gut  der  Vulgärpsychologie  ist  und  von  ihr  mit  der 
Bezeichnung  Erleben  belegt  worden  ist.  Durch  die  Tatsache  des 
Erlebtwerdens  vom  Ich  wird  das  objektive  psychische  Geschehen 
in  seiner  subjektiven  Seinsweise  tatsächlich  wesenhaft  modifiziert. 
Soweit  es  also  dieser  Modifikation  durch  Erlebtwerden  unterliegt, 
besteht  ein  gewisses  Recht  darauf,  es  als  phänomenal  im  engeren  Sinn 
zu  bezeichnen  und  seiner  objektiven  Artung  selber  gegenüber  zu 
stellen;  und  mit  Notwendigkeit  erwächst  hieraus  die  Aufgabe,  eine 
Wissenschaft  auszubilden,  deren  Gegenstand  diese  engere  psychische 
Phänomenalität  ist. 

Eines  ist  nach  dieser  Erörterung  klar:  daß  die  Rede,  Phäno- 
menologie sei  »Wesensschau«,  von  uns  nicht  als  gültig  anerkannt 
zu  werden  vermag.  Vom  Standpunkt  der  vollendeten  psychologischen 
Erkenntnis  aus  wäre  vielmehr  das  Gebiet  des  Erlebens  dasjenige, 
dessen  theoretische  Determination  nur  durch  sehr  abgeleitete  und 
mittelbare  Erklärungen  möglich  wäre.  Anders  wird  die  Sachlage 
freilich  in  dem  Augenblick,  wo  der  psychologische  Forscher  sich  ohne 
alle  theoretische  Absicht  und  Gebundenheit  den  reinen  noch  durch 
nichts  geordneten  seelischen  Tatbeständen  gegenüber  findet.  Hier 
sind  die  verschiedenen  Weisen  des  subjektiven  Bewußtseins  das 
tatsächlich  Erste,  worauf  er  trifft;  und  ihre  Erfassung  in  ihrer  reinen 
Tatsächlichkeit  in  der  Tat  eine  Art  Vorwissenschaft  aller  weiteren 
psychologischen  Arbeit. 

Freilich  lassen  sich  auch  die  Weisen  des  Erlebens  als  rein  objek- 
tives psychisches  Geschehen  auffassen;  sie  sind  objektiven  Unter- 
suchungen theoretischer  Art  zugänglich,  genau  so  wie  das  objektive 
psychische  Geschehen  selber.  Auch  diese  Untersuchung  aber  kann 
nicht  erfolgen  ohne  die  vorausgegangene  Bestimmung  ihrer  Tat- 
sächlichkeit. Es  wird  wohl  seinen  guten  gegenständlichen  Grund 
haben,  daß  sich  in  dieser  Tatsächlichkeit  die  phänomenalen  Weisen 
subjektiver  Beziehung  auf  Psychisches  von  den  Formen  des  objek- 
tiven Ablaufens  unterscheiden.  Es  ist  ein  Problem,  ob  diese  Unter- 
scheidung auf  objektiven  besonderen  Mechanismen  des  Geschehen» 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  381 

beruht  oder  nicht.  Es  mag  auch  ein  heuristischer  Gesichtspunkt 
sein,  diesen  Unterschied  von  vornherein  jiach  Möglichkeit  zu  leugnen  ^). 
Auf  anderer  Seite  aber  hat  die  alte  Psychologie  von  Kant  bis  Beneke 
die  Notwendigkeit  behauptet  und  durchgeführt,  von  diesem  Teil  des 
psychischen  Geschehens,  der  ihnen  am  wesentlichsten  erschien,  be- 
sondere theoretische  Systeme  des  Geistes  zu  entwerfen.  Die  Lehren 
von  den  verschiedenen  Formen  der  Apperzeption  und  andere  Kon- 
struktionen legen  hierfür  Zeugnis  ab. 

Allein  diese  theoretischen  Konstruktionen  gehen  die  Phänomeno- 
logie als  tatsächliche  Ausgangswissenschaft  vom  Erleben  nichts  an. 
Sie  hält  sich  an  die  reinen  Bewußtseinstatbestände,  und  in  diesem 
Sinne  ist  es  wohl  zu  begreifen,  wenn  Jaspers  für  ihre  Erkenntnis- 
weise  das  Wort  Verstehen  anwendet,  so  zwecklos  dies  methodo- 
logisch bleibt. 

Die  Wortbezeichnung,  welche  jene  intentionalen  Einstellungen 
des  Subjekts  decken,  wie  Erlebnis,  Erkenntnis,  Wahrnehmung, 
Gefühl,  haben  alle  etwas  Vieldeutiges.  Sie  bezeichnen  alle  drei  ver- 
schiedene Bedeutungen:  erstens  den  Vollzug  (Akt),  zweitens  dasjenige, 
was  in  diesem  Vollzug  vorgeht  (Inhalt),  drittens  dasjenige,  was  dieser 
Vollzug  vor  das  Bewußtsein  stellt  (Gegenstand).  Und  man  kann 
nun  mit  Recht  fragen:  was  von  dieser  Dreiheit  ist  denn  nun  im  spe- 
ziellen Sinn  Problem  der  Phänomenologie?  Zur  Beantwortung  ist 
zu  bemerken,  daß  diese  Dreiheit  ihrerseits  bereits  Abstraktions- 
gesichtspunkte aus  dem  einen  gleichen  Bewußtseinstatbestand  ent- 
hält, und  daß  diese  ihm  zwar  jeweils  mit  Notwendigkeit  immanent 
sind,  aber  nur  in  der  phänomenalen  Ganzheit  eines  Erlebens.  Die 
Phänomenologie  umfaßt  sie  daher  als  abgesonderte  und  abgeleitete 
Einzelteile  desselben  gemeinsamen  Grundproblems.  Der  Tatbestand 
geht  den  möglichen  Abstraktionen  immer  voraus-). 


Beschreibung  und  Abstraktion. 

Nun  wird  man  mit  Recht  bemerken,  daß,  wenn  wir  von  Erleb- 
nissen reden  und  sagen,  sie  beruhten  auf  intentionalen  Vollzügen, 
wir  uns  bereits  durch  diese  Aussage  von  den  reinen  Tatbeständen 
weit  entfernt  und  in  die  Abstraktion  hineinbegeben  haben.  Ja  selbst 
wenn  wir  von  Erlebnis  sprechen,  so  liegt  nicht  mehr  ein  reiner  Tat- 


1)  Einen  solchen  unbezweifelbaren  heuristischen  Wert  hat  z.  B.  die  Arbeit 
von  Poppelreutcr,  Die  Ordnung  des  Vorstellungsablaufs.  I.  Leipzig  1913.  Hier 
vpird  der  Versuch  gemacht,  das  Verhältnis  der  Funktionspsychologie  zur  Asso- 
ziationstheorie dadurch  abzuwägen,  daß  —  abgesehen  von  bedeutsamen  Modi- 
fikationen des  Assoziationsbegriffs  selber  und  seiner  Beziehung  zu  den  Reproduk- 
tionen —  möglichst  vieles  an  funktionalen  Leistungen  noch  assoziativ  erklärbar 
gemacht  wird. 

2)  Darüber,  daß  der  Gegenstand  nicht  zum  Aktvollzug  als  einem  Bewußt- 
seinstatbestand hinzugehört,  wurde  schon  oben  gesprochen.  Es  bleiben  für  die 
Phänomenologie  nur  die  Inhalte  und  ihre  Bewußtsoinaformen  als  Gebiet  übrig. 


382     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

bestand,  sondern  eine  Abstraktion  vor.  Widerspricht  dies  nun  nicht 
der  von  uns  gesetzten  Aufgabe,  die  Phänomenologie  als  Wissenschaft 
von  den  reinen  erlebenden  Bewußtseinstatbeständen  ihrem  subjektiven 
Wesen  nach  auszubilden? 

In  der  Tat :  hier  liegt  wieder  ein  schwieriges  methodisches  Problem 
zugrunde-.  Wir  sahen  bereits,  wie  psychische  Tatsachen  selber  nur 
in  willkürlicher  Abgrenzung  Gegenstand  der  Erkenntnis  sein  können; 
ja  wie  ihr  volles  anschauliches  Nacherleben  an  der  Tatsache  ihrer 
unwiederholbaren  Einmaligkeit  scheitert ;  wie  schon  im  bloßen  Hinein- 
verschmelzen reproduktiver  Daten  ins  Wiedererleben  Abstraktions- 
und Verallgemeinerungsgesichtspunkte  mitgegeben  sind.  Wir  werden 
daraus  folgern:  eine  ganz  im  Unmittelbaren  bleibende,  von  allem 
unanschaulichen  Beiwerk  befreite  Erkenntnis  von  psychischen  Tat- 
sachen ist  unmöglich.  Die  Jaspers  sehe  Forderung  der  anschau- 
lichen Vergegenwärtigung  im  Verstehen  ist  prinzipiell  niemals  ganz 
erfüllbar.  Der  reinanschauliche  Tatsächlichkeitscharakter  des  psychi- 
schen Geschehens  in  seiner  ganzen  Unmittelbarkeit  tritt  immer  nur 
ein  einziges  Mal  auf:  eben  wenn  dies  Geschehen  zum  ersten  Male 
stattfindet^).  Schon  im  Moment,  wo  das  Ich  sich  ihm  zuwendet, 
verblaßt  er;  einzelnes  wird  herausgehoben  und  »wesentlich«;  von 
anderem  wird  abgesehen.  Bei  der  Wiederholung  des  Erlebens  in  der 
Reproduktion  verblaßt  er  noch  weiter. 

Noch  handelt  es  sich  um  ein  völlig  unbearbeitetes  Einzelgeschehen, 
das  dann  weiter  zur  bestimmten  Erkenntnis  wird,  aufgenommen  in 
die  psychologische  Gesamterfahrung  und  Gegenstand  der  Beschrei- 
bung. Bei  diesem  Vorgange  nun  verschwinden  seine  anschaulichen 
Seiten,  die  unmittelbaren,  individuellen,  die  seiner  Einzelheit  und 
Un Wiederholbarkeit,  seiner  Einzigartigkeit,  Beschreibung  ist  immer 
begriffliche  Umschreibung  im  Sinne  der  deutlichen  und  eindeutigen 
Bezeichnung.  Das  liegt  mit  logischer  Notwendigkeit  im  Wesen  der 
Beschreibung.  Die  Phänomene  sind  immer  anschaulich  und  un- 
mittelbar erlebt  — ;  die  Darstellung  aber  vermittelt  ihren  Gegenstand 
unanschaulich.  Eben  deshalb  ist  die  Darstellung,  die  sich  dieser 
unanschaulichen  Symbole,  der  Wortbedeutungen,  bedienen  muß ,  in 
ihrem  Effekt  wiederum  blasser  als  das  Eileben  des  Phänomens. 
Und  die  Fülle  der  Abstraktionsmerkmale  vermag  zwar  die  Anschau- 
lichkeit durch  eine  größere  Deutlichkeit  und  Bestimmtheit,  das 
Erlebnis  durch  eine  Erkenntnis  völlig  zu  ersetzen,  ändert  aber- 
an  der  Unanschaulichkeit  dieser  Erkenntnis  nichts.  Diese  Unan- 
schaulichkeit  wird  auch  durch  die  generischen  Sprachsymbole  er- 
zwungen. Hierauf  beruht  auch  die  Unvollständigkeit  jeder  noch  so 
genauen  beschreibenden  Determination  durch  Merkmale,    weil  vom 


1)  Auch  hierbei  ist  noch  in  Anschlag  zu  bringen,  daß  das  Anschauliche  dieses 
Geschehens  letztlich  immer  auf  seinen  Qualitäten  beruht,  daß  deren  Ordnunga- 
f  ormen  und  somit  die  Ganzheit  dieses  Geschehens  selber  aber  nichts  Anschauliches 
sind  und  nur  abstraktiv  ins  Bewußtsein  erhoben  werden  können.  Davon  wird  aber 
in  der  Folge  zum  Zweck  der  Vereinfachung  unserer  Darstellung  abgesehen. 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  383 

individuellen  Beieinander,  dem  hie  et  nunc  der  jeweiligen  einzelnen 
Situation,  ein  abgezogener  Begriff  nicht  möglich  ist. 

Umfaßt  diese  Erkenntnis  mehr  als  ein  Einzelphäuomen,  nämlich 
eine  Gruppe,  einen  Typus,  eine  Klasse:  so  muß  sie  mehr  und  mehr 
alles  Individuelle,  Einmalige  und  in  diesem  Sinne  anschaulich  Erleb- 
bare eliminieren,  welches  im  Bewußtsein  jedes  einzelnen  Individuums 
ja  in  anderer  Weise  gegeben  ist,  Sie  wird  also  um  so  abstrakter 
und  eindeutiger  sein,  je  mehr  sie  sich  vom  Anschaulichen  und  noch 
Vorstellbaren  ins  Begriffliche  entfernt;  je  höhere  Begrifflichkeit 
sie  erreicht;  je  schärfer  ihre  Abstraktionen  sind.  Und  man  be- 
schreibt nun  tatsächlich  niemals  den  Einzelfall,  sondern  stets  sein 
Genus,  seinen  Typus  —  das  liegt  im  Wesen  der  Merkmalsbildung 
bei  der  Beschreibung.  Das  Verfahren  der  Abstraktion  ist 
die  angemessene  Weise  der  Beschreibung.  Hiervon  war 
an  früheren  Stellen  dieser  Untersuchungen  schon  ausführlich  die 
Rede. 

Ein  wenig  anders  liegen  die  Dinge,  wenn  es  sich  nicht  um  ein 
einzelnes  Phänomen  oder  eine  Klasse  von  solchen  handelt,  sondern 
um  Zusammenhänge  von  Phänomenen.  Bekanntlich  hat  Jas- 
pers auch  für  das  Zusammenhängen  des  Seelischen,  wenigstens  für 
bestimmte  Weisen  des  Zusammenhängens  im  Erleben,  eine  Phäno- 
menologie auf  Grund  »genetischen  Verstehens«  schaffen  wollen. 
Allein  die  Sache  liegt  wesentlich  komplizierter,  als  Jaspers  sie  sich 
vorstellt.  Der  Zusammenhang  des  Erlebens  ist  die  Form  seines 
gesetzmäßigen  Ablaufens;  er  ist  in  keiner  Weise  anschaulich  erkenn- 
bar; sondern  ist  ein  Gebiet  der  objektiven  theoretischen  Forschung. 
Man  muß  nun  aber  unterscheiden  das  Zusammenhängen  des  Erlebens 
und  das  Erleben  des  Zusammenhängens,  Letzteres  ist  ein  phäno- 
menologisches Datum,  Ich  kann  etwas  als  zu  einem  Ganzen  gehörig 
oder  aus  einem  Andern  hervorgehend  erleben.  Den  Bewußt seins- 
bestand  dieses  Erlebens  zu  sichern  und  zu  erfassen,  der  in  jedem 
einzelnen  Falle  verschieden  sein  kann,  ist  genau  so  eine  phänomeno- 
logische Aufgabe,  wie  die  Erfassung  jedes  anderen  möglichen  Erlebens. 
Ganz  falsch  wäre  es  aber,  darin,  daß  ich  solch  ein  Zusammenhängen 
erlebe,  etwa  einen  Rechtsgrund  für  irgendwelchen  Objektivitäts- 
charakter dieses  Zusammenhängens  zu  erblicken,  ihn  einer  beson- 
deren Kausalität  zuzuschreiben  o.  dgl.,  wie  dies  Jaspers  tut.  Das 
Erleben  des  Zusammenhängens  ist  ein  subjektiver  Zustand,  der  Zu- 
sammenhang des  Erlebens  ist  ein  objektives  Problem,  Ich  nehme 
an,  daß  Jaspers,  an  dessen  Begriff  der  »verständlichen  Zusammen- 
hänge« wir  schon  Kritik  geübt  haben,  mit  dem  genetischen  Verstehen 
nur  das  Verstehen  des  Erlebens  von  Zusammenhängen  gemeint  hat; 
wenn  er  freilich  etwa  sagt,  die  Freudsche  Psychologie  sei  eine  solche 
genetischen  Vcrsteliens,  so  widerspricht  das  unserer  Auslegung;  denn 
diese  Freudsche  Lehre  macht  nichts  über  Erleben  von  Zusammen- 
hängen aus,  sondern  vielmehr  über  Zusammenliänge  dos  Erlebens, 
denen  sie  objektive  Geltung  beilegt.    Und  das  tut  sie  —  unbeschadet 


384     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

ihrer  Richtigkeit  oder  Falschheit  im  einzelnen  —  prinzipiell  mit 
Recht.  Sie  ist  nicht  verstehende  Psychologie,  sondern  dynamische 
Theorie. 


Anwendungen  auf  die  Erkenntnis  des   fremden  Ich. 

Mit  diesen  Feststellungen  über  das  Wesen  der  Erkenntnis  seeli- 
scher Tatsachen  haben  wir  auch  den  Gesichtspunkt  gewonnen,  unter 
welchem  sich  die  bisher  nicht  lösbaren  Schwierigkeiten  beheben 
lassen,  welche  die  Erkenntnis  des  Fremdich  betreffen.  Gegen 
den  Jaspers  sehen  Begriff  des  Verstehens  haben  wir  bereits  an- 
geführt, was  dagegen  zu  sagen  ist.  Er  ist  eine  dogmatische  Aus- 
flucht vor  dem  Problem  des  Wissens  um  fremdes  Psychisches,  aber 
keine  fundamental  neue  Wahrheit.  Wir  leugnen  nicht,  daß  wir  als 
inneren  Tatbestand  es  in  uns  vorfinden,  die  seelischen  Zustände 
Anderer  erfassen  zu  können,  ohne  daß  uns  das  Wie  dieses  Erfassens 
dabei  immer  deutlich  wird.  Man  mag  das  Verstehen  nennen;  damit 
ist  gar  nichts  getan.  Zu  einer  methodischen  und  wissenschaftlichen 
Erkenntnis  vermag  es  unter  zwei  Gesichtspunkten  zu  werden:  ent- 
weder dadurch,  daß  es  sich  selber  als  eine  Methode  des  Erkennens 
von  eigener  Artung  dartut  und  rechtfertigt,  oder  aber  dadurch, 
daß  es  sich  in  eine  Methode  der  bestimmten  Erkenntnis  verwandeln 
läßt.  Den  ersten  dieser  zwei  Gesichtspunkte  haben  die  Lehren  der 
Einfühlung  verwandt,  welche  den  Verstehensprozeß  assoziativ 
aufzuklären  versuchen.  Diese  Aufklärung  der  assoziativen  Struktur 
des  Verstehens  mag  nun  aber  richtig  sein  oder  falsch;  zweierlei  wird 
sie  niemals  dartun  können;  erstens  den  Rechtsgrund  dafür,  daß  sie 
eine  Erkenntnis  zu  sein  behauptet;  zweitens  den  Rechtsgrund  da- 
für, daß  sie  ein  fremdes  Ich  als  den  Gegenstand  ihres  Erkennens 
voraussetzt.  Wir  wiesen  schon  in  bezug  auf  diesen  letzteren  Punkt 
darauf  hin,  daß  er  aus  dem  Wesen  und  dem  Vollzuge  der  Einfühlung  auf 
keine  Weise  herleitbar  ist.  Lipps,  der  dies  klar  erkannte,  hat  denn 
auch  in  genau  der  gleichen  Weise  dogmatisch  resignieren  müssen, 
wie  neuerdings  Jaspers.  Der  erste  Punkt  aber,  die  Rechtfertigung 
des  Erkenntnischarakters  der  Einfühlung,  ist  natürlich  restlos  ab- 
hängig von  der  Beantwortung  der  Frage,  woher  die  Einfühlung 
vom  fremden  Ich  weiß,  in  das  sie  sich  einfühlt.  Und  war  hier  der 
letzte  Schluß  eine  Resignation,  so  wird  er  es  auch  wohl  dort  bleiben 
müssen. 

Damit  kommen  wir  zurück  auf  die  alte  Lehre  von  Analogie- 
schluß. Die  Einwendungen,  welche  gegen  diese  gemacht  sind  und 
die  wir  weiter  oben  eingehend  darstellten  (vergleiche  besonders  die 
Ausführungen  Schelers),  sind,  wovon  sich  jeder  leicht  überzeugen 
wird,  insgesamt  nur  von  komparativer  Allgemeingültigkeit  und  nicht 
von  der  Art,  daß  sie  den  Analogieschluß  im  Prinzip  zur  Unmöglich- 
keit machten.  Daß  dieser  aber,  als  fein  Wahrscheinlichkeitsschluß 
wie  alle  Analogieschlüsse,  ein  trügerischer  und  unsicherer  Boden  für 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  3^5 

die  Forschung  ist,  dies  hat  schon  Beneke^)  klar  erkannt.  Ein  ein- 
ziger Einwand  Schelers  ist  prinzipieller  Art:  nämlich  der,  daß  die 
Analogieschlußtheorie  auf  fremdpsychisches  Grescliehen  das  fremde 
Ich  schon  voraussetzen  müsse,  ebenso  wie  die  Einfühlungslehre  dies 
•tun  muß.  Aber  dieser  Einwand,  der  für  die  Einfühlungslehre  seine 
volle  Berechtigung  hat,  trifft  für  die  Analogieschlußlehre 
absolut  nicht  zu.  Für  den  Analogieschluß  auf  das  fremdpsyclii- 
sche  Einzelgeschehen  ist  das  Wissen  um  das  fremde  Ich  allerdings 
bereits  eine  Voraussetzung.  Aber  eben  das  Wissen  um  diese  Vor- 
aussetzung kann  ich  mir  längst  vorher  durch  eine  Reihe  anderer 
Analogieschlüsse  erworben  haben,  bei  denen  weder  Psychisches  noch 
Belebtheit  im  allgemeinen  Mittelglied  zu  sein  braucht,  sondern  für 
welche  als  Mittelglied  die  Analogie  körperlicher  Begrenzung 
und  die  Ortsveränderung  genügt.  Weitere  Analogien  der  Einzel- 
erfahrung, die  unter  dieser  Voraussetzung  massenhaft  möglich  sind, 
würden  letztere  immer  wieder  verifizieren  und  nie  ihr  zuwider  sein. 
Somit  ist  diese  Schwierigkeit  für  die  Analogieschlußtheorie  nur  ein 
Scheineinwand . 

Ohnedies  ist  es  ja  eigentlich  naheliegend  anzunehmen,  daß  die 
Erkenntnis  vom  Fremdpsychischen  nicht  auf  unwillkürlichem  asso- 
ziativen Affiziertwerden  beruht,  wie  die  Einfühlungslehre  will,  sondern 
auf  intentionalen  erfassenden  Einstellungen  des  Ich  auf  die  Äußerun- 
gen des  Geschehens  beim  Andern,  genau  so  wie  auf  solchen  Ein- 
stellungen die  eigene  Selbsterkenntnis  beruht.  Wieweit  der  VoUzug 
dieser  Einstellungen  in  den  bewußten  Erkenntnisakt-  und  Schluß- 
weisen geschieht,  wieweit  in  gefühlshaften  und  dunklen,  dies  ist 
prinzipiell  nicht  wichtig.  Niemandem  wird  einfallen  zu  behaupten, 
der  psychologische  Prozeß  des  Fremderkennens  vollziehe  sich  in  der 
deutlich  bewußten  logischen  Form  des  Analogieschlusses.  Wir 
stellen  bloß  fest,  daß  diese  allein  geeignet  ist,  dasjenige,  was  sich  beim 
Prozeß  des  Fremderkennens  abspielt,  logisch  adäquat  zu  fundieren. 
Meyerhof  sagt  sehr  richtig^);  »Jede  sogenannte  Einfühlung  ist 
entweder  auch  ein  Schluß  oder  nur  ein  undeutlicher  Erkenntnis- 
vorgang, bei  dem  die  Vorstellungen  dunkel  bleiben  und  nicht  ab- 
gesondert als  Begriffe  gedacht  werden;  ein  Drittes  ist  unmöglich.« 
Hier  finden  wir  auch  bereits  angegeben,  wie  es  sehr  wohl  denkbar 
ist,  daß  die  assoziativen  Einfühlungsweisen  beim  Fremderkennen 
als  genetische  Erkenntnishilfen  und  Hinweise  mitwirken  könnten. 
Es  wird  sich  eben  im  Einzelfall  um  ein  sehr  kompliziertes  inneres 
Greschehen  beim  Erkennen  des  seelischen  Fremdgeschehens  handeln, 
welches  man  unter  der  Bezeichnung  Verstehen  vorläufig  zulassen 
mag  und  das  sich  aus  intentionalen  Akten  wahrnehmeiiden, 
gefühlshaften    und    reflektionellen    Erfassens    auferbaut. 


1)  Beiträge  zu  einer  rein  seelenwissenschaftlichen  Bearbeitimg  der  Seelen- 
krankheitskunde.    1824.     S.  28  ff. 

2)  Psycho].  Theorie  d.  Geisteskrankheiten.       S.  20. 

Kronfeld,  Psychiatrische  Erkenntnis.  25 


386     Grundlinieu  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

die  eingeleitet  und  umrankt  sind  von  den  assoziativen 
Einfühlungshilfen,  und  die  in  ihrem  gesamten  Effekt  als 
ein  undeutlich  erkenntnisartiges  Bewußtsein  vom  Fremd- 
geschehen erlebt  werden.  Ihr  ideales  logisches  Abbild  aber, 
von  allem  zufälligen  Beiwerk  gereinigt,  ist  der  Analogieschluß. 
Alles  dies,  und  auch  die  Tendenz  zur  reinen  Analogieschlußweise  als 
dem  Ideal,  ist  letzten  Endes  bedingt  durch  die  Tatsache,  daß  jede 
bestimmte  Erkenntnis  psychischer  Tatbestände  eine  objektivierende 
und  begriffliche  Tendenz  hat,  wie  wir  oben  nachgewiesen  haben. 

Abstraktion  und  induktive  Theorie  im  Psychischen. 

Und  nunmehr  ist  es  an  der  Zeit  zu  untersuchen,  was  uns  denn 
jene  Abstraktionen  bedeuten,  welche  die  Beschreibung  der  Erlebnis- 
gegebenheiten mit  sich  bringt;  welchem  Ziele  sie  dienen  und  was 
an  wissenschaftlichen  Werten  in  ihnen  steckt.  Sind  sie  Selbstzweck? 
Dienen  sie  einem  höheren  Arbeitsgesichtspunkt?  Haben  sie  etwas 
zu  tun  mit  den  sonstigen  Aufgaben  wissenschaftlicher  Psychologie? 
Und  wenn  ja:  wie  steht  die  phänomenologische  Beschreibung  una 
Analyse  zu  diesen  Aufgaben?  Wie  steht  sie  im  wissenschaftlichen 
Ganzen  der  Psychologie  drin?  Diesen  Fragen  gilt  es  noch  eine  Ant- 
wort zu  finden. 

Um  diese  Aufgabe  unserer  Untersuchung  in  vorurteilsloser  Weise 
angreifen  zu  können,  verlassen  wir  für  kurze  Zeit  den  Boden,  auf 
welchem  wir  uns  bis  jetzt  bewegt  haben;  wir  erweitern  unseren  Ge- 
sichtswinkel zu  einem  Aspekt  der  Psychologie  als  eines  wissenschaft- 
lichen Ganzen,  untersuchen  das  Verhältnis  der  Teile  innerlialb  dieses 
G^samtgebäudes  zueinander  imd  sehen,  ob  wir  nicht  den  Punkt 
aufzufinden  vermögen,  von  dem  aus  sich  das  bisher  abgegrenzte 
phänomenologische  Forschungsgebiet  in  dieses  Ganze  sozusagen  orga- 
nisch eingliedern  läßt. 

Erfahrung  nennen  wir  die  Erkenntnis  von  den  unserem  Bewußt- 
sein gegebenen  Gegenständen.  Erfahrung  ist  Erkenntnis,  wiefern 
sie  die  notwendigen  Bedingungen  der  Existenz  dieser  Gegenstände 
uns  bewußt  macht,  wiefern  sie  also  deren  zufälliges  Gegebensein  zu 
einem  notwendigen  Sein  und  Sosein  für  uns  macht.  Die  Bestimmung 
der  Notwendigkeit  der  Existenz  und  Realität  eines  Gegenstandes 
ist  sein  Gesetz.  Den  Zusammenhang  der  Gesetze  untereinander 
nennen  wir  Natur.  Die  Ausbildung  des  Bewußtseins  um  diesen  Zu- 
sammenhang aller  notwendigen  Bestimmungen  des  Seins  und  Soseins 
von  Gegebenem  nennen  wir  Theorie.  Alle  Einzelerfahrung  also  strebt 
zu  ihrer  vollendeten  Abrundung  in  der  Theorie. 

Jede  empirische  Theorie  überhaupt,  und  somit  auch  die  psycho- 
logische Erfahrung  als  Ganzes,  verbindet  die  Tatsachen,  die  ihr 
Material  bilden,  zu  Gesetzen.  Das  Auffinden  dieser  Gesetze  voll- 
zieht sich  durch  bestimmte  geistige  Prozesse,  durch  die  sie  ins  Be- 
wußtsein gehoben  werden.     Wir  schreiben  diese  Prozesse  einer  be- 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  387 

sonderen  psychischen  Fähigkeit  zu,  die  wir  Reflexion  nennen,  und 
reden  von  .Schlußweisen.  Das  Bewußtsein  um  einen  gegebenen 
Gegenstand  ist,  sofern  es  ein  bestimmtes  Bewußtsein  ist.  ein  einzelnes 
Urteil  auf  Grund  einer  Wahrnehmung.  Das  Bewußtsein  uni  ein  Gre- 
setz  ist  ein  allgemeines  Urteil  von  notwendiger  Geltung.  Das  Ver- 
fahren der  Reflexion,  welches  vom  einzelnen  Wahrnehmungsurteil 
zum  allgemeinen  und  notwendigen  Urteil  führt,  ist  eine  Schlußweise 
vom  Typus  der  Induktion.    Alle  empirische  Theorie  ist  also  induktiv. 

Der  Nachweis,  welche  Schlußweisen  zu  der  Erkenntnis  der  Natur- 
gesetze führen,  ist  —  ebenso  wie  die  Begründung  der  Schlußkraft 
dieser  Weisen  —  Geschäft  der  formalen  Logik.  Die  formale  Logik 
wird  also  für  den  Vollzug  dieser  Schlüsse  selber  als  gültig  voraus- 
gesetzt. Für  die  Ausbildung  jeder  möglichen  psychologischen  Theorie 
braucht  ihr  Rechtsgrund  mithin  nicht  erst  dargetan  zu  werden. 

Die  zweite  Voraussetzung  für  die  Ausbildung  jeder  psychologischen 
Wissenschaft  ist  ein  Bestand  gesicherter  Tatsachen,  aus  denen  ge- 
schlossen Avird.  Hier  findet  die  Phänomenologie  ihr  erstes  Bewährungs- 
gebiet  innerhalb  des  psychologischen  Wissenschaftsganzen.  Denn 
welche  andere  Forschungsrichtung  erstrebte  wohl  ein  so  restloses 
Herausarbeiten  des  reinen  Gegebenheitscharakters  ihres  Gregen- 
standsgebietes  als  die  Phänomenologie!  Sie  liefert  in  möglichst  all- 
seitiger und  unverarbeiteter  Weise  das  reine  Material  jeder  mög- 
lichen weiteren  Untersuchung;  in  diesem  Sinne  ist  sie  wahrhaft 
voraussetzungslos  und  Ausgangswissenschaft  späterer  Theorien. 
Allein  hier  ist  doch  eines  zu  bedenken.  Wir  haben  in  den  bisherigen 
Untersuchungen  gesehen,  daß  die  Beschreibung  des  reinen  Tat- 
sächlichkeitsgehalts  ihrer  Gegenstände  für  die  Phänomenologie  zwar 
die  oberste  Forderung,  aber  eine  prinzipiell  nicht  restlos  erfüllbare 
Forderung  darstellte.  Das  Wesen  des  Erfassens,  das  Wesen  der 
Beschreibung  brachten  mit  grundsätzlicher  Notwendigkeit  immer 
schon  Abstraktionen  an  die  phänomenologische  Materie  heran;  und 
diese  sind  willkürliche  Akte  der  Reflexion  und  unterliegen  den  Kri- 
terien der  Logik  ebenso  wie  den  in  den  Tatsachen  selber  gelegenen 
Kriterien.  Gerade  diese  Abstraktionen  erfordern  ja  unsere  besondere 
Untersuchung  über  das  Verhältnis  der  Phänomenologie  zur  Theorie ;  unfl 
hierfür  ist  die  einfache  Subsumtion  der  Phänomenologie  unter  das  Tat - 
sachenliriterium  jeder  möglichen  Theorie  keine  ausreichende  Lösung. 

Die  dritte  Voraussetzung  jeder  möglichen  Theorie  und  damit 
jeder  wissenschaftlichen  Gesamtpsychologie  kann  als  das  Gebiet 
materialer  Voraussetzungen  wissenschaftlicher  Erkenntnis  überhaupt 
zusammengefaßt  werden.  Diese  Voraussetzung  wird  aus  »philo- 
sophischen Grunduntersvichungen  über  die  allgemeinsten  Gesetzes^ 
jeder   möglichen   theoretischen   Erkenntnis^),    aus   dem    berühmten 


1)  Fries,  wie  kaum  ein  zweiter  ein  Meister  aller  philosophischen  Natur- 
theorie, sagt  in  seinem  System  der  Logik  (S.  562):  »Das  regulative  Verfahren  der 
Theorie  ist  das  zusammengesetzteste  Kunststück  der  wissenschaftliohon  Methode. 


25* 


388.    Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Kantischen  »Prinzip  der  Möglichkeit  von  Erfahrung  überhaupt«, 
gewonnen.  Die  Immanenz  dieser  Voraussetzung  folgt  aus  dem 
speziellen  Wesen  der  Induktion  und  der  wissenschaftlich  ausgebilde- 
ten Naturtheorie,  wie  sie  die  großen  Denker  auf  diesem  Gebiete  sei 
Newton  festgestellt  haben.  Die  Begründung  dieser  Voraussetzung 
(durch  eine  endgültige  Auflösung  des  induktiven  Schluß  Verfahrens) 
braucht  in  der  Ausbildung  der  Theorie  selber  ebenfalls  nicht  dar- 
getan zu  werden.  Sie  geht  ihr  voraus;  wir  haben  in  unserer  Dar- 
stellung der  Wissenschaftstheorie  des  Psychischen  dieser  Aufgabe 
genügt.  Wiederholen  wir  nochmals  die  Voraussetzungen  aller  Natur- 
theorie : 

Erstens  die  Tatsachen  des  empirischen  Materials,  welches  der 
Bildung  der  Theorie  zum  Ausgangspunkte  dient. 

Zweitens  die  formale  Logik  im  Hinblick  auf  die  Zulässigkeit  der 
bei  Bildung  der  Theorie  angewandten  Schlußweisen. 

Drittens  die  nichtlogischen  notwendigen  Grundsätze,  welche  die 
Existenz  der  allgemeinen  gesetzmäßigen  Verknüpfungsformen  von  Er- 
scheinungen zum  Inhalt  haben,  welche  sich  auf  das  in  Frage  stehende 
Erfahrungsgebiet  anwendet. 

Es  bleibt  nunmehr  zu  erörtern,  in  welcher  Weise  die  Tatsachen 
und  Abstraktionen  auf  die  Bildung  einer  Theorie  von  Einfluß  sind, 
und  welche  Rolle  den  Arbeitsbegriffen  und  Arbeitshypothesen  in 
der  psychologischen  Theorie  zufällt.  Wir  müssen  zu  diesem  Zweck 
noch  einmal  kurz  auf  die  Natur  der  Induktionen^)  zurückgreifen. 


Es  lassen  sich  hier  allerdings  sehr  bestimmte  logische  Regeln  angeben,  ohne  welche 
eine  solche  Untersuchung  nicht  gelingen  kann;  dabey  werden  aber  die  einfachen 
heuristischen  Methoden  schon  als  richtig  angewendet  vorausgesetzt  und  über 
diese  noch  ein  eigenes  strenges  Verfahren  gefordert.  Daher  finden  wir  denn  auch 
bey  der  Behandlung  der  schwereren  unter  diesen  Untersuchungen  beständige 
Wiederholungen  derselben  Fehler.  Es  muß  hier  erstlich  durch  ein  richtiges  em- 
pirisches Verfahren  der  Bestand  der  Tatsachen  genau  gegeben  seyn.  Es  müssen 
zweytens  durch  ein  richtiges  spekulatives  Verfahren  die  .  .  .  philosophischen 
Grunduntersuchungen  über  die  allgemeinsten  Gesetze  vorausgeschickt  seyn; 
so  daß  drittens  eine  theoretische  Untersuchung  nie  früher  unternommen  werden 
darf,  als  bis  vorherbestimmt  ist,  unter  weichen  allgemeinen  Maximen  sie  steht, 
und  ferner,  welches  bestimmte  Verhältnis  sie  gegen  schon  vorhandene  konstitu- 
tive Theorien  hat.  Hier  ist  mit  der  Orientierung  gegen  philosophische  Spekulation 
schon  sehr  viel  gefordert,  da  die  richtigen  Maximen  der  philosophischen  Spekulation 
noch  nicht  allgemein  anerkannt  sind. « 

1)  Was  die  im  folgenden  dargestellten  Bemerkungen  zur  Induktionslehre 
anlangt,  so  vermag  ich  dem  Leser  tatsächlich  kein  systematisches  Werk  zu  nennen, 
welches  die  Theorie  der  Induktion  in  einer  für  psychologische  Forschung  an- 
gemessenen Weise  entwickelt  hätte.  Neben  dem  alten  Werke  Apelts  (Die  Theorie 
der  Induktion,  Leipzig  1854)  und  der  historischen  Darstellung  Whewells  in 
seiner  Geschichte  der  induktiven  Wissenschaften  kommen  nur  die  recht  un- 
zulängliche, neben  Richtigem  viel  Falsches  enthaltende  Millsche  Logik  und  die 
relativ  spärlichen  Bemerkungen  in  den  üblichen  Logiken  in  Frage.  Man  wird  sich 
wohl  entschließen  müssen,  zum  Zweck  einer  systematischen  Vertiefung  bis  auf 
das  klassische  Werk  eines  Bacon  zurückzugehen  und  dann  in  den  Logiken  der 
engeren  Kantschüler  manches  Wertvolle  zu  entdecken.  Wir  sind  daher  in  der 
folgenden  Darstellung  zwar  in  Anlehnung  an  die  nachkantischen  Logiker  der  In- 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  389 

Jenes  einfachste  Schema  der  Induktion,  welches  oben  gegeben  wurde, 
ist  nämlich  in  der  Tat  nur  ein  Schema,  das  sich  in  reiner  Anwendung 
eigentlich  niemals  bei  den  empirischen  Regelbildungen  findet.  Würde 
es  möglich  sein,  lediglich  dieses  Schema  direkt  anzuwenden,  so  würde 
es  nirgendwo  Unklarheiten,  Arbeitshypothesen,  leitende  Maximen. 
Streit  um  allgemeinere  und  speziellere  Voraussetzungen  geben. 
Alles  wäre  leicht  und  einfach,  wie  bei  den  unverwickelten  logischen 
Prozessen. 

Tatsächlich  liegen  die  Dinge  aber  eben  sehr  verwickelt. 

Es  besteht  eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  empirischen 
Abläufe.  Alle  stehen  miteinander  in  gesetzmäßiger  Verknüpfung. 
Jeder  kommt  unter  einer  unbegrenzten  Zahl  von  Bedingungen  zu- 
stande. Für  jede  dieser  Bedingungen  lassen  sich,  wenigstens  ist  das 
im  Prinzip  anzunehmen,  Bestimmungsstücke  am  Ablauf  aufweisen, 
welche  der  Ausdruck  des  gesetzmäßigen  Zusammenhanges  zwischen 
dem  Ablauf  und  dieser  Bedingung  sind.  Es  bleibt  das  unvollendbare 
Ziel  des  empirischen  Wissenschaftsganzen,  für  jede  einzelne  dieser 
unendlich  vielen  Beziehungen  die  gesetzmäßige  Form  aufzufinden. 
Daraus  folgt  die  prinzipiell  unendliche  Anzahl  möglicher  Induktionen. 

Nun  sind  aber  diese  Induktionen  keine  ungeordnete  Mannigfaltig- 
keit, sondern  sie  stehen  zueinander  in  dem  Ordnungs Verhältnis  eines 
architektonisch  sich  aufbauenden  Wissenschaftsganzen.  Sie  bilden 
sozusagen  eine  systematisch  gegliederte  Gerüstform,  die  im  Innern 
unendlich  sich  ausbauen  läßt,  je  weiter  die  Erkenntnis  fortschreitet,  i) 

Woraus  ergibt  sich  nun  diese  systematische  Einheitlichkeit  des 
vollendeten  empirischen  (psychologischen)  Wissenschaftsganzen?  Und 
was  soll  uns  das  für  unsere  Erörterung? 

Setzen  wir  selbst  einmal  voraus,  es  gäbe  nur  vollständige  Induk- 
tionen —  was  tatsächlich  nicht  der  Fall  ist :  so  leuchtet  doch  ein,  daß 
die  einzelnen  Induktionsergebnisse  sich  hinsichtlich  des  Umfangs 
unterscheiden  werden,  den  die  Inbegriffe  ihrer  jeweiligen  Gregen- 
stände  aufweisen.  Da  aber  jeder  psychische  Ablauf  als  Gegenstand 
einer  ganzen  Reihe  von  gesetzmäßigen  Bedingungen,  denen  er  unter- 
worfen ist,  in  Frage  kommt,  so  muß  er  als  Inhalt  in  den  Umfangen 
mehrerer  solcher  Inbegriffe  von  Gegenständen,  die  einem  gemein- 
samen Gesetz  unterstehen,  enthalten  sein.    So  folgt  schon  aus  dem 


duktion,  a"ber  doch  auf  eigene  Faust  vorgegangen,  da  die  Anwendung  der  Induk- 
tionstheorie auf  Psychisches  dortselbst  nicht  genügend  ausgebildet  war.  So  hat 
sich  uns  der  Sinn  des  Begriffs  der  leitenden  Maximen  im  Psychologischen  wesent- 
lich verschoben. 

1)  Fries  sagt  (System  der  Logik,  S.  564):  »Unter  den  allgemeinen  Maximen 
der  Philosophie  müssen  wir  aber  auch  die  Erfahrung  selbst  noch  von  dem  höchsten 
möglichen  Gesichtspunkte  übersehen,  den  -wir  erreichen  können,  um  daraus  be- 
stimmtere leitende  Maximen  zu  bilden.  Denn  die  allgemeinen  Gesetze  gehören 
dem  Ganzen,  und  das  Einzelne  läßt  sich  nach  seinen  theoretischen  Verhältnissen 
nur  gemäß  seiner  Lage  im  Ganzen  bestimmen.  L'nt ergeordnete  einzelne  Theorien 
werden  selten  glücklich,  wenn  sie  nicht  ihrer  Anlage  nach  gegen  das  Ganze  orien- 
tiert sind.« 


390     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

logischen  Verhältnis  dieser  Umfange  zueinander  eine  systematische 
Beziehung  des  Geltungsbereiches  mehrerer  Gesetze,  also  eine  syste- 
matische Rangabstufung  der  Induktionen.  Daß  das  allgemeinere 
Gesetz  die  spezielleren  unter  sich  umschließt,  ist  der  gewöhnliche 
Ausdruck  für  diese  Abstufung  nach  dem  Umfang  der  Gegenstände, 
Doch  braucht  der  Grad  dieser  Allgemeinheit  eines  Gesetzes^)  nicht 
bloß  durch  den  Unterschied  im  Umfang  des  Inbegriffs  der  Gegen- 
stände, auf  die  das  Gesetz  sich  bezieht,  bestimmt  zu  sein;  er  kann 
ebenso  auch  von  der  anderen  Seite  her  bestimmt  werden:  von  den 
allgemeinen  philosophischen  Voraussetzungen  her,  die  jeder  mög- 
lichen induktiven  Erkenntnis  zugrunde  liegen.  Diese  rationalen 
Grundsätze,  so  gehaltsarm  sie  sind,  lassen  sich  durch  ein  besonderes 
»Schlußverfahren  zu  einem  System  der  gesetzmäßigen  Beziehungen 
allgemeinster  Art  ausbauen.  Durch  Aufnahme  abstraktiv  gewonne- 
ner allgemeiner  empirischer  Begriffe  läßt  sich  das  System  dieser  Be- 
ziehungen noch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  spezialisieren  und  bildet 
so  die  durchgebildete  Reihe  der  Obersätze  für  alle  Induktionen  des 
Erfahrungsgebietes,  für  das  es  gilt.  Für  die  physikalischen  Natur- 
Avissenschaften  ist  diese  konstitutive  Theorie  einwandfrei  durch- 
gebildet und  ziemlich  allgemein  anerkannt;  lediglich  die  Gründe 
ihrer  Gültigkeit  bilden  noch  einen  strittigen  Problemkreis.  Für  die 
psychologischen  Naturwissenschaften  herrscht  hier  freilich  auch  im 
Tatsächlichen  große  Unsicherheit  und  Unklarheit.  Es  wurde  bereits 
an  früherer  Stelle  eine  solche  konstitutive  Theorie  erörtert,  die  durch 
das  Hereinnehmen  des  Assoziationsbegriffs  in  das  System  der  gesetz- 
mäßigen Verknüpfungsformen  des  Seelischen  als  deren  oberste  Be- 
stimmung entstanden  war.  Hier  ist  nun  ein  weiterer  Anknüpfungs- 
punkt für  die  obersten  Abstraktionen  der  Phänomenologie.  Man 
kann  beispielshalber  den  Funktionsbegriff  in  das  System  der  ratio- 
nalen Grundsätze  hinein  nehmen,  um  durch  ihn  die  psychologische 
Kausalität  mit  näheren  Bestimmungen  zu  versehen.  Man  würde 
dann  eine  konstitutive  funktionspsychologische  Theorie  erhalten,  in 
welcher  das  Wesen  psychischen  Zusammenhängens  durch  die  Merk- 
male der  fundierenden  Funktionen  bestimmt  würde.  Es  ließe  sich 
ferner  auf  diesem  Wege  das  Brentanosche  Gesetz,  welches  natürlich 
aus  der  Phänomenologie  völlig  herausfällt,  theoretisch  begründen, 
wonach  es  so  viele  psychische  Grundformen  gibt,  als  es  Arten  gibt,  in 
welchen  sich  das  Ich  auf  Gegenstände  bezieht.  Wir  haben  dies  in 
unserer  Wissenschaftstheorie  des  Psychischen  geleistet,  und  wollen 
diesen  Gesichtspunkt  der  Verschmelzung  von  Phänomenologie  und 
konstitutiver  Theorie  im  Auge  behalten;  denn  aus  ihm  folgt  nicht 
nur  etwas  über  die  psychologische  Theorie,  sondern  vor  allem  auch 
etwas  über  die  Art  der  phänomenologischen  Abstraktionen. 


1)  Dieser  Begriff  der  Allgemeinheit  hat  natürlich  nichts  zu  tun  mit  dem  der 
Allgemeinheit  als  Gültigkeitskriterium  von  Gesetzen  überhaupt,  dem  modalischen 
Moment  der  Gesetze. 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  391 

Wie  dem  auch  sei:  es  läßt  sich  jedenfalls  grundsätzlich  die  All- 
gemeinheit einer  Induktion  und  ihre  Stellung  im  System  der  Wissen- 
schaft auch  dadurch  bestimmen,  daß  ihre  mehr  oder  weniger  direkte 
Abhängigkeit  von  den  rationalen  Prinzipien  dargetan  wird.  Die 
allgemeinsten  empirischen  Gesetze  werden  direkt  oder  nach  nur 
wenigen  Abstraktionen  von  empirischen  Bestandteilen  ihrer  Inhalte 
unter  diese  konstitutiven  Prinzipien  subsumierbar  sein.  Bei  anderen 
muß  die  Abstraktion  von  ihren  empirischen  Bestimmungsstücken 
weiter  durchgebildet  werden.  Nun  hängt  endlich  diese  Subsumier- 
barkeit  unter  die  rationalen  Prinzipien  ihrerseits  wieder  in  bestimmter 
Weise  vom  Umfang  des  Inbegriffs  ihrer  Gegenstände  ab  —  ein 
Sonderproblem,  dessen  Erörterung  wir  uns  wohl  ersparen  dürfen. 

Die  Pyramide  des  vollendeten  Wissenschaftsganzen  beruht  also 
in  einer  Rangabstufung  der  induktiven  Gesetze  untereinander.  Die 
unendlich  breite  Basis  bildet  das  empirische  Tatsachenmaterial;  ihre 
Spitze  bilden  die  rationalen  Voraussetzungen  gesetzmäßiger  Ver- 
knüpfung des  betreffenden  Erfahrungsgebietes.  Dazwischen  stuft 
sich  das  gegliederte  System  der  Naturgesetze  ab.  Jedes  einzelne 
dieser  Gesetze  ist  in  seiner  Lage  zum  systematischen  Ganzen  sozu- 
sagen nach  drei  Dimensionen  bestimmt :  nach  dem  Umfang  seines 
tatsächlichen  Anwendungsbereiches,  nach  der  Beziehung  zur  ratio- 
nalen Spitze,  nach  der  Beziehung  zur  logischen  Weite  anderer  Gesetze. 
Die  Bestimmungsstücke  diese  drei  Beziehungsweisen  sind  logi.sche 
Gebilde;  ihr  Gültigkeitsgrund  ist  jedesmal  ein  anderer. 

Was  hat  dies  mit  unserem  Problem  zu  tun?  Das  wird  erst  klar, 
wenn  man  sich  erinnert,  daß  die  empirische  Wissenschaft,  und  ganz 
speziell  die  psychologische  Theorie,  etwas  Unvollendetes  und  Un- 
vollendbares  ist.  Gerade  für  die  Psychologie  gilt  Apelts  Wort: 
»Daß  wir  auf  der  einen  Seite  wohl  Regeln  haben,  deren  Gültigkeit 
im  allgemeinen  wir  kennen,  auf  der  anderen  Seite  Fälle,  deren  Ab- 
hängigkeit von  Regeln  gewiß  ist;  aber  das  nähere  Verhältnis,  in  dem 
sie  zusammengehören,  ist  noch  unbestimmt  und  wird  erst  gesucht«^). 
Daß  dieses  Verhältnis  von  Fall  und  Regel  im  Psychologischen  ein  so 
ungewisses  ist,  hat  folgende  Gründe. 

Erstens  ist  das  System  der  Regeln  unvollständig,  und  zwar  in 
doppeltem  Sinne.  Einmal,  wie  schon  erwähnt,  das  der  konstitutiven 
rationalen  Grundsätze,  deren  systematischer  Ausbau  gerade  für  die 
psychologische  Materie  den  größten  Schwierigkeiten  unterliegt.  So- 
dann aber  auch  das  der  Induktionsergebnisse  selber,  infolge  der 
liistorischen  Zufälligkeit,  wie  sie  jeweils  einzeln  entdeckt  werden 
und  dann  zunächst  unvermittelt  und  beziehungslos  nebeneinander 
stehen. 

Zweitens  sind  für  die  meisten  Induktionen  die  Tatsachen  durch- 
aus nicht  vollständig  bekannt,  und  ebensowenig  die  Bedingungen, 
die  sonst  noch  Realgründe  der  Tatsachen  sind.  Die  praktisch  in  Frage 


1)  Theorie  der  Induktion.    S.  51.    Vgl.  Fries,  System  d.  Logik.    S.  441. 


392     Grundliiüen  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

kommenden  Induktionen  sind  unvollständige  Wahrscheinlichkeits- 
schlüsse  und  Kombinationen  mit  analogischen  Schluß  weisen. 

Drittens  ist  gerade  für  psychologische  Induktionen  das  Geltungs- 
bereich gar  nicht  leicht  zu  bestimmen.  Zunächst  pflegt  man  es  daher 
heuristisch  möglichst  weit  zu  begrenzen  (unbegrenzte  Anwendung  des 
Assoziationsbegriffes;  schrankenlose  Gültigkeitsgebiete  der  Freud - 
sehen  Mechanismen),  was  aber  fehlerhaft  sein  kann. 

Viertens  fehlt  oft  jeder  Zusammenhang  zwischen  der  Erkenntnis, 
daß  ein  Ablauftypus  einem  Gesetz  gehorcht,  und  der  Bestimmung 
dieses  Gesetzes.  (Hierüber  gehören  die  sog.  maximenlosen  empi- 
rischen Induktionen  und  die  statistischen  Induktionen,  z.  B.  der 
statistischen  Experimente  in  der  Psychologie.)  Im  Bereich  der 
physikalischen  Theorie  wird  diese  Verbindung  ZAvischen  dem  ratio- 
nalen Obersatz  und  dem  empirischen  Materiale  durch  die  Anwend- 
barkeit mathematischer  Konstruktion  hergestellt  —  sei  es  zur  Be- 
stimmung und  Spezialisierung  des  Obersatzes,  sei  es  zur  Bildung  von 
Leitmaximen.  Für  das  Gebiet  der  psychologischen  Erkenntnis  aber 
verbietet  sich  diese  Bildung  rational  konstruierbarer  mathematischer 
Sätze  fast  gänzlich.  Sie  ermöglicht  sich  nur  für  die  Bestimmungen 
der  Gesetze  psychischer  Intensitäten;  und  diese  ist  im  Verhältnis  zur 
eigentlichen  psychologischen  Aufgabe  sehr  gleichgültig. 

Fünftens  erkennt  man  leicht  die  in  der  Einmaligkeit  alles  psychi- 
schen Geschehens  liegende,  nur  komparativ  gültige  Schwierigkeit  für 
jede  Theorie. 

Aus  allem  diesem  folgt,  daß  im  Verfahren  der  psychologischen 
Theorie  selber,  wenn  man  dasselbe  streng  auffaßt,  mit  Notwendigkeit 
seine  Undurchführbar keit  liegt.  Es  folgt  die  Unmöglichkeit 
einer   strengen  konstitutiven  Naturtheorie  für  Seelisches. 

Darf  nun  diese  Einsicht  zu  konventionalistischen  Stellungnahmen 
in  allgemeinen  psychologischen  Fragen  führen,  etwa  in  dem  Sinne, 
daß  eben  jeder  Forscher  mit  gleichem  Rechte  seine  »eigene  Psycho- 
logie« habe? 

Ein  solcher  Standpunkt  würde  zur  Aufgabe  jedes  wahren  Wissen- 
schaftsanspruches der  Psychologie  führen.  Vielmehr  zeigt  die  prin- 
zipielle Möglichkeit  von  Induktionen  in  diesem  Gebiete,  die  mit 
ihrer  ebenso  prinzipiellen  Unvollendbarkeit  in  einem  konstitutiven 
System  zusammenbesteht,  klar  den  Ausweg,  den  es  zu  beschreiten  gilt. 

An  die  Stelle  der  konstitutiven  Theorie  hat  die  regulative  zu 
treten.  Man  darf  nicht  voreilig  systematisieren;  und  jene  obersten 
Grundsätze  aller  psychologischen  Theorie  dürfen  nur  als  regulative 
Prinzipien  für  die  Bildung  von  Induktionen  gebraucht  werden. 
D.  h.  man  darf  freilich  so  verfahren,  wie  wir  oben  geschildert  haben: 
daß  man  sie  systematisch  verbindet  und  durch  Aufnahme  allgemein- 
ster empirischer  Abstraktionen  erweitert;  aber  man  darf  nicht  ver- 
gessen, daß  durch  diese  Verfahren  der  konstruktiven  Psycho- 
logie immer  nur  ein  toter  Mechanismus  entsteht,  sei  er  nun  das 
Gerüste  einer  Klassenordnung,  sei  er  eine  starre  Schlußreihe,  in  welcher 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  393 

der  lebendige  Organismus  des  Seelischen  zergeht.  Die  konstruktive 
Tendenz  derartiger  Psychologien  hat  zwar  oft  heuristischen  Wert  — 
man  denke  an  die  Assoziationspsychologie!  —  ist  aber,  als  konstitu- 
tives Moment  des  psychologischen  Wissenschaftsganzen  gedacht, 
immer  eine  fiktive  und  einseitige  Grundlegung.  Heuristisch,  als 
regulatives  Prinzip  der  Arbeit,  kann  sie,  wie  gesagt,  wertvoll  sein. 

Unter  dem  regulativen  Gesichtspunkt  theoretischen  Denkens  in 
der  Psychologie  verstehen  wir  die  Anwendung  der  rationalen  Voraus- 
setzungen wissenschaftlichen  Denkens  als  leitende  Forschungs- 
maximen.  Leitende  Maximen,  Hilfsbegriffe  und  Arbeitshypo- 
thesen sind  logisch  verschiedenartige  Konzeptionen  zum  Zweck  der 
Bestimmung  des  Verhältnisses  von  Fall  und  Regel  bei  der  Induktion. 
Sie  treten  da  in  Wirksamkeit,  wo  der  Inhalt  gegebener  Regeln  auf 
die  gerade  untersuchte  Klasse  von  Fällen  nicht  anwendbar  ist.  Nun 
ist  aber  die  Gleichartigkeit  von  Fällen,  und  mithin  ihre  »Klasse«, 
durch  den  Inhalt  der  Regel  definiert,  der  sie  unterstehen  —  wenn 
wir  die  Möglichkeit  des  Zufalls  außer  acht  lassen.  Wenn  daher  eine 
Regel  auf  eine  Klasse  von  Fällen  nicht  kategorisch  und  konstitutiv 
zutrifft,  so  kann  das  folgende  Gründe  haben: 

Erstens  können  die  Fälle  so  verlaufen,  daß  ihre  Verlaufsmerkmale 
nicht  unter  den  Inbegriff  der  in  der  Regel  gemeinten  Verläufe  logisch 
gehören.  Dann  ist  zwar  die  Regel  richtig,  aber  hat  auf  das  betreffende 
Gegenstandsgebiet  keine  Anwendung. 

Zweitens  kann  der  Inhalt  der  Regel  zwar  auch  für  die  in  Frage 
stehenden  Fälle  zutreffen,  zugleich  aber  noch  für  eine  Reihe  anderer 
Fälle,  die  von  den  ersteren  durch  eine  besondere  gleichartige  Eigen- 
tümlichkeit sich  unterscheiden.  Diese  herausgehobene  Gleichartig- 
keit ist  zwar  bezeichenbar,  aber  noch  nicht  durch  eine  besondere 
gesetzmäßige  Bedingung  erklärt.  Gesucht  wird  hier  also  die  be- 
sondere Bestimmung  des  allgemeinen  Gesetzes,  durch  welche  jene 
Besonderheit  eines  Teiles  der  Fälle  bedingt  ist.  Eine  Anweisung 
zur  Bildung  dieser  Bestimmung  ist  die  leitende  Maxime. 
Die  Bestimmung  selber  ist  entweder  ihrerseits  ein  Gesetz 
oder  eine  Arbeitshypothese. 

Drittens  kann  die  Schwierigkeit  der  Bestimmung  des  Verhält- 
nisses von  Fall  und  Regel  bei  den  Fällen  liegen.  Die  Gleichartigkeit 
der  Fälle  wird  zwar,  wenn  ein  Gesetz  gesucht  wird,  als  Faktum  vor- 
ausgesetzt. Aber  die  Erkenntnis  dieser  Gleichartigkeit  hat  etwas 
Schwieriges.  Sie  beruht  nämlich  zunächst  auf  einem  willkürlichen 
Abstraktiousakt.  Das  Kriterium  für  die  Berechtigung  dieser  Ab- 
straktion wäre  doch  erst  die  Regel;  aber  gerade  diese  wird  ja  auf 
Grund  der  faktisch  vorausgesetzten  Gleichartigkeit  erst  gesucht. 
Hieraus  folgt  ein  prinzipiell  sehr  wichtiges  Wechselverhältnis 
zwischen  Abstraktion  und  Induktion:  Einmal  sind  die  all- 
gemeinsten Induktionen  die  theoretischen  Leitmaximen  für  die 
Abstraktion,  für  dasjenige,  was  an  Abläufen  im  Hinblick  auf  ein  et- 
waiges gesetzliches  Geschehen  wesentlich  und  bedeutsam  ist.  Ferner 


394     Grandlinicn  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

aber  sind  die  Abstraktionen  des  Gleichartigen  Arbeits- 
gesichtspunkte,  Arbeitsbegriffe  für  den  Ansatz  hypothe- 
tischer Erklärung.  Ein  Verfahren,  in  welchem  die  Abstraktions- 
ergebnisse nicht  diese  rein  heuristische  Rolle  spielen,  sondern  als 
selbständige  Realitäten  fungieren,  nennen  wir  objektive 
Psychologie^).  So  ist  beispielsweise  der  sogenannten  Elementar- 
psychologie eigentümlich,  die  Elemente,  etwa  die  Empfindungs- 
qualitäten, welche  in  Wahrheit  Ergebnisse  von  Abstraktionen  sind, 
die  unter  einem  bestimmten  Gesichtspunkt  erfolgten,  als  die  realen 
Bausteine  des  Psychischen  zu  betrachten.  —  Auf  der  anderen  Seite 
aber  darf  nicht  ganz  willkürlich  abstrahiert  werden,  sondern  die 
Abstraktionen  haben  nur  insofern  Wert,  als  sie  zur  Er- 
klärung der  Erscheinungen  durch  die  allgemeinsten  Ge- 
setze überhaupt  beitragen  können,  als  mithin  eine  Mög- 
lichkeit besteht,  die  Formen  gesetzmäßiger  Erkenntnis 
durch  sie  irgendwie  näher  bestimmen  zu  können.  Sonst 
bleiben  sie  leere  Willkür.  »Die  Abstraktionen  müssen  daher  den 
Gesetzen  der  Metaphysik  der  inneren  Natur  folgen« 2),  nicht  als  kon- 
stitutiver Erklärungsgrundlage,  wohl  aber  als  leitenden  Maximen, 
gemäß  denen  ihre  Erklärbarkeit  sich  erwarten  ließe;  nur  dann  ver- 
mögen sie  zu  Arbeitsgesichtspunkten  für  theoretische  Determinationen 
zu  werden. 


Die  Stellung  der  Phänomenologie   in  der  Psychologie. 

Wenn  wir  an  der  Hand  der  bisherigen  Ausführungen  nunmehr 
versuchen,  den  phänomenologischen  Abstraktionen  ihre  Stellung  im 
Ganzen  der  Psychologie  anzuweisen,  so  dürfen  wir  sagen:  Phäno- 
menologie ist  eine  notwendige  Vorwissenschaft  jeglicher  psycholo- 
gischen Theorie,  insofern  diese  die  Aufgabe  hat,  Phänomene  (gene- 
tisch) zu  erklären.  Sie  ist  eine  Vorwissenschaft  in  dem  gleichen  Sinne, 
wie  jede  psychologische  Ontologie  das  ist.  Einmal  ist  sie  die  Vor- 
bedingung der  Bildung  jeder  möglichen  Theorie,  sodann  aber  er- 
fordert sie  dieselbe;  ohne  diese  bleibt  sie  in  ihrem  eigenen  Wesen 
unabgeschlossen . 

Schon  ihre  Abstraktionen  sind  nicht  bloßer  Selbstzweck  —  sonst 
bestände  kein  prinzipieller  Unterschied  gegenüber  der  objektiven 
Psychologie,  deren  Abstraktionen  als  letzte  selbstzweckhafte  Reali- 
täten  auftreten.     Ebensowenig  ist  ihr  Zweck  ein  bloß  klassifikato- 


1)  Die  Unterscheidung,  welche  Jaspers  (Ztschr.  f.  d.  ges.  Neurol.  u.  Psych. 
Bd.  9.  S.  391  ff.)  zwischen  »objektiver«  und  »subjektiver«  Gegebenheit  psychischer 
Daten  trifft,  ist  zwar  populär,  aber  irrig.  Jedes  seelische  Phänomen  ist  »sinnlich 
wahrnehmbar«  oder  »rational  zugänglich«  und  darum  »objektiv«;  zugleich  aber 
ist  jedes  seelische  Phänomen  das  eines  »Ich«  und  daher  dem  Erleben  zugänglich 
und  also  »subjektiv«.  Wie  diese  beiden  Gesichtspunkte  zusammenhängen  und  in- 
einander überführbar  sind,  davon  wurde  ja  ausführlich  gesprochen. 

2)  Schmid,  a.a.O.     S.  29. 


Erlebnis  und  Erkenntnis.  395 

rischer.  Denn  jede  Klassifikation  ist  entweder  konventionelles 
Kunstprodukt  oder  sie  erfolgt  bereits  unter  der  leitenden  Maxime 
eines  sie  beherrschenden  inneren  Gesetzes.  (Beispiel  für  das  erstere: 
das  Linnegehe  System;  Beispiel  für  das  zweite:  das  natürliche 
System.)  Im  letzteren  Falle  ist  sie  selber  aber  nicht  Endzweck, 
sondern  Ausdruck  dieses  Gesetzes^).  —  Mithin  stehen  die  Abstrak- 
tionen in  mehrfacher  Wechselwirkung  mit  den  theoretischen  Er- 
kenntnisweisen. Erstens  sind  sie  der  Ausdruck  von  theoretisch  er- 
kennbaren, aber  nicht  näher  zu  bestimmenden  Gesetzen  des  seelischen 
Geschehens,  für  welches  sie  gebildet  wurden.  Ihr  logisches  Verhältnis 
ist  zugleich  der  Index  der  Rangabstufung  jener  einzelnen,  noch  un- 
bestimmten induktiven  Gesetze.  Daher  erfolgen  sie  insgesamt  unter 
theoretischen  Leitmaximen  allgemeinster  Art  —  oder  sie  werden 
zu  uferlosen  und  sinnleeren  Wortspielereien.  Die  vollzogenen  Ab- 
straktionen selber  sind  die  Arbeitsgesichtspunkte  für  eine  induktive 
theoretische  Bearbeitung.  In  diesem  Sinne  hat  das  phänomeno- 
logische Arbeitsgebiet  seine  eigene  adäquate  Theorie  zu 
fordern.  Diese  ließe  sich  ausbilden  erstens  als  konstitutive  Kon- 
struktion über  das  phänomenologische  Gegenstandsgebiet  (Beispiel: 
Lehren  Brentanos  und  Martys),  oder  als  regulative  Tlieorie  neben 
den  anderen  regulativen  Gesichtspunkten  psychologischer  Theoretik : 
dem  der  Genesis  der  seelischen  Formen,  dem  der  Dynamik  der  seeli- 
schen Inlialte,  dem  psychophysiologischen  Gesichtspunkte.  Von 
den  beiden  letzteren  unterscheidet  sie  sich  durch  die  Immanenz 
ihrer  Arbeitsbegriffe,  die  diesen  beiden  theoretischen  Bearbeitungs- 
weisen fehlen  muß. 

Wenngleich  aber  Phänomenologie  sich  ohne  theoretische  Weiter- 
arbeit nicht  erfüllt,  so  ist  ihr  es  doch  ebenso  wesentlich,  jeder  mög- 
lichen Theorie  vorauszugehen  —  sowohl  der  ihr  adäquaten,  als  auch 
jeder  unter  anderen  heuristischen  Gesichtspunkten  gebildeten. 
Daraus  folgt  als  ihre  Arbeitstendenz :  möglichste  Allseitigkeit  des 
abstraktiven  Erfassens  der  Merkmale;  Einschränkung  der  Leit- 
maximen auf  die  allerumfassendsten  und  allgemeinsten  Formbegriffe ; 
Vermeiden  ausgebildeter  Systematik:  kurz  eine  dem  wissenschaft- 
lichen Abschluß  entgegenwirkende  Tendenz.  Nur  durch  diese  ver- 
mag sie  sich  lebendig  zu  erhalten  zur  steten  Erfüllung  ihrer  Aufgabe : 
den  ganzen  Reichtum  seelischen  Erlebens  restlos  zu  umfassen  und 
einzufangen,  soweit  das  menschlicher  Erkenntnis,  die  dadurch  be- 
schränkt wird,  daß  sie  bestimmte  Erkenntnis  ist,  überhaupt  ge- 
geben ist. 

1)  Man  hört  oftmals,  das  Gesetz  der  Klassifikation  sei  ein  »morphologisches«, 
kein  genetisches.  Hiermit  vormag  ich  einen  Sinn  nicht  zu  verbinden.  Etwas  ist 
entweder  ein  Gesetz  oder  nicht.  Wenn  ja,  so  erklärt  es  seine  Gegenstände  ihrer 
Existenz  und  ihrer  Bestimmtheit  nach.  Eine  solche  Erklärung  ist  —  schon  den 
sie  fimdierenden  metaphysischen  Formen  gemäß  —  immer  »genetisch*:  d.  h.  das 
Gesetz  eines  Geschehens,  eines  Gewordenseins.  Gesetze  morphologischer  Formen 
sind  entweder  ebenfalls  genetische,  oder  es  sind  keine  Gesetze. 


396     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen, 

4.   Die  phänomenologisclien  Aufgaben  in  der  Psychiatrie; 
nebst  Bemerkungen   über  die  Krankheits-  und   Symptom- 
begriffe derselben. 

a)  Die  psychologisch-klinisclien  Fragestellungen  und  ihre 
phänomenologische  Zuspitzung. 

Wenn  in  einer  Einzelwissenschaft  eine  bis  dahin  unbekannte  oder 
doch  nicht  bewußt  und  systematisch  ausgeübte  Forschungsrichtung 
zum  Durchbruch  zu  gelangen  strebt  —  so  wie  dies  die  Phänomeno- 
logie derzeit  in  der  Psychiatrie  tut,  so  kann  sie  den  Rechtsgrund 
iiirer  neuen  Ansprüche  nur  dann  erweisen,  wenn  sie  ihre  speziellen 
Arbeitsweisen  als  berufen  dartut,  eine  Lücke  in  der  bisherigen  For- 
schung auszufüllen,  die  deren  weiteren  Fortschritt  hemmt  und  die 
durch  die  bisher  angewandten  Methoden  prinzipiell  nicht  überbrückt 
zu  werden  vermag.  Nicht  daß  sie  richtig  verfährt  oder  in  sich  ge- 
schlossen ist,  hat  die  Phänomenologie  zu  beweisen,  sondern  darüber 
hinausgehend:  daß  sie  für  die  Psychiatrie  nicht  überflüssig,  daß  sie 
vielmehr  für  diese  mit  Notwendigkeit  gefordert  ist.  Und  dieser 
letztere  Beweis  kann  nur  dann  als  erbracht  anerkannt  werden,  wenn 
im  Verlaufe  der  psychiatrischen  Forschung  selber  die  Lücke  ans 
Licht  tritt,  die  notwendig  ausgefüllt  werden  muß,  soll  Psychiatrie 
als  Wissenschaft  fortschreiten,  und  die  nur  und  ausschließlich  von  der 
phänomenologischen  Forschungsrichtung  ausgefüllt  wird. 

Dieser  Aufgabe  haben  wir  uns  also  zu  widmen,  indem  wir  die 
Grundgesichtspunkte  psychiatrischen  Forschens  einer  kurzen  histo- 
rischen Revision  unterwerfen.  Gelingt  es  uns,  auf  diesem  Wege  dar- 
zulegen, daß  die  Phänomenologie  zu  ihrem  Anspruch  auf  Mitwirkung 
in  diesem  Forschen  berufen  ist,  so  wird  alsdann  die  Forschung  der 
Zukunft  zu  zeigen  haben,  was  sie  hier  faktisch  leistet  und  noch  leisten 
wird. 

An  der  wissenschaftlichen  Psychiatrie,  so  wie  sie  sich  historisch 
entwickelt  hat,  lassen  sich  drei  Perioden  unterscheiden;  jede  der- 
selben trug  zum  Entstehen  der  gegenwärtigen  psychologisch-klini- 
schen Fragestellungen  und  ihrer  phänomenologischen  Zuspitzung 
grundlegendes  Material  hinzu  ^). 

Die  erste  Periode  ist  diejenige  spekulativer  psychologischer 
Theorie;  inauguriert  durch  Esquirols  französisches  Vorbild  und 
durch  Heinroth  und  Hoffbauer.  Man  isolierte  die  psychotischen 
Symptome  voneinander  und  suchte  hinter  dem  einzelnen  psycho- 
logischen Tatbestand  die  Störung  der  psychischen  Ablaufklasse,  der 
er  entsprach.  Diese,  als  ein  »Vermögen  des  Geistes«,  hatte  ihre 
Stelle  in  einem  sozusagen  topographischen  System  des  Geistes.  Gewiß 
war  es  wertvoll,  auf  diese  Weise  gleichsam  an  der  Hand  eines  syste- 
matischen  Leitfadens   zu    jedem    beliebigen   psychischen   Symptom 


^)  Vgl.  meine  Ausführungen  S.  89  ff.  dieses  Buches. 


Die  phänomenologischen  Aufgaben  in  der  Psychiatrie  usw.  397 

die  Störung  der  es  fundierenden  Gesehehcnsklasse  zu  ermitteln  und 
bei  diesem  Verfahren  bis  zu  den  Fundamenten  aller  psychischen 
Abläufe  herabzusteigen.  Dennoch  litt  diese  Periode  an  drei  Mängeln, 
deren  Überwindung  der  Folgezeit  vorbehalten  blieb. 

Einmal  nämlich  waren  alle  jene  Systeme  und  Theorien  des  Geistes 
nicht  durch  Abstraktion  und  Jnduktion  aus  empirischen  Ausgangs- 
materialien gewonnen,  sondern  konstruktiver  Art,  wobei  aber  die 
Konstruktion  kein  heuristischer  Gesichtspunkt,  sondern  das  kon- 
stitutive Fundament  psychiatrischer  Theorie  war.  Man  ging  aus 
von  gewissen  allgemeinen  psycliologischen  Naturbegriffen,  z.  B. 
von  einer  oder  mehreren  Grundkräfteu,  Grundvermögen  oder  auch 
bloßen  Definitionen  der  Seele,  die  man  hypothetisch  aufstellte  und 
denen  man  die  besonderen  Tätigkeiten  und  Erscheinungsweisen  nur 
logisch  unterzuordnen  suchte,  indem  man  sie  nur  nach  den  allgemeinen 
Begriffen  klassifizierte  und  so  durch  logische  Definitionen  bestimmte, 
oder  indem  man  sie  durch  Schlüsse  daraus  ableitete  und  so  als  Folge 
aus  ihren  Gründen  erklärte^).  Wir  wissen  aus  unseren  bisherigen 
Erörterungen  über  das  Wesen  psychologischer  Theorie,  wo  der  logische 
Fehler  derartiger  Theorienbilduugen  steckt.  Herbarts  und  Wundts 
Bemühungen  ist  es  gelungen,  das  Irreführende  derartiger  Konstruk- 
tionen grundsätzlich  aus  der  Psychologie  auszuschalten. 

Der  zweite  Fehler  dieser  Richtung  lag  an  der  dauernden  Iden- 
tifizierung dessen,  was  die  abstraktive  Analyse  der  Symptome  ergab, 
mit  der  genetischen  und  ätiologischen  Quelle,  durch  die  diese  Sym- 
ptome bedingt  waren;  er  bestand  in  der  Vermischung  der  Begriffe 
Grund  und  Ursache  in  ihrer  Anwendung  auf  Psychisches.  Man 
übersah,  daß  der  analytische  ermittelte  Grund  eines  Symptoms  — 
nämlich  die  gestörte  Funktion,  der  es  entstammte  —  zwar  die  Be- 
dingung seiner  Möglichkeit  hinreichend  klarlegte,  aber  keines- 
wegs die  Ursache  seines  wirklichen  Eintritts  aufdeckte.  Auch  für 
die  gestörte  Grundfunktion  besteht  doch  das  Problem  ihrer  gene- 
tischen Erzeugung.  Dies  Problem  aber  bestand  für  jene  Psychiatrie 
noch  nicht.  Die  psychotischen  Zustände  waren  noch  nicht  Symptome 
von  Krankheiten  im  Sinne  der  somatischen  Medizin.  Der  Erkenntnis- 
grund psychotischer  Phänomene  wurde  mit  ihrem  Realgrund  indenti- 
fiziert.  Die  Frage  nach  dem  jeweiligen  genetischen  Gesetz  eines 
psychotischen  Zustands  bestand  nicht :  geistige  Krankheiten  wurden 
nicht  hiernach  unterschieden,  sondern  allenfalls  nach  äußerlichen 
Wertgesichtspunkten,  wie  »Zerrüttung«,  »Schwäche«  usw.  Als 
einziges  genetisches  Problem  bestand  für  die  Forscher  jener  Zeit  die 
Frage  nach  der  Ursache  des  geistigen  Gestörtscins  überliaupt;  und 
dieses  hielten  sie  nicht  für  empirisch  entscheidbar:  sie  verfielen  be- 
kanntlich teilweise  auf  Dämonen,  auf  ein  metaphysisches  Verschulden 
und  ähnliche  transzendente  Dinge. 

Dieser  Mangel  der  genetischen  Gesichtspunkte  bewirkte  den  dritten 


1)  Schmid,  a.  a.  O.     S.  39. 


398     Grandlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Fehler  jener  psychiatrischen  Richtung:  das  Außerachtlassen  der 
somatischen,  insbesondere  der  Gehirnsymptome,  die  natürlich  in 
eine  derartige  Auffassung  vom  Wesen  der  geistigen  Störung  nicht 
einzugehen  vermögen.  Aber  bei  allen  Mängeln  wird  es  das  bleibende 
Verdienst  dieser  psychiatrischen  Forschungsrichtung  sein,  zuerst 
eine  Systematik  der  psychotischen  Erscheinungen  an- 
gestrebt zu  haben. 

Die  zweite  Periode  psychiatrischer  Arbeit  knüpft  sich  an  die 
französischen  Vorbilder  von  Fair  et  und  Baillarger,  erhält  ihre 
stärksten  Impulse  durch  die  ungeahnten  Fortschritte  der  damals 
mächtig  aufstrebenden  Physiologie  des  Zentralnervensystems,  und 
zeitigt  als  ihre  bedeutendsten  Vertreter  Griesinger,  Meynert, 
Westphal  und  Wem  icke.  Diese  Periode  trägt  den  materialisti- 
schen Gedankengängen  ihres  Zeitalters  in  weitgehendem  Maße 
Rechnung:  die  Seele  wurde  ihr  nichts,  das  Gehirn  alles.  Der  große 
Gewinn,  den  sie  brachte,  war  die  Erkenntnis  von  der  somatischen 
Genese  und  der  zerebralen  Lokalisation  vieler  Geisteskrankheiten. 
Und  zwar  wurde  jede  genetische  Erklärung  psychischer  Zustände 
ins  Physische  gewendet  und  durch  Zuweisung  an  irgendeine  Gehirn- 
stelle vollzogen.  So  gelang  zum  ersten  Male  eine  Reihe  genetischer 
Induktionen  auf  Krankheitseinheiten,  welche  rein  zerebral  bestimmt 
waren.  Das  wichtigste  und  im  Leben  jedenfalls  fast  allein  beobacht- 
bare Merkmal  aller  Geisteskranken,  das  psychische  Syndrom  in  seiner 
jeweiligen  Besonderheit,  galt  an  sich  nichts  mehr;  es  diente  bloß 
noch  im  allgemeinen  zum  Signal  für  die  Annahme  von  Hirnprozessen,, 
die  es  zu  lokalisieren  galt.  Bei  dieser  Einseitigkeit  des  Gesichts- 
punktes mußten  sich  neben  glänzenden  Erfolgen  auch  gewisse  Schwie- 
rigkeiten einstellen.  So  zeigte  sich  bald  die  nicht  grundsätzliche, 
sondern  mehr  methodische  Bedenklichkeit,  daß  die  anatomischen 
und  physiologischen  Forschungsmöglichkeiten  der  ihnen  gestellten 
Aufgabe,  der  Lokalisation  der  einzelnen  Gehirnfunktionen  und  der 
Bindung  der  psychischen  Ablaufgruppen  an  diese  Gehirnfunktionen, 
einfach  nicht  gewachsen  waren  und  es  wohl  auch  in  absehbarer  Zeit 
nicht  sein  werden.  Dieser  Mangel  an  methodischen  Möglichkeiten 
führte  dazu,  daß  an  die  Stelle  der  anatomisch-physiologischen  In- 
duktionen, die  zu  gewinnen  die  Forschung  nicht  vorgeschritten  genug 
war  und  deren  Verknüpfung  mit  den  psychologisch-klinischen  Bildern 
kein  Problem  beseitigte,  sondern  unübersehbar  viele  neue  schaffte, 
die  psychophysiologische  Hypothese  trat.  Die  Gefahr  dieser  Ent- 
wickelung  lag  in  folgendem:  die  für  das  Morphologische  geltenden 
Ordnungsgesichtspunkte  wurden  ohne  weiteres  auf  das  Psychische 
übertragen;  und  umgekehrt  wurden  die  nur  psychologisch  trennbaren 
Einheiten  ohne  weiteres  mit  räumlich  trennbaren  Gehirnstellen,  mit 
morphologisch  gewonnenen  Einheiten  gleichgesetzt.  Sowohl  der 
Reichtum  der  psychologischen  Mannigfaltigkeit  als  auch  das  innere 
Gesetz  der  morphologischen  Befunde  mußte  durch  derartige  Lokali- 
sationsmaximen  eine  schematisierende  und  ihrer  jeweiligen  inneren 


Die  i^hänomenologischcn  Aufgaben  in  der  Psychiatrie  usw.  399 

Struktur  nicht  entsprechende  Vereinfachung  erleiden,  üo  hat  Kleist 
noch  kürzlich  im  Gebiet  der  Dementia  praecox  eine  große  Reihe 
psychischer  Formen  und  Symptome  mit  bewußter  Einseitigkeit  ver- 
nachlässigt, um  mit  Hilfe  der  Motilität  allein  eine  hypothetische 
Lokalisation,  und  damit  eine  vermeintliche  Erklärung  dieser  Er- 
krankung zu  konstruieren^). 

Schwerer  wiegt  noch  eine  zweite  Bedenklichkeit  auf  welche  diese 
Periode  psychiatrischer  Forschung  stoßen  mußte  Sie  ist  prinzipieller 
Art:  die  Existenz  der  Psychopathen  und  abnormen  Persön- 
lichkeiten. Die  Annahme  genetisch  wirksamer,  lokalisierbarer 
Hirnprozesse  mußte  hier  naturgemäß  versagen;  obwohl  auch  hier 
mit  imaginären  Hirnveränderungen,  mit  Stoffwechselvergiftungeu 
und  ähnlichen  Hypothesen  gearbeitet  wurde.  Lediglich  einen  all- 
gemeinen psychophysischen  Begriff  für  die  Verursachung  dieser 
Psychopathien  trugen  Morel  und  Magnan  in  ihrer  Degenerations- 
lehre  hinzu.  Allein  dieser  Begriff,  der  somatischen  Pathologie  ent- 
lehnt, verlor  in  seiner  psychiatrischen  Anwendung  mehr  und  mehr 
an  deskriptiven  Merkmalen,  so  daß  zuletzt  bloß  noch  eine  begrifflich 
unklare  Beziehung  zur  Heredität  und  zu  anthropologischen  Kri- 
terien übrigblieb  und  er  im  übrigen  eine  recht  willkürliche  Wert- 
bezeichnung darstellt.  Seine  Annahme,  durch  die  forensische  Praxis 
begünstigt,  zog  das  Eindringen  weiterer  Wertbegriffe  in  das  Gebiet 
einer  bis  dahin  rein  deskriptiven  Wissenschaft  nach  sich  und  bahnte, 
bei  dem  Mangel  aller  klar  herausgearbeiteten  Kriterien  für  derartige 
Wertungen,  einen  nicht  gefahrlosen  Nebenweg  für  die  Forschung  an  2). 

Die  zweite  Periode  der  wissenschaftlichen  Psychiatrie  war  also, 
nach  der  einseitigen  Struktur  ihrer  Methoden  und  ihrer  hirnpatho- 
logischen Gesichtspunkte,  ebenfalls  dem  ihr  gestellten  Problemkreis 
nicht  nach  allen  Seiten  hin  gewachsen.  Ihr  bleibendes  Verdienst 
aber  ist  ein  doppeltes :  Der  Beginn  einer  Hirnlokalisation  bestimmter 
Symptomgruppen,  insbesondere  der  Störungen  des  Sprechens  und 
der  geordneten  zweckdienlichen  Motilität,  des  Handelns;  und  die 
Reduktion  psychischer  Verläufe  auf  in  sich  einheitliche  Störungen 
der  Hirnprozesse. 

Den  beiden  skizzierten  Perioden  ist  ein  merkwürdiger  Mangel 

1)  Kleist,  Unters,  z.  Kenntn.  d.  psychomotor.  Bewegungsstörungen  bei 
Geisteskranken.     Leipzig  1908. 

-)  Natürlich  ist  damit  gar  nichts  wider  die  grundsätzliche  Berechtigung  der- 
artiger Wertbegriffe  in  der  Psychiatrie  ausgemacht.  Dieses  Problem  muß  viel- 
mehr sorgsam  logisch  untersucht  werden.  Es  gipfelt  in  der  Frage,  inwieweit  das 
soziale  Verhalten  zum  Kriterium  psychischer  Tj'pik  zu  werden  vermag.  Ich  habe 
diese  Untersuchung  an  einer  besonderen  Stelle  dieses  Buches  ausführlich  durch- 
geführt und  kann  daher  an  dieser  Stelle  einfach  darauf  venveisen.  Ebensowenig 
soll,  mit  der  obengenannten  logischen  Stigmatisierung,  der  Degenerationsbegriff 
und  das  Konstitutionsproblem  in  seiner  ungeheuren  heuristischen,  nicht 
theoretischen  Bedeutung  für  unsere  Forschung  abgetan  sein.  Vielmehr  stehe  ich 
hier  auf  dem  ausgesprochen  »endogenen«  Standpunkte,  den  am  klarsten  Birn- 
baum in  einer  ausgezeichneten  Arbeit  entwickelt  hat  (Ztschr.  f.  d.  ges.  Xeur.  u. 
Psych.    Bd.  20.     1913.    S.  520 ff.). 


400     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

gemeinsam,  der  aber  mit  Notwendigkeit  aus  ihrer  Arbeitsweise  folgt : 
sie  haben  keinen  durchgearbeiteten  klinischen  Krankheits- 
begriff, der  auf  die  psychotischen  Formen  und  Ablaufgruppen 
anwendbar  wäre. 

Die  erste  Periode  differenzierte  nur  die  Phänomene  und  Zustände 
voneinander  nach  einem  konstruierten  System  ihrer  fundierenden 
Funktionen;  aber  alle  Mannigfaltigkeit,  zu  deren  theoretischer  Ord- 
nung sie  so  gelangte,  gehörte  ätiologisch  der  einen  Störung  des 
Geistes  zu,  der  psychischen  Krankheit,  die  dämonologisch  oder  mo- 
ralisch bedingt  ist. 

Die  zweite  Epoche  setzt  eine  psych ophysi sehe  Formel  als  Er- 
klärungsgrund für  das  Auftreten  von  psychischen  Symptomen  an 
und  verwendet  die  letzteren  nur  insoweit  zergliedernd  und  differen- 
zierend, als  diese  Arbeit  zur  nächsten  Bestimmung  und  Lokalisierung 
der  psychischen  Prozesse  dienen  kann.  Sie  überträgt  willkürlich 
Gesichtspunkte  extensiver,  räumlicher,  morphologischer  Trennung 
und  Ordnung  auf  psychisches,  völlig  heterogenes  Material.  Dessen  — 
nicht  induktiv,  sondern  nur  analytisch  zu  ermittelnde  —  Struktur 
und  dessen  eigene  Gesetze  —  die  bei  der  inextensiven  Natur  des 
Psychischen  sich  doch  nur  in  zeitlichen  Verknüpfungen  und  Zu- 
sammenhängen abzudrücken  vermögen  —  werden  ganz  außer  acht 
gelassen.  Das  zeitliche  Moment,  der  Verlauf  der  Prozesse,  spielt 
keine  Rolle  in  dieser  Theorie.  Es  ist  natürlich  nicht  so,  daß  ein 
Meister  wie  etwa  Wernicke  diesen  Dingen  keine  Beachtung  ge- 
schenkt hätte;  aber  wenn  er  das  tat,  so  geschah  es  in  unbewußtem 
Widerspruch  zu  den  leitenden  Maximen  seiner  Theorie,  trotz  den- 
selben, lediglich  auf  Grund  seiner  Forscherintuition. 

Auf  Grund  der  Vorarbeit  dieser  beiden  Epochen,  aber  infstarkem 
Gegensatz  zu  ihnen  entstand  die  dritte  Periode  wissenschaftlicher 
Psychiatrie,  eingeleitet  durch  Kahlbaum  und  zur  Höhe  geführt 
durch  Kraepelin.  Was  diese  dritte  Richtung  an  die  Materie  heran- 
trug, war,  um  es  mit  einem  Schlagwort  zu  bezeichnen,  die  noso- 
logische Fragestellung. 

Es  ist  trivial,  daß  die  eigentliche  Aufgabe  der  Psychiatrie,  die 
aller  empirischen  Wissenschaften,  darin  besteht,  Gesetze  über  den 
Zusammenhang  von  Phänomenen  aufzufinden.  Daraus  folgt,  daß 
die  endgültige  Arbeit  der  Psychiatrie  darin  zu  bestehen  haben  würde, 
die  kausalen  Verknüpfungen  aller  ihrer  einzelnen  Phänomene  nach 
Gesetzen  zu  bestimmen.  Diese  Arbeit  wird  eine  ätiologische  sein, 
aber  in  einem  weiteren  Sinne,  als  die  zweite  Periode  diesen  Begriff 
gefaßt  hatte  —  im  Sinne  der  vollständigen  Pathogenese.  Es  besteht 
nun  aber  ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  der  vollendeten 
pathogenetischen  Erkenntnis,  oder  allgemeiner:  der  vollständig  be- 
stimmten Erkenntnis  des  Gesetzes,  d.  h.  der  Bestimmung  der  hin- 
reichenden und  notwendigen  Bedingungsreihe  für  den  Eintritt  der 
Phänomene  —  und  andererseits  der  Erkenntnis  davon,  daß  für  diese 
Phänomene  ein  solches  Gesetz  genetischen  Geschehens  besteht  oder 


Die  phänomenologischen  Aufgaben  in  der  Psychiatrie  uaw.  401 

zu  fordern  ist,  ohne  daß  es  aber  bereits  vollständig  bestimmt  oder 
auch  nur  bestimmbar  wäre.  Dieser  Unterschied  ist  wesentlich. 
Dasjenige,  was  der  zweite  Teil  der  Alternative  ausdrückt,  ist  die 
logische  Formel  für  die  nosologische  Fragestellung;  es  bestimmt 
den  Begriff  der  Krankheit,  Krankheitseinheit  und  ihr  Verhältnis 
zum  Symptom  in  der  Psychiatrie.  Daß  über  diese  Begriffe  kein 
Psychiater  recht  Bescheid  weiß,  daß  man  sich  darüber  streitet,  ob 
die  Krankheitseinheit  eine  Realität  i),  ein  Orientierungsgesichts- 
punkt 2)  oder  ein  Phantom  3)  ist,  und  welche  Rolle  bei  all  diesen  Auf- 
fassungen das  Symptom  spielt,  beweist  nur,  daß  die  mangelhafte 
logische  Durchbildung  der  Ärzte  dazu  führt,  selbst  relativ  einfache 
Verhältnisse  hoffnungslos  zu  verwirren. 

Der  Begriff  der  Krankheit  ist  der  Begriff  eines  genetischen  Ge- 
setzes. Die  Krankheitseinheit  ist  die  Einheit  dieses  Gesetzes.  Diese 
Einlieit  gilt  mit  Notwendigkeit.  Die  Frage,  ob  die  Krankheit  eine 
Realität  sei  oder  nicht,  beruht  also  auf  dem  Mißbrauch  des  Wortes 
Realität.  Sie  ist  ein  Gesetz  für  Realitäten.  Sind  beobachtbare 
Realitäten  diesem  Gesetze  subsumierbar,  so  liegt  ein  Realfall  der 
Krankheit  vor.  Weder  die  Krankheiten  selber  noch  ihre  Einheit- 
lichkeit beruhen  auf  bloßen  Konventionen,  oder  sind  Orientierungs- 
gesichtspunkte. Sondern  entweder  sie  sind;  dann  sind  sie  Gesetze 
für  Sachverhalte;  oder  sie  sind  nicht;  dann  sind  sie  Phantome. 

Die  Rede  von  dem  Konventionscharakter  der  Krankheitsab- 
grenzungen beruht  auf  einem  Mißverständnis  des  Verhältnisses  von 
pathogenetischer  und  nosologischer  Begriffsbildung.  Es  ist  nämlich 
eine  verschiedene  Fragestellung,  ob  man  die  Bestimmungsstücke 
des  Gesetzes  selber  sucht,  oder  ob  man  nur  hinreichende  Merkmale 
dafür  sucht,  daß  ein  solches  Gesetz,  eine  solche  Einlieit,  vorliegt, 
ohne  das  dessen  eigene  Merkmale  schon  bekannt  sind.  Letzteres 
umschreibt  den  nosologischen  Krankheitsbegriff  der  Klinik,  ersteres 
den  pathogenetischen  Krankheitsbegriff  der  Theorie.  Wir  sahen 
bereits  an  früherer  Stelle  dieses  Buches,  daß  Abstraktionen  und 
Heraushebungen  von  Gleichartigem  immer  an  einem  Gesichtspunkt 
orientiert  sein  müssen,  der  den  Sinn  der  Bedeutsamkeit  davon  ent- 
hält, wie  Gleichartigkeit  hier  gemeint  ist.  Der  nosologische  Krank- 
heitsbegriff in  seiner  jeweiligen  Bestimmtheit  ist  nun  eine  solche 
leitende  Maxime  für  Abstraktionen,  Subsumptionen  und  vorläufige 
induktive  Schlußweisen.  Damit  ist  nicht  gesagt,  daß  er  nur  ein 
Orientierungsgesichtspunkt  ist;  er  muß  vielmehr,  sobald  er  zum 
regulativen  Prinzip  der  Ordnung  von  Phänomenen  wird,  als  gültig 
vorausgesetzt  werden.  Jenseits  dieser  Ordnung  kann  er  sich  als 
falsch  erweisen;  tut  er  das  aber,  so  hat  er  auch  vom  gleichen  Moment 


1)  Unter  den  Neueren  Bleuler,  Dem.  praec.     Wien  1908.     S.  221  ff.     Vgl 
Gruhle,  Ztschr.  f.  d.  ges.  Ncurol.  u.  Psych.    XVII.    S.  116,  118ff. 

2)  Unter  den  Neueren  Jaspers,  AÜg.   Psychopathologie.      1913.     S.  257. 

3)  Unter  den  Neueren  Ho  che,    Ztschr.   f.  d.  ges.  Neuro!,  u.  Psych.     XII. 
S.  Ö40. 

Kronfeld,  Psychiatrische  Erkenntnis.  26 


402      Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

an  seine  Rolle  als  Ordnungsprinzip  ausgespielt.     Er  ist  also  eine 
echte  naturwissenschaftliclie  Hypothese. 

Es  ist  ohne  weiteres  klar,  daß  die  letztere  Fragestellung  die  näher- 
liegende ist,  daß  sie  die  heuristische  Vorarbeit  tut,  um  die  Beant- 
wortung jener  ersten  Fragestellung,  der  definitiven,  eigentlichen 
Aufgabe  wissenschaftlicher  Forschung,  möglich  zu  machen.  Nur 
wenn  man  erkannt  hat,  daß  das  einheitliche  Gesetz  einer  gleich- 
artigen Genese  vorliegt,  hat  es  einen  wissenschaftlichen  Sinn,  dieses 
Gesetz  mit  Bestimmungen  zu  versehen.  Die  nosologische  Frage- 
stellung ist  also,  gegenüber  der  pathogenetischen,  eine  notwendige 
Vorarbeit  1). 

Es  wird  klar  sein,  daß  auch  die  Stellung  des  Phänomens  zur 
Krankheit,  d.  h.  die  Stellung  des  Symptoms,  eine  wesentlich  andere 
ist,  wenn  unter  Krankheit  der  klinisch-nosologische  oder  der  patho- 
genetische Krankheitsbegriff  gemeint  ist.  Der  letztere  Fall  ist  ein- 
fach. Ist  das  ätiologisch-pathogenetische  Gesetz  vollständig  bestimmt, 
so  besteht  zwischen  Krankheit  und  Symptom  jene  Beziehung  zwischen 
Grund  und  Folge,  wie  sie  in  allen  empirischen  Wissenschaften  nach 
der  Theorie  der  Induktion  zwischen  Gesetz  und  Einze  Wirkung  be- 
steht. Es  gibt  bei  vollständig  bestimmter  Pathogenese  keinen  prin- 
zipiellen Unterschied  mehr  zwischen  primären  und  sekundären, 
Grund-  und  Nebensymptomen.  Vielmehr  ist  hierbei  die  Mittel- 
barkeit der  Abhängigkeit  von  dem  Gesetz  graduell  abstufbar.  Aber 
das  ist  ein  idealer  Grenzfall.  —  Je  weniger  vollständig  das  genetische 
Gesetz  bestimmt  ist  und  je  mehr  hinzutretende  Bedingungen  sonst 
noch  mitspielen,  um  so  mehr  wandelt  sich  diese  Beziehung  des  Real- 
grundes zur  Folge  in  die  des  Erklärungsgrundes  um. 

Anders  liegt  die  Sache  beim  Verhältnis  des  klinischen  Krank- 
heitsbegriffes zum  Symptom.  Dieser  ist  ja  seinem  eigenen  Gesetz 
nach  noch  unbekannt  und  unbestimmbar  und  nur  durch  die  Sym- 
ptome hinreichend  definiert.  Trotz  dieser  rein  symptomatologischen 
Definition  enthält  er  aber  mehr  als  die  bloße  Summe  der  Symptome, 
die  »Symptomkuppelung«.  Er  enthält  nämlich  darüber  hinaus  den 
Anspruch,  eine  Einheit  zu  sein  und  ein  unbekanntes  Gesetz  an- 
zuzeigen. Die  Symptome  werden  hier  durch  die  Krankheit  weder 
real  kausalisiert  noch  erklärt  noch  fundiert;  es  wird  jedoch  durch 
ihre  Zusammenordnung  zur  klinischen  Krankheit  behauptet,  daß 
das  Gesetz  ihrer  Genese  das  gleiche  und  von  anderen  unterschieden 
ist.  Das  Verhältnis  von  Symptom  und  Krankheit  im  nosologischen 
Sinne  ist  also  nicht  nur  ein  logisches:  von  Merkmal  und  Begriff  — 
sondern  zugleich  ein  theoretisches:  vom  Teil  zum  Ganzen,  welches 
die  Form  der  Einheit,  und  zwar  der  nichtlogischen  (synthetischen) 


1)  Der  ätiologische  Krankheitsbegriff  ist  ein  Unterbegriff  des  pathogene- 
tischen. Krankheit  ist  immer  das  Gesetz  einer  Wechselwirkung.  Von  dieser  gibt 
der  ätiologische  Krankheitsbegriff  die  eine  Bedingungsreihe  an,  nämlich  die  An- 
lässe des  Eintritts  der  Krankheit.  Er  gibt  also  zu  ihrer  Wesensbestimmung  zwar 
die  notwendigen  Merkmale,  aber  nicht  die  hinreichenden. 


Die  phänomenologischen  Aufgaben  in  der  Psychiatrie  usw.  403 

Einheit  hat.  Die  Symptome  sind  also  zwar  logisch  als  disparate 
Inhalte  in  der  Sphäre  eines  Begriffes  (des  klinischen  Krankheite- 
begriffes) darstellbar,  aber  ihre  Beziehung  zum  Begriffe  ist  keine 
analytische.  Der  angemessene  Ausdruck  der  Beziehung  des  noso- 
logischen Krankheitsbegriffes  zu  den  Symptomen  wäre  vielmehr  ein 
synthetisches  Urteil  vom  Typus  der  konjunktiven  Urteile^). 

Zwei  Bemerkungen  praktischer  Art  müssen  freilich  diesen  prin- 
zipiellen Festsetzungen  angefügt  werden.  Erstens  die,  daß  tatsäch- 
lich der  Stand  der  Ausbildung  unserer  Krankheitsbegriffe  ein  von 
Krankheit  zu  Krankheit  so  wechselnder  ist,  daß  unsere  Trennung 
in  den  nosologischen  und  den  pathogenetischen  Begriff  nicht  mehr 
ist  als  ein  ganz  allgemeiner  Gesichtspunkt  der  Unterordnung  dieser 
verschieden  weit  ausgebildeten  Krankheitseinheiten  unter  ein  logisches 
Schema.  Diese  Unterordnung  ist  aber  bei  der  großen  Verschieden- 
artigkeit derselben  oft  nicht  streng  möglich.  Das  ändert  natürlich 
an  der  prinzipiellen  Sachlage  nichts.  Den  Begriff  der  Psychopathie 
haben  wir  aus  Gründen  der  Vereinfachung  zunächst  überhaupt  aus- 
geschaltet und  erörtern  ihn  an  anderer  Stelle.  Zweitens  ist  die  prak- 
tische Ansicht  vom  Verhältnis  der  Symptome  zur  Krankheit  eine 
etwas  andere  als  die  hier  dargelegte  grundsätzliche.  Praktisch  han- 
delt es  sich  nämlich  nicht  sowohl  darum,  unter  Voraussetzung  eines 
nosologischen  Krankheitsbegriffes  über  die  Zugehörigkeit  von  Sym- 
ptomen zu  ihm  zu  entscheiden;  sondern  es  handelt  sich  darum,  eine 
Krankheit  aus  ihren  Symptomen  zu  erkennen.  Gegeben  sind  hierbei 
die  Symptome.  Sie  sind  Anzeichen  der  Krankheit.  Sie  können 
diese  Anzeichen  freilich  bloß  sein,  wenn  sie  als  direkte  oder  abge- 
leitete Merkmale  des  Krankheitsbegriffes  denkbar  sind.  Aber  ihre 
Zugehörigkeit  zum  Krankheitsbegriff  ist  nur  ein  notwendiges,  koin 
hinreichendes  Kriterium  für  ihr  Zeichensein,  für  ihren  Wert  als  Er- 
kennungsgrund der  Krankheit.  Denn  jedes  Phänomen  ist  prinzipiell 
als  Folge  verschiedener  Bedingungskonstellationen  möglich  2).  Prak- 
tisch entscheiden  hier  die  Ausschließlichkeit  und  statistische  Häufig- 
keit der  Zugehörigkeit  eines  Symptoms  zu  einer  Krankheit  über 
seinen  pathogenomonischen  Wert.  Aber  nichts  spricht  grundsätzlich 
dagegen,  daß  ein  pathogenomonisches  Symptom  pathogenetisch 
höchst  abgeleitet  und  irrelevant  zu  sein  vermag.  Für  uns  handelt  es 
sich  um  diese  äußerlich  praktischen  Gesichtspunkte  zunächst  nicht. 
Das  Aufwerfen  der  nosologischen  Fragestellung  in  der  Psychiatrie 
war  gerade  hier  von  besonderer  Notwendigkeit.  Denn  die  Anwend- 
barkeit des  pathogenetischen  Kranklieitsbegriffes  auf  Psychisches, 
und  die  Kriterien  dieser  Anwendbarkeit  bieten  viel  größere  Schwierig - 


1)  Vgl.  hierzu  die  Ausführungen  Meyerhofs,  a.  a.  0.  S.  81 — 88,  von  denen 
hier  freilich  in  vielen  Einzelheiten  abgewichen  wird. 

2)  Dimit  ist  freilich  noch  nicht  die  oft  behauptete  Rede  gerechtfertigt,  kein 
einziges  psychotisches  Symptom  komme  nur  bei  einer  Krankheit  vor.  Diosor  Satz 
der  »Erfahrung«  spricht  nur  gegen  die  Güte  dieser  Erfahrung  und  der  exakten 
Symptomanalysen,  auf  denen  sie  beruht. 

26* 


404     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

keiten,  als  das  etwa  in  der  somatischen  Medizin  der  Fall  war.  Dieser 
Abstand  beider  Disziplinen  hat  seinen  guten  Grund,  nicht  etwa  bloß 
im  verschiedenen  Alter  beider,  wie  man  gerne  behauptet,  sondern 
vor  allem  in  ihren  verschiedenen  Arbeitsbedingungen. 

Die  Krankheit  als  genetisches  Gesetz  umfaßt  immer  eine  Be- 
dingungsreihe, die  in  eine  zweite  in  sich  geschlossene  Reihe  von  Be- 
dingungen von  außen  her  eingreift:  nämlich  in  das  Leben  und  die 
Funktionsweisen  des  Organismus.  Beide  Bedingungsreihen  treten 
in  Wechselwirkung  miteinander.  In  der  somatischen  Medizin  war 
es  der  Physiologie  möglich,  wenigstens  die  eine  dieser  Bedingungs- 
reihen, die  des  lebenden  und  funktionierenden  Organismus  ohne  die 
Krankheit,  gesondert  zum  Gegenstand  ihrer  Forschung  zu  machen; 
und  es  ist  ihr  gelungen,  diese  Bedingungsreihe  innerhalb  der  heutigen 
methodischen  Grenzen  zu  bestimmen.  Daraus  und  aus  gleichartigen 
Methoden  und  Bestimmungen  am  kranken  Organismus  war,  für 
manche  Krankheiten,  eine  Rekonstruktion  des  pathogenetischen 
Prozesses  möglich.  Ganz  anders  liegt  das  alles  im  Psychischen! 
Hier  ist  die  genetische  Bedingungsreihe  der  normalen  Funktionen 
überhaupt  nicht  zu  ermitteln;  sie  gibt  vielmehr  ein  vorläufig  unlös- 
bares psychophysisches  Problem  auf.  Zu  ermitteln  ist  nur  Art  und 
Leistung  der  Funktionen  selber.  Die  typischen  Seinsweisen  und  For- 
men der  normalen  psychischen  Funktionen  sind  abstraktiv,  onto- 
logisch  und  phänomenologisch  feststellbar  und  experimentell  nach 
verschiedenen  Momenten  prüfbar.  Außerdem  sind  einige  kausale 
Inhaltszusammenhänge  innerhalb  des  Psychischen  als  typisch  kon- 
statierbar. Genau  das  Gleiche,  eher  noch  weniger,  ist  auch  bei  der 
kranken  Psyche  erreichbar.  Es  fehlt  also  ganz  das  Material  gene- 
tischer Beziehungen,  aus  dem  Krankheitsgesetze  herleitbar  werden. 
Von  den  sogenannten  organischen  Psychosen  gilt  das  natürlich  nur 
eingeschränkt. 

Die  Psychiatrie  hat  daher  vorerst  bei  der  Lösung  der  nosologischen 
Aufgabe  stehen  zu  bleiben  und  das  Bestehen  von  Krankheitseinheiten 
mit  Merkmalen  zu  bestimmen,  ohne  die  Krankheitseinheiten  selber 
pathogenetisch  determinieren  zu  können. 

Kraepelin  hat  dies  klar  erkannt.  Er  will  echte  nosologische 
Einheiten  aufstellen,  und  zwar  auf  Grund  einer  rein  deskriptiven 
^'hialyse.  Die  Gesichtspunkte,  unter  denen  er  vorgeht,  beruhen  auf 
einer  abstraktiven  Heraushebung  des  Gleichartigen.  Nach  ihrer 
Gleichartigkeit  grenzen  sich  die  Kranklieitsbilder  ab.  Wir  wissen 
nun  schon,  daß  die  Abstraktionen,  die  auf  derartige  Gleichartigkeiten 
abzielen,  entweder  ganz  willkürlich  sind  oder  einem  bestimmten 
Abstraktionsgesichtspunkt  folgen.  Dieser  Abstraktionsgesichtspunkt 
ist,  wie  schon  festgestellt  wurde,  der,  daß  die  Gleichartigkeit  einen 
Rückschluß  auf  die  Gesetzmäßigkeit  gestattet;  ist  also  die  leitende 
Maxime  möglicher  Induktionen  aus  dem  Abstraktionsmaterial.  Das 
wurde  bereits  anläßlich  der  Theorie  der  Induktion  erörtert.  Kraepe- 
lin nun  stellt  vier  solche  leitende  Maximen  als  Gesichtspunkte  der 


Die  jiliänomenologischen  Aufgaben  in  der  l'.sychiatrie  usw  405 

Abstraktion  für  sein  Material  auf.  Erstens  die  Gleichartigkeit  der 
Ursache,  Zweitens  die  Gleichartigkeit  des  anatomischen  Befundes. 
Drittens  die  Gleichartigkeit  der  Verläufe,  Viertens  die  Gleichartig- 
keit der  Zustände,  Die  beiden  ersten  Gesichtspunkte  der  Abstraktion 
gehören  zur  pathogenetischen  Fragestellung  im  engeren  8inne;  aber 
ohne  daß  durch  sie  beide  diese  Fragestellung  im  wesentlichen  er- 
schöpft würde.  Beide  sind  vielmehr  nur  geeignet,  äußere  Indices  für 
die  Annahme  bestimmter  Pathogenesen  zu  sein,  ohne  diese  in  ihrem 
Wesen  selbst  aufzuhellen  und  zu  bestimmen.  Beide  geben  niclit 
Merkmale  für  das  Gesetz  der  Wechselwirkung  zwischen  den  beiden 
Bedingungsreihen,  aus  dem  sich  uns  das  pathogenetische  Wesen  der 
Krankheit  zusammenstellt,  sondern  beide  geben  nur  Anzeichen  des 
somatischen  Begleitprozesses.  Aus  ihnen  kann  nie  mehr  geschlossen 
werden,  als  daß  eine  bestimmte  Ursache  Hirnveränderungen  gesetzt 
hat,  die  —  im  Falle  einer  diffusen  Rindenerkrankung  —  geistige 
Veränderungen,  Verblödung,  eventuell  den  Tod  und  neurologische 
Gehirnsymptome  verschiedener  Art  mit  sich  brachten.  Die  psycho- 
logische Artung  der  geistigen  Veränderungen  und  der  Defekte  läßt 
sich  einsichtig  aus  diesem  Gesichtspunkte  heraus  nicht  bestimmen. 
Das  hat  schon  der  alte  Spiel  mann,  schon  Griesinger  gewußt. 
Davor  steht  als  Riegel  das  psychophysische  Problem.  (Wir  sehen 
hierbei  ab  von  den  lokalisierbaren  Einzeldefekten,  deren  bloße  Sum- 
mati on  nie  das  Ganze  des  Geistes  und  der  geistigen  Störung  geben 
kann.)  Nicht  als  ob  wir  im  mindesten  die  große  praktische  Wichtig- 
keit derartiger  Fragestellungen  in  Zweifel  ziehen  wollten:  Die  Ge- 
schichte der  Abgrenzung  der  organischen  Psychosen  wäre  eine  voll- 
kommene Widerlegung  solcher  Einseitigkeit,  Aber  dies  darf  uns 
nicht  hindern,  ganz  prinzipiell  festzustellen,  daß  eine  vollständige 
pathogenetische  Erforschung  der  Psychosen  auf  diesem  Wege  nicht 
restlos  durchführbar  ist. 

Es  bleiben  also  die  beiden  anderen  grundlegenden  Abstraktions- 
gesichtspunkte des  Kr aepe linschen  Programms.  Diese  beiden  — 
das  Verlaufs-  und  das  Zustandskriterium  —  enthalten  in  der  Tat 
die  Vorbedingungen  zur  Schöpfung  nosologischer  Entitäten.  Allein 
Abläufe  sind  nur  Folgen  von  Zuständen  aufeinander;  mithin  liegt, 
worauf  zuletzt  noch  Bleuler^)  hingewiesen  hat,  das  Kriterium  für 
die  Sonderstellung  einzelner  Ablauf  typen  in  den  Zuständen,  die 
aufeinander  folgen;  oder  um  es  kurz  zu  sagen:  das  Ablaufskriterium 
ist  im  Prinzip  auf  das  Zustandskriterium  zurückführbar.  Sehen 
wir  von  den  organischen  Psychosen  ab,  deren  Sonderstellung  durch 
die  beiden  anderen  Abstraktionsgesichtspunkte  verbürgt  wird,  und 
halten  wir  uns  lediglich  an  das  Konvolut  von  Psychosen,  was  dami 
noch  übrig  bleibt  und  in  dem  man  die  Formen  der  Dementia  praecox 
und  Schizophrenien  einerseits,  des  manisch  depressiven  Irreseins  und 
der    Psychopathien    und   ihrer    Psychosen    andererseits   hat    unter- 


1)  Dem.  praecox.     S.  229. 


406     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  dea  Psychischen. 

scheiden  wollen.  Was  war  der  grundsätzliche  Unterscheidungs- 
gesichtspunkt der  nosologischen  Stellung  dieser  Verlaufstypen?  Zu- 
nächst wirklich  der  rein  äußerliche  und  mit  dem  Wesen  der  betreffen- 
den Psychosen  nicht  einsichtig  verbindbare  Gesichtspunkt  der 
Prognose.  Man  glaubte  die  aus  sich  heraus  progredienten  Abläufe 
von  denen  unterscheiden  zu  können,  bei  denen  im  allgemeinen  eine 
Rückkehr  zur  Gesundheit  einzutreten  pflegte.  Allein  solange  es 
sozusagen  äußerer  Zufall  blieb,  daß  gewisse  nosologische  Typen  eben 
fortschreitend,  andere  reversibel  waren,  und  solange  diese  Eigenschaft 
nicht  aus  dem  nosologischen  Wesen  der  betreffenden  Psychosen  be- 
gründet werden  konnte,  solange  war  dieser  Einteilungsgesichtspunkt 
ein  zweischneidiges  Schwert.  Schon  die  bloße  Statistik  der  Ablauf - 
typen  mußte  zeigen,  daß  man  so  nicht  zum  Ziele  kommen  konnte. 
Verlaufstypen,  die  lange  Jahre  hindurch  dem  manisch  depressiven 
Irresein  anzugehören  schienen,  nahmen  dann  doch  einen  progre- 
dienten Verlauf.  Typische  Melancholien  verliefen  bald  progredient 
(im  höheren  Alter)  bald  reversibel.  Katatone  Verlaufstypen  begannen 
mit  vieljährigen  zyklischen  Bildern;  andere  hatten  zwar  einen  typi- 
schen Anfangsverlauf,  dann  aber  nach  Jahren  Remissionen  von 
langer  Dauer  (selbst  von  Jahrzehnten),  so  daß  man  praktisch  von 
ihrer  Heilung  sprechen  konnte.  Das  und  noch  vieles  andere  zu  diesem 
Verhalten  ist  ja  seit  langem  das  beliebteste  Diskussionsthema  der 
psychiatrisch-klinischen  Literatur.  Ein  allgemeiner  Wirrwarr  ist 
in  der  Auffassung  unserer  nosologischen  Entitäten  entstanden;  jeder 
Forscher  hat  seine  eigene  »Einteilung«,  alle  reden  von  ihren  Er- 
fahrungen^), keiner  hat  aber  einen  über  dies  bloße  äußerliche  »Er- 
fahren« hinausgehenden  Gesichtspunkt  für  seine  Ordnungen.  Manche 
geben  das  zu  und  sind  »Skeptiker«:  sie  wissen  wenigstens,  daß  dies 
klinische  Herumreden  zwecklos  ist  (Ho che).  Andere  halten  die 
Veräußerlichung  der  klinischen*"' Arbeit  für  etwas,  das  nun  einmal 
in  ihrem  Wesen  liege;  sie  behandeln  die  nosologischen  Einteilungen 
wie  eine  Konvention,  wie  nomenklatorische  Etiketten;   auf  Grund 


'1)  Urstein  arbeitet  vorwiegend  mit  den  Erfahrungen  anderer.  Aber  dafür 
hat  er  das  Verdienst,  die  Veräußerlichung  der  rein  klinischen  Gesichtspunkte  am 
weitesten  getrieben  zu  haben  und  somit  die  allgemeine  Verwirrung  in  klinischen 
Fragen  erfreulich  erhöht  zu  haben.  Erfreulich :  denn  wenn  die  »Klinik  «  sich  immer 
wieder  so  ad  absurdum  führt,  werden  ihr  vielleicht  doch  einmal  die  bis  jetzt  so  ver- 
ächtlich beiseite  geschobenen,  an  der  Phänomenologie  orientierten  theoretischen 
Gesichtspunkte  willkommen  sein.  Dann  wird  es  wenigstens  nicht  mehr  vorkommen, 
daß  der  modernste  und  hervorragendste  unserer  Kliniker  als  Primärsymptom  der 
Schizophrenie  die  »Lockerung  des  Assoziationsgef üges «  bezeichnet  —  horribile 
dictu  — ;  oder  daß  ein  anderer  Autor  klinischer  Riesenwerke  als  Grundstörung  der 
Katatonie  die  »intrapsychische  Disharmonie«  nicht  nur  nennt,  sondern  noch  mit 
Stolz  als  seine  größte  Entdeckung  ausgibt,  und  folgerichtig  in  Prioritätskonflikte 
mit  einem  anderen  klinischen  Champion  gerät,  der  nämUch  die  »intrapsychisohe 
Ataxie«  entdeckt  hat.  Beide  Forscher,  welche  hier  eine  Geistesstörung  durch  die 
seelische  Disharmonie  erklären,  welche  diese  im  allgemeinen  mit  sich  bringt,  werden 
die  Priorität  ihrer  Entdeckung  doch  wohl  Fritz  Reuter  überlassen  müssen,  der 
zuerst  die  Armut  von  der  »Powerteh«  ableitete. 


Die  phänomenologischen  Aufgaben  in  der  Psychiatrie  usw.  407 

reicher  aber  begrifflich  verschwommener  Erfahrungen  »einigt«  man 
sich  über  die  nosologische  Stellung  irgendwelcher  Verläufe  unter 
dem  Gesichtspunkt,  ob  es  statistisch  oder  »praktisch«  zweckmäßig 
sei,  irgendeinen  Fall  unter  diese  oder  jene  »Gruppe«  zu  bringen.  Die 
Erweiterung  der  einzelnen  nosologischen  Abgrenzung  zur  »Gruppe  4 
ist  nur  die  entschuldigende  Ausflucht  dafür,  daß  die  Subsumtion 
der  Fälle  tatsächlich  fast  nie  glatt  aufgeht,  —  natürlich  liegt  das  nur 
an  der  mangelnden  Strenge  der  Abgrenzung  unter  einem  so  äußer- 
lichen Gesichtspunkte  wie  dem  ungefähren  statistisch  häufigsten 
Verlauf.  Selbst  unsere  besten  Kliniker  überkommt  zuweilen  das 
Bewußtsein  der  Unwürdigkeit  eines  derartigen  Konventionalismus; 
man  lese  etwa  Bleulers  trocken-ironische  Aufzählung  der  litera- 
rischen Meinungen  zur  Nosologie  der  Dementia  praecox,  die  in  den 
Worten  gipfelt:  »Viele  Patienten  tragen  genau  so  viele  Diagnosen 
mit  sich  herum,  als  sie  Anstalten  besucht  haben.  .  Auch  innerhalb 
der  gleichen  Schule  ist  dem  einen  schon  eine  Paranoia,  was  der  andere 
noch  eine  Melancholie  nennt.  Die  Zwischenformen,  die  atypischen 
Fälle,  muß  man  eben  durch  einen  Gewaltspruch  irgendwo  unter- 
bringen«^). Nur  begreift  sich  nicht,  warum  Bleuler  gerade  den 
Kr aepe linschen  Begriff  der  Dementia  praecox  von  dieser  ver- 
nichtenden Kritik  ausnehmen  v/ill.  Er  ist  ja  prinzipiell  unter  genau 
so  äußerlich-konventionellen  Gesichtspunkten  gebildet  wie  die  an- 
deren und  älteren  Krankheitsbegriffe.  Daß  eine  glänzende  Intuition 
hierbei  trotz  dieser  verfehlten  Bildungsweise  des  Begriffs  und  der 
Abgrenzung  auf  eine  reale  Einheit  gestoßen  ist,  die  wir  jetzt  alle 
herausfühlen,  ändert  doch  nichts  an  unserem  Urteil  über  den  noso- 
logischen Begriff.  Das,  was  dahinter  steht,  läßt  sich  schon  noch 
besser,  von  vertiefterem  systematischem  Standpunkt  aus  begründen. 
Auf  das  Wie  werden  wir  die  Antwort  nicht  schuldig  bleiben. 

Eine  Gruppe  von  Forschern,  vor  allem  Ziehen,  machte  ange- 
sichts dieser  Sachlage  den  Weg  der  Konventionen  über  klinische 
Ablauf  typen  nicht  mit.  Allein  wenn  Ziehen  die  Kranken  nach  der 
vorwiegenden  Symptomengruppe  klassifiziert  und  hierfür  als  heu- 
ristische Leitlinien  etwa  aufstellt:  die  Symptome  sind  die  Krank- 
heiten, und  bei  ihrem  Wechsel  transformiert  sich  die  Krankheit,  — 
so  ist  das  keine  Lösung  des  nosologischen  Problems,  sondern  eine 
völlige  Resignation  vor  demselben.  Wo  ist  denn  bei  ihm  die  Er- 
kenntnis deutlich  und  begründbar,  daß  seine  »Krankheitsbegriffe« 
für  ein  Gesetz  des  pathogenetischen  Geschehens  einstehen?  —  was 
wir  als  nosologischen  Grundgesichtspunkt  gefordert  haben.  In 
einer  der  wertvollsten  und  reifsten  Arbeiten,  die  den  Übergang  aus 
der  klinischen  in  die  phänomenologische  Periode  ankündigten,  hat 
Schroeder  hierüber  bereits  das  Wesentliche  gesagt*). 

1)  a.  a.  0.     S.  226. 

2)  Über  die  Systematik  der  funktionellen  Psj-chosen,  Gaupps  Zentralblatt 
1909.  S.  903.  Nichts  ist  vielleicht  charakteristischer  für  die  Aufnahme,  die  der- 
artige Bestrebungen   nach  Vertiefung   der  Gesichtspunkte  in   den   Kreisen  der 


408     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Wir  haben  mit  allen  diesen  Verwirrungen  und  Konventionalismen 
der  Klinik,  die  für  unsere  Absichten  relativ  gleichgültig  sind,  nur 
unter  dem  einen  Gesichtspunkt  zu  schaffen:  daß  sie  nur  darum 
haben  entstehen  können,  weil  niemals  die  volle  und  bewußte  Kon- 
sequenz daraus  gezogen  wurde,  daß  das  Zustandsbild  das  Kri- 
terium des  Ablauftypus  igt  und  sein  muß.  Tatsächlich  war 
es  das  auch  in  den  klinischen  Verlaufseinteilungen  immer,  ohne 
daß  man  darauf  geachtet  oder  es  gar  mit  konsequenter  Genauigkeit 
systematisch  untersucht  hätte.  Denn  was  ist  die  Kraepelinsche 
Aufstellung  der  Endzustände  anders  als  das  faktische  Eingeständnis, 
daß  unser  prinzipieller  Satz  gilt?  Man  hat  also,  freilich  sozusagen 
aus  Unachtsamkeit,  das  Zustandsbild  in  diese  Rolle  für  die  Noso- 
logie eingesetzt.  Aber  allerdings:  niemals  auf  Grund  einer  aus- 
reichend genauen  Deskription,  sondern  immer  nur  in  einer  verwasche- 
nen Gemeinsamkeit  und  Verbundenheit  mit  vielen  anderen  Zustands- 
bildern  derselben  Fälle,  wobei  man  ganz  willkürlich  bald  auf  dies, 
bald  auf  jenes  den  Wert  legte;  bald  auf  das  ihnen  allen  Gemeinsame, 
bald  auf  gewisse  affektive  Änderungen,  bald  auf  sonstiges  sich  Ver- 
änderndes an  ihnen.  Um  die  Differenz  der  klinischen  und  der  zu 
fordernden  Fragestellung  auf  eine  präzise  Formel  zu  bringen:  der 
psychiatrische  Kliniker  fragte  bisher,  liegt  im  Verlauf  ein  Hinweis 
auf  die  Abfolge  künftiger  Zustände  (Endzustände)  ?  Er  sollte  fragen, 
liegt  im  Zustandsbild  ein  Kriterium  der  Zugehörigkeit  zu  einer  be- 
stimmten Krankheitseinheit  —  die  dann  auch  das  Gesetz  des  Ver- 
laufes, die  Progredienz,  innerhalb  gewisser  Grenzen  bestimmt?  Nur 
die  letzte  Fragestellung  genügt  der  Forderung,  nosologische  Krank- 
heitsentitäten  aufzustellen,  die  aus  ihren  Symptomen  erkannt  werden. 
Nur  so  fragt  auch  die  somatische  Klinik,  die  doch  sonst  das  Vorbild 
der  psychischen  ist. 


Kliniker  immer  wieder  gefunden  haben,  als  dasjenige,  was  Binswanger  (Jahres- 
kurse f.  arztl.  Fortbildung.  1,5,  S.  44 ff.)  darüber  zu  sagen  weiß.  WennSchroeder 
etwa  ausführt,  nicht  die  zerebrale  Genese  und  Lokalisation  ergebe  ein  psychopatho- 
logisches  Principium  individuationis,  sondern  die  psychotischen  Phänomene 
müßten  danach  eingeteilt  werden,  »wie  sie  wirklich  sind  «  —  so  findet  Binswanger 
diese  »Betrachtungsweise«  »seltsam  anmutend«.  Dafür  erzählt  er  Mythologien 
über  die  psychophysische  Energie  und  löst  »auf  Grund  unserer  Erfahrungen  am 
Krankenbett«  (S.  51),  wenngleich  nur  »vorerst«  (S.  53),  das  Problem,  ob  der 
psychophysische  Parallelismus  oder  das  Kommerzialtheorem  richtig  sei,  zugunsten 
des  ersteren.  Und  mit  solchen  Anschauungen  soll  man  sich  nun  zu  verständigen 
hoffen  !  Daß  er  den  Begriff  des  »regulativen  Prinzips«  in  dieser  Arbeit  Külpe 
zuschreibt,  sei  zum  Vergnügen  des  Lesers  noch  verraten. 

Man  pflegt  gerne  das  Ziehen  sehe  Systematisierungsprinzip  der  Psychosen 
seiner  logischen  Struktur  nach  mit  den  Linneschen  botanischen  Klassifikationen 
in  Analogie  zu  bringen  und  in  Gegensatz  zu  den  »natürlichen«  Systemen  zu  stehen. 
Insofern  nicht  ganz  mit  Recht,  als  der  Abstraktionsgesichtspunkt  des  Linneschen 
Systems  zwar  auch  ein  willkürlicher  ist  wie  der  Ziehens,  aber  tatsächlich  in  jedem 
Falle  den  Umfang  des  durch  ihn  bestimmten  Begriffs  eindeutig  und  hinreichend 
bestimmt,  so  daß  nie  ein  Zweifel  sein  kann,  ob  ein  Gegenstand  unter  ihn  fällt  oder 
nicht.  Das  gilt  für  die  Ziehenschen  Klassenbegriffe  nicht  ganz  mit  der  gleichen 
Strenge. 


Die  phänomenologischen  Aufgaben  in  der  Fsychiatrie  usw.  409 

Eine  Untersuchung,  ob  die  Beantwortung  dieser  letzten  Frage- 
stellung überhaupt  möglich  ist,  kann  nur  durch  die  psycho- 
logische Analyse  der  Zustandsbilder  gegeben  werden. 
Diese  muß  freilich  von  größerer  Eindringlichkeit  und  besserer  theo- 
retischer Fundierung  sein,  als  sie  es  zu  klinischen  Zwecken  bisher  war. 
Die  zahlreichen  und  teilweise  sehr  wertvollen  symptomatologischen 
Untersuchungen,  die  es  bisher  ja  auch  schon  immer  gegeben  ha*^, 
dienten  ihr  freilich  schlecht  oder  gar  nicht.  Denn  sie  gingen  fast  alle 
von  allgemeinen  psychologischen  oder  hirnphysiologischen  Theorien 
aus,  die  durch  sie  bestätigt  oder  ausgebaut  werden  sollten. 

Die  ersten  Ansätze  zur  Beantwortung  unserer  Fragestellung 
finden  sich,  neben  der  erwähnten  Sehr oeder sehen  Arbeit,  in  einer 
Arbeit  von  Wilmanns^)  über  die  Frage,  wieweit  das  Beieinandersein 
von  manisch  depressiven  und  katatonen  Symptomen  in  einem 
Zustandsbilde  einen  Rückschluß  auf  dessen  Progredienz  zuläßt. 
Auf  ein  weit  höheres  Niveau  der  Diskussion  erhob  Jaspers  unser 
Problem  in  seinen  verschiedenen  Arbeiten,  insbesondere  bereits  in 
seiner  ersten  Arbeit  2).  Er  zeigte  hier,  daß  die  Disjunktion  der  »funk- 
tionellen« Psychosen  in  heilbare  und  unheilbare  nur  eine  äußerliche 
Konsequenz  praktischer  Art  ist,  die  für  einen  inneren  Gegensatz 
einsteht.  Entweder  nämlich  liegt  die  Psychose  im  Rahmen  der  von 
ihr  befallenen  Persönlichkeit,  sie  ist  eines  Reaktion  oder  Ent- 
wicklung dieser  Persönlichkeit,  welche  nur  aus  intensiven  Struktur- 
veränderungen derselben  im  Zusammenwirken  ihrer  psychischen 
Komponenten  erklärt  wierden  kann.  Oder  die  Psychose  ist  ein 
Prozeß,  eine  heteronome  Umwandlung  der  Persönlichkeit  durch 
eine  ihrem  Wesen  fremde,  über  sie  hereinbrechende  seelische  Neu- 
entwickelung. Kann  man  beim  ersten  Typus  >>das  ganze  Leben  aus 
einer  Persönlichkeitsanlage  ableiten«,  so  gilt  für  den  Prozeßtypus: 
>>Man  findet  bei  der  Ableitung  aus  einer  Persönlichkeit  seine  Grenzen 
an  dem  zu  einer  bestimmten  Zeit  auftretenden  Neuen,  der  hetero- 
genen Umwandlung«^). 

Woran  erkennt  man  nun,  ob  ein  bestimmtes  Zustandsbild  zur 
ersten  oder  zur  ZAveiten  dieser  beiden  prinzipiell  möglichen  Gruppen 
gehört?  Hier  ist  der  Punkt,  wo  in  die  psychiatrische  For- 
schung die  Phänomenologie  einzugreifen  hat  und  in  ent- 
scheidender Weise  klärend  und  weiterführend  zu  wirken 
vermag. 

Die  Phänomenologie  in  ihrer  psychiatrischen  Anwendung  könnte 
prinzipiell  ganz  unabhängig  sein  von  allen  symptomatologischen 
Diskussionen  im  Hinblick  auf  ihre  Kranklicitszugehörigkeit.  Sie 
könnte  das  Gebiet  des  ihr  von  anderer  Seite  als  krank  bezeichneten 
seelischen  Lebens  genau  so  zu  erfassen  und  abstraktiv  zu  zergliedern 

1)  Zur  Differentialdiagnostik  der  funktionellen  Psychosen.  Zentralblatt  f. 
Nervenheilkunde.     1907. 

2)  Eifersuchtswahn  usw.    Ztschr.  f.  d.  ges.  Neur.  u.  Psych.  I.    S.  567  ff. 

3)  a.  a.  0.     S.  G12. 


•410     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

versuchen,  wie  sie  dies  im  Bereiche  des  Gesunden  zu  tun  vermag. 
So  würde  sich  ein  unbegrenztes  Feld  von  Einzeluntersuchungen  er- 
öffnen, die  ohne  jede  Beziehung  zu  den  eigentlichen  psychiatrisch- 
klinischen Aufgaben  verbleiben.  Es  gibt  eine  Reihe  solcher  Arbeiten. 
Zu  den  besten  unter  ihnen  zählt  Schelers  Untersuchung  über  Selbst- 
täuschungen, Spechts  und  Hirts  Arbeiten  zur  Phänomenologie  der 
Trugwahrnehmungen,  Mayers  Studie  zur  Phänomenologie  der 
Glücksgefühle,  die  alle  in  den  Bänden  der  Zeitschrift  für  Patho- 
psychologie  erschienen  sind,  und  manche  andere.  Allein  es  gibt 
Gesichtspunkte,  welche  den  Wert  dieser  Arbeiten  relativ  zurück- 
treten lassen  hinter  dem  derjenigen  phänomenologischen  Arbeits- 
weise, welche  sich  an  den  Aufgaben  und  Zielen  der  psychiatrischen 
Gesamtforschung  orientiert. 

Wir  sprachen,  um  den  Wert  dieser  zweiten  Arbeitsweise  deutlicher 
zu  machen,  bereits  davon,  daß  das  phänomenologische  Erfassen 
ohne  eine  abstraktive  Komponente  nicht  möglich  ist,  und  daß  jede 
Abstraktion  den  Gesichtspunkt  verlangt,  unter  welchem  sie  sich  als 
wesensbestimmend  und  bedeutsam  rechtfertigt.  Dieser  Gesichts- 
punkt nun  ist  der  des  zugrundeliegenden  Gesetzes  für  die  betreffende 
Erscheinungsreihe.  Und  dieses  Gesetz,  dessen  induktive  Bestimmung 
nicht  mehr  Aufgabe  der  Phänomenologie  ist,  kann  beim  kranken 
Seelenleben  eben  nur  bestimmt  sein  durch  die  nosologische 
Artung  der  Krankheit,  in  deren  Verlauf  jenes  Seelenleben  als 
Symptom,  als  reale  Folge  mit  Notwendigkeit  auftritt.  So  ist  phäno- 
menologisches Begreifen  zwar  nicht  Begreifeji  des  Symptoms  aus  dem 
Gesetz  der  Krankheit,  wohl  aber  ist  es  Begreifen  des  psychotischen 
Phänomens  in  seiner  Eigenart,  und  diese  Eigenart  ist  eine 
symptomatologische  Notwendigkeit. 

Ein  weiterer  Gesichtspunkt  ergab  sich  für  Jaspers  aus  der  phäno- 
menologischen Angemessenheit  unseres  Erlebenkönnens  patho- 
psychischer  Phänomene.  Jaspers i)  sagt:  »Diese  sind  das  Objekt 
phänomenologischer  Untersuchung,  die  feststellt  und  vergegenwärtigt, 
wie  sie  eigentlich  sind.  Drei  Gruppen  von  Phänomenen  sind  auf  diese 
Weise  zu  gewinnen.  Die  einen  sind  von  uns  allen  im  eigenen  Leben 
erkannt.  Sie  sind  ebenso  beschaffen  wie  die  entsprechenden,  nor- 
malerweise verständlich  bedingten  Seelen  Vorgänge.  Nur  durch  ihre 
Genese  unterscheiden  sich  die  im  übrigen  völlig  gleichen  Phänomene 
der  Kranken,  z.  B.  viele  Erinnerungsfälschungen.  Die  zweiten  sind 
von  uns  als  Steigerungen,  Herabsetzungen  oder  Mischungen  selbst- 
erlebter Phänomene  zu  erfassen,  z.B.  die  selige  Ergriffenheit  mancher 
akuter  Psychosen,  die  Pseudohalluzinationen,  die  perversen  Trieb- 
regungen. Wie  weit  hier  unser  verstehendes  Vergegenwärtigen  geht, 
auch  ohne  die  Grundlage  eigener  bewußter  Erlebnisse  ähnlicher 
Richtung,  das  ist  eine  nicht  endgültig  zu  beantwortende  Frage.    Es 


1)  Die    phänomenologische    Porschungsrichtung    in    der    Psychopathologie. 
Ztschr.  f.  d.  ges.  Neurol.  u.  Psych.    IX.    S.  399. 


Die  phänomenologischen  Aufgaben  in  der  Psychiatrie  ußw.  411 

scheint  manchmal,  als  ginge  unser  Verstehen  weit  hinaus  über  die 
Möglichkeit  auch  nur  ähnlichen  eigenen  Erlebens.  Die  dritte  Gruppe 
von  krankhaften  Phänomenen  wird  vor  diesen  letzteren  durch  völlige 
Unzulänglichkeit  für  ein  verstehendes  Vergegenwärtigen  ausge- 
zeichnet. Wir  kommen  ihnen  nur  durch  Analogien  und  Bilder  näher. 
Und  wir  bemerken  sie  im  Einzelfall  nicht  durch  positives  Verstehen, 
sondern  durch  den  Stoß,  den  der  Gang  unseres  Verstehens  durch 
dieses  Unverständliche  erfährt.  Hierhin  mögen  z.  B.  alle  die  ,ge- 
machten'  Gedanken,  ,gemq,chten'  Stimmungen  usw.  gehören,  von 
denen  viele  Kranke  zweifellos  als  Erlebnissen  berichten,  die  wir  aber 
immer  nur  durch  diese  und  ähnliche  Ausdrücke  und  durch  eine 
Reihe  von  Feststellungen  dessen,  um  was  es  sich  nicht  handelt, 
identifizieren«. 

Dieser  Gesichtspunkt  Jaspers'  ist  heuristisch  von  großem  Werte 
gewesen.  Er  verlegte  das  Kriterium  dafür,  ob  ein  psychisches  Phä- 
nomen aus  den  Grenzen  einer  Persönlichkeit  heraus  erwuchs  oder  ihr 
fremd  und  aufgepfropft  war,  ins  Nacherlebenkönnen  des  Beobachters. 
Dazu  sind  freilich  seine  Annahmen  über  die  untrügliche  Gewißheit 
des  Verstehens,  wie  er  sie  formluiert  hat,  notwendige  Voraussetzungen, 
Wir  haben  allerdings  diese  Annahmen  mit  gewichtigen  Gründen  be- 
kämpfen müssen;  soll  uns  nun  der  Jaspers  sehe  Gesichtspunkt 
heuristisch  wertvoll  bleiben,  so  werden  wir  ihn-  in  bestimmter  Weise 
zu  transformieren  haben.   Davon  wird  sogleich  noch  zu  sprechen  sein. 

Jedenfalls:  die  Problemstellungen  klinischer  Nosologie  spitzen 
sich  auf  eine  Reihe  von  Voraussetzungen  zu,  aus  welchen  die 
Phänomenologie  —  und  sie  allein  —  einen  Ausweg  zu 
finden  berufen  ist.  Vergegenwärtigen  wir  uns  kurz  noch  einmal 
die  Bedingungen,  welche  sie  vorfindet.  Zunächst  ergibt  sich  aus 
der  klinischen  Fragestellung  selber,  daß  die  allein  weiterführende 
Aufgabe  in  der  Deskription  seelischer  Zustände  besteht. 
Der  Gesichtspunkt  für  diese  deskriptive  Analyse  hat  zu  sein,  ob  aus 
diesen  Zuständen  erkennbar  ist,  welche  von  ihnen  aus  der  seeli- 
schen Struktur  der  Persönlichkeit  und  dem  Gesetz  des  Zu- 
sammenwirkens ihrer  Eigenschaften  restlos  erklärbar  sind,  und  welche 
von  ihnen  nur  durch  die  Annnahme  einer  der  Persönlichkeit  hete- 
ronomen  psychischen  Umwandlung,  eines  Prozesses  erklärt 
werden  können.  Dieser  Gesichtspunkt  soll  zugleich  die  leitende 
Maxime  der  phänomenologischen  Abstraktionen  sein,  soweit  es  sich 
bei  dem  psychotischen  Material  um  ein  psychotisches  Erleben 
handelt.  Als  heuristischer  Wegweiser  war  uns  Jaspers'  Feststellung 
willkommen,  daß  unser  Nacherlebenkönnen  vor  gewissen  psycho- 
tischen  Phänomenen  absolut  versagt. 

Was  liegt  nun  näher,    als  anzunehmen,  daß  unser  Nacherleben 
gerade    vor  jenen  Phänomenen  versagt,  welche  nicht  aus  dem 
Ganzen'    der    Persönlichkeit    erwachsen,    sondern    die    spezi- 
fischen Merkmale  des  Prozesses  sind?     Die   Persönlichkeitsfremdheit 
eines    Phänomens,    die  Ichfremdheit,    wird    zum    Erklärungs- 


412      Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

grund  seiner Unverständlichkeit  für  unser  Nacherlebenkönnen, 
und  dieses  zum  Erkenntnisgrund  für  das  Vorliegen  eines 
psychotischen  Prozesses. 

Nun  ist  freilich,  wie  wir  gezeigt  haben,  die  Struktur  unseres  Nach- 
erlebens etwas  so  Komplexes  und  Verschwommenes,  daß  es  gewagt 
wäre,  dieses  Nacherleben,  so  wie  Jaspers  es  will,  als  objektives 
Signal  für  unsere  nosologischen  Abgrenzungen  zu  benutzen.  Nur 
zu  berechtigt  wäre  der  Einwand,  daß  wir  bei  einem  solchen  Vorgehen 
dem  subjektiven  Ermessen  unserer  Ein^ühlungsfähigkeit  die  Ent- 
scheidung über  ein  Problem  überwiesen,  welches  nur  eine  objektive 
und  wissenschaftlich  gesicherte  Behandlung  verträgt.  Wir  werden 
deshalb  nicht  unser  Nacherlebenkönnen  zum  Richter  über  den  Prozeß - 
Charakter  bestimmter  Symptome  einsetzen,  wie  das  Jaspers  getan 
hat,  sondern  werden  den  Prozeßcharakter  in  der  besonde- 
ren Struktur  der  Symptome  selber  suchen.  Denn  nur  wenn 
er  hier  vorhanden  ist,  kann  er  zum  Anlaß  werden,  auch  unserem  Nach- 
erleben Schwierigkeiten  zu  bereiten. 

Die  Frage  liegt  logisch  eigentlich  sehr  einfach.  Alles  psychotische 
Erleben  ist  entweder  seiner  Struktur  nach  der  Struktur  der  erlebenden 
Persönlichkeit  adäquat,  oder  nicht.  Im  letzteren  Fall  sprechen  wir 
vom  Prozeß.  Solche  Erlebnisse,  welche  Anzeichen  des  Prozesses  sind, 
unterscheiden  sich  von  den  aus  der  Persönlichkeit  erwachsenen  Er- 
lebnissen durch  ihre  Persönlichkeitsfremdheit,  ihre  »Ichfremdheit« 
im  Hinblick  auf  diese  Persönlichkeit.  Die  erlebende  Persönlichkeit 
erlebt  sie  in  einer  ihr  fremden  Weise.  Phänomenologisch  sind  wir 
gezwungen,  an  Stelle  der  nur  theoretisch  konzipierbaren  Persönlich- 
keitsformel vorerst  auf  diese  fremde  Weise  des  Erlebens  das 
Gewicht  zu  legen.  Ichfremdheit  für  das  Erleben  ist  das 
phänomenologische  Kennzeichen  von  Symptomen  des  Pro- 
zesses. Ichfremdheit  nicht  für  den  verstehenden  Beobachter,  sondern 
für  das  erlebende  Subjekt  selber. 

In  welchem  Verhältnis  steht  nun  dieses  Kriterium  zu 
dem  Prozeß  selber,  und  wie  wird  es  phänomenologisch 
bestimmt? 


b)  Die  pathologische  Intentionalität. 

Es  wird  uns  das  nur  verständlich  werden,  wenn  wir  einige  prinzi- 
pielle und  theoretische  Feststellungen  machen,  die  ihrerseits  über  den 
phänomenologischen  Rahmen  hinausgehen.  Wir  knüpfen  dabei  an 
das  vorher  über  den  Krankheitsbegriff  Gesagte  an.  Krankheit,  so 
hatten  wir  ausgeführt,  sei  das  Gesetz  der  Wechselwirkung  zweier 
Bedingungsreihen.  Die  eine  von  ihnen,  der  normale  seelische  Or- 
ganismus, bildet  ohne  die  andere  Reihe  ebenfalls  die  in  sich  geschlossene 
Einheit  eines  Gesetzes.  Treten  innerhalb  dieser  einen  Bedingungsreihe 
relative  oder  intensive  Änderungen  in  den  Bedingungen  ein,  so  kann 
ihr  Zusammenwirken  anders  verlaufen;  jedoch  werden  auch  dann  die 


Die  phänomenologisohon  Aufgaben  in  der  Psychiatrie  usw.  413 

durch  diese  Bedingungsreihe  determinierten  Greschehnisse  und  Abläufe 
restlos  und  geschlossen  aus  ihren  Bedingungen  bestimmt  und  gesetz- 
mäßig hcrleitbar  sein.  Es  wird  Nichts  geschehen,  das  nicht  aus  der 
vorgegebenen  Bedingungsreihe  determinierbar  wäre.  So  liegt  der 
Fall  bei  den  psychischen  Abläufen,  welche  dem  Wesen  einer  Persön- 
lichkeit adäquat  sind,  sei  diese  Persönlichkeit  nun  »normal«  oder 
»abnorm«. 

Tritt  jedoch  Krankheit  —  oder  wie  wir  zuletzt  sagten:  ein  psycho- 
tischer Prozeß  —  in  das  Bereich  unserer  Untersuchung  ein,  so  besteht 
jenes  erstgenannte  logische  Verhältnis:  die  Wechselwirkung  zweier 
Bedingungsreihen.  Und  für  unsere  Erkenntnis  liegt  dieser  Fall  so, 
daß  wir  das  Gesetz  dieser  Wechselwirkung  nicht  bestimmen  können; 
wir  wissen  nur,  daß  es  besteht.  Ebensowenig  ist  uns  die  hetoronomc 
Bedingungsreihe  selber  zugängig;  höchstens  einige  nicht  wesentliche 
physisch-ätiologische  Hinweise  auf  sie.  Was  uns  unmittelbar  ge- 
geben ist,  ist  der  psychische  Effekt  jenes  Wechsel wirkungs- 
gesetzes  in  seiner  ungegliederten  Ganzheit.  Der  Gesichtspunkt 
unserer  Abstraktionen  aus  diesem  vorgegebenen  Material  kann  nun 
einmal  der  sein,  daß  wir  das  Bestehen  des  Persönlichkeitsgesetzes 
zur  Leitmaxime  erheben.  So  kommen  wir  zur  Aussonderung  all 
derjenigen  psychischen  Vorgänge,  welche  ihrerseits  aus  Bedingungen 
determinierbar  sind,  unter  denen  solche  des  Krankheitsprozesses 
selber  noch  fehlen.  Allein  einmal  werden  wir  damit  nicht  sehr  weit 
kommen,  und  zweitens  kann  uns  das  nosologisch  gar  nichts  nützen. 
Denn  uns  liegt  doch  gerade  am  Erfassen  derjenigen  seelischen  Züge, 
welche  uns  über  das  Persönlichkeitsgesetz  hinaus  Anzeichen  des 
Vorliegens  eines  psychotischen  Prozesses  sind.  Wir  haben  nun  als 
negative  Bedingung  der  Erkenntnis  des  Prozeßcharakters  von  Sym- 
ptomen das  Herausfallen  aus  dem  Persönlichkeitsgesetz.  Dies  ist 
uns  ein  Zeichen  dafür,  daß  eben  nicht  bloß  die  eine  Bedingungsreihe 
des  psychischen  Organismus  vorliegt,  sondern  noch  eine  zweite  in 
sie  eingreifen  wird.  Wir  vollziehen  nun  diese  Abstraktionen  unter 
einem  doppelten  Gesichtspunkte  ^) :  einmal  im  Hinblick  auf  die  das 
betreffende  psychische  Einzelgeschchen  fundierende  Geschehens- 
klasse, der  wir  theoretisch  eine  Funktion  substituieren.  Wir  kom- 
men auf  diese  Weise  bis  zu  abstraktiv  nicht  weiter  gcneralisierbaren 
Geschehensklassen,  die  wir  uns  theoretisch  durch  Grundfunktionen 
und  Eigenschaften  der  Psyche  fundiert  denken.  Auf  diese  Weise 
würden  wir  pathologische  Qualitäten  irreduzibeler  Art  aufzufinden 
in  der  Lage  sein.  Dieser  Abstraktionsgesichtspunkt  genügt  aber 
noch  nicht.  Denn  es  ist  ja  klar:  in  pathologischen  Qualitäten  wird 
sich  die  Wechselwirkung,  deren  Erkennungsstücke  wir  anstreben, 
zwar  notwendig  äußern.     Diese  Qualitäten  werden  aber  immer  gene- 


1)  Vgl.  hierzu  Kronfeld,  Das  Erleben  in  einem  Fall  von  katatoner  Er- 
regung. Monatsschrift  f.  Psych,  u.  Neur.  35,  3,  eine  ebenso  wichtige  wie  unbeachtet 
gebliebene  Arbeit. 


414     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

tisch  aus  ihren  Bedingungen  determiniert  sein.    Sie  werden  also  zwar 
solche  gesuchten  Erkennungsmerkmale  von  Prozessen  sein;  aber  als 
Erklärungsmomente  des  psychotischen  Einzelgeschehens  können  sie 
nur  vorläufig  dienen:  sie  harren  weiterer  genetischer  Zergliederung. 
Diese    genetische  Zergliederung  ist  also  der  zweite  Gesichts- 
punkt   unserer   Abstraktionen.      Ihre    leitende    Maxime   ist:     Das- 
jenige,   welches    unter    den    gewöhnlichen   Ablaufsbedin- 
gungen   der    psychischen    Persönlichkeit    nicht    zustande 
kommen   konnte,    ist  Prozeßmerkmal.      Auch  bei  dieser  Ab- 
straktion handelt  es  sich  noch  um  eine  solche  vom  Einzelgeschehen 
aus;    aber  nicht   vom   Einzelgeschehen   als  einem  fertigen   Ganzen, 
sondern  eben  als  einem  Geschehen,  einem  Werden,  welches  anfängt, 
verläuft  und  endet.    Wir  reden  vom  psychischen  Ablauf  als  einem 
Ganzen  immer  in  dem  Sinne,  daß  er  von  der  Wahrnehmung  an  über 
das   Urteil   und   die   verschiedenen   anderen   intentionalen   Vollzüge 
und  reproduktiven  Reihen,  die  im  Gefühl,  Interesse  und  Motiv  zu- 
sammenkommen,  bis   zur   motorischen   Auswirkung   abläuft.      Alles 
psychische  Geschehen  ist  immer  dieses  Ganze,   und  man  kann  sich, 
ohne  abstraktiv  zu  künsteln,   kein  einziges  reales  psychisches  Ge- 
schehnis   vergegenwärtigen,   welches   nicht   dieses   Ganze  wäre.      In 
dieser  Ganzheit  allein  ist  das  Psychische  unmittelbar  gegeben.    Wenn 
wir  nun  eine  pathologische   Qualität  genetisch  weiter  verfolgen,  so 
muß  sie  irgendeine  Stellung  in  diesem  Ganzen  haben;   etwas  muß 
ihr  vorauf  gehen.    Es  kann  nun  sein,  daß  sie  innerhalb  dieses  Ganzen 
so  wird,  wie  ein  qualitativ  adäquates  Geschehen^);   sie  kann  aber 
auch  fremd  in  diesem  Geschehen  darin  stehen;   so  daß  dies  Ganze 
durch   sie  eine   Unterbrechung   seiner  Kontinuität  erfährt,   daß   sie 
einen  Spalt  hinein  reißt.     Im  letzteren  Falle  sprechen  wir  von  gene- 
tischer Irreduzibilität^). 


1)  Denn  es  ist  denkbar,  daß  eine  besondere  Konstellation  der  Bedingungen 
einen  einmaligen  ganz  heterologen  Effekt  erzielen  kann. 

2)  Die  genetische  Erklärung  verbleibt  hierbei  ganz  innerhalb  des  gegebenen 
psychischen  Materiales.  Es  ist  weder  als  eine  konstruktive  Genese  (im  Sinne  der 
»Sejunktion «),  noch  eine  psychophysische  (im  Sinne  etwa  der  »Diaschise«),  noch 
eine  theoretisch-dynamische  (im  Sinne  Freuds)  gemeint.  Es  ist  überhaupt  nicht 
eigentlich  eine  »Erklärung«  im  Sinne  der  induktiven  Kausalisierung;  es  ist  eine 
abstraktive  Reduktion  bis  zum   »Unerklärlichen«  hin. 

Man  kann  das  durch  diese  genetische  Reduktion  aufgefundene  »Spaltungs«- 
verhältnis  des  psychischen  Ablaufens  schizophren  nennen  und  durch  diesen 
Begriff  einer  unbekannten  Gesetzmäßigkeit  erklären  wollen.  Doch  kann  auch  noch 
anderes  an  der  Psyche  »gespalten«  sein:  die  Neigungen  und  Einstellungen  können 
von  den  Motiven,  die  Erinnerungen  von  dem  Wahrnehmungsmaterial,  die  Sprach- 
laute von  Bedeutungen  usw.  »abgespalten«  sein.  D.  h.  wir  erklären  uns  so,  daß 
eingefahrene  und  geübte  Aufeinanderfolgen  und  Verbindungen  nicht  aktuell  werden. 
Das  sind  aber  alles  verschiedene  »Spaltungen«.  Man  kann  sie  unter  beliebigen 
Begriffseinheiten  vereinigen;  diese  sind  aber  künstlich.  Und  sinnlos  ist  es,  sie 
alle  durch  eine  »Assoziationsstörung«  allgemeiner  Art  zu  erklären.  Dennoch  hat 
der  Schizophreniebegriff  seinen  guten  Sinn  als  einheitlicher  Erklärungs- 
grund  für  das  Auftreten  von  Primärsymptomen  in  unserem  soeben  fest- 
gelegten Sinne. 


Die  phänomenologischen  Aufgaben  in  der  Fflychiatrie  usw.  415 

Eine  solche  weder  analytisch  noch  genetisch  (in  diesem  Sinne) 
reduzible  psychische  Gegebenheit  nennen  wir  Primärsymptom 
des  Prozesses.  Sie  ist  primär  in  dem  Sinne,  daß  über  sie  hinaus 
die  psychologische  Determination  in  keiner  Weise  zu  ge- 
langen vermag;  an  ihr  zeigt  sich  mithin  das  Eingreifen 
der  heteronomen  Bedingungsreihe  ins  psychische  Ge- 
schehen unmittelbar.  Was  in  diesem  psychischen  Geschehen 
durch  sie  selber  partiell  determinierbar  ist,  ist  im  Verhältnis  zu  ihr 
sekundär.  Wenn  also  Bleuler^)  schreibt:  »Die  primären  Symptome 
sind  notwendige  Tcilcrscheinungen  einer  Krankheit;  die  sekundären 
können,  wenigstens  potentia,  fehlen  oder  wechseln,  ohne  daß  der 
Krankheitsprozeß  sich  zugleich  ändert«  —  so  können  wir  uns  prak- 
tisch völlig  mit  dieser  Feststellung  einverstanden  erklären.  Prin- 
zipiell freilich  würden  wir  sagen,  Primärsymptome  im  Psychischen 
seien  uns  nur  als  unmittelbare  Teilerscheinungen  der  Krankheit 
erklärlich;  ob  und  in  welcher  Weise  sie  das  wirklich  sind,  ist  ein 
für  uns  nicht  entscheidbares  Problem.  Was  die  Sekundärphänomene 
anlangt,  so  sind  sie  zwar  partiell  von  den  Primärphänomenen  aus 
determiniert,  aber  mittelbar  und  ohne  daß  diese  selber  aktuell  zu 
werden  brauchen;  sie  sind  aus  dem  Wesen  der  krankhaft  veränderten 
Persönlichkeit  heraus  begreiflich,  aber  ohne  die  spezifische  Prozeß- 
note direkt  aufzuweisen;  nur  aus  ihrem  Zugleichsein  mit  Primär- 
symptomen geht  ihre  Prozeßbedingtheit  ebenfalls  hervor;  an  sich 
braucht  sie  ihrer  Struktur  nicht  anzuhaften.  Nun  kann  es  Prozeß- 
stadien ohne  Primärsyraptome,  nur  mit  Sekundärphänomenen  geben; 
diese  werden  dann  der  Erkenntnis  ihres  Proztßcharakters  große 
Schwierigkeiten  in  den  Weg  legen  (man  denke  etwa  an  hypochondrisch 
gefärbte  Anfangszustände  von  Hebephrenien  ohne  spezifische  Merk- 
male, und  ähnliche  Fälle). 

Alle  diese  Festsetzungen  lassen  sich  treffen,  ohne  bereits  in  die 
Phänomenologie  hineinzureichen.  Nunmehr  aber,  wo  wir  uns  darauf 
besinnen,  daß  der  wichtigste,  der  subjektiv  bestimmende  und  zu 
allererst  gegebene  Anteil  alles  seelischen  Ablauf ens  das  Erleben 
ist  —  wie  wir  ausführlich  dargetan  haben  —  ist  es  unsere  Aufgabe, 
an  jene  allgemeinen  Festsetzungen  unsere  phänomenolog'schen  Folge- 
rungen zu  knüpfen.  Jene  theoretischen  Primärsymptome 
nämlich,  soweit  sie  ein  seelisches  Erleben  sind,  müssen 
die  Merkmale  ihres  Sondercharakters  auch  in  ihrem  Er- 
lebtwerden geltend  machen.  Für  die  tatsächliche  Gegebenheit 
des  Seelischen  als  Materie  unseres  Erkennens  li<  gen  die  Verhältnisse 
zeitlich  umgekehrt:  unmittelbar  bestehen  gewisse  Sondercharaktere 
am  primär  prozeßbediiigten  Erleben  —  wir  haben  sie  als  Ichfremd- 
heit zusammengefaßt  — ;  diese  irreduziblcn  Sondercharaktere  er- 
klären wir  theoretisch  —  auf  Grund  unserer  prinzipiellen  Fest- 
stellungen  über   den   nosologischen   Krankheitsbegriff   und   die    Bc- 

1)  a.  a.  0.     S.  284. 


416       Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Ziehungen  seiner  psychischen  Äußerungen  zu  ihm  —  als  Anzeichen 
ihres  primären  Symptomcharakters. 

Damit  haben  wir  die  eine  unserer  beiden  Aufgaben  gelöst:  wir 
haben  die  Ichfremdheit  als  Kriterium  des  Prozeßcharakters  von 
Symptomen  systematisch  begründet,  und  was  bei  Jaspers  noch 
ein  Apercu  einer  begriffslosen  Intuition  war,  das  nur  auf  dem  ver- 
fehlten Wege  über  eine  falsche  Theorie  des  Nacherlebens  (Verstehens) 
einen  Schein  theoretischer  Berechtigung  hatte,  haben  wir  im  Rahmen 
wissenschaftlicher  Gesamtpsychologie  objektiv  fundieren  können. 
Uns  bleibt  nun  die  zweite  der  beiden  Aufgaben  noch  kurz  zu  er- 
örtern: Wie  wird  diese  Ichfremdheit  phänomenologisch  bestimmt? 
Wir  erinnern  uns  daran,  daß  das  primäre  Erlebnis  etwas 
psychologisch  Irreduzibles,  Letztes,  aller  Individualpsychologie  (auch 
aller  dynamisch -Freudschen)  Vorauszusetzendes  für  das  betroffene 
Ich  sein  soll.  Und  wir  erinnern  uns  weiter,  daß  alles  Erleben  den 
Charakter  der  Intentionalität  hat.  In  einem  gewissen  Sinne 
können  wir  von  jedem,  auch  dem  normalen  Erleben  sagen,  daß  bestimmte 
Merkmale  eines  Erlebens  »primär«  sind.  Nämlich  diejenigen,  die 
nicht  aus  einem  anderen  Erleben  hervorgehen,  sondern  die  fundieren- 
den Weisen  alles  anderen  Erlebens  sind  und  dieses  genetisch  einleiten. 
Das  gilt  im  normalen  Erleben  von  den  individuellen  Wahrnehmungen, 
die  in  jedem  Ablauf  als  einem  Ganzen  an  der  Spitze  stehen,  und  von 
den  abstraktiv  nicht  weiter  zurückführbaren  formalen  Voraus- 
setzungen möglicher  Bewußtseinsbeziehungen  auf  Gegenstände  i).  Ihr 
Sein  wird  nur  noch  durch  die  Persönlichkeit  als  vorausgesetztes 
Ganzes  erklärt  und  macht  deren  letzte  Fundamente  aus. 

Mit  dem  Augenblick  aber,  wo  die  Bedingungsreihe  »Persönlich- 
keit« heteronom  modifiziert  wird  durch  eine  andere  unbekannte 
Bedingungsreihe,  wo  das  Gesetz  dieser  Modifikation,  der  »Prozeß« 
herrscht,  müssen  zu  diesen  Primärphänomenen  die  anderen,  die  pri- 
mären Prozeßsymptome,  hinzutreten.  Ihr  Charakteristikum  ist 
gerade,  daß  sie  irreduzibel  sind,  aber  nicht  in  den  Per- 
sönlichkeitsfundamenten sich  auflösen  lassen;  und  daß  sie 
nicht  im  Ganzen  des  psychischen  Ablaufes  kontinuierlich  eingefügt 
sind,  sondern  ohne  genetisches  Vorher  dastehen,  das  sie  aus  sich 
heraus  zum  Eintritt  brächte.  Wir  wissen  endlich  von  diesen  psycho- 
tischen Primärerlebnissen,  daß  sie  als  Erlebnisse  eine  intentionale 
Struktur  besitzen. 

Es  muß  sich  mithin  handeln  um  Weisen  einer  patho- 
logischen Intentionalität,  welche  ihrem  intentionalen 
Wesen  nach  nicht  analytisch  zurückführbar  ist;  und  deren 
intentionales  Wesen  auch  genetisch  nicht  zurückführbar 
ist.     Wir  bestreiten  also  nicht,   daß  nicht  die  jeweilige  materiale 


1)  Wir  teilen  die  Brentano  sehe  Lehre  vom  letztlich  fundierenden  Charakter 
derVorstellungen  für  alle  anderenFunktionen  also  nicht,  werden  unsere  abweichende 
Meinung  aber  erst  im  folgenden  Bande  an  zuständiger  Stelle  begründen. 


Die  phänomenologischen  Aufgaben  in  der  Psychiatrie  ut-w.  417 

und  inhaltliche  Beütimnitheit  dieser  Intentionen  aus  früherem  Er- 
leben und  Erfahren  des  Kranken  herleitbar  sein  kann  (z.  B.  Freud!) 

—  wir  bestreiten  nur  die  genetische  Zurückführbarkeit 
der  besonderen  Struktur  dieser  Intentionen,  der  Seinsweise 
des  in  ihnen  Gemeinten  als  Halluzination  oder  primärer  Wahn  uder 
sonstiger  intentionaler  Vollzug  primär-psychotischer  Art. 

Welche  intentionalen  Formen  als  psychotische  Primärsymptome 
in  Frage  kommen,  wird  die  Phänomenologie  in  Zukunft  erst  noch 
zu  suchen  haben;  wir  dürfen  hier  jedenfalls  nichts  präsumieren, 
gondern  müssen  alles  der  phänomenologischen  Erfassung  des  psycho- 
tischen Erlebens  überlassen,  so  wie  es,  vom  kranken  Subjekt  aus, 
seinem  unmittelbaren  Sein  und  Erlebtwerden  nach  wirklich  verläuft , 
Wenn  die  phänomenologische  Forschungsrichtung,  welche  jetzt  in 
der  Psychiatrie  erst  einige  spärliche  Keime  gezeitigt  hat,  in  künftiger 
systematischer  Arbeit  dieses  Material  sammelt  und  das  eben  ent- 
wickelte Kriterium  an  die  möglichen  abstraktiven  Vollzüge  aus 
diesem  Material  anlegt,  so  wird  sie  das  eindeutige  und  wissen- 
schaftlich exakte  Verfahren  sein,  aus  jedem  psychotischen 
Zustandsbild  seine  objektiven  Anzeichen  immanenter 
Progredienz  mit  Sicherheit  zu  bestimmen.  Sie  liefert  uns 
damit  ein  diagnostisches  Kennzeichen  von  größter  Bedeutung,  welches 
uns  —  jenseits  der  Subjektivität  klinischer  Konventionen 

—  die  Bestimmung  des  Prozeßcharakters  von  Abläufen  bei  funktio- 
nellen Psychosen  ermöglicht.  Dies  Kennzeichen  mag  dunkler  ver- 
borgen liegen  als  die  somatischen  Eselsbrücken  unserer  sonstigen 
Diagnostik:  es  ist  sicher  und  exakt,  es  ist  einsichtig  begründbar  und 
zwingend.  Der  Phänomenologie  fällt  in  Wahrheit  die  Aufgabe  zu. 
welche  die  Denkbequemlichkeit  der  Praktiker  so  gerne  wieder  einmal 
auf  die  Serologie  abgeschoben  hätte :  die  sichere  Diagnostik  der  funk- 
tionellen psychotischen  Prozesse.  Allein,  obwohl  Kochen,  selbst 
unter  den  Kautelen  Abderhaldenscher  Methodik,  leichter  ist  als 
exakte  Abstraktion:  so  ist  die  letztere  doch  die  würdigere  Aufgabe 
in  einer  psychologischen  Disziplin,  in  der  Wissenschaft  vom  mensch- 
lichen Geiste. 

Es  ist  keine  reine  Zukunftsmusik,  wenn  wir  hier  der  Phänomeno- 
logie eine  so  wichtige  und  unersetzliche  Stelle  in  der  psychatrischen 
Gesamtforschung  zuweisen.  Schon  gegenwärtig  diagnostizieren  gerade 
die  besten  unserer  Kliniker  nach  dem  Kriterium  der  Ichfremdheit 
irgendwelchen  psychotischen  Erlebens.  Das  zeigt  sich  nicht  nur 
in  ihrem  persönlichen  Wirken,  sondern  auch  in  ihrer  Literatur.  Ich 
kann  nicht  umhin,  keine  anderen  Forscher  als  Kraepelin  und  be- 
sonders Bleuler  hier  als  unbewußte  Phänomenologen  in  Ansprucli 
zu  nehmen.  Gewiß  sind  sie  ihrer  bewußten  Tendenz  nach  Kliniker. 
Aber  wenn  man  etwa  die  Fülle  des  von  Bleuler  so  meisterhaft  er- 
faßten Deskriptionsmaterials  zur  Kenntnis  nimmt,  welches  er  für  die 
Schizophrenie  als  besonders  spezifisch  erachtet,  so  bemerkt  man 
leicht,  daß  sein  Auswahlkriterium  kein  anderes  war  als  das  der  Phäno- 

Kronfeld,  Psychiatrische  Erkenntnis.  27 


418     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

menologie,  wenn  ihm  dies  auch  nicht  bewußt  geworden  ist.  Von  den 
eigentlich  phänomenologischen  Forschern,  wie  Jaspers,  gilt  das 
natürlich  in  erhöhtem  Maße.  Nun  ist  es  freilich  ein  anderes, 
jenes  Kriterium  unklar  und  unbewußt  anzuwenden  —  etwa  in 
der  subjektivistischen  Verfälschung,  ob  ein  Symptom  nacherlebbar 
ist  oder  nicht,  —  ein  anderes,  das  Kriterium  der  Irreduzibilität 
mit  Bewußtsein  und  im  systematischen  Zusammenhang  herauszu- 
stellen und  durch  exakte  Abstraktionen  zu  bewähren.  Zumal  wo 
der  psychotische  Einzelfall  in  seiner  Symptomatologie  oft  so  dunkel 
und  kompliziert  ist,  daß  schon  der  Tatbestand,  von  dem  abstra- 
hiert werden  soll,  nicht  deutlich  umgrenzbar  ist.  Die  systematische 
Arbeit  also  bleibt  der  Phänomenologie  im  psychiatrischen  Gebiete 
noch  zu  tun. 

Und  andererseits  darf  man  von  dieser  phänomenologischen  Arbeit 
an  diagnostischem  Gewinn  auch  nicht  zuviel  erwarten.  In  der  prak- 
tischen Zuspitzung  auf  den  Erkenntnisgrund  nosologischer  Ein- 
heiten vermag  sie  eben  nur  das  eine  zu  leisten,  daß  sie  uns  die  Kri- 
terien des  Prozesses  bewußt  macht.  Die  Art  des  Prozesses,  sein  Wesen, 
seine  Schwere  macht  sie  uns  nicht  deutlich.  Für  die  letzteren  Fragen 
kommen  sicherlich  andere  Abstraktionsgesichtspunkte  in  Frage; 
zwei  von  ihnen  sind  die  Kraepe linschen  der  Ursache  und  des  ana- 
tomischen Befundes.  So  darf  es  uns  prinzipiell  nicht  wundern,  wenn 
wir  schizophrene  Symptome  zuweilen  bei  organischen  Prozessen 
sehen  ^);  als  Prozesse,  als  persönlichkeitsfremde  Destruktionen 
spielen  diese  phänomenologisch  keine  andere  Rolle  als  die  »funk- 
tionellen« Prozesse.  Die  Differenzierung  der  Prozesse  untereinan- 
der ist  bis  jetzt  keine  Fragestellung  der  Phänomenologie.  Da- 
mit ist  nicht  gesagt,  daß  sie  dies  nicht  noch  einmal  zu  werden 
vermöchte.  Vorläufig  hat  sie  heuristische  Leitlinien  hierfür  noch 
nicht  gezeitigt. 

Uns  liegt  jedoch  die  diagnostische  Brauchbarkeit  der  phänomeno- 
logischen Analyse  nicht  einmal  sehr  am  Herzen.  Sie  ist  uns  nur  ein 
Argumentum  ad  hominem  clinicum,  der  sich  diesen  Dingen  so  gerne 
unter  Berufung  darauf,  daß  »für  die  Praxis  doch  nichts  dabei  heraus- 
komme«, entzieht.  So  bequem  soll  er  es  fortan  nicht  mehr  haben. 
Uns  ist  der  Wert  der  phänomenologischen  Arbeitsweise  vor  allem 
darin  gelegen,  daß  sie  uns  das  Seelische  in  einer  Weise  restlos  er- 
schließen kann,  die  ihre  Grenze  nur  an  den  Schranken  menschlicher 
Erkenntnis  überhaupt  findet,  und  daß  sie  es  uns  erschließt,  so,  wie 
es  wirklich  vom  Subjekt  aus  erlebt,  gefühlt,  geglaubt,  beobachtet, 
bewertet  und  beurteilt  wird. 

Und  nun  noch  ein  Schlußwort  darüber,  welche  intentionalen 
Vollzüge    es   denn    nun   im    allgemeinen   sind,   die   wir   als 


1)  Vgl.  die  schöne  Arbeit  von  Rosental:  Über  einen  schizophrenen  Prozeß 
im  Gefolge  einer  hirndrucksteigernden  Erkrankung.  Ztschr.  f.  d.  ges.  Neurol.  u. 
Psych.     XXV.     S.  300ff. 


"Die  pbämmenologischen  Aufgaben  ia  der  Psychiatrie  usw.  419 

primäre  Prozeßsyinptome  aufzufassen  haben.  Um  sie  auf- 
zufinden, -werden  wir  uns  daran  erinnern,  welche  Klassen  intentio- 
naler  Vollzüge  wir  denn  überhaupt  kennen.  Pathologische  Inten- 
tionalitäten,  die  ihrer  Klasse  nach  unter  diese  überhaupt  bekannten 
Klassen  fallen,  werden  einer  phänomenologischen  Untersuchung  am 
ersten  zugänglich  sein.  Doch  i.st  nicht  gesagt,  daß  sich  der  Kreis 
der  hier  in  Frage  kommenden  Phänomene  durch  diesen  heuristischen 
Gresichtspunkt  ihrer  Auffindung  erschöpft.  Immerhin  haben  wir  so 
einen  gesicherten  Grundstock  von  Materialien  zur  Entscheidung  der 
Frage  ihres  Prozeßcharakters.  Wir  kennen  als  solche  Klassen  inten- 
tionaler  Vollzüge  die  als  Wahrnehmungen  sich  erfüllenden,  die  sich 
in  Urteilen  und  in  Gefühlen  (Phänomenen  der  Liebe  und  des  Hasses) 
verwirklichenden  Intentionen.  Dem  entsprechend  kann  in  jeder 
dieser  drei  Klassen  eine  primäre,  prozeßbedingte  Störung  sich  ein- 
stellen. Außerdem  kann,  gleichviel  welcher  Klasse  dies  Erleben  au- 
gehören mag,  seine  Beziehung  zum  erlebenden  Subjekt  gestört  .sein; 
die  Ichbeziehung  des  Erlebens  kann  in  irreduziblen  pathologischen 
Qualitäten  auftreten.  Wir  finden  nun  tatsächlich  als  die  ganz 
unmittelbar  gegebenen,  im  Vordergrunde  des  kranken  Erlebens 
stehenden  phänomenologischen  Tatbestände  vor :  pathologische  Wahr- 
nehmungen, pathologische  Urteile,  pathologische  Gefühle,  patho- 
logische »Bewußtheiten«  und  pathologische  Störungen  der  Ichbe- 
ziehung des  Erlebens.  Auf  diese  Gegebenheitsgruppen  kranken  Er- 
lebens hat  die  phänomenologische  Analyse  sich  zuerst  zu  erstrecken, 
um  die  Struktur  derjenigen  Tatbestände,  die  dem  Kriterium  der 
analytischen  und  genetischen  Irreduzibilität,  der  originären  Persön- 
lichkeitsfremdheit genügen,  von  den  anderen  abzugrenzen,  welche 
aus  dem  vorgegebenen  Wesen  der  Persönlichkeit  restlos  fundierbar 
und  genetisch  herleitbar  sind.  Das  ist  die  erste  Aufgabe  des  phäno- 
menologischen Programms  in  der  Psychiatrie. 

Dies  Programm  kann  nur  durchgeführt  ^^■erden  durch  eine  größere 
Reihe  sorgsamer  Einzeluntersuchungen  an  der  Hand  genau  beob- 
achteter Zustandsbilder,  Es  ist  bereits  in  Angriff  genommen  worden. 
Freilich  ist  noch  auf  keinem  dieser  vier  Gegenstandsgebiete  etwas 
Definitives  erreicht.  Manches  befindet  sich  noch  in  allerersten  An- 
fangsstadien ^). 

Es  kann  meine  Aufgabe  nicht  sein,  den  gegenwärtigen  Stand 
dieser  Forschung  auf  den  genannten  vier  Gebieten  zu  präzisieren. 


1)  Für  die  Phänomenologie  der  Wahnerlebnisse  ist  eine  gewisse  Diskussion.-*- 
basis  bereits  verbürgt  durch  die  Arbeiten  von  Meyerhof,  Jasper.s  und  mir 
(a.  a.  O.).  Die  Phä.iomenologie  der  Wahrnehnmngstäuschungen  ist.  trotz  ein- 
zelnerguter Bemerkungen  von  Specht  und  von  Hirt  (a.  a.  O.),  über  die  Diskussion 
zwischen  Goldstein  (Archiv  f.  Psych.  44)  und  Jaspers  (Ztschr.  f.  d.  ges.  Neur. 
u.  Psych.  VI,     S.  460ff.)  noch  nicht  wesentlich  hinausgekommen. 

Ganz  schlimm  steht  es  um  die  phänomenologische  Literatur  der  anderen 
Gebiete;  so  groß  sie  ist,  so  wenig  förderte  sie  bisher  ihre  Probleme.  Hier  ist  noch 
reiches  Feld  zukünftiger  Bebauung  offen. 

27» 


420     Grundlinien  der  Phänomenologie  u.  deskriptiven  Theorie  des  Psychischen. 

Hier  ist  ja  noch  alles  im  Fluß,  und  jeder  neue  Untersucher,  jede  neue 
Arbeit  kann  grundlegende  Umwälzungen  mit  sich  bringen.  An  dieser 
Stelle  aber  sollte  nur  das  feste  Gerüst  des  methodischen  und  logischen 
Unterbaues  der  Forschung  selber  gegeben  werden,  auf  das  von  jeder 
Einzeluntersuchung,  als  das  Fundament  ihrer  inneren  Berechtigung, 
immer  wieder  zurückgegriffen  werden  kann.  Wir  werden  dies  Grerüst 
im  zweiten  Bande  dieses  Werkes  mit  der  materialen  Arbeit,  wie  sie 
oben  skizziert  wurde,  auszufüllen  haben. 


Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typen- 
bildung und  ihres  Verhältnisses  zui*  Soziologie,  ins- 
besondere Kriminologie. 

Vorbemerkung. 

Die  leitende  Fragestellung  dieser  Untersuchungen  bildet  die  Be- 
ziehung deskriptiver  und  normativer  Merkmale  in  den  Klassi- 
fikationen psychopathischer  Typen,  wie  sie  die  Psychiatrie  aufstellt. 
Es  ist  für  den,  der  die  historische  Entwicklung  dieser  Typenbildungen 
verfolgt,  äußerst  lehrreich  und  auffallend,  daß  soziologische  Ge- 
sichtspunkte bei  ihrer  Bildung  entscheidend  mitgewirkt  haben  und 
noch  immer  mitwirken.  Die  Berechtigung  dazu,  soziologische  Ge- 
sichtspunkte in  einer  naturwissenschaftlich-psychologischen  Deskrip- 
tion  wirksam  werden  zu  lassen,  und  der  Umfang  dieser  Berechtigung 
muß  auf  der  Grundlage  unserer  bisherigen  theoretischen  Ergebnisse 
gesichert  werden.  Es  ist  nun  keine  Frage,  daß  es  praktische  Ge- 
sichtspunkte waren,  die  den  kraftvollen  Anstoß  zu  dieser  Verschmel- 
zung soziologischer  und  deskriptiv-psychologischer  Maximen  erwirkt 
haben,  und  zwar  waren  es  die  Kriminologie  und  die  kriminologi- 
schen Anforderungen  an  den  Irrenarzt,  welche  in  erster  Linie  dahin 
drängten. 

Das  Grundproblem  aller  Kriminologie,  dem  auch  diese  Studie 
einen  geringen  Lösungsbeitrag  liefern  will,  ist  die  unter  bestimmten 
unpsychologischen  Gesichtspunkten  eingeengte  Teilfrage  des  all- 
gemeineren soziologischen  Problems:  ob  sich  Gesetze  der  Beziehung 
zwischen  psychologischer  Artung,  Milieu  und  Lebensgestaltung  auf- 
stellen lassen.  Typen  dieser  Beziehung  sucht  die  Kriminologie  auf- 
zufinden, und  zwar  im  Hinblick  auf  ein  bestimmtes  Tun,  welches  sie 
als  den  Ausdruck  dieser  Lebensgestaltung  auffaßt;  das  antisoziale. 
Die  Bestimmungsstücke  dieses  antisozialen  Tuns  sind  letzten  Endes 
immer  negative  Merkmale,  abgeleitet  aus  den  Normen  strafrechtlicher 
Kodifikation.  Diese  Typen  eines  Tuns,  definiert  an  den  Strafreclits- 
bestimmungen,  und  Typen  oder  Einheiten  nur  im  Sinne  dieser  De- 
finitionsgrundlage, enthalten  nun  gar  keine  Beziehung  zu  irgend- 
welchen psychologischen  Einheiten,  welche  die  Beschreibung  gewinnt 
und  aufstellt.  Die  Kriminologie  soll  zwischen  diesen  beiden  metho- 
disch ganz  inhomogenen  Teilen  eine  Beziehung  stiften,  welche  beide 
in  besonderen  Gesetzen  zusammenbringt.     Dem  Nachdenkenden  ist 


422        Zur  Theorie  und  Logik  psjchopathologischer  Tj-penbildung  usw. 

von  vornherein  klar,  daß  sich  hier  methodologische  Fragen  von  großer 
Schwierigkeit  und  Bedeutung  aufwerfen,  von  deren  klarer  Beant- 
wortung der  Erfolg  jeder  kriminologischen  Einzeluntersuchung  ,  ja 
der  Kriminologie  selber  abhängt,  soweit  sie  über  äußerlich-praktische 
Bedürfnisse  hinaus  Anspruch  auf  theoretische  und  wissenschaftliche 
Sicherheit  erhebt. 

Lange  Jahre  hindurch  habe  ich  in  der  Erkenntnis  der  hier  vor- 
liegenden Probleme  vergeblich  in  der  kriminologischen  Literatur 
um  Bat  gesucht.  Der  Eifer  des  Materialsammeins  auf  einem  wenig 
beackerten  Gebiet  überwog  hier  die  methodische  und  prinzipielle 
Selbstbesiimung ;  sogar  Meister  der  Forschung  wie  Aschaffen  bürg, 
welche  diese  Probleme  wohl  sehen,  überhoben  sich  bei  ihrer  produk- 
tiven Ai-beit  ihrer  besonderen  Behandlung.  Allmählich  aber  ist  die 
Materialfülle  so  reich  geworden,  daß  die  Verarbeitung  stockt;  nicht 
das  Material,  die  Gesichtspunkte  beginnen  zu  fehlen  und  werden 
immer  mehr  veräußerlicht. 

Da  erschien  es  mir  angebracht,  meinerseits  den  Versuch  zu  machen, 
den  Methodenproblemen  der  Kriminalpsychologie  prinzipiell  nach- 
zugehen. Im  Zentrum  dieser  Probleme  stand  für  mich  die  Frage, 
wieweit  generell  das  soziale  Verhalten  zu  einem  Krite- 
rium psychischer  Typik  zu  werden  vermag.  Denn  hier 
ist  der  eine  Brückenpfeiler  methodisch  verankert,  der  die  Brücke 
tragen  soll,  die  von  der  psychologisch  abgegrenzten  Struktureinheit 
des  Täters  zu  der  strafrechtlich  abgegrenzten  Begriffseinheit  des 
Deliktes  geschlagen  werden  muß.  Eine  methodische  Vorfrage  dieses 
Problems  bildet  die  nach  den  Geltungsgrundlagen  der  Begriffe  des 
Normalen  und  Abnormen,  insbesondere  des  Krankhaften. 
Eine  zweite  methodische  Vorfrage  widmet  sich  der  logischen  Struktur 
psychischer  Tj^penbildung.  Als  ich  vermeinte,  auf  diese  beiden  Fragen 
befriedigende  Antworten  gefunden  zu  haben,  war  die  weitere  Auf- 
gabe eine  methodische  Fundierung  des  zweiten  Tragpfeilers  der 
wissenschaftlichen  Kriminalpsychologie;  der  erste  stützte  den  Weg, 
der  als  ein  Kontinuum  von  den  psychischen  Wesenseinheiten  zu  den 
Einheiten  sozialen  Verhaltens  führte ;  der  zweite  —  der  sich  mir  im 
Begriff  der  Milieuabhängigkeit  darstellte  — -  trug  von  den  Einheiten 
sozialen  Verhaltens  hinüber  zu  den  außerpsychischen  Bedingungs- 
reihen  kriminellen  Tuns. 

Mit  der  methodologischen  Klärung  dieser  Sachlage  wurde  mir 
gleichsam  mit  einem  Schlage  der  Charakter  der  Gesetze  klar,  sowie 
die  heuristischen  Gesichtspunkte  und  die  Fragestellungen,  die  in  der 
Kriminalpsychologie  fruchtbar  und  bedeutsam  sind.  Ich  habe  nun 
diese  Ergebnisse  und  die  dabei  entwickelten  methodologischen  Ge- 
sichtspunkte nicht  sogleich  generell  gewonnen,  sondern  heuristisch 
mir  am  Falle  der  sog.  moral  insanity  sukzessive  abgeleitet.  Dieser 
Begriff,  von  dem  man  nicht  weiß :  gehört  er  in  die  Psychopathologie, 
gehört  er  in  die  Kriminalpsychologie,  stehen  seine  normativen  Merk- 
male in  faßbarer  Beziehung  zu  seinen  deskriptiven  usw.?   —  dieser 


Einige  Bemerkungen  über  den  Begriff  des  Krankhaften  im  Seeliechen  a->w.      423 

umstrittenste  Begriff  des  Grenzgebietes  mehrerer  Disziplinen  ist  so 
recht  ein  Schulbeispiel  für  die  Schwierigkeit  der  Beziehung  des  so- 
zialen Verhaltens  zur  seelischen  Struktur.  Ist  die  einheitliche  Ano- 
malie des  sozialen  Verhaltens  auf  eine  einheitliche  abnorme  Seelen- 
struktur reduzibel,  oder  ist  sie  selber  unmittelbar  die  »Kranklieit<<, 
oder  ist  diese  Begriffsbildung  unter  rein  normativen  Gesichtspunkten 
erfolgt  und  darum  deskriptiv  nichtssagend,  oder  ist  sie  trotzdem 
psychologisch  zulässig  oder  nötig  ? 

Ich  habe  es  für  wichtig  genug  erachtet,  bei  meiner  Darstellung 
der  methodischen  Sachlage  von  einer  exakteren  Analyse  der  im  mo- 
ralischen Schwachsinn  enthaltenen  Fragestellungen  auszugehen. 

Freilich  darf  man  auf  diesem  Gebiet  keine  Entdeckung  neuer 
Fakten  erwarten.  Derartiges  liegt  nicht  im  Wesen  einer  kritischen 
Betrachtung,  einer  methodologischen  Selbstkontrolle.  Was  diese 
leisten  soll,  ist  vielmehr  eine  Sicherung  und  Fundierung  des  bis- 
herigen Erkenntnisbestandes  und  seine  Befreiung  von  Unklarheiten 
und  Äquivokationen.  Ihr  Ziel  ist  eine  Verwissenschaftlichung  des 
schon  Erreichten  bis  zur  Höhe  theoretischer  Durchbildung.  Wir 
wissen  wohl,  daß  manche  Forscher,  die  auf  diesem  Gebiete  gearbeitet 
haben,  sich  über  die  in  Rede  stehenden  Probleme  ganz  ähnliche  Ge- 
danken gemacht  haben  wie  diejenigen,  die  wir  in  theoretisch  ein- 
wandfreier Weise  auszusprechen  glauben;  das  macht  unsere  Arbeit 
nicht  überflüssig,  sondern  nur  um  so  nötiger. 


1.  Einige  Bemerkuugeu  über  den  Begriff  des  Krankhaften 

im   Seelischen    und    die   logische   Struktur   psychopatholo- 

gischer  Typenbildung. 

Man  hat  immer  wieder  versucht,  den  Begriff  des  Krankliaften  in 
der  Psychiatrie  in  irgendeine  logische  Beziehung  zu  bringen  zu  dem 
Begriff  oder  den  Kriterien  der  Geisteskrankheit.  Es  besteht  aber 
dazu  kein  logischer  oder  theoretischer  Anlaß;  und  gewiß  kein  prak- 
tischer. Der  Krankheitsbegriff  der  Psychiatrie  ist  uns  einsichtig 
und  deutlich  —  wir  haben  genau  ausgefülirt,  in  welchem  Sinne  — , 
ohne  daß  wir  hierzu  den  Begriff  des  Krankhaften  benötigt  hätten. 
Umgekehrt  aber  kann  ebensowenig  der  Begriff  des  Krankliaften 
durch  den  von  uns  festgelegten  Begriff  der  Krankheit  im  Psychischen 
bestimn\t  werden,  mag  es  sich  nun  um  die  pathogenetische,  die  noso- 
logisch klinische  oder  irgendeine  sonstige  Fassung  des  Krankheits- 
begriffes handeln.  Man  hat  wohl  gesagt,  auch  der  Kranklieitsbegriff 
involviere  in  der  Psychiatrie  die  Benützung  sozialer  Kriterien  (Hell- 
pach);  und  in  dieser  Hinsicht  gleiche  er  sicii  dem  Krankhaftigkeits- 
begriff an.  Aber  das  ist  nur  dann  richtig,  wenn  man  auch  alles 
krankhafte  psychische  Sein  den  Kriterien  des  Kranklieitsbegriff  es 
unterstellt,  den  letzteren  also  an  Umfang  aufs  stärkste  erweitert, 


424        Zur  Theorie  und  Logik  psj-chopathologischer  Typenbildung  usw. 

so  daß  wirklich  »Schmerz  und  Lebensbedrohtheit  <<  nicht  bloß  zu 
Anzeichen  einer  Anomalie,  sondern  der  »Krankheit  <<  überhaupt  wer- 
den. Aber  dazu  besteht  kein  Grund;  unsere  positiveren  und  be- 
stimmteren Fassungen  des  Krankheitsbegriffes  vermeiden  das  Hinein- 
ziehen aller  derartiger  Merkmale,  welche  dem  autologischen  Wesen 
der  Psychiatrie  in  der  von  uns  gegebenen  theoretischen  Fundierung 
fremd  bleiben  müssen.  Für  den  Begriff  des  Krankhaften  dagegen 
bleiben  derartige  heterologische  Kriterien  zwar  problematisch,  aber 
möglich,  wenigstens  im  Prinzip;  denn  seine  Stellung  im  Ganzen 
psychiatrischer  Theorie  ist  durch  unsere  bisherigen  Untersuchungen 
noch  nicht  gegeben. 

Man  hat  jene  Beziehung  zwischen  Krankheit  und  Krankhaftig- 
keit ferner  dadurch  stiften  wollen,  daß  man  gesagt  hat,  krankhaft 
sei,  was  zum  Ausbruch  von  Geisteskrankheiten  disponiere.  Aber 
mit  dieser  Bestimmung  ist  gar  nichts  anzufangen.  Sie  ermöglicht 
nämlich  die  Erkenntnis  des  Krankhaften  in  der  Wirklichkeit  immer 
erst  dann,  wenn  sich  diese  disponierende  Fähigkeit  aktuell  bewährt 
hat.  d.h.  zum  Ausbruch  von  Geisteskrankheit  geführt  hat.  Wen  dann 
die  Erkenntnis  beglückt,  daß  die  Grundlagen  für  den  Ausbruch  der 
Geisteskrankheit  in  »krankhaften«  Dispositionen  gelegen  waren, 
dem  kann  man  diese  Definition  des  Krankhaften  ja  überlassen. 
Wesentlicher  wäre  es  doch  aber,  eine  Abgrenzung  des  Begriffs  see- 
lischer Krankhaftigkeit  zu  finden,  welche  nicht  erst  jsost  festum  an- 
wendbar würde.  Ein  zweites  kommt  hinzu:  wir  nennen  in  der  Psy- 
chiatrie gewisse  Persönlichkeiten,  Charaktere,  Typen,  Reaktions- 
formen krankhaft,  ganz  unabhängig  davon,  ob  auf  ihrer  Grundlage 
Psychosen  aktuell  zu  werden  vermögen  oder  nicht.  Tatsächlich  ist 
dies  bei  diesen  sogenannten  Psychopathien  nur  für  einen  Teil  der 
Fälle  zutreffend;  für  einen  anderen  Teil  nicht.  Und  die  Art  dieser 
Psychosen,  welche  wir  als  ausgelöste  oder  reaktive  Entwicklungen 
der  Persönlichkeit  begreifen,  ist  eine  grundsätzlich  völlig  andere  als 
diejenigen,  welche  wir  im  eigentlichen  Sinne  unter  dem  Begriff  der 
Geisteskrankheit,  im  Sinne  des  psychotischen  Prozesses,  verstanden 
wissen  wollen.  Wir  haben  dies  an  früherer  Stelle  ausführlich  dar- 
getan. Alle  jene  logischen  Regelungen  zwischen  Symptom  und  Krank- 
heit, zwischen  den  verschiedenen  Bestimmungsweisen  dieses  Krank- 
heitsbegriffes usw.,  die  wir  an  jener  Stelle  entwickelt  haben,  gelten 
nicht  für  die  Psychopathien,  die  wir  ausdrücklich  von  jenen  Rege- 
lungen ausnahmen.  Das  einigende  Band  aller  jener  Psychopathien 
aber  ist  es  gerade,  was  wir  »krankhaft«  nennen.  Was  sagen  wir 
aus,  wenn  wir  irgendeinem  psychischen  Geschehen  diesen  Begriff 
unterlegen  ? 

Als  krankhaft  bezeichnen  wir  in  ununterschiedener  Weise  sowohl 
die  gesamte  Persönlichkeit,  als  auch  einzelne  Vorgänge  in  ihr,  mögen 
diese  nun  für  sie  bestimmend  oder  belanglos  sein,  wenn  sie  nur  psycho- 
logisch aus  ihr  herleitbar  sind.  Wir  reden  aber  auch  von  einzelnen 
krankhaften   Regungen    und    Zügen    bei    einem    sonst    »gesunden« 


Einige  Bemerkungon  übor  don  Begriff  des  Kranit  haften  im  Seelischen  usw.      425 

Menschen.  Auch  die  Anwendung  des  Begriffs  der  Krankhaftigkeit 
gehorcht  also  keinem  der  bisherigen  Krankheitsbegriffe.  Negativ 
läßt  sich  der  Umfang  des  Krankhaftigkeitsbegriffs  so  bestimmen, 
daß  alles,  was  nicht  auf  Krankheitsprozessen  seelischer  Art  beruht, 
aber  auch  nicht  »gesund«  oder  »normal«  ist,  als  krankhaft  oder  ab- 
norm oder  psychopathisch  bezeichnet  wird.  Mit  dieser  negativen 
Bestimmung  ist  aber  natürlich  theoretisch  und  logisch  nichts  an- 
zufangen. 

Nun  ist  man  zwei  Wege  gegangen,  um  mit  der  Bezeichnung  als 
krankhaft  in  bezug  auf  seelisches  Geschehen  einen  wissenschaftlichen 
Sinn  zu  verbinden. 

Der  erste  Weg  ist  der  anthropologisch  biologische  der  Richtungen 
Lombroso,  Morel,  Mag n an.  Man  supponiert  eine  geschädigte, 
funktionsuntüchtige  Anlage.  Wie  man  diese  im  einzelnen  für  bedingt 
hält,  wird  Sache  der  Einzelforschung.  Krankhaft  ist  dann  das  see- 
lische Verhalten,  weil  die  Anlage  krank  ist.  So  entsteht  das  logische 
Fundament  für  die  Geltendmachung  des  Degenerationsbegriffes. 

Allein  dieser  Weg  weist  einen  doppelten  logischen  Sprung  auf. 
Erstens  schließt  man  aus  der  krankhaften  Anlage  auf  die  Krank- 
haftigkeit jenes  seelischen  Geschehens.  Allein  auf  Grund  der  ange- 
nommenen Krankhaftigkeit  des  seelischen  Geschehens  hatte  man  doch 
gerade  die  krankhafte  Anlage  als  Erklärungsgrund  erst  unterstellt. 

Dieser  logische  Zirkel  wird  praktisch  zuweilen  unwirksam  dort, 
wo  das  seelische  Verhalten  selber  seine  Krankhaftigkeit  sozusagen 
sinnfällig  demonstriert,  wie  im  Schwachsinn,  oder  wo  die  Abweichun- 
gen des  seelischen  Verhaltens  bei  einem  Menschen  sich  häufen,  wie 
beim  Hysteriker.  Das  ändert  aber  nichts  an  der  theoretischen  Un- 
möglichkeit dieses  logischen  Weges. 

Zweitens  ist  der  Degenerationsbegriff,  wie  sciion  früher  erwähnt, 
nur  scheinbar  ein  rein  deskriptiver  naturwissenschaftlicher  Begriff. 
In  Wirklichkeit  ist  er  der  Begriff  einer  Bewertung,  und  zwar  einer 
teleologischen  Bewertung.  Wenn  wir  von  Entartung.  Funktions- 
untüchtigkeit,  Minderwertigkeit  reden,  so  drängt  sich  dieser  norma- 
tive Charakter  schon  im  Worte  auf.  Die  Berechtigung  des  Herein- 
ragens  teleologischer  Normationen  in  die  Deskription  muß  aber  be- 
sonders dargetan  werden. 

Der  zweite  Weg  zur  Klärung  des  Begriffs  des  Krankhaften  knüpft 
an  die  Rede  von  der  »Abweichung«  des  seelischen  Gescliehens  an. 
Wovon  wird  abgewichen?  Die  Antwort  ist:  von  der  Norm,  vom 
Normalen. 

Normalität  kann  dreierlei  Bedeutung  haben : . 

Erstens  kann  sie  den  statistischen  Durchschnitt  bedeuten.  Von 
dieser  Bedeutung  al)cr  führt  kein  logischer  Weg  zur  Gleichsetzung 
des  Außer-durchschnittliclien  mit  dem  Pathologischen.  Sie  bleibt 
eine  reine  Nominaldefinition.  Die  Lehre  Lombrosos.  das  Genie 
sei  mattoid,  ist  vcUlig  konsequent  auf  dieser  Basis  des  Begriffs  von 
Normalität. 


■42(3        Zur  Theorie  und  Logik  psychoi^athologi.scber  Typenbildung  usw. 

Zweitens  kann  Norm  bedeuten :  das  Vorbild,  das  Ideal,  den  Kanon 
der  Forderung,  wie  beschaffen  der  Mensch  sein  soll.  Hiervon  war 
schon  aus  Anlaß  der  Erörterung  des  sogenannten  Idealtypus  in  der 
Wissenschaftstheorie  die  Rede^).  Wir  untersuchen  hier  nicht  wieder- 
um die  Frage  nach  den  Rechtsgründen  dieser  Norm;  wir  prüfen  nicht 
wiederum  ihren  logischen  und  theoretischen  Gehalt.  Das  ist  an  der 
genannten  Stelle  ausreichend  geschehen.  Wir  fragen  lediglich  nach 
ihren  praktischen  Konsequenzen.  Da  ist  zu  sagen:  entweder  diese 
Norm  im  Sinne  einer  Forderung  ist  eine  ethische,  d.  h.  an  sich  gültige. 
Dann  wird  die  logische  Gleichsetzung  des  Krankhaften  mit  dem  Un- 
sittlichen sich  nicht  vermeiden  lassen,  und  wir  langen  bei  den  äußer- 
sten Frühzeiten  der  Psychiatrie  an,  welche,  wie  Heinroth  usw. 
Krankheit  und  Sünde  gleichsetzten.  Oder  jene  Norm  ist  eine  teleo- 
logische, und  da  kommt  nur  die  soziale  Teleologie  in  Betracht.  Auf 
einer  einsamen  Insel  gäbe  es  keine  Krankhaftigkeit,  Gesellschafts - 
zustände  mit  ihrem  Wechsel  entscheiden  darüber,  was  als  krank- 
haft zu  gelten  hat.  Der  Krankhaftigkeitsbegriff,  und  damit  der 
Begriff  der  Psychopathie,  wird  logisch  relativiert  und  damit  ent- 
wissenschaf  tliclit . 

Drittens  kann  normal  bedeuten  das  Gesetzmäßige,  abnorm  das 
Gesetzwidrige.  Hier  liegt  der  Einwand  nahe:  alles  Naturgeschehen 
vollzieht  sich  gesetzmäßig,  mögen  wir  es  nun  normal  oder  abnorm 
nennen.  Daß  die  Gesetze  des  Letzteren  andere  sind  als  die  des  Nor- 
malen, beweist  nichts  gegen  ihre  Gesetzesnatur.  Logisch  wären  wir 
also  nicht  weiter  als  zuvor. 

Dennoch  ist  aus  diesem  Dilemma  ein  Ausweg  möglich. 

Jeder  Organismus,  jede  Individualität  ist  auflösbar  in  einen 
Komplex  von  Gesetzen  ihrer  Bildung  und  Gestaltung  —  zum  minde- 
sten prinzipiell.  Um  die  Begründung  hierfür  einzusehen,  erinnere 
man  sich  an  das  über  die  Wissenschaftstheorie  der  Erkenntnis  des 
Individuellen  Gesagte.  Für  unser  Problem  käme  es  nun  darauf  an, 
die  —  allerdings  zufälligen  —  jeweiligen  materialen  Ausgangsbe- 
dingungen zu  studieren,  unter  denen  der  Komplex  von  Bildungs- 
und Strukturgesetzen  in  jedem  Individualfall  zusammentrifft.  Ab- 
Aveichungen  müssen  immer  in  diesen  materialen  Bedingungen  des 
Zurgeltungkommens  jenes  komplexen  Gesetzes  begründet  sein. 
Krankhaft  wären  dann  solche  Abweichungen  der  Bedingungen,  unter 
denen  das  Gesetz,  welches  als  solches  bekannt  ist  und  unter  dem  Kri- 
terium des  »Normalen«  steht,  sich  nicht  realisiert. 

Natürlich  ist  auch  diese  Formulierung  des  Wesens  der  Psycho- 
pathie und  des  Krankhaften,  ganz  abgesehen  von  ihrer  Negativität, 
eine  teleologische.  Aber  diese  Teleologie  ist  keine  normative,  und 
sie  ist  ausfüllbar  durch  immanente  Deskription  und  Induktion. 
Wir  verbleiben  also  ganz  im  Bereich  des  naturwissenschaftlichen 
Denkens. 


1)  Vgl.  S.  222  ff.  dieses  Buches. 


Einige  Bemerkuugeu  über  den  Begriff  des  Kraukhaftcu  im  ISeeliischcu  u.-sw.      -1:27 

Diese  Auffassung  steht  zur  normativen  Auffassung  des  Krank- 
haften insofern  gleichartig,  als  beide  mit  dem  Begriff  des  Krank- 
haften den  einer  geltenden  Einheit  setzen;  mit  der  statistischen  Auf- 
fassung des  Krankhaften  teilt  sie  das  deskriptive  Verfahren. 

Diese  teleologische  Formulierung  des  Krankhaften  fügt  sich  zwang- 
los in  die  Variationslehre  der  Biologie  ein.  Es  gibt  Arten.  Jede  Art 
hat  ihr  eigenes  morphologisch  biologisches  Strukturgesetz.  Inner- 
halb einer  Art  entstehen  unter  besonderen  äußeren  und  inneren  Be- 
dingungen, unter  denen  dies  »Strukturgesetz  sich  realisiert,  Über- 
gänge und  Abarten.  Diese  Bedingungen  der  Anwendung  jenes 
Strukturgesetzes  sind  in  der  Biologie  ausreichend  studiert;  die  Pro- 
bleme der  Verteilung  der  Erbmassen,  der  Mutation,  des  Mendelismus 
gehören  hierher.  Derartige  Varianten  nun  zeigen  sich  auch  beim 
Menschen,  innerhalb  einer  Rasse  sind  sie  die  verschiedenen  Kon- 
stitutionstypen, die  körperlichen  und  seelischen  Abarten.  Im  Be- 
griff der  Abartung  liegt  jenes  teleologische  Moment,  welches  aber 
rein  naturtheoretisch  auflöslich  und  erklärlich  wird  und  die  Schranken 
biologischer  Naturtheorie  nicht  transzendiert. 

Letzten  Endes  kommen  wir  auf  diesem  logischen  Wege  zu  den 
Individualitäten  selber;  und  diese  werden  dann  ihrerseits  nach  den- 
jenigen Richtungen,  in  denen  ein  mehreren  gemeinsames  Bildungs- 
gesetz, welches  von  anderen  Verwirklichungsweisen  des  Artgesetzes 
abweicht,  als  zugrundeliegend  hypostasiert  Avird,  im  Wege  echter 
naturtheoretischer  Induktion  zu  Typen  zusammengefaßt.  Diese 
Typen  fallen  mit  den  Abarten  insofern  zusammen,  als  die  Abarten 
nicht  mehr  teleologisch  normiert,  sondern  naturtheoretisch  erklärt 
werden. 

Aber  mit  diesen  Abarten  und  Typen  sind  wir  an  sich  noch  nicht 
bei  den  Entartungen  und  dem  Krankhaften. 

Der  normative  Charakter  dieser  Begriffe  v/ird  sich  in  keinem  Falle 
ausschließen  lassen.  Jedoch  erfährt  er  durch  die  vorangegangene 
immanent  teleologische  Fassung  des  Variantenbegriffes  selber  eine 
außerordentlich  weitgehende  Restriktion.  Wir  haben  offenbar  aus- 
zugehen von  dem  Gesetz,  welches  sich  in  jenem  Typus  realisiert, 
von  der  Variante,  insofern  sie  eine  besondere  Verwirklichungsform 
des  Artgesetzes  darstellt,  von  der  Funktion,  die  variiert  ist.  Die 
Frage  wird  sein:  ist  durch  die  Variation  der  Vollzug  der  Funktion 
noch  in  der  Weise  der  sie  bestimmenden  Gesetzmäßigkeit  gesichert? 
Wenn  ja,  liegt  eine  bloße  Abartung,  wenn  nein,  liegt  eine  Entartung 
vor. 

Damit  hätten  wir  dann  ein  Kriterium  des  Krankhaften,  Ano- 
malen, Psychopathischen  für  alles  seelische  Geschehen  gewonnen. 
Dies  Kriterium  ist  zwar  ein  normatives,  der  Maßstab  der  Normation 
ist  aber  die  immanente  Telcologie  des  Artbegriffes  selber  und  seiner 
Naturgesetzlichkeit  bzw.  deren  VerAvirklichung. 

Freilich  ist  dieses  Kriterium  sehr  schwer  zu  handliabeu.  Die 
praktische  Frage  wird  sein :  wann  ist  für  das  psychische  Geschehen 


428        Zur  Theorie  und  Logik  psycho  pathologischer  Tvpenbildung  usw. 

die  jeweilige  Eigenart  ein  Hemmnis,  wann  nicht?  Für  viele  Fälle 
mag  dies  klar  sein,  praktisch  wird  es  meist  auf  den  Grad  der  Eigen- 
artung hinauskommen.  Sehr  viel  schwerer  wird  dies  Kriterium  an- 
wendbar sein  für  gewisse  Typen,  wie  den  Lügner,  den  Abenteurer, 
den  Phantasten,  bei  denen  kein  klarer  abgegrenzter  Übergang  zu 
den  eigentlich  ethisch  charakterologischen  Normationen  vorhanden 
ist.  Grundsätzlich  entscheidend  ist  aber:  allein  das  hier  entwickelte 
Kriterium  des  Krankhaften  ist  logisch  und  theoretisch  widerspruchs- 
frei möglich. 

Nach  diesen  Ausführungen  ist  auch  die  logische  Struktur  der 
psychopathologischen  Typenbildung  eindeutig  bestimmt.  Wir  ver- 
weisen zunächst  noch  einmal  auf  alles  dasjenige,  was  wir  an  wissen- 
schaftstheoretischen Sicherungen  unserer  Bestimmung  bereits  an 
früherer  Stelle  geleistet  haben.  Wir  verweisen  insbesondere  auf  die 
Möglichkeit  der  Rationalisierung  des  Individuellen  und  auf  den 
naturgesetzlich  induktiven  Weg  der  Rationalisierung  zum  Typus. 
Aus  alledem  folgt : 

Die  psychopathologische  Artung  eines  Menschen  ist  immer  psycho- 
logisch eindeutig  determiniert  und  durch  ein  reales  psychisches  Sonder- 
gesetz in  allen  ihren  Auswirkungen  in  identischer  Weise  bestimmt. 
Es  liegt  hierin  kein  Widerspruch  dazu,  daß  sie  nicht  restlos  und  glatt 
in  einem  der  psychopathologischen  Ordnungstypen  aufzugehen 
braucht,  die  man  landläufigerweise  zu  trennen  pflegt.  Daß  es  zwischen 
diesen  Ordnungstypen  Zwischen-  und  Mischformen  gibt,  ist  allgemein 
bekannt;  ebenso,  daß  vom  einzelnen  Typus  jeweils  Übergänge  zum 
Normalen  führen.  Eine  jede  solche  Mischform  —  sie  scheine  so  zu- 
sammengesetzt wie  sie  wolle  —  ist  aber  in  ihrem  Wesen  psychologisch 
ebenso  einlieitlich  und  scharf  begrenzt  wie  die  eigentlichen  Grund - 
typen.  Um  das  einzusehen,  muß  man  sich  den  methodischen  Weg 
vergegenwärtigen,  der  zu  dem  Behufe  der  Bildung  solcher  Typen 
begangen  wird. 

Die  logische  Stellung  des  geistigen  Prozesses,  dessen  Ergebnis  die 
bekannten  und  hier  vorausgesetzten  Typen  psychopathischer  Persön- 
lichkeiten sind,  soll  kurz  gekennzeichnet  werden.  Man  sagt  hierüber 
nämlich  meist,  diese  Typen  beruhten  auf  »Abstraktionen«.  Aber 
das  ist  nicht  richtig;  ebensowenig  wie  der  Normaltypus,  der  »Gesunde  « 
eine  Abstraktion  ist  —  etwa  gemäß  der  statistischen  Breite  des  Vor- 
kommens seiner  Eigenschaften,  wie  man  gerne  behauptet.  Vielmehr 
wenn  man  diese  Typen  bildet,  so  will  man  damit  ein  Gesetz  für  das 
Zusammenwirken  ihrer  seelischen  Funktionen  ausdrücken  und  den 
Begriff  dieses  Gesetzes  kurz  bezeichnen.  Man  kennt  dieses  Gesetz 
nämlich  nicht  so,  daß  es  sich  bestimmt  und  explizit  aussprechen  ließe ; 
man  weiß  nur,  hinter  dem  Wesen  jedes  Typus  steht  eine  Einheit, 
welche  das  Ineinander-  und  Zusammenwirken  seiner  Abläufe  in  be- 
stimmter, von  anderen  Einheiten  unterschiedener  Weise  regelt.  Welches 
diese  Einlieit  ist,  vermag  man  direkt  nicht  anzugeben;  aber  man 
erkennt    sie   aus   ihren    Erscheinungsweisen   und   ihren  Wirkungen. 


Einige  Bemerkungen  über  den  Begriff  des  Krankhaften  im  Seelischen  usw.     429 

Man  kann  auch  die  eine  oder  die  andere  ihrer  Voraussetzungen  inner- 
halb des  psychischen  Substrates,  auf  das  sie  sich  anwendet,  direkt 
erkennen:  man  kann  in  der  relativen  Stärke  der  psychischen  Grund- 
funktionen selber  oder  in  ihren  qualitativen  Relationen  Besonder- 
heiten erkennen  und  ähnliches.  Gesetze,  die  für  ein  empirisches 
Material  gelten,  beruhen  auf  Induktionen.  Das  gilt  auch  für  die 
Gesetze  der  psychopathologischen  Artung.  Jene  Typenbildungen 
sind  genau  so  Induktionsergebnisse  wie  es  die  Gesetze  der  einzelnen 
psychotischen  Prozesse  sind. 

Es  hat  aber  natürlich  seinen  Grund,  daß  diese  Gresetze,  welche 
durch  die  psychopathischen  Typen  jeweils  bezeichnet  werden,  in 
ihren  wesentlichen  Bestimmungsstücken  um  soviel  ungreifbarer  sind 
als  etwa  die  Gesetze  echter  Krankheiten,  seien  diese  nun  körper- 
licher oder  psychischer  Art.  Die  Krankheitsgesetze  sind  letzten 
Endes  —  d.  h.  sobald  aus  einem  vollständigen  Induktionsmaterial 
geschlossen  wird  —  genetisch -ätiologischer  Art.  Bei  den  bloß 
nosologisch  oder  nur  klinisch  bestimmten  Krankheitsgesetzen  bleibt 
die  Wissenschaft  lediglich  dann  stehen,  wenn  die  ätiologischen  Be- 
stimmungsstücke noch  nicht  in  ihrer  Hand  sind;  wenn  die  Forschung 
sie  noch  sucht.  Das  bedeutet,  daß  in  solchen  Fällen  das  Induktions- 
material noch  unvollständig  ist.  Die  Aufstellung  klinischer  Ein- 
heiten bedeutet  ein  Wissen  um  das  Bestehen  eines  bestimmten  ein- 
deutigen Kausalzusammenhanges  und  die  deskriptive  Aufzählung 
aller  der  Phänomene,  die  offenbar  irgendwie  mit  ihm  zu  tun  haben; 
aber  weder  ist  dieser  Kausalzusammenhang,  dieses  Gesetz  der  Krank- 
heit schon  in  seinen  Bestimmungsstücken  erfaßt,  noch  ist  eine  Zu- 
sammenordnung der  unter  ihm  stehenden  Phänomene  gemäß  dieser 
Kausalrelation  möglich;  sie  bleibt  vorerst  eine  äußerlich-deskriptive 
Sammlung.  Es  werden  in  dem  Chaos  der  ungeordneten  Materie 
einheitliche  Zusammenfassungen  versucht.  Denn  dies  —  die  Auf- 
findung von  Gesetzen  —  ist  die  Aufgabe  der  Forschung.  Heuristi- 
sches Prinzip  ist  zunächst  nur,  daß  es,  soll  eine  Wissenschaft  über- 
haupt möglich  sein,  in  dieser  ungeordneten  Materie  Gesetze  geben 
muß.  So  ordnet  man  klinisch  das  deskriptive  Gleiche  zusammen, 
sei  es  nach  Zustandsbild  oder  Verlauf.  Da  nun  in  der  psychiatrischen 
Materie  kein  Fall  dem  anderen  gleicht,  so  muß  von  dem  Besonderen 
und  Zusammengesetzten  der  einzelnen  Individualität  immer  mehr 
oder  weniger  weitgehend  abstrahiert  werden.  Diese  Abstraktionen 
nun,  das  vorbereitende  Hilfsmittel  der  angestrebten  induktiven  For- 
schung, erfolgen  gemäß  dem  Stande  unserer  Erkenntnis  von  den 
Elementen  und  Funktionen  des  psychischen  Lebens  überhaupt.  Es 
ist  nun  klar,  daß  der  Gesichtspunkt  dieser  Abstraktionen,  welcher 
aus  der  normalen  Psychologie  übernommen  wird,  willkürlich  und 
irrig  sein  kann  und  dem  realen  Zusammenhang  der  Phänomene  nicht 
zu  entsprechen  braucht.  Die  auf  diese  Methode  aufgebaute  Induk- 
tion strebt  also  zwar  eine  reale  Einheit  an,  ist  aber  in  diesem  Streben 
nicht  gegen  Irrtum  gesichert. 


430        Zur  Theorie  und  Logik  psychopatliologischer  Typenbildung  usw. 

Solche  klinischen  Einheiten  sind  im  Gebiete  der  Psychiatrie  etwa 
»die«  Paranoia  und  >>die«  Epilepsie.  Hierher  gehören  nun  auch 
alle  Einheiten  psychopathologischer  Typenbildung.  Bei  den  letzteren 
kommt  nun  aber  noch  eine  zwiefache  Schwierigkeit  hinzu.  Nämlicli 
erstens  sind  sie  pathogenetisch  gar  nicht,  wie  die  psychotischen  Pro- 
zelle, verifizierbar.  Ihre  Pathogenese  ist  an  sich  keine  einheitliche, 
auch  nicht  für  den  einzelnen  Typus.  Ferner  ist  sie  vollständig  unklar. 
Und,  was  das  wichtigste  ist,  auch  wenn  sie  eine  bekannte  und  ein- 
heitliche wäre,  so  wäre  sie  für  das  Gesetz  des  einzelnen  Typus  völlig 
belanglos.  Für  die  wissenschaftliche  Durchbildung  der  psychopatho- 
logischcn  Typen  kommt  es  nur  darauf  an,  ihre  klinische  Einheit  zum 
Range  einer  nosologischen  zu  erheben.  Warum  die  Pathogenese 
dieser  Typen  eine  so  nebensächliche  Rolle  spielt,  dies  zu  begründen 
bedürfte  einer  breiten  Erörterung  über  den  Konstitutionsbegriff,  die 
hier  nicht  gegeben  Averden  kann;  überdies  liegen  ihre  Ergebnisse  für 
jeden  Kenner  der  einschlägigen  Probleme  nahe.  Die  Grundfrage  der 
psychopathologischen  Tyj^enbildung  ist  die:  welche  Gesetze  und 
Zusammenordnungen  psychischen  Geschehens  bestehen,  wenn  in  den 
einzelnen  Funktionen  und  ihren  Relationen  Intensitätsänderungen 
jeweils  vorausgesetzt  werden;  oder,  da  wir  nicht  systematisch,  sondern 
von  der  Mannigfaltigkeit  des  empirischen  Materials  ausgehen :  welche 
Gesetze  gelten  unter  der  gemachten  Voraussetzung  für  dieses?  Mit 
der  Einführung  der  genannten  Voraussetzung  aber  entsteht  die  zweite 
Schwierigkeit,  von  der  wir  sprachen.  Denn  um  zu  jenen  Funktionen 
und  der  für  sie  oder  ihre  Wechselbeziehung  postulierten  Störung  zu 
gelangen,  müssen  wir  itbstrahieren.  Und  zwar  abstrahieren  in  einem 
ganz  anderen  und  viel  weitergehenden  Sinne,  als  wir  es  bei  der  Sym- 
ptomatologie der  eigentlichen  Psychosen  tun  müssen.  Bei  dieser  ge- 
nügt es,  jedes  Symptom  auf  seine  eigenen  funktionalen  Wurzeln 
zurückzuführen.  Jede  Abstraktion  ist  ebenso  unabhängig  von  der 
anderen,  wie  jedes  Primärsymptom  es  vom  anderen  ist.  Mit  anderen 
Worten:  für  die  Psychosen  im  engeren  Sinne  wird  keine  psycho- 
logisch einheitliche  Störung  der  Funktionen  gefordert.  Das 
liegt  im  inneren  Wesen  des  psychotischen  Prozesses,  der  die  psychi- 
sche Kontinuität  destruiert.  Diese  Forderung  ist  aber  für  die  Psycho- 
pathien eine  unerläßliche  Vorbedingung  ihrer  wissenschaftlichen  Be- 
arbeitung. In  ihr,  und  in  der  durch  sie  veranlaßten  psychologischen 
Abstraktionsweise,  ist  aber  der  Schlüssel  zur  Methode  psychopatho- 
logischer Typenbildungen  zu  erblicken.  Insofern  trifft  die  land- 
läufige Auffassung,  diese  Typen  »seien«  Abstraktionen,  nicht  all- 
zuweit an  der  Sache  vorbei,  wenn  sie  auch  ihr  Wesen  nicht  erfaßt. 
Denn  dieses  besteht  in  der  unvollständigen  Induktion  aus  diesem 
Abstraktionsmaterial  auf  ein  gesetzmäßiges  psychisches  Sonder- 
geschehen. 

Abstraktion  ist  Vereinfachung.  Die  Zahl  der  psychopathischen 
Individuen  ist  mannigfaltig,  die  fundierenden  Funktionsanomalien 
sind  systematisch  nicht  übersehbar.  Die  abstraktiven  Vereinfachungen 


Paradigmat.  Erörterung  der  theoret.  Probleme  de;s  sog.  moral.  Schwaclisinux.     431 

werden  daher  leicht  zu  weit  getrieben.,  so  daß  .sie  der  mannigfaltigen 
Abstufung  der  M-irklich  vorliandenen  Typen  nicht  genügen.  üas 
Gesetz  jedes  Typus  ist  aber  ein  nur  für  ihn  gültige«  reale:*  Sonder- 
gesetz.  Man  darf  auch  nicht  überselien,  daß  Kombinationen  und 
Variationen  mehrerer  Funktionsanomalien  aufeinander  treffen  können, 
deren  Resultante  wiederum  ein  in  sich  einheitliches  Gesetz  besonderen 
psychischen  Ablaufens  sein  muß.  So  erklärt  sicli  das  Bestehen  von 
Mischformen.  Mischformen  sind  diese  nur  für  die  relativ  rohe 
Willkürlichkeit  unserer  Vereinfachungen  und  deren  Bezeichnung;  tat- 
sächlich sind  es  reale  besondere  Bildungen  in  ihrem  besonderen  Eigen- 
gesetz, auf  das  die  Methode  unseres  Abstrahierens  aus  anderen  Grün- 
den nicht  adäquat  eingestellt  ist.  Etwas  anders  verhält  es  sich  mit 
den  sogenannten  Übergängen,  die  vom  Normalen  zum  einen  oder 
zum  anderen  Typus  führen.  Sie  erklären  sich  daraus,  daß  die  Inten- 
sität jeder  Funktion  oder  jeder  Funktionsanomalie  sowie  jeder  quali- 
tativen Änderung  im  Verhältnis  der  Funktionen  zueinander  nach 
Graden  abstuf  bar  ist. 

Wir  fassen  zusammen:  Jeder  psychopathologische  Typus  ist  der 
Ausdruck  einer  induktiv  gewonnenen,  gesetzmäßigen  realen  Einheit. 
Doch  ist  das  Sondergesetz  psychischen  Geschehens,  das  er  darstellt, 
nicht  aus  seinen  konstitutiven  Merkmalen  in  abstracto  und  theore- 
tisch darstellbar.  Zu  seiner  Vergegenwärtigung,  die  nur  in  concreto 
möglich  ist,  bedient  man  sich  daher  deskriptiver  Materialdaten  und 
roher,  ad  hoc  gemachter  Abstraktionsbezeichnungen,  die  eine  kli- 
nische Verständigung  ermöglichen,  ohne  das  psychologisch-theoretisch 
Wesentliche  zu  enthalten.  Normative  Gesichtspunkte  finden  sich 
in  diesem  ganzen  geistigen  Prozeß  nicht ;  er  verbleibt  völlig  innerhalb 
der  beobachtenden  und  beschreibenden  Psychologie. 


2.  Paradigmatische  Erörterung  der  theoretischen  Probleme 
des  sogenannten  moralischen  Schwachsinns. 

Es  wurde  im  vorherigen  festgestellt,  daß  das  deskriptive  Material, 
welches  den  auf  Typenbildung  abzielenden  Induktionen  der  Psycho- 
pathologie zugrunde  liegt,  aus  den  jeweiligen  Besonderheiten  der 
psychischen  Funktionen  und  ihrer  Beziehungen  besteht.  Alle 
direkt  beobachtbaren  psychischen  Phänomene  und  Erlebnisse  er- 
fahren zum  Zweck  der  Zusammenordnung  unter  ein  psychopatho- 
logisches  Gesetz  eine  Reduktion  auf  die  Funktionen,  durch  deren 
Wirksamkeit  und  Verbindung  sie  erzeugt  wurden.  Für  diese  Re- 
duktion der  Phänomene  auf  die  Funktionen  kornmen  naturgemäß  in 
erster  Linie  diejenigen  Phänomene  in  Betracht,  welche  metliodisch 
isolierbar  und  direkt  demonstrabel  sind  und  einen  unmittelbaren 
Index  der  Leistungsgröße  und  Qualität  der  fundierenden  Funktion 
oder  Funktionsgruppe  bilden.     Darüber  hinaus  aber  bildet  das  ganze 


432        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

psychische  Leben  einen  —  allerdings  sehr  abgeleiteten  und  ver- 
wickelten —  Ausdruck  der  besonderen  Artung  seelischen  Funktio- 
nierens,  die  im  Einzelfalle  vorliegt  und  ihn  von  anderen  unterscheidet. 
Ein  nicht  scharf  abgrenzbarer  Teil  dieses  psychischen  Gesamtseins 
ist  das  soziale  Verhalten.  Setzt  man  die  Abgrenzung  psychopatho- 
logischer Typen  lediglich  auf  Grund  der  direkt  beobachteten  Funk- 
tionsarten als  bereits  vollzogen  voraus,  so  wird  auf  Grund  dieser 
fertigen  Erkenntnis  auch  eine  Um-egelmäßigkeit  des  sozialen  Ver- 
haltens aus  dem  Wesen  des  betr.  Typus  heraus  verständlich,  so  in- 
direkt und  verwickelt  die  einzelnen  Zusammenhänge  auch  sein  können. 
Tatsächlich  aber  ist  die  Problemlage  für  die  Wissenschaft  eine  andere : 
die  Typen  sind  keineswegs  vorgegeben,  sondern  sollen  erst  noch 
exakt  erfaßt  und  fundiert  werden;  und  zu  diesem  Zweck  liegt  neben 
dem  psychologisch  direkt  beobachtbaren  Material  auch  der  äußere 
soziale  Lebensgang  der  einzelnen  Fälle  zur  Untersuchung  vor.  Dieser 
soziale  Lebensgang  aber  ist  nun  nicht  ohne  weiteres  einer  begriff- 
lichen Fassung  und  Bearbeitung  zugänglich,  deren  Elemente  aus  der 
Psychologie  stammen;  Abweichungen  von  der  sozialen  Norm  sind 
nicht  identisch  mit  Abweichungen  von  der  psychischen  Norm;  und 
daraus  ergibt  sich  die  methodische  Frage,  wieweit  das  soziale  Ver- 
halten von  Individuen  überhaupt  Material  zum  Aufbau  psychischer 
Typen  darstellen  kann  und  darf. 

Dasjenige  Gebiet  der  Psychopathien,  für  welches  diese  Frage  am 
brennendsten  ist,  ist  die  sogenannte  moral  insanity  Prichards^). 
Denn  an  direkt  beobachtbaren  Funktionsanomalien  herrscht  hier 
rechter  Mangel;  und  es  ist  das  soziale  Verhalten  in  einer  allerdings 
ganz  einheitlichen  und  konstanten  Besonderheit,  welches  allein  oder 
doch  in  überwiegendem  Maße  das  Material  zur  Aufstellung  dieses 
Typus  liefern  muß. 

Prichard  bildete  diesen  Typus  ganz  unbefangen  und  direkt  auf 
Grund  des  sozialen  Verhaltens.  Moral  insanity  bedeutet:  Irresein 
des  Verhaltens;  im  englischen  Sprachgebrauch  des  Wortes  moral 
liegt  nicht  der  engere  deutsche  Sinn  >>  moralisch  <<,  sondern  der  weitere 
des  Verhaltens,  des  Charakters  und  Benehmens  überhaupt.  Für 
Prichard  kormte  also  das  äußere  Verhalten  gleichsam  als  ein  ein- 
heitlicher Bestandteil  der  Seele  erkranken;  daß  die  Kriterien  des 
Abweichens  von  der  Norm  für  das  soziale  Verhalten  durchaus  keine 
psychologischen,  sondern  eben  soziale  sind,  übersah  er;  direkt  greif- 
bare psychologische  Krankheitszeichen  brauchten  nicht  da  zu  sein: 
das  auffällige  soziale  Verhalten  »ist«  das  Irresein. 

Dieser  Begriff  hat  nun  sehr  mannigfache  Abwandlungen  erfahren, 
an  denen  sich  die  prinzipielleren  methodologischen  Fragen  des  Zu- 
sammenhangs zwischen  sozialem  Verhalten  und  psychischem  Typus 
gut  verfolgen  lassen.  Ein  Teil  der  Forscher  hat  versucht,  die  Ab- 
weichungen des  sozialen  Verhaltens  in  ihrer  Spezifität  aus  anthro- 


1)  Prichard,  Treatise  on  insanity  etc.  1835. 


Paradigmat.  Erörterung  der  theoret.  Problorno  di^a  sog.  moraL  SchwachHinin.     433 

pologisch-somatisclien  Gresichtspunkten  heraus  zu  fundieren,  etwa 
durch  Hereditätsanoraalien  oder  Degeneration  oder  sonstige  »an- 
geborene Anlage«  pathologischer  Art,  und  sie  so  unter  ein  einheit- 
liches Gesetz  zu  bringen.  Ein  anderer  Teil  hielt  mit  der  Widerlegung 
dieser  Versuche  auch  die  Typenbildung  moral  insanity  für  widerlegt. 
Ein  anderer  Teil  suchte  nach  psychologisch  direkt  beobachtbaren 
Nebenbefunden,  die  zugleich  mit  der  sozialen  Anomalie  bestanden; 
so  kam  man  auf  den  »Schwachsinn«  der  moral  insanes.  Andere 
Forscher  wollten  diesen  Schwachsinn  nur  in  bezug  auf  moralische 
Urteile  und  Entschließungen  wirksam  wissen,  ohne  sich  zu  fragen,  wie 
Derartiges  psychologisch  möglich  sei,  und  was  das  dann  für  ein  »Schwach- 
sinn« sei,  den  man  sonst  nicht  merke.  Immerhin'ist  hier  bereits 
die  Tendenz  einer  psychologischen  Reduktion  des  sozialen  Verhaltens 
auf  psychische  Funktionen  im  allgemeinen  deutlich,  wenngleich  noch 
nicht  recht  geklärt.  Wieder  andere  Forscher  glauben,  Moral  bestehe 
in  Gefühlen,  und  sehen  in  Gefühlsdefekten  die  direkte  psychische 
Basis  der  moral  insanity.  Andere  bestreiten  die  psychologische 
Einheitlichkeit  des  seelischen  Gegebenseins  von  Moral  und  sind  da- 
her Gegner  der  Typenbildung  moral  insanity,  obwohl,  wenn  Moral 
auch  nichts  psychologisch  einheitlich  Repräsentiertes  zu  sein  braucht, 
der  Typus  des  moral  insane  durchaus  eine  Einheit  sein  kann.  Andere 
endlich  lehnen  die  Existenz  der  Erkrankung  »moralischer  Schwach- 
sinn« ab,  halten  aber  die  Typenbildung  deshalb  noch  nicht  für  falsch, 
sondern  bestreiten  nur  ihre  Subsumierbarkeit  unter  die  Typenbildun- 
gen der  Psychopathien.  So  lehnt  Aschaffenburg  die  Krankheit 
moral  insanity  ab^),  und  diagnostizierte  in  einem  bestimmten  Falle: 
»nicht  geisteskrank,  moralischer  Schwachsinn«.  Das  ist  durchaus 
nicht  inkonsequent,  wie  es  vielleicht  zuerst  scheinen  könnte;  es  legt 
nur  die  Frage  nahe :  Welchen  Kriterien  gehorcht  denn  diese  Typen- 
bildung, wenn  nicht  denen  der  Psychopathologie?  Gehören  die  Kri- 
terien dieses  Typus  nicht  wenigstens  teilweise  der  Psychologie  anl 
Und  wohin  gehört  der  Typus,  wenn  er  auf  diese  Weise  den  psycho- 
pathologischen  Typen  ausgereiht  wird? 

Alles  das  sind  nur  theoretische  Fragen.  Für  die  Praxis  genügen 
Berzes^),  Antons^)  und  Liepmanns*)  mehr  umschreibende  Ab- 
grenzungen des  moralischen  Schwachsinns;  und  für  die  praktisch- 
forensischen Gesichtspunkte  werden  einstweilen  die  Grundlinien 
maßgebend  sein  müssen,  die  Berze  in  seiner  vortrefflichen  Studie 
gezogen  hat. 

Jedoch  die  theoretischen  Fragen  haben  auch  ihre  Bedeutsamkeit, 
und  zwar  hier  eine  gleichsam  paradigmatische,  indem  die  Beziehung 


1)  Aschaffenburg,  Das  Verbreohen  u.  s.  Bekämpfung.     1903.     S.  164. 

2)  Berze,  Über  die  sog.  moral  insanity  und  ihre  forens.  Bedeutung.    Groß* 
Arohiv.     Bd.  30.     S.  123  ff. 

3)  Anton,  Deut'^ohe  med.  Wochenschrift.     1910.     Nr.  6. 

*)  Liepmann,  Die  Beurteilung  psychop.  Konstitutionen.     Ztschr.  f.  ärztL 
Fortbildung.     1912.     S.  134ff. 

Eronfeld,  Psychiatrische  Erlteontals.  28 


434        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  TypenbUdung  usw. 

zwischen  der  Einheit  psychischer  Artung  und  Funktionsbesonderheit 
einerseits,  der  »Einheit  <<  sozialen  Verhaltens  andererseits  gerade  beim 
moralischen  Schwachsinn  zu  einer  besonders  problematischen  Zu- 
spitzung kam.  Wenn  daher  die  theoretische  Bearbeitung  auch  keine 
neuen  Tatsachen  zutage  fördert,  so  klärt  und  vertieft  sie  doch  unser 
Verständnis  der  alten.  Ich  glaube  daher  an  einige  der  hierher  ge- 
hörigen Probleme  rühren  zu  sollen,  nicht  um  das  fast  undurchdring- 
liche Gestrüpp  von  anthropologischen,  psychologischen,  ethischen, 
metaphysischen,  psychiatrischen  und  forensischen  Fragen  zu  bear- 
beiten, die  in  der  moral  insanity  zusammentreffen,  sondern  um  die 
begriffliche  Vorarbeit  im  Hinblick  auf  das  mehrfach  präzisierte  Pro- 
blem etwas  zu  fördern.  Was  wir  hier  am  moralischen  Schwachsinn 
als  an  einem  praktischen  Beispiel  durchführen,  wird  dann  in  den 
späteren  Kapiteln  dieses  Teiles  ganz  abstrakt  und  prinzipiell  in  seinem 
methodologischen  Bestände  erörtert  und  begründet. 

Zunächst  miiß  man  berücksichtigen,  daß  die  Frage  nach  der 
Existenz  von  moralisch  Schwachsinnigen  durch  direkte  Beob- 
achtung allein  beantwortet  werden  kann  und  heute  schon  eindeutig 
bejahend  beantwortet  ist.  Das  Wesen  des  moralischen  Schwach- 
sinns und  seine  psychologische  Fundierung  aber  macht  neben 
der  Beobachtung  noch  eine  Reihe  weitgehender  Abstraktionen  er- 
forderlich, die  sorgsame  Kritik  verlangen. 

Über  die  Existenz  von  moralisch  Schwachsinnigen  kann  in  der 
Tat  etwas  ausgemacht  werden,  auch  wenn  diese  zweite  Frage  noch 
ungeklärt  ist;  denn  hierzu  genügen  die  »hinreichenden  Merkmale«, 
aus  denen  Gegenstände  als  einem  Begriff  zugehörig  erkannt  werden, 
auch  wenn  dieser  hinsichtlich  seiner  wesentlichen  und  notwendigen 
Merkmale  noch  problematisch  und  dunkel  ist. 

Ein  solches  Kriterium,  wonach  jemand  als  moralisch  Schwach- 
sinniger zu  erkennen  ist,  und  das  doch  außerhalb  des  psychologischen 
Tatbestandes  im  engeren  Sinne  liegt,  hat  schon  Kurella  ^)  ange- 
geben und  Longard  wiederholt;  es  ist  zugleich  dasjenige,  welches 
ganz  äußerlich  eine  Verbrechergruppe  umreißt:  Die  Unverbesser- 
lichkeit. Der  in  jedem  Milieu  unverbesserliche  Rückfallskriminelle 
ist  in  diesem  Sinne  der  moralisch  Schwachsinnige,  gleichviel  wie  er 
sonst  konstituiert  sein  mag.  Zweierlei  würde  diese  äußerlich  kriminal- 
soziologische Abgrenzung  des  moralischen  Schwachsinns  besagen: 
einmal,  daß  ein  Mensch  dauernd  in  jedem  Milieu  dem  Gesetz  zu- 
widerhandelt, zweitens,  daß  er  auch  durch  Straf  maßnahmen  nicht 
beeinflußbar  ist.  Beides  sind  direkt  am  äußeren  Verhalten  des  Be- 
treffenden beobachtbare  Tatsachen.  Sie  sieht  der  Richter  so  gut 
wie  der  zugezogene  Fachmann.  Von  letzterem  will  er  den  Grund 
wissen,  warum  das  so  ist.  Dieser  Grund,  sollte  manmeinen,  könnte  nun 
nur  in  einheitlichen  psychologischen  Tatbeständen  liegen, 
welche  die  Struktur  dieser  Gruppe  als  zusammengehörig  bestimmen. 


1)  Kurella,  Naturgeschichte  des  Verbrechers.     Stuttgart  1893. 


Paradigmat.  Erörterung  der  theoret.  Probleme  des  sog.  moral.  Schwachsinns.     435 

Anstatt  aber  diesem  Problem  genauer  nachzugehen,  schließt  man 
vorßichtigerweise  aus  dem  immer  wieder  erfolgenden  Rückfall  darauf, 
daß  das  Milieu  keine  Mitschuld  trifft.  Und  da  die  Begriffe  Milieu  und 
Anlage  in  vollständiger  Disjunktion  den  Inbegriff  sämtlicher  Be- 
dingungen sozialen  Verhaltens  umfassen,  so  folgt  aus  dem  Ausschluß 
des  Milieus  konsequent  die  »kriminelle  Anlage«^).  Noch  ganz  in 
diesem  Sinn  fragt  auch  Aschaffenburg ^):  »Worin  kann  diese  Un- 
verbesserlichkeit bei  Ausscheidung  der  körperlichen  und  geistigen 
Gebrechen,  was  wohl  in  diesem  Falle  identisch  mit  Invalidität  und 
Geisteskrankheit  ist,  worin  kann  sie  anders  bestehen,  als  in  der  in- 
dividuellen Veranlagung?« 

Die  Tatsache  der  besonderen  Anlage  kann  man  daim  noch  durch 
weitere  indirekte  Kriterien  stützen:  hier  findet  die  Hereditätsfor- 
sehung  und  das  Problem  der  Degenerationszeichen  eine  Stelle. 

Bei  diesem  Stand  der  Frage  zeigen  sich  deutlich  zwei  voneinander 
unabhängige  Seiten.  Nach  der  einen  ist  das  Problem  scheinbar  ge- 
löst, und  zwar  außerhalb  aller  Psychologie,  mit  rein  »anthropo- 
logischen« Mitteln.  Es  genügt,  die  Gleichartigkeit  des  sozialen  Ver- 
haltens —  den  ständigen  Rückfall  in  Kriminalität  —  und  die  Ein- 
flußlosigkeit  des  Milieus  darzutun  und  nebenbei  womöglich  aus 
indirekten  anthropologischen  Faktoren  die  Wirksamkeit  der  Anlage 
zu  erschließen.  Damit  wäre  die  Gruppe  als  kriminalanthropologische 
Einheit  umgrenzt.  Und  doch  taucht  hinter  diesem  einen  Gesichts- 
punkt der  zweite,  psychologische  unabweisbar  als  der  wichtigere 
wieder  auf.  Die  anthropologische  Rechnung  hat  nämlich  ein  Loch 
—  ganz  abgesehen  davon,  daß  sie  in  ihrer  Äußerlichkeit  dem  wissen- 
schaftlichen Bedürfnis  nicht  genügen  kann.  Die  Lücke  wird  sehr 
klar  schon  durch  Aschaf  f  enburgs  Wort  »Ausscheidung  der  geistigen 
Gebrechen«  bzw.  der  Geisteskrankheit.  In  der  Tat  gehört  also  als 
negatives  Kriterium  dieser  Gruppe  die  Ausschaltung  geistiger  Ano- 
malien und  Defekte,  die  mit  solchen  Nichtkrimineller  identisch  sind, 
zu  ihrer  Umgrenzung  hinzu,  und  schon  damit  tritt  eine  psychologische 
Fragestellung  in  den  bisherigen  Gesichtspunkt  hinein;  und  mit  ihr 
erheben  sich  auch  alle  positiven  Probleme  der  psychischen  Artung 
dieser  Menschen,  und  ob  da  wirklich  eine  Einheit,  ein  psychischer 
Typus  vorliegt.  Nun  könnte  man  erwidern,  letzteres  sei  gar  nicht 
nötig,  und  es  genüge,  jene  genannten  Kriterien  der  kriminalanthro- 
pologischen Typik  in  der  Hand  zu  haben.  Allein  diese  tragen  nicht 
weit;  gerade  die  dirkten  Kriterien  der  abnormen  Anlage  und  Here- 
dität finden  wir  auch  bei  nicht  kriminellen  Psychotischen;  statistische 
Häufigkeitsverhältnisse  entscheiden  nie  etwas  über  den  einzelnen 
Fall;  und  so  bleibt  tatsächlich  nur  der  ständige  Rückfall  als 
Erkennungsgrund  dieser  Gruppe  übrig.     Allein  der  einzelne  Rück- 


1)  Kurella,  a.  a.  O.  Vgl.  auch  Sommers  Klinik  f.  psych,  u.  nervöse  Krankh. 
Bd.  VII,  3.    S.  267  ff. 

2)  a.  a.  0. 


28* 


436        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

fallskriminelle  ist  nicht  in  jedem  Milieu,  sondern  in  seinem  Milieu 
unverbesserlich;  und  wenn  wir  diese  Unverbesserlichkeit  dennoch 
verallgemeinern,  so  tun  wir  dies  nicht  auf  Grund  der  für  ihn  vor- 
liegenden äußerlich  -  kriminologischen  Tatsachen,  die  doch  zu  aller- 
meist nur  recht  zaghafte  Induktionen  gestatten  sollten,  sondern  auf 
Grund  des  psychischen  Wesens  und  Verhaltens  des  Einzelnen;  und 
das  geht  auch  den  begeistertsten  Anthropologen  so.  Woher  denn 
sonst  die  Bezeichnung  dieser  Kriminellen  aus  Anlage  als  »moralischer 
Schwachsinn«?  Dadurch,  daß  der  Begriff  der  Moralität  und  des 
Schwachsinns  hier  auftreten,  wird  das  Bedürfnis  nach  einer 
psychologischen  Erklärung  für  die  unverbesserliche  Rückfall- 
kriminalität zugestanden.  Und  gleichviel,  ob  diese  Erklärung  psycho- 
logisch befriedigt  oder  nicht,  so  enthält  sie  doch  das  grundsätzliche 
Zugeständnis,  daß  die  »Anlage«  bestimmte  und  einheitliche  psycho- 
logische Strukturen  erzeugt  haben  muß,  und  daß  diese  es  sind,  von 
denen  das  soziale  Verhalten  in  seiner  Besonderheit  abhängig  ist. 
Es  ist  nun  doch  gar  nicht  einzusehen,  warum  die  Forschung  gehalten 
sein  soll,  sich  an  ein  in  seinem  Wesen  so  nebelhaftes  Ding  wie  die 
weiter  nicht  charakterisierbare  Anlage  zu  klammern,  um  die  Ein- 
heitlichkeit dieses  kriminologischen  Typus  zu  rechtfertigen  —  oder 
aufzugeben;  vielmehr  liegt  entweder  auch  eine  psychologische 
einheitliche  Typik  vor  —  dann  soll  man  sie  umgrenzen;  oder  sie 
liegt  nicht  vor,  —  dann  soll  man  versuchen,  den  praktisch -kri- 
minologischen Typus  des  unverbesserlichen  Rückfall  Verbrechers 
in  seine  psychologisch  zugrunde  liegenden  verschiedenen  Typen 
aufzuspalten.  Es  ist  nicht  uncharakteristisch  für  das  Unbefriedi- 
gende der  anthropologischen  Gruppenbildung,  daß  sie  seit  Kurella ^) 
die  Basis  für  einen  Streit  über  die  Zurechnungsfähigkeit  der- 
artiger unverbesserlich  Antisozialer  abgegeben  hat.  Hier,  in  diesem 
Streit,  kehren  doch  notwendigerweise  alle  die  Probleme  der  psycho- 
logischen Klärung  und  Fundierung  dieser  Typen  wieder,  welche  die 
apsychologische  Bezeichnung  der  kriminell  Veranlagten  ausgeschaltet 
hatte.  In  diesem  Sinne  drückt  Aschaffenburgs  zitierte  Diagnose: 
»  nicht  geisteskrank,  moralischer  Schwachsinn «  die  ganze  Verworren- 
heit des  Gegenstandes  trefflich  aus. 

Ich  weiß  sehr  wohl,  daß  ähnliche  Gedankengänge  in  der  Literatur 
des  Problems  der  moral  insanity  nicht  neu  sind;  sie  wurden  aber  im 
Laufe  der  Diskussion  immer  ins  Einseitige  verschoben.  Diese  Dis- 
kussion endigte  für  gewöhnlich  mit  einer  mehr  oder  weniger  weit- 
gehenden Verwerfung  der  somatisch-anthropologischen  Forschungs- 
richtung. In  der  Tat  ist  die  apsychologische  Wendung  der  Lehre 
vom  moralischen  Schwachsinn  durch  den  Forschungsgeist  Lom- 
brosos  entstanden.  Wir  erfahren  in  seinem  Werk  von  der  eigent- 
lichen seelischen  Struktur  seines  reo  nato  immer  nur  recht  summa- 


1)  Kurella,   Zurechnungsfähigkeit,   Kriminalanthropologie.       1903.      Siehe 
auch  Binswanger,  Über  den  moralischen  Schwachsinn.    Berlin  1905.    9;  34ff. 


Paradigmat.  Erörterung  der  theoiet.  I'robleme  des  sog.  moral.  Schwachninas.     437 

rische  Behauptungen  über  die  Analogien  mit  dem  primitiven  Menschen. 
Es  ist  selten,  daß  einmal  etwas  psychologisch  Tiefergreifendes  über 
die  seelische  Struktur  seines  ungeheuren  Materials  geäußert  wird  — 
außer  der  Beschreibung  der  Handlungen  des  betreffenden  Falles  und 
Angaben  wie  Reuelosigkeit  oder  Roheit,  welche  ihrerseits  psycho- 
logische Fragen  nicht  beantworten,  sondern  aufgeben.  Dennoch 
wäre  es  völlig  verfehlt,  aus  dieser  grundsätzlichen  Tendenz,  außer- 
halb des  Psychologischen  zu  verbleiben,  auf  die  Wertlosigkeit  dieser 
Gruppenbildung  und  der  Forschungen,  die  zu  ihr  führten,  schließen 
zu  wollen.  Das  ist  —  zum  Teil  auf  Grund  der  vorher  entwickelten 
Gedankengänge  —  ja  vielfach  geschehen.  Aber  das  Gegenteil  ist 
richtig;  nur  diese  Forschungen  allein  hielten  doch  ständig  das  Wissen 
um  die  Existenz  von  Menscheri  wach,  die  kriminologisch  wirk- 
lich eine  besondere  Gruppierung  erfordern,  und  stellten  damit  zwar 
keine  irgendwie  geartete  »anthropologische«  Lösung  ihrer  Aufgabe 
zur  Diskussion,  wohl  aber  nötigten  sie  zur  Anerkennung  des  Be- 
stehens einer  Aufgabe  für  die  Psychopathologie.  Diese  kann  nicht 
mit  einer  theoretisch  begründeten  Ablehnung  über  die  Tatsache 
der  kriminologischen  Sonderstellung  dieser  Gruppe  hinweg- 
gehen. 

Das  Wissen  um  die  Existenz  solcher  vom  Milieu  fast  unbeeinfluß- 
barer Antisozialer  hat  in  der  Tat  der  Praktiker  und  Gutachter  schon 
lange  gehabt;  jeder  von  uns  Psychiatern  kennt  solche  Fälle.  Um 
einige  markante  Beispiele  aus  der  Literatur  herauszugreifen,  erinnere 
ich  nur  an  die  Sand  ersehen  Fälle  ^),  an  die  besonders  reiche  Material- 
sammlung von  Longard  ^),  einen  Teil  der  schönen  Fälle  Baers^) 
und  an  den  neuen,  außerordentlich  bedeutsamen  Fall  von  Mayer*) 
mit  seinen  exakten  Feststellungen  zur  Heredität.  Wenn  ein  Forscher 
wie  Kraepelin  sich  »dem  gewaltigen  Eindruck  nicht  entziehen« 
kann,  »den  der  gleichzeitige  Anblick  einer  größeren  Zahl  von  Zucht- 
hausgefangenen« in  diesem  Sinne  auf  ihn  gemacht  hat,  so  will  das 
schon  etwas  für  die  Existenz  des  reo  nato  sagen.  Ebenso,  wenn 
Longard  den  erschütternden  Gesamteindruck  seiner  Fälle  in  den 
Worten  zusammenfaßt:  »Wer  als  G^fängnisarzt  und  Gerichtsarzt 
an  einem  großen  Materiale  dem  Ursprung  des  Verbrechertums  und 
der  Natur  und  dem  Werdegang  des  Verbrechers  nachgeht,  dem  drängt 
sich  allerdings,  je  vertrauter  er  mit  diesen  Verhältnissen  wird,  immer 
mehr  die  Überzeugung  auf,  daß  es  nicht  berechtigt  ist,  der  Lombroso- 
schen  Lehre  sich  so  ablehnend  gegenüberzustellen,  wie  dies  von  vielen 
Seiten  auch  heute  noch  geschieht.    Daß  es  geborene  Verbrecher  gibt, 


1)  Sander -Richter,    Die    Beziehungen    zwischen    Geistesstörung    u.    Ver- 
brechen.   Berlin  1886.    I  u.  II  der  Gutachten. 

2)  Longard,  Über  moral  in.sanity.     Archiv  f.   Psychiatrie.     Bd.  43. 

3)  Baer,  Über  jugendliche  Mörder  und  Totschläger.     Groß'  Archiv.      XL 
S.  103  ff. 

*)  Mayer,  Moralische  Idiotie.  Festschrift  für  Forel,  Journal  f.  Psych,  u.  Neur. 
Bd.  XIII. 


438        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

Individuen,  welche  durch  ihre  fehlerhafte  Anlage  instinktiv  auch 
ohne  Hinzutritt  äußerer  ungünstiger  Verhältnisse  zu  einer  asozialen 
und  antisozialen  Lebensführung  gedrängt  werden,  das  ist  mir  nicht 
der  mindeste  Zweifel.«^) 

Ein  solcher  Zweifel  bestand  aber  lange  Zeit,  und  gerade  bei  den- 
jenigen Forschern,  deren  psychologische  Tendenz  besonders  deutlich 
war.  Er  richtete  sich  wider  die  Berechtigung  der  psycho- 
logischen Begriffseinheit  des  moralischen  Schwachsinns.  Man 
sah  ein,  daß  diese  Bezeichnung,  solange  sie  der  psychologisch  ein- 
heitlichen Fundierung  ermangelte,  ein  leeres  äußerlich  anhaftendes 
Etikett  war,  das  über  das  Wesen  des  betr.  Menschen  und  dessen 
Beziehung  zur  Antisozialität  gar  nichts  ausmachte,  das  also 
kriminal  psychologisch  keinen  Fortschritt  brachte .  Und  nun  nahm 
man  sich  den  psychologischen  Begriff  des  moralischen  Schwachsinns 
vor  und  stellte  fest,  daß  er  einen  Grund  für  das  Versagen  gegenüber 
moralischen  Anforderungen  gar  nicht  enthalten  könne,  denn  um 
einen  solchen  Grund  zu  enthalten,  müßte  er  zur  Voraussetzung 
haben,  daß  Moralität  eine  in  sich  geschlossene  psychologische  Funk- 
tion oder  Eigenschaft  sei,  wie  z.  B.  das  Gedächtnis  oder  die  Sinnes- 
wahrnehmung. Das  sei  aber  nicht  der  Fall.  Mithin  könne  es  auch 
keinen  Defekt  in  dieser  fiktiven  psychischen  Funktion  geben. 
Und  wenn  jemand  dauernd  unmoralisch  handele,  so  müsse  das 
seinen  Grund  in  seinen  übrigen  seelischen  Fähigkeiten  haben 
und  sich  auch  in  ihnen  äußern,  z.  B.  als  allgemeiner  Intelligenz- 
defekt oder  dergleichen.  Ein  isolierter  moralischer  Schwachsinn 
ohne  weitere  seelische  Anomalien  sei  jedenfalls  psychologisch  un- 
möglich. 

Es  ist,  soviel  ich  sehe,  nur  Bleuler 2)  gewesen,  der  in  einer  sehr 
bedeutsamen  Arbeit  diese  Argumentation  vom  Standpunkte  der 
Psychologie  aus  zu  erschüttern  versuchte. 

Obwohl  er  zunächst  auch  die  anthropologisch-somatischen  Lehren 
Lombrosos  gegen  die  Angriffe  damaliger  Kritiker  zu  verteidigen 
unternahm  —  und  zwar  mit  Erfolg  — ,  so  war  ihm  doch  klar,  daß 
das  Wesen  der  Lehre  vom  reo  nato  in  dessen  »Auffassung  als  psycho- 
logisch definierte  Gruppe« 3)  gipfeln  mußte,  womit  alle  anthro- 
pologisch-somatischen Fragen,  die  Lehre  von  den  Degenerations- 
zeichen usw.,  —  gleichviel  ob  haltbar  oder  nicht  —  von  »sekundärer 
Bedeutung«  werden  mußten.  Bleuler  gibt  auch  ohne  weiteres  zu, 
daß  Moral  nichts  Angeborenes  sei ;  die  moralischen  Vorstellungen  und 
die  daran  geknüpften  Gefühle  würden  erworben,  entstammten  somit 
dem  Milieu.  Er  unterscheidet  aber  von  diesen  Inhalten  und  Bestand- 
teilen der  Moral,  die  nicht  angeboren  sind,  die  Fähigkeit,  sie  im  Leben 
verwerten  zu  können.    Diese  kann  defekt,  »und  dieser  Defekt  kann 


1)  a.  a.  O.     S.  227. 

2)  Bleuler,  Der  geborene  Verbrecher.     München  1896. 

3)  a.  a.  0.     S.  14. 


Paradigmat.  Erörterung  der  theoret.  Probleme  des  sog.  moral.  SchwewiliHinns.     439 

angeboren  sein«^).  »Wer  also  den  Schluß  zieht,  weil  die  Moral  nicht 
angeboren  ist,  deshalb  gibt  es  keinen  geborenen  Verbrecher,  der  macht 
sich  der  gleichen  Erschleichung  schuldig,  wie  der,  welcher  behaupten 
wollte,  weil  die  Sprache  nicht  angeboren  sei,  gebe  es  keine  geborenen 
Stummen  2).  << 

Ebenso  wendet  sich  Bleuler  gegen  die  Behauptung,  es  sei  psy- 
chologisch gefordert,  daß  ein  solcher  Defekt  sich  auch  außerhalb  des 
moralischen  Vorstellungs-  und  Gefühlslebens  bemerkbar  mache  und 
sich  nicht  hier  isoliere.  Er  behauptet  demgegenüber,  es  gebe  »be- 
sondere« Funktionen  der  Hirnrinde,  »welche  in  ihrer  Gesamtheit 
den  Charakter  und  die  Moral  des  Individuums  bestimmen«,  und  diese 
»können  isoliert  defekt  sein« 3).  Zur  Begründung  verlangt  er  von  dem 
Zweifler  zuerst  den  Beweis  des  Gegenteils.  Dann  zeigt  er  ganz  richtig, 
daß  Intellekt  und  Moral  unabhängig  voneinander  in  der  Höhe  ihrer 
Ausbildung  variieren  können,  kommt  darauf  zurück,  daß  eine  an- 
geborene Anlage  von  Fähigkeiten  da  sein  muß,  um  die  moralischen 
Inhalte  erwerben  und  verwerten  zu  können,  und  tut  dar,  daß  diese 
Anlage  nicht  die  »Intelligenz«  zu  sein  braucht;  »es  gehört  merk- 
würdig wenig  Intelligenz  dazu,  um  sich  eine  gute  Moral  zu  verschaffen«. 
Hieraus  folgert  er  dann:  »Wir  sehen  also,  daß  die  Moral  sich  ganz 
verhält  wie  die  anderen  psychischen  Eigenschaften;  Gedächtnis,  In- 
telligenz, Gemüt,  Phantasie,  ästhetische  Begriffe  und  Gefühle,  Affekte, 
Selbstbeherrschung  usw.  sind  ganz  unabhängig  voneinander  .  .  . 
Ein  Parallelismus  in  der  Entwicklung  dieser  verschiedenen  Eigen- 
schaften ist  nur  insofern  vorhanden,  als  bei  Schädigung  des  ganzen 
Gehirns  alle  inferior  sein  müssen,  wenn  auch  in  sehr  verschiedenem 
Grade,  und  als  bei  starkem  Defekt  der  einen  die  Wahrscheinlichkeit 
für  Intaktheit  der  anderen  sehr  gering  ist.«  »Wenn  nun  die  Moral 
unabhängig  von  den  intellektuellen  Eigenschaften  innerhalb  sehr 
großer  Grenzen  variiert,  so  ist  nicht  abzusehen,  warum  sie  nicht  in 
manchen  Fällen,  wo  der  Verstand  sich  innerhalb  der  Breite  des  Ge- 
wöhnlichen hält,  so  tief  sinken  könne,  daß  das  Individuum  .  .  .  Ver- 
suchungen nicht  widerstehen  kann  und  zum  Verbrecher  wird.  Solche 
Leute  nennt  Lombroso  rei  nati,  manche  Psychiater  nennen  sie 
moralisch  Irre  oder  moralisch  Imbezille,  moralische  Idioten*).« 


1)  a.  a.  O.     S.  20. 

2)  a.  a.  O.     S.  21. 

3)  a.  a.  O.     S.  21. 

*)  a.  a.  O.  S.  24.  Bleuler  gebraucht  hier,  wie  wir  es  auch  taten,  die  Be- 
zeichnungen reo  uato  und  moralisch  Schwachsinniger  synonym.  Das  ist  ungenau. 
Ersteres  hat  den  Sinn  einer  kriminologischen,  letzteres  den  einer  psychologischen 
Einheit;  erstere  ist  normativ,  letztere  deskriptiv  begründet.  Praktisch  ist  die 
Synonymie  deshalb  nicht  schlimm,  weil  wir  die  kriminologische  Einheit  des  reonato 
auf  die  psychologische  des  ethischen  Schwachsinns  zurückbeziehen  und  erklären. 
Aber  beide  Begriffe  decken  sich  nicht.  Es  ist  auch  ein  reo  nato  denkbar,  der  durch 
andere  psychologische  Defekte  zu  seiner  kriminellen  Rolle  gekommen  ist;  ebenso 
wie  nicht  jeder  inoral  insane  kriminell  zu  werden  braucht.  Aber  das  sind  vor- 
wiegend theoretische  Bedenken  ! 


440        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

Hierzu  ist  nun  folgendes  zu  bemerken :  Zweifellos  wäre  die  Bleul er- 
sehe Lösung  des  Problems  der  moral  insanity  ebenso  endgültig  und 
befriedigend  wie  sie  konsequent  ist,  wenn  sie  nur  wirklich  irgend 
etwas  Positives  darüber  ausmachte,  was  Moral  ihrem  psychologischen 
Wesen  nach  eigentlich  ist  und  durch  welche  »besondere«  Funktionen 
sie  bewußt  und  praktisch  verwertbar  wird.  Leider  sagt  Bleuler 
hierüber  nichts.  Er  kommt  über  bloße  gelegentliche  Bemerkungen 
nicht  hinaus.  Es  geht  nicht  an,  daraus,  daß  der  Stand  der  Intelligenz 
mit  dem  »Besitz  von  Moral«  nichts  zu  tun  habe,  zu  schließen,  daß 
die  Fähigkeit  zum  Erwerb  von  Moral  an  eine  besondere  psychische 
Funktion  geknüpft  sei.  Bleuler  hat  freilich  recht,  wenn  er  vom 
Bestreitenden  den  Beweis  des  Gegenteils  verlangt.  Er  hat  überhaupt 
in  einem  großen  Teil  seiner  Behauptungen  recht.  Doch  müßte  der 
Beweis  hierfür  durch  einige  theoretische  Erwägungen  besonders  zu 
führen  sein. 

Um  an  Bleulers  Analogie  anzuknüpfen:  Moral  ist  nicht  wie 
Sprache  ein  Komplex,  der  psychologisch  auf  eine  große  Reihe  ein- 
zelner Innervationen  und  ebenso  einzelner  kinästhetischer  Inner- 
vationsbewußtheiten  zurückgeht,  die  ihrerseits  mit  akustischen  Einzel- 
inhalten und  den  auf  sie  bezüglichen  Bedeutungserlebnissen  verknüpft 
sind;  ein  Komplex,  der  in  allen  seinen  Einzelheiten  einübbar  und 
vergeßbar  ist  und  dessen  Funktionieren  überdies  an  eine  Reihe  von 
Hirnapparaten  gebunden  ist,  die  den  elementaren  sensorischen,  Ver- 
knüpfungs-  und  Innervati onsfunktionen  in  eindeutiger  physiologischer 
Weise  zugeordnet  sind. 

Eben  weil  Moral  ihrer  ganzen  Struktur  nach  etwas  völlig  Anderes, 
formal  und  inhaltlich  viel  weniger  Greifbares  und  Umrissenes  und 
vielmehr  innerhalb  der  Subjektivität  der  einzelnen  Psyche  sich  Aus- 
bildendes ist  (wobei  freilich  die  objektiven  Geltungskriterien  der 
Moral,  die  hier  nicht  zur  Diskussion  stehen,  sorgfältig  abzulösen  sind 
von  der  psychologischen  Bewußtseinsvertretung  und  Ausbildung  der 
Moralelemente  in  der  einzelnen  Seele)  — ,  darum  kann  der  Bleul er- 
sehe Vergleich  der  Amoralität  mit  den  Aphasien  niemals  mehr  be- 
deuten als  ein  geistreiches  Bild,  das  uns  über  den  allgemeinen  und 
gewiß  von  niemand  bestrittenen  Satz  belehrt,  daß  auch  erworbene 
psychische  Inhalte  entsprechende  angeborene  Funktionsweisen  zur 
Voraussetzung  haben.  Um  sich  gegenseitig  zu  verständigen,  muß 
man  von  den  Bedeutungen,  die  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  des 
Wortes  Moral  ziemlich  verschmolzen  gemeint  sind,  einige  sorgfältig 
voneinander  trennen. 

Zunächst  gehört  hierzu  das  objektive  Prinzip  des  sittlichen  Han- 
delns überhaupt.  Die  Begründung  und  die  Kriterien  dieses  Prinzips 
sind  Aufgabe  der  praktischen  Philosophie  und  Ethik;  und  eben  dahin 
gehört  auch  das  Problem  der  transzendentalen  Freiheit  als  Grund 
der  Möglichkeit,  das  ethische  Gesetz,  welches  jenseits  aller  Erfahrung 
gründet,  in  der  rein  empirisch  determinierten  Seele  ausschlaggebend 
zu  machen.     Es  ist  an  dieser  Stelle  überflüssig  zu  erörtern,  wieweit 


Paradigmat.  Erörterung  der  theoret.  Probleme  dec  sog.  nioraL  Schwaohsinas.     44  1 

die  transzendentale  Kritik  dieser  Probleme  sich  empirisch  psycho- 
logischer Metliodcn  zu  bedienen  hat. 

Hier  kommt  dieser  ganze  Begriff  von  Moral  nicht  in  Frage,  son- 
dern vielmehr  die  beiden  folgenden  Bedeutungen. 

Zweitens  ist  unter  Moral  zu  verstehen  eine  Summe  von  Anschau- 
ungen, Meinungen  und  Werturteilen  über  das  Verhalten  des  Ein- 
zelnen innerlialb  der  Sozietät  und  den  Wert  bestimmter  Motive  dieses 
Verhaltens.  Eine  solche  Summe  von  Meinungen,  ohne  alle  Rücksicht 
auf  die  Art  ihrer  Begründung,  bildet  sich  in  jeder  sozialen  Verge- 
meinschaftung heraus;  sie  ist  inhaltlich  abhängig  von  der  Erfahrung, 
der  psychologischen  Artung  und  Ausbildungshöhe  ihrer  Glieder,  von 
den  in  Frage  kommenden  einzelnen  Interessen  usw.  Infolgedessen 
schwankt  sie  zeitlich  und  örtlich  in  den  einzelnen  Verbänden  und 
Kulturkreisen. 

Drittens  verstehen  wir  unter  Moral  die  psychische  Fähigkeit 
des  einzelnen  Menschen,  moralischen  Antrieben  in  seinem  Handeln 
Folge  zu  geben.  Die  moralischen  Antriebe  sind  hierbei  wieder  in 
einem  doppelten  Sinne  begriffen:  einmal  im  Sinne  des  moralischen 
Prinzips,  zweitens  im  Sinne  der  zweiten  Bedeutung  von  Moral.  In 
der  Tat  besteht  nämlich  eine  bestimmte  objektive  Beziehung  zwischen 
der  ersten  und  zweiten  Bedeutung  von  Moral,  insofern,  als  das  sitt- 
liche Prinzip  als  solches  das  von  aller  Erfahrung  unabhängige  Kri- 
terium der  Berechtigung  jener  empirischen  Moralbildungen  ist.  Denn 
diese  sind  nicht  zufällige  soziale  Produkte,  unabhängig  vom  wahren 
moralischen  Prinzip,  sondern  entstehen  unter  dem  Gesichtspunkt, 
daß  das  sittliche  Prinzip  in  seiner  apriorischen  Allgemeinheit,  um 
innerhalb  der  einzelnen  empirischen  Situationen  bestimmte  Anwen- 
dungsmöglichkeiten zu  finden,  sich  aus  den  Voraussetzungen  dieser 
empirischen  Situationen  jeweils  mit  Inhalten  beladen  muß.  Auf 
Grund  dieses  Erfordernisses  kommt  es  überhaupt  erst  zur  Bildung 
von  Moral  in  der  zweiten  Bedeutung.  Und  es  ist  hierbei  sowohl  klar, 
wie  die  sozialen  Zustände  und  Interessen  jeweils  verschiedene  Inlialte 
dieser  Moralbildungen  erzeugen  können,  als  auch  —  besonders  wenn 
das  moralische  Prinzip  selbst  nicht  hinreichend  deutlich  im  indi- 
viduellen Bewußtsein  der  Glieder  jener  Sozietäten  zum  Durchbruch 
kommt  —  Inhalte  entstehen  lassen,  die  mit  dem  sittlichen  Prinzip 
gar  nichts  zu  tun  haben  oder  ihm  gar  widersprechen^).  Dennoch 
bleibt  das  sittliche  Prinzip  das  Korrektiv  derartiger  Moralen.^) 

Vor  dem  Bewußtsein  des  Einzelnen  —  was  an  dieser  Stelle  allein 
interessiert  — äußert  sich  das  so,  daß  er  glaubt  moraliseli  zu  handeln, 
wenn  er  der  für  ihn  herrschenden  generellen  Moral  in  seinem  eigenen 
Handeln  folgt,  ohne  Rücksicht  auf  Schaden  oder  Nutzen,  oder  wenn 
er  ihr  zuwiderhandelt  auf  Grund  einer  Überzeugung  davon,  daß  die 


1)  Strandrecht.     Bripantonfrömmipkeit.     Jus  primae  noctis. 

2)  Aus  der  Verwischung  dieses  Tatbestandes  erklären  sich  die  soziologischen 
Fandierungsversucho  der  Moral,  welche  ihre  Norminhalte  relativieren,  durch 
Bentham,  Adam  Smith,  Mill,  Quyau  usw. 


44  2        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

generelle  Moral  dem  moralischen  Prinzip,  so  wie  es  ihm  bewußt  ist, 
widerspricht.  Der  Einzelne  kann  also  wider  die  Moral  in  der  zweiten 
Bedeutung  und  doch  moralisch  in  der  ersten  Bedeutung  handeln. 

Diese  inhaltlich  etwas  verwaschene  und  sehr  weit  umgrenzte  Be- 
deutung wohnt  dem  Begriff  der  moralischen  Antriebe  inne.  Es  fragt 
sich  für  die  dritte  Bedeutung  des  Wortes  Moral,  was  es  psychologisch 
besagt,  moralischen  Antrieben  bei  seinem  Handeln  Folge  geben  zu 
können.  Denn  hier  liegen  die  Wurzeln  der  Moralität  des  Einzelnen; 
und  ein  Defekt  der  Moralität  müßte  auch  im  Sinne  von  Bleuler  ein 
Defekt  in  diesen  psychologischen  Wurzeln  sein.  Eine  psychologisch 
erschöpfende  Antwort  auf  diese  Frage  könnte  nur  aus  einer  psycho- 
logischen Theorie  des  Entschlusses  abfolgen.  Wir  wollen  uns  hier 
aber  nicht  theoretisch  festlegen,  soweit  ist  der  Bearbeitungsstand 
dieser  Materie  noch  nicht  gediehen ;  wir  wollen  uns  mit  der  Aufzeigung 
einiger  für  unseren  Zweck  hinreichender  Merkmale  begnügen,  auf 
die  Gefahr  hin,  mit  ihnen  das  eigentliche  Wesen  der  Sache  nicht  rest- 
los zu  treffen. 

Unterscheiden  wir  das  Handeln  auf  Grund  von  Trieben  von  dem 
Handeln  nach  Antrieben,  die  ihrerseits  als  Motive  des  Handelns  im 
Bewußtsein  sind.  Sind  diese  letzteren  Antriebe  mit  einem  bestimmten, 
nicht  ohne  weiteres  anschaulich  vorstellbaren  Inhalt  versehen,  so  ist 
ein  Bewußtsein  von  ihnen  nur  durch  Reflexion  möglich. 

Beim  Handeln  nach  Trieben,  wenn  man  will  bei  »instinktivem« 
Handeln,  kann  der  die  Handlung  bewirkende  Trieb  oder  Impuls  auch 
im  Bewußtsein  sein;  aber  stets  als  unmittelbares  Erlebnis,  niemals 
reflektiert;  erst  nach  der  Handlung  kann  dann  auf  dieses  unmittel- 
bare Erlebnis  auch  reflektiert  werden.  Der  Trieb  braucht  aber  gar 
nicht  ins  Bewußtsein  zu  treten.  Wäre  nun  das  reine  moralische 
Prinzip  des  Guten,  welches  als  apriorischer  Begriff  gar  nichts  An- 
schauliches hat,  der  Antrieb  des  Handelns,  so  wäre  dieses  eigentlich 
und  absolut  sittliche  Handeln  immer  ein  solches,  dessen  Motiv  in 
reflektiertem  Bewußtsein  gegeben  wäre.  Für  diesen  Grenzfall  sitt- 
lichen Handelns  wäre  die  Aufzeigung  der  psychologischen  Voraus- 
setzungen also  klar:  das  Individuum  müßte  in  der  Lage  sein,  das 
sittliche  Prinzip  sich  durch  Reflexion  ins  Bewußtsein  zu  heben,  d.  h. 
es  bedürfte  einer  bestimmt  ausgebildeten  Verstandeshöhe;  es  müßte 
ferner  imstande  sein,  dies  Prinzip  auf  eine  bestimmte  Situation  an- 
zuwenden, wozu  eine  weitere  Verstandesarbeit  gehört;  es  müßte 
endlich  imstande  sein,  dies  Prinzip  zum  Motiv  seines  Handelns  zu 
machen;  d.  h.  die  übrigen  Triebe  und  Antriebe,  die  auf  das  empirische 
Bedürfnis  und  Gefühlsleben  zurückgehen,  dürften  nicht  so  stark  sein, 
daß  der  die  Handlung  erzwingende  Wille  nicht  stärker  wäre,  und 
dieser  andererseits  müßte  von  der  Reflexion,  welche  dies  Prinzip  ins 
Bewußtsein  gehoben  hat,  zielrichtend  geleitet  werden  können.  Wir 
sehen  also  hier,  bei  der  eigentlichen  und  im  engsten  Sinne  moralischen 
Handlung,  eine  ganze  Reihe  psychologischer  Voraussetzungen,  deren 
jede,  falls  sie  fehlt,   sowohl  die  Moralität  der  Handlung  in  Frage 


ParadigmaL  Erörterung  der  theoret  l'robleme  do«  sog.  moraL  Schwachsinn«.     443 

stellen  würde,  als  auch  sich  in  anderen  psychischen  Wirkungen 
äußern  müßte.  Sind  die  Instinkte  und  elementaren  Grundtriebe  in 
ihrer  Wirkung  auf  das  Willensleben  so  abnorm  mächtig,  daß  sie  den 
Einfluß  der  Reflexion  paralysieren,  so  kommen  die  verschiedenen 
Formen  affektiver  Anomalien,  der  hysterische  und  epileptoide  Cha- 
rakter, zustande  —  je  nach  der  speziellen  Ausgestaltung  des  Ver- 
hältnisses der  Triebe  zueinander  und  deren  Art.  Ist  der  Wille  ab- 
norm schwach,  so  ergeben  sich  manche  Typen  psychopathischer  Halt- 
losigkeit. Versagt  die  Reflexion,  so  müssen  sich  Schwachsinns- 
forraen  ergeben.  In  keinem  Falle  entsteht  ein  spezifischer  Moral- 
defekt; die  moralische  Minderwertigkeit  ist  immer  nur  ein  besonderer 
Ausdruck  einer  allgemeineren  und  direkt  faßbaren  psychischen  Ano- 
malie. Die  Forderung  Berzes^),  »direkte,  aus  der  Erscheinungs- 
weise des  Defektes  selber  abgeleitete  Kriterien«  für  das  Vorliegen 
eines  Moraldefekts  als  allein  maßgeblich  anzustreben,  kann  also  gar 
nicht  erfüllt  werden;  und  wir  wissen  uns  mit  diesem  Forscher  einig, 
wenn  er  nachweist,  derartige  Versuche  »können  kein  brauchbares 
Ergebnis  liefern«.  Andererseits  hat  er  recht  damit,  wenn  er  aus- 
führt, der  Schwachsinn  (und  ebenso  die  affektiven  und  Willens- 
anomalien) seien  ein  »indirektes«  Beweismittel,  das  »fälschlich  zum 
Range  eines  direkten«  für  das  Vorliegen  von  moralischem  Schwach- 
sinn erhoben  werde  2). 

Nun  war  allerdings  der  besprochene  Fall  einer  im  engsten  Sinne 
und  absolut  moralischen  Handlung  nur  ein  Grenzfall ;  und  wir  müssen 
uns  sorgsam  vor  jeder  Schematisierung  hüten,  sobald  wir  an  die 
Beurteilung  des  wirklichen  Lebens  herantreten.  Für  dieses  ist  Moral 
eben  nicht  das  reine  Prinzip,  sondern  der  Inbegriff  eines  ziemlich 
komplizierten  Konvoluts  von  Dingen,  die  wir  oben  im  Umriß  dar- 
gelegt haben.  Diese  stehen  auch  als  Antriebe  von  Handlungen  in 
einem  viel  unklareren,  vielfältigeren  und  verwischteren  Verhältnis 
zum  Bewußtsein,  zur  Reflexion  und  zum  Handeln,  als  es  das  reine 
Prinzip  in  unserem  Grenzfalle  tat.  Hiervon  muß  im  folgenden  noch 
einiges  in  Erwägung  gezogen  werden. 

Das  Bewußtsein  nämlich  um  alle  jene  Meinungen,  Wertungs- 
weisen und  Motive,  deren  Summe  wir  als  Moral  in  der  zweiten  Be- 
deutung zusammengefaßt  haben,  ist  in  ziemlich  weitem  Maße  un- 
abhängig vom  Bewußtsein  um  das  reine  sittliche  Prinzip.  Letzteres 
kommt  freilich  immer  nur  reflexionell  zustande.  Der  erstgenannte 
Inbegriff  von  Moral,   die  Zeitmoral,  wie  sie  im  folgenden  genannt 


1)  a.  a.  O.     S.  128. 

2)  IjOgisch  wärp  auch  der  Fall  denkbar,  daß  das  apriorische  Moralprinzip  in 
der  Organisation  de.^  (Joistes  überhaupt  fehlte.  Allein  mit  der  Annahme  dieser 
logischen  Möj;liohkeit  würde  ein  unlösbares  philo.-^ophi.^ch-ethi.^chts  l*roblcm  ge- 
setzt —  dem  hier  nicht  gefolgt  werden  kann  — -,  und  überdies  würde  das  Zutreffen 
dieser  Annahme  im  einzeh\eu  Falle  niemals  empiri.-ch  ent>clu'idbar  sein.  Die 
Diskussion  dieser  vierten  Möglichkeit  entf&llt  daher  für  den  vorliegenden  empirisch- 
psychologischen  Zweck. 


444        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

sei,  kann  auf  mannigfach  andere  Weise  als  durch  eigene  subjektive 
Reflexion,  die  ja  eine  besondere  intellektuelle  Eigenleistung  darstellt, 
in  seinen  verschiedenen  Bestandteilen  ganz  oder  teilweise  bewußt 
gemacht  werden.  Wäre  das  anders,  wäre  der  Erwerb  und  die  Ver- 
wertung der  Zeitmoral  im  Leben  nicht  wesentlich  leichter  und  mehr 
Individuen  zugänglich,  als  das  nur  durch  eigene  geistige  Arbeit  er- 
zielbare Bewußtsein  des  Sittengesetzes,  —  so  müßte  ausnahmslos 
bei  jedem  Menschen  beides  nebeneinander  bestehen.  Dann  aber 
müßte  konsequenterweise  die  Zeitmoral  einen  großen  Teil  ihres  Wertes 
für  den  einzelnen  Menschen  verlieren,  da  er  ja  am  Wissen  um  das 
wahrhaft  Sittliche  seinen  wahren  Maßstab  allen  Tuns  und  Lassens 
hätte;  und  ferner  dürfte  es  dann  überhaupt  keine  Zeitmoral  geben, 
die  dem  sittlichen  Prinzip  in  irgendeinem  Punkte  widerspräche.  Denn 
da  nach  dieser  Unterstellung  jeder  Einzelne  um  dieses  Prinzip  ebenso 
wüßte,  wie  um  die  Zeitmoral,  so  hätte  er  ja  stets  die  Möglichkeit, 
deren  Inhalt  an  ihm  zu  messen  und  zu  korrigieren. 

Nun  ist  das  aber  zweifelsohne  nicht  so.  Einmal  finden  wir  viele 
Inhalte  der  Zeitmoral  von  verschiedenen  geographischen  und  histo- 
rischen Kulturkreisen  untereinander  widersprechend  und  vom  mo- 
ralischen Ideal  verschieden  weit  entfernt;  zweitens  aber  gibt  es  nur 
relativ  selten  Fälle,  wo  eine  der  Zeitmoral  zuwiderlaufende  Einzel- 
handlung dennoch  subjektiv  moralisch  bleibt.  Wir  haben  schon 
oben  dargelegt,  daß  die  psychologische  Voraussetzung  eines  solchen 
als  moralisch  empfundenen  Widerspruchs  zur  Zeitmoral  im  Besitze 
des  Bewußtseins  um  das  sittliche  Prinzip  besteht,  dem  irgendeine 
Wertung  der  Zeitmoral  nicht  entspricht.  Daß  solch  ein  Widerstreit 
nur  relativ  selten  und  nur  bei  solchen  Menschen  vorkommt,  die  im 
Verhältnis  zu  der  sozialen  Gemeinschaft  ein  besonders  hoch  ent- 
wickeltes geistiges  und  sittliches  Niveau  haben  ^),  das  beweist  schon, 
daß  das  Bewußtsein  des  reinen  Moralprinzips  und  seine  Betätigung 
neben  und  über  der  Zeitmoral  ein  Plus  an  geistiger  Leistung  erfordert 
gegenüber  der  Aneignung  und  Betätigung  der  Zeitmoral.  Letzteres  ist 
psychologisch  wesentlich  einfacher.  Es  bleibt  dabei  der  philosophi- 
schen Ethik  und  Moralkritik  überlassen,  zu  bestimmen,  wieweit  man 
bei  der  Betätigung  der  Zeitmoral  überhaupt  von  Moralität  im  strengen 
Sinne  reden  darf;  wir  haben  es  hier  mit  den  psychologischen  Grund- 
lagen einer  Betätigung  zu  tun,  welche  in  der  Praxis  des  Lebens  eben 
auch  als  moralisches  Verhalten  bezeichnet  wird.  Wir  stellen  nur 
fest,  daß  diese  psychologischen  Grundlagen  die  Ausbildung  der  geisti- 
gen Funktionen  und  speziell  des  selbständigen  Denkens  weit  weniger 
in  Anspruch  nclimen,  als  die  absolut  sittliche  Betätigung  auf  Grund 
autonomen  Pflichtbewußtseins.  In  diesem  Sinne  nannten  wir  vorhin 
das  absolut  moralische  Handeln  einen  psychologischen  Grenzfall. 

Das  Bewußtsein  der  Zeitmoral  ist  also  dem  Einzelnen  weit  leichter 
zugänglich.    Das  hat  zwei  Gründe.    Beide  stehen  in  einer  klaren  Be- 


1)  Friedrich  Adlers  Mord  am  Grafen  Stürgkh. 


Paradigmat.  Erörterung  der  theoret.  Probleme  des  sog.  moral.  Schwachsinns.     445 

Ziehung  zueinander.     Der  eine  ist  die  Struktur  der  Zeitmoral,  der 
andere  die  Art,  wie  sie  überliefert  wird. 

Über  die  Struktur  der  Zeitmoral  soll  fragmentarisch  nur  soviel 
gesagt   werden,    als   für   unsere   psychologischen   Folgerungen   unbe- 
dingt wesentlich  ist.     Da  ist  zuerst  zu  berücksichtigen,  daß  sie  eine 
deutliche  teleologisch   begründete   Tendenz   zur   Erhaltung   des   Ge- 
meinschaftsbestandes  ist,  für  den  sie  gilt,  und  zwar  in  der  zeitlichen 
gegenwärtigen  Beschaffenheit  ihrer  Geltung.    D.  h.  sie  nimmt  inhalt- 
lich  alle  diejenigen  bereits  bestehenden  Meinungen  als  Grundlagen 
ihres  Wertes  mit  auf,  die  hinsichtlich  der  Psychologie  des  Einzelnen 
ganz   zufällig  sind  und  von  ihm  äußerlich  angenommen  und  befolgt 
werden  müssen,  ohne  daß  sie  in  irgendeine  Beziehung  zu  seinem  sub- 
jektiven Wesen  zu  treten  oder  gar  dessen  Ausdruck  zu  sein  brauchen. 
Und  ferner:  zur  Sicherung  der  Verbindlichkeit  ihrer  Inhalte  appelliert 
sie  nicht  an  irgendeine  moralische  Reflexion  des  Einzelnen,    sondern 
vorwiegend  an  eine  gefühlsmäßige  moralische  Gestimmt heit,  die  letzten 
Grundes  in  den  sozialen  Trieben  und  Instinkten,  dem  Schwächegefühl 
des  Einzelnen  gegenüber  der  Masse  und  dem  Wunsch  unerschwerter 
Bedürfnisbefriedigung  wurzelt.    In  diesem  Sinne  haben  die  englischen 
Empiristen  schließHch  recht,   daß  sie  seit  Shaftesbury  von  »mora- 
lischen Gefühlen«  reden;  bloß  daß  der  altruistische  Charakter  dieser 
Gefühle  erst  ein  sekundäres  Produkt  sozialer  Domestizierung  durch 
die  Wirksamkeit  der  Zeitmoral  ist.    [Über  den  Ressentimentcharakter 
dieser  altruistischen  Bildungen,  den  zuerst  Nietzsche  psychologisch 
erfaßt   hat,    vergleiche   man   die   vortrefflichen   phänomenologischen 
Untersuchungen    Schelers^)     und    Furtmüllers 2).]      Wennglei  h 
dieser   ganzen    Struktur   objektiv   ein   teleologisches    Moment    inne- 
wohnt,   so  ist  —  das  braucht  wohl  nicht  erst  gesagt  zu  werden  — 
dasselbe  der  subjektiven  Seinsweise  im  einzelnen  Bewußtsein  durch- 
aus  fremd;   wenigstens   in   den   meisten   Fällen.      Die  gefühlmäßige 
moralische  Gestimmtheit,  welche  wir  als  den  subjektiven  Grund  der 
Verbindlichkeit  der  Zeitmoral  für  den  Einzelnen  erkannt  haben,  ist 
ein  höchst  verwaschenes  assoziatives  Produkt  aus  Instinkten.  Trieben, 
Gregenantrieben  und  den  durch  den  Domestikationsprozeß  gesetzten 
Umbildungen  primärer  psychischer  Faktoren. 

Aber  das  gehört  schon  zum  zweiten  Grund  der  subjektiven  Wirk- 
samkeit von  Zeitmoral:  der  Art,  wie  sie  ins  einzelne  Bewußtsein  über- 
pflanzt wird.  Auch  hiervon  soll  nur  soviel  angedeutet  werden,  als 
notwendig  ist,  um  die  subjektiven  Voraussetzungen  von  Moralität  im 
Sinne  der  Zeitmoral  für  unseren  Zweck  sichtbar  zu  machen. 

Die  Zeitmoral  wird  anerzogen.  Die  Inhalte  ihrer  Bestimmungen 
werden  dem  heranwachsenden  Kinde  eingeprägt  und  die  Unter- 
werfung der  Handlungen    unter  sie  durch   die   Macht  der  Umwelt, 


1)  Ressentiment  u.  moral.  Werturteil.     Leipzig  1912.     Synipathiegefühle  u. 
Liebe  usw.     Hallo  1913. 

2)  Psychoanalyse  und  Ethik.     München  1912. 


446        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

Beispiel,  Lohn,  Strafe  und  Zwang  erreicht.  Demgemäß  braucht  das 
Wissen  um  die  Inhalte  der  Zeitmoral  beim  einzelnen  Falle  durchaus 
noch  nicht  auf  reflexioneller  Arbeit  zu  beruhen,  sondern  kann  ein 
einfacher  reproduktiver  Akt  sein.  Auch  das  Verstehen  dieser  Be- 
stimmungen braucht  sich  durchaus  nicht  reflexionell  zu  vollziehen; 
es  kann  an  der  Hand  anschaulich  erlebter  Beispiele,  die  reproduziert 
werden,  an  der  Hand  eigener  erfahrener  unliebsamer  Folgen  bei 
Nichtbeachtung  dieser  Bestimmungen  gegeben  sein.  Die  Inhalte  der 
Zeitmoral  können  also  in  einem  viel  größeren  Umfang  anschauliche, 
erlebnisartige  und  direkt  reproduzierte  Elemente  ins  Bewußtsein  des 
Einzelnen  treten  lassen,  als  das  bei  dem  Urteilscharakter  dieser  In- 
halte von  vornherein  zu  erwarten  wäre.  Schon  dies  ist  sehr  wichtig 
zur  genaueren  Bestimmung  der  Art  des  Antriebes  bei  moralischem 
Verhalten  im  Sinne  der  Zeitmoral.  Das  Bewußtsein  des  Antriebs 
braucht  hier  durchaus  kein  reflektiertes  zu  sein;  diese  Antriebe  sind 
als  unmittelbar  bewußt  für  die  Handlung  gegeben.  Dadurch  ent- 
steht eine  Analogie  der  in  diesem  Sinne  moralischen  Handlungen  mit 
den  instinktiven,  besonders  bei  steter  Einübung.  Natürlich  können 
auch  reflexione  le  Momente  für  das  Erfassen  der  Inhalte  hinzutreten; 
aber  diese  brauchen  sich  nicht  wesentlich  über  die  primitiven  Leistun- 
gen alltäglicher  einzelner  Zweckurteile  hinaus  zu  erstrecken.  Es  han- 
delt sich  ja  im  wesentlichen  immer  um  einfachste  Dinge:  zu  bedenken, 
ob  Schädigungen  anderer  an  Leib  und  Eigentum  durch  irgendein 
Tun  entstehen  können.  Schon  aus  dieser  Bestimmung  über  die  Be- 
wußtseinsart der  Inhalte  von  Zeitmoral  ersieht  man,  eine  wie  geringe 
intellektuelle  Leistung  sie  erfordern.  Und  hieraus  würde  für  den 
moralischen  Schwachsinn  in  der  Tat  die  Bleuler  sehe  Feststellung 
einer  weitgehenden  Unabhängigkeit  der  Moral  von  der  Intelligenz 
sich  ergeben.  Mindestens  in  dem  Sinne,  daß  weitgehender  intellek- 
tueller Schwachsinn  sich  dennoch  die  Inhalte  der  Zeitmoral  zu  eigen 
machen  kann;  der  zweite  Teil  des  Nachweises  dieser  Unabhängigkeit 
der  Moralität  von  der  Intelligenz :  daß  nämlich  bei  relativ  genügender 
Intelligenzentwicklung  ein  moralischer  Defekt  bestehen  könnte,  ist 
damit  noch  nicht  beantwortet.  Hierfür  liegt  die  Entscheidung  gänz- 
lich bei  den  psychologischen  Gründen  für  die  Verbindlichkeit  der 
zeitmoralischen  Normen. 

Bevor  wir  dies  erörtern,  seien  noch  zwei  Bemerkungen  gestattet. 
Nämlich  erstens  glaube  ich  Berzes  Dreiteilung  der  subjektiven  Grund- 
lagen von  Moral  in  »Gefühlsmoral«,  »Verstandesmoral«  und  »Pseudo- 
moralische Hemmungen«^)  durch  die  erörterte  Zweiteilung  ersetzen 
zu  sollen.  Diese  entspricht  faktisch  eher  dem  Wesen  der  psycho- 
logischen Wirksamkeit  von  Moral.  Das  Bewußtsein  um  die  Norm- 
inhalte, welches  Beize  als  Verstandesmoral  bezeichnen  würde,  ist 
eben  zum  größten  Teile  nicht  Funktion  des  Verstandes.  Und  soweit 
dieser  dabei  beteiligt  ist,  wirkt  er  meist  in  dem,  was  Berze  pseudo- 

1)  a.  a.  O.     S.  137. 


Paradigmat.  Erörberung  dor  theorct.  Probleme  des  sog.  moral.  Schwachsinns.     447 

moralische  Hemmungen  nennt,  mit.  Aber  es  gehen  auch  Teile  der 
»Gefühlsmoral«  in  dieses  Bewußtsein  mit  ein.  Auf  der  anderen  Seite 
entspricht  das  Anerkennen  der  Verbindlichkeit  dieser  Normen  durch 
die  moralische  Haltung  nicht  restlos,  wenn  auch  großenteils,  dem 
Berzeschen  Begriff  der  Gefühlsmoral;  jedoch  kommen  auch  hier 
teilweise   »pseudomoralische  Hemmungen«  hinzu. 

Zweitens  zeigt  auch  diese  theoretische  Überlegung  wieder,  daß 
dem  Begriff  der  Einsicht  in  die  Strafbarkeit  einer  Handlung,  wie 
er  als  Bestimmungsstück  des  §  56  RStGB.  fungiert,  nicht  die  Aus- 
legung einer  Kenntnis  der  Straf  bar  keit  gegeben  werden  sollte,  wie 
dies  die  Entscheidungen  des  Reichsgerichts  zeitweise  taten.  Denn 
diese  bloße  Kenntnis  setzt,  wie  wir  nach  den  obigen  Erörterungen 
sagen  dürfen,  nur  die  elementarsten  Äußerungen  geistiger  Tätigkeit 
voraus,  die  auch  ein  sehr  schwachsinniges  Kind  haben  kann;  sie  exi- 
miert  also  gar  nicht  diejenigen  von  der  Verantwortlichkeit,  die  trotz 
der  Kenntnis  des  Inhalts  der  Norm  keine  psychologische  Möglichkeit 
haben,  die  Verbindlichkeit  derselben  für  das  eigene  Verhalten  zu  er- 
fassen und  anzuerkennen. 

Um  nun  auf  die  Gründe  der  Verbindlichkeit  von  Zeitmoral 
einzugehen,  so  kommen  sie  in  ihrer  Gesamtheit  ungetrennt  zu  undeut- 
lichem Bewußtsein;  wir  bezeichneten  das  vorher  als  moralisclie  Ge- 
'stimmtheit.  Die  subjektive  Seite  dieser  Gestimmtheit  geht  uns  hier 
nicht  weiter  an;  objektiv  kann  man  sie  in  solche  Faktoren  zerlegen, 
deren  positives  Vorhandensein  co  ipso  zur  Geltung  der  Zeitmoral 
beiträgt,  und  zweitens  in  solche  den  Triebregungen  angehörigen 
Faktoren,  deren  Realisierung  in  irgendeiner  sozialen  Situation  der 
Zeitmoral  widerspräche,  die  also  fehlen  oder  überwindlich  sein  müssen, 
damit  die  subjektive  Geltung  der  Zeitmoral  gesichert  ist.  Wir  werden 
diese  beiden  Faktorengruppen  als  positive  und  negative  psy- 
chische Bedingungen  der  subjektiven  Geltung  von  Zeit  moral  be- 
zeichnen. 

Die  positiven  psychischen  Bedingungen  der  Verbindlichkeit  von 
Zeitmoral  zerfallen  wieder  in  solche,  die  innerlich  in  der  Anlage  jedes 
Menschen  von  vornlierein  gegeben  sind;  die  Kenntnis  der  Zeitmoral 
trifft  in  ihnen  auf  präformierte  psychische  Grebilde,  kraft  deren  sie 
eine  besondere  subjektive  Bedeutung  erlangt,  behalten,  weiterver- 
arbeitet und  für  Entschluß  und  Handlung  fruchtbar  gemacht  wird. 
Wir  bezeichnen  sie  nicht  ganz  geni^u  als  Gefühlsgrundlagen  der 
Verbindlichkeit  von  Zeitmoral.  Hinzu  kommen  zweitens  äußerlich 
erzeugte  psychische  Faktoren,  deren  Möglichkeit  zwar  dispositionell 
gesichert  sein  kann,  oline  daß  aber  diese  Dispositionen  irgend  etwas 
Gleichartiges  oder  auch  nur  Typisches  zu  haben  brauchen.  Erziehung 
und  andere  Momente  äußerer  Einwirkung  aktualisieren  aus  ilinen 
eine  Reihe  psychischer  Gi.'bilde.  welche  besonders  als  Gegenantriebe 
und  Hemmungen  im  Entschluß  wirksam  werden.  Wir  bezeichnen 
sie  daher  ebenfalls  nicht  ganz  genau  als  die  Hemmungsgrund- 
lagen der  Geltung  von  Zeit  moral. 


448         Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

Unter  die  Gefühlsgrundlagen  ordnen  wir  alle  diejenigen  Momente 
ein,  die  man  als  »soziale  Instinkte«  zusammenfassen  könnte.  Hierher 
gehört  der  Geselligkeitstrieb  Burkes  und  der  alten  Engländer.  Er 
entspringt  aus  den  Tendenzen  einer  mögliehst  erleichterten  und  ge- 
sicherten Bedürfnisbefriedigung.  Hierher  gehören  auch  alle  Siche- 
rungen und  Ressentiments  der  Ohnmacht  des  einzelnen  gegenüber 
der  Gesamtheit;  aber  auch  Faktoren  wie  Bequemlichkeit  und  Sug- 
gestibilität.  Psychologisch  läßt  sich  über  die  subjektiven  Weisen 
des  Bewußtseins  dieser  Gefühlsgrundlagen  recht  wenig  weiter  aus- 
sagen. 

Bei  den  Hemmungsgrundlagen  muß  man  die  durch  Erziehung 
gesetzten  von  den  durch  die  Umstände  der  sozialen  Situation  er- 
zwungenen unterscheiden.  Die  von  der  Erziehung  geleistete  Arbeit 
besteht  im  wesentlichen  darin,  die  Kenntnis  der  zeitmoralischen 
Normen  zu  vermitteln  und  für  ihre  Beachtung  an  die  Gefühlsgrund- 
lagen in  geeigneter  Weise  zu  appellieren.  Dadurch  werden  diese  dem 
Subjekt  wichtig  und  im  Entschluß  ausschlaggebend.  Es  handelt  sich 
dabei  nicht  nur  um  eine  intensive  Verstärkung  der  Gefühlsgrundlagen, 
sondern  um  eine  Hemmung  und  Ausschaltung  der  Triebe  und  An- 
triebe, die  ihnen  entgegenstehen.  Welches  diese  sind,  davon  ist  unten 
bei  den  negativen  Bedingungen  der  Geltung  von  Zeitmoral  die  Rede. 
In  dem  Sinne  dieser  Hemmungserzeugung  ist  Erziehung  Willens- 
bildung. Das  Kind  lernt  sich  zu  beherrschen;  und  zwar  indem  als 
Erfolg  dieser  Willensanspannung  das  Bewußtsein  der  Moralität  bzw. 
Legalität  seinem  Selbstgefühl  schmeichelt,  den  oben  angedeuteten 
Ressentiments  huldigt,  und  endlich  indem  andere  und  gleichstarke 
Wünsche,  die  nur  nicht  aktuell  waren,  durch  die  Aussicht  auf  Lohn 
ideell  befriedigt  werden;  auch  wenn  dieser  Lohn  —  religiös  moti- 
viert —  erst  im  Jenseits  verheißen  ist  oder  in  der  Wertschätzung  der 
Allgemeinheit  liegen  soll. 

Das  suggestible  Moment  gerade  der  kindlichen  Psyche  wird  durch 
die  Autorität  des  Erziehers  für  die  Verbindlichkeit  der  Zeitmoral 
fruchtbar  gemacht. 

Hinzu  treten  im  weiteren  Leben  die  Zwangsmittel  der  Sozietät 
und  insbesondere  die  Gesetze  des  Staates.  Sie  gehen  alle  nicht  auf 
die  Gesinnung,  sondern  auf  die  Handlung  im  Sinne  der  Zeitmoral 
aus.  Dennoch  fördern  sie  mit  dem  zeitmoralischen  Handeln  in  der 
weitaus  größten  Mehrzahl  der  Fälle  eo  ipso  das  Bewußtsein  und  die 
Anerkennung  der  Zeitmoral.  Sie  appellieren  vorwiegend  an  teleo- 
logische Momente,  besonders  an  die  Furcht.  So  setzen  sie  weitere 
Willenshemmungen,  sowohl  solche  der  einfachsten  Reflexion  in  singu- 
lären  Zweckurteilen,  als  auch  affektive. 

Die  Strafe,  die  soziale  Ächtung,  die  Verschlechterung  der  Lebens- 
haltung bei  Verstößen  gegen  die  Zeitmoral,  und  umgekehrt  die  so- 
ziale Sicherung  und  Hebung  bei  ihrer  Anerkennung  wirken  zugleich 
mächtig  im  Sinne  der  Erhöhung  der  Gefühlsgrundlagen  für  die  Gel- 
tung der  Zeitmoral. 


Paradigmat.  Erört-erung  der  theoret.  Problem«  des  sog.  moraL  Schwachsinns.     449 

Zu  den  negativen  Bedingungen  für  die  Verbindlichkeit  von 
Zeitmoral  gehört  das  Fehlen  oder  die  Unterdrückbarkeit  aller  Trieb - 
legungen,  deren  Verwirklichung  ihr  widerspräche.  Hierzu  rechnen 
vor  allem  die  sthenischen  Affekte,  deren  Intensität  nie  größer  werden 
darf  als  die  Resultante  der  Wirksamkeit  der  ersten  Gruppe.  Hierzu 
rechnet  das  Selbstgefühl  und  seine  Neigung,  sich  schrankenlos  durch- 
zusetzen^), hierzu  rechnen  ferner  die  elementaren  Triebe  bei  er- 
schwerter oder  verzögerter  Befriedigungsmöglichkeit  oder  bei  dispo- 
sitionell erhöhter  Intensität:  Nahrungs-  und  Geschlechtstrieb.  Trieb- 
regungen, wie  Grausamkeit  oder  Hang  zur  Lüge,  sind  erst  sekundäre 
Produkte,  Modifikationen  primärer  Elementartriebe.  Z.  B.  die  Grau- 
samkeit eine  bestimmte  sekundäre  Verschmelzung  pervertierter 
sexueller  Triebregungen  mit  sthenischen  Grundaffekten,  allgemein 
erhöhter  motorischer  Erregbarkeit  und  Derivationen  eines  irgendwie 
beeinträchtigten  Selbstgefühls,  das  sich  auf  einem  Umweg  entlädt; 
der  Hang  zur  Lüge  das  typische  Ressentiment produkt  verdrängten 
Ohnmachtgefühls,  welches  daher  immer  mit  kritikloser  Selbstüber- 
schätzung und  berechneter  Demonstration  der  eigenen  Wichtigkeit 
einhergeht;  ein  asthenisches  Gebilde.  Zur  Aktualisierung  solcher  Trieb - 
regungen  ist  immer  ihre  Uberwertigkeit  gegenüber  der  ersten  Gruppe 
erforderlicli.  Das  alles  ist  hier  nur  insofern  wichtig,  als  zur  Entwick- 
lung all  dieser  Triebe  faktisch  nur  die  von  uns  als  primär  bezeichnete 
Triebbasis  angenommen  zu  werden  braucht,  aus  der  alle  anderen 
erst  hervorgehen.  In  diesem  Sinne  gilt  Goethes  wahrhaftiges  Selbst- 
bekenntnis, er  fühle  in  sich  die  Anlage  zu  allen  Verbrechen,  von  jedem ; 
wobei  nicht  geleugnet  werden  soll,  daß  die  Intensität  und  die  sekun- 
däre Pervertierbarkeit  dßr  elementaren  Triebregungen  dispositionell 
absolut  verschieden  und  bei  einzelnen  Menschen  in  höchstem  Maße 
pathologisch  sein  kann. 

Das  Kriterium  der  Verbindlichkeit  von  Zeitmoral  ist  also  zwar 
ein  relatives,  aber  relativ  nur  hinsichtlich  des  Verhältnisses  dieser 
Triebregungen  zur  Gruppe  der  positiven  Bedingungen  von  Zeitraoral ; 
und  insofern  ist  es  durchaus  psychologisch  bestimmbar. 

Was  folgt  aus  diesen  Darlegungen  für  die  Möglichkeit  und  das 
psychologische  Wesen  des  moralischen  Schwachsinns? 

Die  Frage  ist,  ob  isolierte  Defekte  in  einer  dieser  Gruppen  von 
Grundlagen  der  Moralität  psychologisch  bestehen  können.  Oder 
natürlich  auch,  ob  sich  isolierte  Defekte  mehrerer  Gruppen  zu  einer 
einheitlichen  Wirkung  hinsichtlich  des  moralischen  Verhaltens  ver- 
binden können.  Und  wichtig  ist  für  die  psychologische  Begriffs- 
bestimmung des    moralischen  Schwachsinn.s  noch,   daß  die  Wirkung 


1)  Daß  dieses  S;-'lbstgefühl  ein  primäres  Triebphänomen  ist.  habe  ich  bei 
ganz  schweren  Idioten  gesehen,  die  7.11  keiner  psychischen  Leistung  fähig  waren, 
als  sinnliche  Eindrücke  zu  haben,  Schmerz  zu  fühlen,  zu  essen,  zu  schlafen  und  zu 
onanieren,  und  die  den  ganzen  Tag  dasaßen  und  bei  der  Annäherung  irgendeines 
Menschen  freudestrahlend  auf  sich  zeigten  und  unartikulierte  Laute  ausstießen, 
solange  der  Betreffehde  im  Zimmer  war. 

Kronfelil.  l'sychintrHche  Erkoinitni««  29 


450        Zxir  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbüdung  usw. 

dieser  Defekte  auf  die  Anomalie  im  moralischen  Verhalten  die  ein- 
zige oder  doch  zum  mindesten  die  weitaus  hervorstechendste 
Folgeerscheinung  ihres  Bestehens  sein  muß.  Denn  sonst  hätte  die 
Einengung  der  Bezeichnung  des  Defektes  als  »moralischer« 
Schwachsinn  keine  Berechtigung.  Nun  ist  zwar  die  Antimoralität, 
die  sich  aus  Defekten  in  dem  psychologischen  Unterbau  des  dar- 
gestellten Geltungsfundaments  von  Zeitmoral  ergibt,  nur  eine  zu- 
fällige Folge  dieser  Defekte,  die  sich  z.  B.,  wenn  das  betreffende 
Individuum  auf  einer  einsamen  Insel  lebte,  gar  nicht  geltend  zu 
machen  brauchte.  Und  sie  steht  insofern  im  Gegensatz  etwa  zu  den 
echten  psychotischen  Prozessen,  die  auf  einer  einsamen  Insel  genau 
so  gut  psychotische  Prozesse  bleiben  würden,  wie  sie  es  in  der  Sozietät, 
in  den  Anstalträumen  und  in  der  Isolierzelle  sind.  Allein  mag  die 
Antimoralität,  als  Ergebnis  eines  von  immerhin  zufälligen  äußeren 
Umständen  und  Forderungen  abhängigen  Verhaltens,  nicht  der 
unmittelbarste  und  notwendigste  Ausdruck  psychischer  Anomalie 
sein:  so  könnte  sie  doch  im  Leben  die  einzige  psychische  Folge- 
wirkung derartiger  Anomalie  sein,  die  sich  außerhalb  ihrer  über- 
haupt nicht  manifestierte.  Und  sie  muß  es  sogar  sein,  wenn  anders 
der  Begriff  des  moralischen  Schwachsinns  überhaupt  einen  psycho- 
logischen Sinn  haben  soll. 

Und  das  ist  tatsächlich  möglich.  Freilich:  die  pathologische  In- 
tensität der  elementaren  Triebregungen,  die  zu  ihrer  Unbeherrsch- 
barkeit  durch  den  Willen  führt,  ist,  soweit  sie  überhaupt  isoliert  vor- 
kommt, immer  auch  direkt  nachweisbar,  jenseits  des  bloß  antimora- 
lischen Verhaltens.  Wir  denken  hier  besonders  an  die  Menschen  mit 
gesteigertem  Selbstgefühl  und  Machtwillen,  die  Eitlen  usw.  einer- 
seits, die  Menschen  mit  pathologisch  gesteigertem  und  qualitativ 
perversem  Geschlechtstrieb  andererseits,  von  denen  wir  zunächst 
hypothetisch  unterstellen,  daß  sie  im  übrigen  normal  sind.  Von 
einer  grundsätzlichen  Antimoralität,  einem  moralischen  Schwachsinn, 
kann  doch  in  solchen  Fällen  keine  Rede  sein;  außerhalb  der  Trieb- 
befriedigung, die  natürlich  zu  »affektiven«  Verstößen  gegen  die 
Zeitmoral  führen  kann,  können  sie  durchaus  der  Zeitmoral  unter- 
worfen sein.  Und  wenn  zu  dem  pathologisch  gesteigerten  Trieb- 
leben noch  Anomalien  im  Zusammenspiel  desselben  mit  dem  Gefühls- 
und Willensleben  hinzutreten,  so  resultieren  einige  Formen  der  so- 
genannten erethischen  Imbezillität  und  Spielarten  der  epileptoiden 
Degeneration,  deren  Folge  Wirkungen  ebenfalls  nicht  allein  auf  dem 
Gebiet  des  moralischen  Verhaltens  liegen,  sondern  direkt  als  psy- 
chische Anomalien  in  Erscheinung  treten.  Ähnlich  liegen  die  Dinge 
da,  wo  ein  gesteigertes  Selbstgefühl  zugleich  mit  einer  relativen  Über- 
wirksamkeit gefühlsbetonter  Phantasie-  und  Begehrungsvorstellungen 
einhergeht:  beim  hysterischen  Charakter,  und,  wenn  das  Selbst- 
gefühl durch  Ressentiments  verstärkt  wird  und  in  anderen  Formen 
auftritt,  beim  Pseudologisten.  Auch  hier  kann  eine  fast  vollständige 
Antimoralität  im  Verhalten  die  Folge  sein;  aber  sie  .braucht  es  nicht 


Paradigmat.  Erörterung  der  theoret.  Probleme  des  sog.  moraL  Schwachsinns.     451 

durchaus  zu  sein,  und  neben  ihr  gibt  es  noch  andere,  psychologisch 
unmittelbarere  und  direktere  Erscheinungsweisen  dieser  ah>normen 
seelischen  Strukturen.  Und  ganz  Analoges  gilt  auch  von  den  Typen 
der  pathologischen  Willensschwäche. 

Will  man  also  mit  dem  Begriff  des  moralischen  Schwachsimis 
wirklich  etwas  psychologisch  Direktes,  eine  reale  psychische  Struktur- 
einheit, die  auch  theoretisch  standhält,  bezeichnen,  so  muß  man  diese 
Typen  alle  als  ihr  zwar  mehr  oder  weniger  nahe  verwandt,  aber  doch 
nicht  eigentlich  zu  ihr  hinzugehörig  auffassen.  Und  somit  bleibt 
nur  noch  das  letzte  Gebiet  psychischer  Strukturen  übrig,  in  welchem 
Defekte  ein  antimoralisches  Verhalten  als  einziges  isoliertes  Symptom 
bei  sonstiger  völliger  psychischer  Intaktheit  zur  Folge  haben  können : 
Wir  meinen  die  Gefühlsgrundlagen  für  die  Verbindlichkeit  zeit- 
moralischer Normen.  Hier  kann  in  der  Tat  die  Abwesenheit  oder 
qualitative  Perversion  jener  Grundinstinkte,  die  wir  oben  an  ent- 
sprechender Stelle  bezeichnet  haben,  ein  solches  Bild  erzeugen.  Und 
das  wäre  im  eigentlichen  psychologischen  Sinn  moralischer 
Schwachsinn  bei  sonstiger  Unversehrtheit  alles  psychi- 
schen Lebens. 

Als  Erster  hat  wohl  Liepmann  diesen  Sachverhalt  klar  erfaßt 
und  ausgesprochen.  Er  unterschied  bereits  1908^)  begrifflich  sehr 
klar,  aber  freilich  ohne  genauere  Begründung  »zweierlei:  so  etwas 
wie  eine  sittliche  Farbenblindheit,  d.  h.  ein  wirkliches  Fehlen  aller 
der  Gefühle,  auf  denen  unser  sittliches  Zusammenleben  beruht  — 
dieses  wirkliche  Fehlen  kommt  vor,  aber  ist  etwas  verhältnismäßig 
Seltenes.  Dabei  können  die  moralischen  Begriffe  erhalten  sein; 
aber  diese  Begriffe  wecken  nichts  Gefühlmäßiges  in  ihnen,  sind  daher 
totes  Wissen.  Nun  gibt  es  aber  eine  weit  häufigere  Kategorie  von 
Menschen,  .  .  .  die  nicht  eigentlich  aller  altruistischen  Gefühle  ent- 
behren, die  es  nur  dadurch  zu  keiner  Moral  bringen,  daß  ihnen  jede 
Konstanz  fehlt  .  .  .  Sie  sind  ein  Spielball  der  Stimmungen,  die  Rück- 
sicht auf  höhere  Pflichten  läßt  sich  gegenüber  den  Leidenschaften 
des  Moments  nicht  zur  Herrschaft  bringen«.  Ebenso  führt  Liep- 
mann in  einer  Veröffentlichung 2)  aus:  >>Es  sagt  sich  ja  von  selbst, 
daß  Instabilität,  Unstetigkeit,  Willensschwäche,  Affekterregbarkeit 
ein  Leben  der  Pflichterfüllung  und  der  Moralität  ausschließen.  Man 
denkt  aber,  wenn  man  von  amoralischen  Degenerierten  spricht,  ge- 
wöhnlich an  etwas  anderes.  Man  hat  die  moralischen  Kcrngefühle, 
die  altruistischen  Gefühle  ...  im  Auge.  Es  gibt  in  der  Tat  eine  An- 
zahl Degeneres,  bei  denen  diese  Gefühle  vollkommen  fehlen  oder 
wenig  entwickelt  sind.  Das  sind  die  moralisch  Auästhetischen.  Mit 
der  Zeit  hat  sich  dieser  Begriff  der  moral  insanity  ...  so  eingeengt, 
daß  man  dabei  nur  an  die  moralischen  Monstra  denkt,  welchen  von 


1)  Nach  dem  mir  gütigst  überlassenen  Stenogramm  eines  Kollegs. 

2)  Die  Beurteilung  psychopathischer  Konstitutionen.     Ztschr.  f.  ärztl.  Fort- 
bUdung.     1912.     S.  135. 

29* 


452        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologisclier  Typenbildung  usw. 

Geburt  an  jede  altruistische  Regung  fehlt,  die  sittlich  Farbenblinden. 
Es  ist  sehr  viel  darüber  gestritten  worden,  ob  es  so  etwas  gibt.  Man 
muß  sagen,  ganz  isoliert  ist  es  selten,  meistens  sind  die  Betreffenden 
auch  schwer  imbezill,  und  meist  haben  sie  weitere  Züge  der  Degeneres, 
die  Instabilität,  nervöse  Zufälle  usw.  Aber  es  sind  doch  von  ersten 
Autoren  Fälle  beschrieben  worden,  bei  denen  man  mit  der  Laterne 
besonders  nach  intellektuellen  Mängeln  suchen  mußte;  und  diese 
repräsentieren  den  geborenen  Verbrecher  im  engsten  Sinne;  wenn 
diese  Fälle  auch  selten  sind,  so  ist  doch  damit  prinzipiell  die  Frage 
zugunsten  einer  moralischen  Idiotie  gelöst.« 

Zu  ähnlichen  Feststellungen  kommt  auch  Anton  in  seiner  schon 
zitierten  Arbeit.  Moral  insanity  beruht  auf  dem  »Mangel  derjenigen 
Gefühle  und  Gemütsregungen,  welche  für  das  menschliche  Zusammen- 
sein notwendig  sind  oder  durch. das  Zusammensein  erst  entstehen«. 
Freihch  liegt  ihm  der  Versuch  einer  psychologischen  Begründung 
ganz  ferne;  und  er  vermischt  dieses  von  ihm  abgegrenzte  Bereich 
auch  sogleich  wieder  mit  den  Gebieten  derjenigen  Fälle  antimorali- 
schen Handelns,  welche  auf  Störungen  in  den  Hemmungsgrundlagen 
zurückgehen;  mit  den  Defekten  imbeziller  Erethiker  u.  dgl. 

Erst  auf  einem  solchen  Umwege  also  erfüllt  sich  die  Bleu  1  ersehe 
Konzeption  mit  einem  psychologisch  möglichen  Sinn;  und  das  auch 
in  begrenzterer  Weise,  als  er  und  alle  diejenigen  Autoren  annehmen, 
die  solche  erethischen  Imbezillen  und  hysterischen  Charaktere  (Lon- 
gard) und  solche  Pseudologisten  (Delbrück)  zu  ihr  hinzurechnen, 
bei  denen  ihr  autimoralisches  Verhalten  besonders  oft  zu  Konflikten 
mit  dem  Gesetz  führt.  Das  ist  ja  psychologisch  zufällig.  Und  will 
man  Persönlichkeiten,  die  psychisch  irgendwie  und  in  ganz  hetero- 
gener Weise  abnorm  sind  und  wiederholt  rückfällige  Verbrecher, 
aus  praktischen  Gründen  als  moralisch  schwachsinnig  bezeichnen, 
so  ist  psychologisch  nichts  gewonnen,  man  muß  vielmehr  diese  Typen 
aus  denjenigen  Typen  psychischer  Struktur,  zu  denen  sie  eigentlich 
gehören,  nur  auf  Grund  ihrer  Kriminalität  ausreihen  und  zu  einer 
recht  willkürlichen  Gruppe,  nach  ganz  schematischen  Kriterien,  zu- 
sammenbringen. Auch  kriminalätiologisch  ist  so  nichts  getan,  und 
man  gerät  in  Gefahr,  nur  auf  Grund  der  bisherigen  Unverbesserlich- 
keit, auch  an  der  künftigen  Unverbesserlichkeit  ohne  zureichenden 
Grund  zu  zweifeln ;  daß  damit  wenigstens  in  einzelnen  Fällen  ein  Irr- 
tum begangen  wird,  lehrt  z.  B.  ein  von  mir  beobachteter  Fall  mit 
völliger  Rückkehr  zur  sozialen  Norm,  die  selbst  eine  Autorität  wie 
Aschaffenburg  für  ausgeschlossen  erklärt  hatte,  indem  er  ihn  als 
moralischen  Schwachsinn  bezeichnet  hatte,  nur  weil  man  eben  nicht 
diese  psychischen  Typen  von  dem  hier  abgegrenzten  moralischen 
Schwachsinn  im  engsten  wirklich  psychologischen  Sinne  trennt. 

Ob  der  so  zunächst  theoretisch  abgegrenzte  psychische  Typus 
des  moralischen  Schwachsinns  im  Leben  vorkommt  oder  nicht,  das 
ist  eine  rein  empirische  Tatsachenfrage.  Man  darf  doch  nicht  ver- 
gessen, daß  derartige  Typenbildungen  stets  auf  unvollständigen  In- 


Paradigmat.  Erörterung  der  theoret  Probleme  des  sog.  moral.  Schwachsinns.     453 

duktionen  beruhende  konstruktive  Gebilde  sind,  zu  deren  Ermög- 
lichung von  einem  großen  Teil  des  individualpsychischen  Tatsachen- 
materials im  einzelnen  Falle  abstrahiert  werden  muß.  Jedenfalls 
seheint  dieser  Typus  recht  selten  zu  sein  ^)  und  bei  genügend  genauer 
psychologischer  Durcharbeitung  der  fraglichen  Fälle  sich  immer  mehr 
einzuengen. 

Ich  habe  bei  der  Durchsicht  der  allerdings  nicht  genügend  klar 
dargestellten  Lombrososchen  Fälle  kaum  einen  gefunden,  der  rein 
zu  ihm  paßte.  Hingegen  entspricht  ihm  der  im  Anhang  seines  Werkes 
mitgeteilte  Fall  von  Lindau  ganz  und  gar  —  nur  ist  dieser  leider 
nicht  von  einem  Fachmann  beobachtet  und  zuverlässig.  Von  dem 
Material  Delbrücks,  Longards  und  Mayers  scheint  ein  Teil 
diesen  Defekt  in  den  Gefühlsgrundlagen  in  der  Tat  aufzuweisen, 
aber  wohl  kaum  isoliert,  sondern  verbunden  mit  hysterischen,  pseudo- 
logistischen  oder  erethischen  Zügen.  Daß  hier  ein  nahes  Verwandt - 
Schaftsverhältnis  bestehen  kann,  soll  nicht  in  Abrede  gestellt  werden ; 
das  ergibt  sich  ja  auch  schon  aus  unseren  theoretischen  Festlegungen. 
Aber  diese  Verwandtschaft  ist  keine  Identität. 

Für  die  weitere  Forschung  ergibt  sich  aus  alledem  als  Foi'derung 
und  als  Maxime  der  Arbeit  die  Notwendigkeit  psychologischer 
Spezialisierung  dieser  Fälle.  Heuristisch  bleibt  der  reine  Typus 
des  moralischen  Schwachsinns,  wie  wir  ihn  psychologisch  definiert 
haben,  ein  Grenzfall,  dessen  Verwirklichung  im  lebenden  Menschen 
durch  immer  genauere  Arbeit  eingeengt  werden  soll. 

So  liegt  die  rein  wissenschaftliche  Seite  des  Problems.  Nun  be- 
steht aber  noch  eine  Schwierigkeit  hinsichtlich  der  praktischen  An- 
wendung. Berze  hat  sie  treffend  formuliert 2):  >>Wenn  man  auch 
zugeben  muß,  daß  die  moral  insanes  durch  ihre  fehlerhafte  Anlage 
zum  Verbrechertum  prädestiniert  sind,  so  wäre  doch  die  Annahme 
durchaus  irrig,  daß  ein  Individuum,  das  an  einem  Defekte  der  eigent- 
lichen Moral  leidet,  und  sei  er  auch  noch  so  sicher  pathologisch,  darum 
schon  unbedingt  kriminell  werden  muß,  daß  das  Kriminellwerden 
gleichsam  in  allen  Fällen  das  notwendige  Ergebnis  dieses  Defektes 
ist,  ein  Ergebnis,  gegen  welches  das  Individuum  gar  nicht  ankämpfen 
kann,  wie  es  ja  auch  eine  durchaus  irrige  Annahme  ist,  daß  die  Moral 
es  ist,  was  die  große  Mehrzahl  der  Menschen  hindert,  kriminell  zu 
werden.« 

Auch  psychologisch  ist  nach  unseren  Darlegungen  nicht  unbe- 
dingt erforderlich,  daß  jeder  im  engsten  Sinne  moraliscli  Defekte 
nun  auch  antisozial  sein  muß.  Was  ihm  an  Gefühlsgrundlagen  für 
die  Anerkennung  der  Zcitmoral  fehlt,  vermag  er  durch  sein  Urteil 
und  durch  die  Hemmungsgrundlagen  für  sein  soziales  Verhalten 
durchaus  zu  ersetzen. 

Man  kann  sogar  paradoxerweise  behaupten,    daß.  je  klüger  und 

*)  Das  sagt  auch  Kauffmann,  Psychologie  des  Verbrechens.     19'*^.    S.  'M. 
2)  a.  a.  O.     S.  137. 


454        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Tjrpeubildung  usw. 

affektiv  ruhiger  der  moral  insane  ist,  um  so  weniger  er  sich  sozial 
verrät. 

Er  ist  in  dieser  Hinsicht  weit  weniger  gefährdet  als  diejenigen 
Typen,  deren  Hemmungsgrundlagen  mangelhafte  sind:  der  erethisch 
Imbezille  und  der  Hysteriker.  Allein  diese  sind  doch  im  Besitz  der 
Gefühlsgrundlagen  von  Moral  und  bleiben  daher  trotz  aller  affektiven 
Verstöße  prinzipiell  immer  zur  Moralität  und  zu  sozialem  Verhalten 
erziehbar.  Die  eigentlichen  unverbesserlichen  Rückfallkriminellen 
aus  Anlage  sind  diejenigen,  bei  denen  sowohl  die  Gefühls-  als  die 
Hemmungsgrundlagen  pathologisch  verändert  sind:  die  erethischen 
Imbezillen  mit  eigentlichem  moralischen  Defekt  dabei, 
also  ein  Teil  der  Fälle  Longards  und  der  Fall  Mayers.  Freilich 
ist  da,  wo  Anomalien  der  Hemmungsgrundlagen  bestehen,  immer  nur 
sehr  schwer  zu  sagen,  ob  und  wieweit  noch  ein  Defekt  in  den  Gefühls- 
grundlagen der  Moralität  zugleich  besteht,  da  dieser  ja  außerhalb 
der  Moralität  keinen  weiteren  Ausdruck  findet  und  die  Moralität 
durch  die  anomalen  Triebregungen  hier  ohnedies  alteriert  ist. 

Was  aber  den  Berze sehen  Einwand  anlangt,  so  folgt  daraus  in 
der  Tat,  daß  uns  an  der  Hand  des  sozialen  Verhaltens  durchaus  nicht 
alle  moralisch  Schwachsinnigen  erkennbar  v/erden.  Indessen  muß 
man  doch  bedenken,  daß  den  praktischen  Anlaß  zum  Suchen  nach 
derartigen  Anlagen  nicht  die  sozial  Unauffälligen,  sondern  diejenigen 
Rückfallkriminellen  geben,  deren  Antisozialität  man  sich  durch  bloße 
Milieuwirkung  gar  nicht  erklären  kann.  Die  Diagnose  macht  sich 
hier  durch  ein  indirektes  Verfahren:  man  schließt  anamnestisch  alle 
Milieufaktoren  aus  und  sondert  psychologisch  die  Mitwirkung  patho- 
logischer Triebregungen  und  Urteilsdefekte  ab:  dann  bleibt  jene 
Gruppe  übrig,  die  wir  als  moral  insanity  im  Sinne  einer  psycho- 
logischen Einheit  bezeichnen  müssen,  ohne  diese  Einheit  doch  anders 
als  theoretisch  fundieren  und  praktisch  an  einem  so  vagen  und  viel- 
deutigen Kriterium  wie  dem  moralischen  Verhalten  erweisen  zu 
können.  Eine  direkte  psychologische  Beschreibung  des  Defekts  und 
seiner  Seinsweisen  vor  dem  Bewußtsein  wird  uns  bei  dieser  Lage 
der  Sache  wohl  stets  unmöglich  sein. 

Für  die  Beurteilung  der  Zurechnungsfähigkeit  dieses  Typus  wird 
man  von  Fall  zu  Fall  entscheiden  müssen,  wieweit  die  Ausnutzung 
der  Verstandes-  und  Hemmungsgrundlagen  zu  einem  vikariierenden 
Eintreten  für  den  Gefühlsdefekt  im  sozialen  Verhalten  hätte  führen 
können. 


3.  Das  soziale  Moment  als  Kriterium  psychischer  Typik. 

Über  den  Begriff  der  Reaktivität. 

Die  bisherigen  Erörterungen  sollten  gleichsam  paradigmatisch  die 
Behandlung  eines  Problems  vorwegnehmen,  dessen  grundsätzliche  Be- 
deutung wir  nunmehr  in  abstracto  zu  beleuchten  haben  werden.    Zu 


Das  soziale  Moment  als  Kriterium  psychischer  Typik.  455 

diesem  Problem  gehört  als  eine  Teilfrage  die  Möglichkeit  der  Ein- 
reihung der  verschiedenen  psychopathischen  Typen  in  die  Krimi- 
nologie; das  heißt,  es  ist  das  prinzipielle  Methodenproblem,  dessen 
Beantwortung  über  die  Möglichkeit  wissenschaftlicher  Kriminal- 
psychologie entscheidet.  Dieses  Problem  nun  ist  die  Frage  nach 
den  Kriterien  eines  psychischen  Typus  überhaupt;  und 
zwar  in  dem  speziellen  Sinn,  wieweit  das  soziale  Verhalten 
des  Menschen  ein  Kriterium  des  Typus  abzugeben  ver- 
mag. Wir  haben  bisher  diese  Frage  als  in  dem  Sinne  entschieden 
vorausgesetzt,  daß  wir  die  psychischen  Typen  im  allgemeinen  als 
auf  direkten  psychologischen  Kriterien  aufgebaut  ansahen  und  im 
sozialen  Verhalten  nur  ein  zusammengesetztes  und  indirektes  Kri- 
terium des  Typus  erblickten.  Denn  das  soziale  Verhalten  eines  Men- 
schen ist  nicht  der  konstante  Effekt  immer  gleichartiger  Funktionen 
und  Dispositionen,  mithin  kann  das  antisoziale  Verhalten  nicht  ohne 
weiteres  als  der  Effekt  von  psychologisch  konstanter  Störung  in 
diesen  Funktionen  und  Dispositionen  aufgefaßt  werden. 

Man  muß  das  Bestehen  dieser  Störung  auch  außerhalb  des  sozialen 
Verhaltens  an  direkten  psychischen  Wirkungen  erweisen. 

In  der  Tat  würde  damit  das  soziale  Verhalten  als  einziges  Kriterium 
für  den  Aufbau  und  die  Abgrenzung  solcher  Typen  entfallen.  Aber 
auch  als  bloßes  Kriterium  der  Subsumtion  eines  Menschen  unter 
einem  Typus  wäre  es  gefährdet.  Denn  die  Bedingungen  der  sozialen 
Situation  sind  niemals  wesentlich  gleich;  mithin  läßt  sich  auch  die 
Reaktionsweise  des  reinsten  psychischen  Typus  auf  die  Einwirkungen 
und  Beschränkungen  der  Sozietät  nicht  als  eine  ein  für  allemal  kon- 
stante fixieren. 

Wäre  diese  Überlegung  richtig,  so  entfielen  Begriffe  wie  »ge- 
borener Verbrecher«  oder  »Antisozialität«  als  etwas  im  psychi- 
schen Wesen  eines  Typus  Liegendes  oder  aus  ihm  zu  Er- 
schließendes. 

Derartige  Begriffe  wären  dann  nicht  solche  psychologischer  Be- 
schreibung, sondern  es  wären  Begriffe  einer  Bewertung.  Sic  dienten 
nicht  zur  Klassifizierung  bestimmter  Arten  von  psychischer  Struktur, 
sondern  vielmehr  bestimmter,  gleichartiger  Verhaltungsweisen  gegen- 
über der  Sozietät,  die  aber  weder  psychologisch  gleichartig  fundiert 
noch  motiviert  zu  sein  brauchen  und  auf  durchaus  verschiedene 
psychische  Typen  zurückgehen. 

Wir  meinen :  ein  und  derselbe  psychologisch-deskriptive  Typus  — 
z.  B.  der  Hysteriker,  oder  der  Instable,  oder  der  Epileptoide  —  könnte 
sowohl  ständig  sozial  als  auch  ständig  antisozial  sich  verhalten,  als 
auch  bald  sozial,  bald  kriminell  sein.  Identische  Motive  können  sozial 
durchaus  verschiedenwertige  Handlungen  hervorrufen;  die  gleiche 
antisoziale  Handlung  kann  die  verschiedensten  psychologischen 
Grundlagen  haben.  Ordnen  wir  die  Menschentypen  nach  ihrem 
sozialen  Verhalten,  so  ist  das  Grundmaß  dieses  Ordnens  der  Typus 
der  Tat;   und  zwar  gemäß  dem  sozialen  Wert  dieses  Tattyps.     Die 


,456        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologisoher  Typen bildung  usw. 

Dinge  liegen  hierbei  also  prinzipiell  ähnlich  wie  in  der  Mehrzahl  der 
strafrechtlichen  Kodifikationen,  die  ihre  Materie  ebenfalls  nach  Tat- 
begriffen  einteilen;  nicht  nach  Täterstrukturen.  Diese  Analogie  gilt 
nicht  nur  vom  Begriffe  des  reo  nato,  sondern  auch  etwa  vom  Begriffe 
der  Gemeingefährlichkeit;  sie  gilt  aber  auch  von  solchen  psychia- 
trischen Begriffsbildungen,  denen  man  die  praktisch-soziale  Pro- 
venienz nicht  so  ohne  weiteres  anmerkt:  der  »psychopathischen« oder 
» affektiven <<  usw.  »Minderwertigkeit«,  dem  Begriffe  des  »Haltlosen <<, 
der  »Puellennatur«  usw.  Doch  besteht  natürlich  ein  großer,  wenn 
auch  nur  gradueller  Unterschied  zu  den  exakten  Tatbegriffen  der 
Strafgesetzgebung:  es  wird  hier  kein  Tattyp  in  abstracto  heraus- 
gearbeitet; auch  wird  keine  Einzelhandlung  an  sich  schon  immer 
zur  Unterordnung  des  Täters  unter  diese  Gruppenbildungen  führen. 
Es  wird  überhaupt  nicht,  wie  in  der  Straf  recht  sprechung,  eine  logisch 
exakte  Subsumtion  der  einzelnen  Handlung  unter  einen  womöglich 
definitorisch  festgelegten  Deliktbegriff  vorgenommen.  Sondern  es 
ist  erforderlich  eine  statistische  Anhäufung  gleichartiger  Delikte  — 
oder  zum  mindesten,  bei  nur  einem  Delikt,  eine  besondere  Artung  und 
Schwere  desselben  — ,  um  aus  den  einzelnen  Taten  einen  Tattyp,  aus 
dem  Tattyp  eine  Verhaltungsweise  oder  eine  Reaktionsform,  und 
hieraus  schließlich  einen  menschlichen  Typus  abzuleiten  und  fest- 
zulegen. Daß  dies  unter  Umständen  gewagt  ist,  zeigt  z.  B.  die  Bil- 
dung des  Begriffs  der  Unverbesserlichkeit,  wofern  damit  eine  Gruppe 
kriminal  psychologisch  zusammengehöriger  Individuen  gekenn- 
zeichnet werden  soll;  in  den  Voraussetzungen  dieser  Begriffsbildung 
läuft  eine  anfechtbare,  psychologisch  durchaus  nicht  einheitlich  zu- 
treffende Ansicht  vom  Strafzweck,  nämlich  über  seine  bessernde 
Wirkung,  unter. 

Man  könnte  nun  zwar  fragen,  was  es  denn  schade,  wenn  unsere 
psychopathologischen  Typenbildungen,  soweit  sie  die  Kriminologie 
angehen,  nicht  rein  deskriptiv  -  psychologisch  gewonnen  werden, 
sondern  noch  Wertmerkmale  enthalten,  die  auf  soziologischer  Be- 
trachtung beruhen. 

Darauf  wäre  zu  erwidern :  es  kommt  auf  die  Aufgabe  an,  die  man 
sich  stellt.  Die  Psychopathologie  beschreibt  Krankheitszustände 
und  Persönlichkeitstypen,  welche  als  psychologische  Einheiten,  aus 
dem  Gesetz  ihrer  inneren  Struktur,  begriffen  werden.  Wie  sich  der 
Einzelne  in  seiner  Umwelt  verhält,  ist  aus  dem  immanenten  Gesetz 
seines  psychischen  Typs  verständlich,  aber  dem  sozialen  Wert  nach 
individuell  zufällig,  da  die  in  seiner  Umwelt  liegenden  Bedingungen 
seines  Tuns  nicht  von  ihm  abhängig  sind.  Typische  Weisen  sozialen 
Verhaltens  sind  also  nicht  notwendig  psychischen  Strukturtypen 
eindeutig  zugeordnet.  Die  Kriminalsoziologie  hingegen  stellt  Typen 
sozialen  —  oder  vielmehr  antisozialen  —  Verhaltens  auf.  Die  Norm 
dieses  Verhaltens  hat  im  wesentlichen  die  negativen  Merkmale  der 
strafgesetzlichen  Bestimmungen;  die  Qualitäten  der  Abweichungs- 
arten von  dieser  sozialen  Norm  entsprechen  —  natürlich  nur  ungefähr 


Das   soziale  Moniont  als  Kritoriam  psychischer  Typik.  457 

und  mit  den  oben  gemachten  Einschränkungen  —  den  im  Strafgesetz 
bestimmten  einzelnen  Delikttypen  oder  Gruppen  derselben.  Diese 
Delikttypen  sind  psychologisch  zufällig;  sie  erwachsen  durchaus  auf 
der  dogmatischen  Hinnahme  der  Einteilung  des  geltenden  Straf- 
rechts, welches  man  seinerseits  aus  den  politischen  und  ökonomischen 
Zuständen  der  Gesellschaftsordnung  herleiten,  aber  doch  wahrhaftig 
nicht  psychopathoiogisch  fundieren  kann.  Nun  kommt  die  Kriminal- 
psychologie, welche  sich  aufs  innigste  mit  der  Psychopathologie  ver- 
quickt, und  will  für  ein  bestimmtes  Menschenmaterial,  das  den  beiden 
genannten  Betrachtungsweisen  unterliegen  kann.  Einheiten  schaffen, 
deren  Merkmale  aus  beiden  Gesichtspunkten  in  gleicher  Weise  ge- 
wonnen werden.  Ein  solches  Verfahren,  welches  doch,  wie  es  schon 
in  seinem  Namen  liegt,  einer  wissenschaftlich-psychologischen  Auf- 
gabe angemchsen  sein  will,  läuft  Gefahr,  daß  über  den  kriminologisch - 
sozialen  Wertmerkmalen  die  deskriptiv- psychologischen  Einheiten 
verloren  gehen  können.  Es  wäre  doch  bloßer  Zufall,  wenn  sich  bei 
den  kriminalpsychologischen  Kategorien  die  sozialen  Werteinheiten 
mit.  den  deskriptiven  decken  würden. 

Um  es  generell  auf  eine  —  nicht  ganz  exakte,  aber  zum  Verständ- 
nis genügende  —  Formel  zu  bringen :  die  kriminologischen  Typen  ver- 
halten sich  zu  den  psychologischen  wie  Norm  zu  Naturgesetz.  Die 
kriminologischen  Typen  messen  soziale  Verhaltungsweisen  an  einer  — 
nur  negativ  bestimmten  und  weder  psychologisch  noch  sozial  ein- 
lieitlichen  —  Norm.  Die  psychologische  Typik  ordnet  auf  Grund 
beschreibender  Beobachtung  die  seelischen  Strukturen  nach  —  nui- 
unvollständig  induktiv  bestimmten  —  Einheiten,  in  denen  sie 
nicht  weiter  zurückführbare  Gesetze  seelischen  Zusammenhanges 
sieht.  Die  Frage  ist  nun  die:  Können,  unter  kriminalpsychologischem 
Gesichtspunkt,  unsere  psychopathologischen  Typenbegrenzungen 
ausschließlich  auf  solcher  beschreibenden  Beobachtung  aufgebaut 
werden,  oder  gehen  normativ-soziale  Bestimmungsstücke  notwendig 
mit  in  sie  ein;  und  welches  ist  die  Sphäre  der  Mittelbegriffe,  durch 
deren  Bildung  jene  normativ- soziologischen  Einheiten  sich  den 
deskriptiv- psychologischen  Einheiten  zuordnen  lassen^)? 

Man  muß  sich  nur  die  Tragweite  dieser  Frage  für  die  ganze  ein- 

*)  Es  ist  einigermaßen  erstaunlich,  wie  die  Kriminalp-sycholopie  an  diesem 
Problem,  von  dessen  Beantwortung  doch  ihre  wissenschaftliche  Möglichkeit  in 
ziemlichem  Grade  abhängt,  bisher  vorbeigegangen  ist.  Man  findet  bei  Ho  m burger 
(s.  u.)  und  einmal  bei  Aschaffenburg  (S.  8)  eine  klare  Andeutung  davon,  daß 
diese  Forscher  es  überhaupt  sehen;  sonst  aber  hat  es  in  der  doch  nicht  kleinen 
Literatur  überhaupt  keine  Stelle  !  Und  auch  Aschaffenburg  spricht  späterhin 
immer  wieder  von  den  »kriminellen  Neigungen  <■  seiner  Fälle,  als  ob  diese  Neigungen 
etwas  psychologisch  Einheitliches  wären.  Das  Problem  wäre  aber  gerade,  diese 
Neigungen  psychologisch  so  aufzuspalten,  wie  wir  es  mit  den  »antimoralischen« 
Tendenzen  oben  versucht  haben.  Um  gnmdsätzlichen  Erörterungen  aus  dem 
Wege  zu  gehen,  beruft  man  sich  gerne  auf  einen  in  jeder  Weise  unzulänglichen 
Aufsatz  Windelbands,  der  aber  gerade  die  hier  in  Frage  stehenden  Dinge  nur 
an  der  äußersten  Oberfläche  streift.  (Über  Norm  und  Normalitäten.  Asohaffen- 
burgs  Monatsschr.     Bd.  TU,  1.) 


458        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

teilende  Praxis  der  Kriminalpsychologie  klar  machen.  Es  könnte  ja 
der  Begriff  des  geborenen  Verbrechers,  des  unverbesserlichen  Rück- 
fallkriminellen sich  halten  lassen,  nicht  als  psychologisch  gewonnene 
Deskription,  sondern  als  Ausdruck  sozialer  Bewertung;  nicht  als 
Gesetz  für  Psychisches,  sondern  als  Norm,  gemäß  der  soziales  Ver- 
halten beurteilt  wird.  Freilich  schwankt  sein  Wertungssubstrat  von 
Milieu  zu  Milieu,  und  seine  Anwendung  auf  die  seelischen  Eigen- 
schaften des  Einzelnen  täte  diesem,  in  dem  Augenblick,  wo  uns  sein 
Lebenszusammenhang,  seine  Umwelt  und  seine  Motive  genügend 
deutlich  werden,  wohl  immer  irgendwie  uni'echt  —  in  demselben 
Sinne  unrecht,  in  welchem  von  der  Subsumtion  eines  jeden  Einzel- 
falles etwa  unter  eine  strafrechtliche  Tatnorm  das  tiefe  Wort  gilt : 
summum  jus  summa  injuria.  Jedoch  trotzdem  angenommen,  ein 
solcher  kriminologischer  Begriff  ließe  sich  halten:  so  tritt  seine  Un- 
vereinbarkeit mit  psychologischen  Strukturbegriffen  klar  zutage,  so- 
bald ein  Mensch,  dessen  Verhalten  den  Kriterien  dieser  Bewertung 
in  stärkstem  Maße  entsprach,  in  einem  anderen  Milieu,  ohne  sich 
psychologisch  in  seinem  Wesen  oder  in  seinen  Motiven 
im  geringsten  zu  ändern,  dieser  Bewertung  in  keiner 
Weise  mehr  unterliegt. 

Ergibt  sich  aber  erst  einmal  die  Unmöglichkeit  der  empirischen 
Anwendung  einer  derartigen  Bewertung,  so  entfällt  damit  auch  der 
Wertbegriff:  da  er  zu  praktischen  Zwecken  geschaffen  ist,  genügt  die 
praktische  Unbrauchbarkeit,  um  ihn  zu  zerstören. 

Es  klafft  hier  also  zwischen  der  Betrachtungsweise,  deren  sich 
die  Kriminologie  bedienen  muß,  und  derjenigen,  welche  der  Psycho- 
pathologie eigentümlich  ist,  eine  tiefe  Kluft.  Und  vergeblich  muß 
scheinbar  der  Versuch  der  Kriminalpsychologie  bleiben,  beide  Be- 
trachtungsweisen zu  einer  Einheit  zu  verbinden. 

Und  doch  gibt  es  hier  einen  methodischen  Ausweg.  Freilich  muß 
man  sich  sehr  klar  über  ihn  sein  und  die  Tragweite  der  durch  ihn  er- 
möglichten kriminalpsychologischen  Arbeit  sehr  genau  übersehen: 
sonst  gerät  man  in  jenes  uferlose  anekdotische  Gerede,  welches  heute 
einen  Teil  auch  der  guten  >> kriminalpsychologischen«  Literatur  aus- 
macht und  das  sich  neben  der  exakten  Kriminalstatistik  eben  so 
wertlos  ausnimmt  wie  die  alten  anthropologischen  Konstruktionen, 
die  auch  immer  noch  umherspuken. 

Dieser  Ausweg  liegt  in  einer  doppelten  Erwägung.  Einmal  näm- 
lich geht  die  Kriminalpsychologie  zwar  von  empirischen  und  zufällig 
abgegrenzten  Tattypen  aus;  allein  diese  sind  doch  nicht  weniger 
menschliche  Handlungen  und  als  solche  Vorwürfe  für  eine  moti- 
vierende Psychologie,  als  beliebige  andere  Handlungen  oder  Reiz- 
reaktionen.  Es  ist  a  priori  nicht  abzuweisen,  daß  man  die  verschie- 
denen seelischen  Verursachungen  und  Motivationen  für  diese  Tat- 
typen sammeln  und  vergleichen  kann.  Und  es  ist  zum  mindesten 
eine  mögliche  Fragestellung,  zu  untersuchen,  wieweit  die  Psycho- 
logie der  Tat  zugleich  eine  Psychologie  des  Täters  ist.   Da  die  Anzahl 


Das  soziale  Afornent  als  Krittrium  psychischer  Typik.  459 

der  deskriptiv-psychologischen  Typen  —  bei  aller  individuellen  Man- 
nigfaltigkeit der  Menschen  —  doch  immer  eine  begrenzte  ist,  so  wäre 
es  zum  mindesten  ein  wertvoller  heuristischer  Gesichtspunkt,  Par- 
allelen und  Zuordnungen  wenigstens  zu  versuchen,  die  einerseits 
zwischen  diesen  psychologisch-typischen  Einheiten,  andererseits  den 
ihrem  Vollzuge  nach  gleichartigen  Delikten,  oder  den  gleichartigen 
Motivationen  kriminellen  Handelns,  oder  den  zu  Delikten  führenden 
objektiven  Situationen  bestehen.  In  diese  Linie  zielen  auch  die  Ein- 
teilungen der  Kriminellen,  welche  Aschaffenburg ^)  und  die  Inter- 
nationale Kriminalistische  Vereinigung ^)  geben ;  letztere  erf ülkn 
freilich  insofern  nicht  gerade  eine  kriminalpsychologische  Auf- 
gabe, als  sie  zur  Feststellung  der  Gefährdung  der  Rechtssicherheit 
seitens  ihrer  einzelnen  kriminellen  Typen  nicht  beschreibende,  sondern 
normative  Kriterien  benutzen:  nämlich  die  Bewertung  der  Fähigkeit, 
sich  einzuordnen,  sich  Gesetzen  zu  unterwerfen,  sich  auf  Strafen  hin 
zu  bessern  —  als  ob  diese  »Fähigkeit«  etwas  psychologisch  Einheit- 
liches wäre. 

Ein  zweiter  Weg  könnte  von  der  beschreibenden  psychopatho- 
logischen  Typik  ausgehen,  indem  er  deren  Besonderheiten  am  Ein- 
fluß der  sozialen  Umwelt  prüft;  indem  er  also  quasi  das  Milieu  als 
ein  kompliziertes  Reagens  benützt,  an  welchem  jeder  psychopatho- 
logische  Typ  einmal  das  Zusammenwirken  seiner  Sonderzüge  beim 
sozialen  Verhalten  demonstriert  und  zweitens  zugleich  seinen  sozialen 
Wert  bemessen  läßt. 

Es  ist  aber  nicht  verbürgt,  daß  die  Befolgung  dieser  beiden  heu- 
ristischen Leitlinien  zu  irgendwelchen  generellen  Feststellungen  führt; 
wenigstens  nicht  zu  solchen,  die  von  anderer  Struktur  und  minder 
zufälliger  Geltung  wären  als  die  kriminalstatistischen,  die  dabei  den 
Vorzug  größerer  Exaktheit  haben.  Denn  das  Milieu,  das  wir  als 
Reagens  für  die  Persönlichkeitsartung  benützen,  ist  nichts  Konstantes 
und  Homogenes,  und  um  die  Varianten  des  Einzelfalles  und  seine 
Fehlerquellen  auszugleichen,  sind  ja  die  statistischen  Methoden  er- 
funden worden. 

Ebenso  auf  der  anderen  Seite:  die  Verschiebungen  von  den  Tat- 
einheiten zu  den  Motiveinheiten,  von  diesen  zu  den  Einheiten  des 
sozialen  Verhaltens  überhaupt  und  von  diesen  zu  den  Tätertypen 
gehorchen  keiner  Regel.  Es  spricht  also  nichts  dagegen,  wenn  die 
Kriminalpsychologie  versucht,  diese  beiden  Wege  zu  gehen;  aber  es 
ist  höchst  fragwürdig,  ob  sie  dabei  zu  irgendeinem  Ziele  zu  kommen 
vermag. 

Und  wenn  man  sich  gerade  in  die  besten  der  hierher  gehörigen 
Werke  der  kriminalpsychologischen  Literatur  der  letzten  Jahre  ver- 
tieft, so  wird  einem  diese  Aussichtslosigkeit  erschreckend  deutlich. 

Welch  eine  Fülle   sorgsam  zusammengetragenen  Einzelmaterials 


»)  a.  a.  O.     S.  167. 

2)  MitteihinKcn  derselben.     Bd.  VI.     S.  582. 


460        Zur  Theorie  und  Logik  psyohopathologischer  Typenbildung  usw. 

ist  etwa  in  den  Arbeiten  Moelis^),  Baers^),  von  Grabes^),  Grujli- 
les*),  Homburgers^),  und  vieler  anderer  Forscher  angehäuft!  Und 
■wie  wenig  ist  davon  im  eigentlichen  Sinne  kriminalpsychologisch 
verwertbar!  Entweder  es  handelt  sich  vorwiegend  um  die  psychia- 
trische Diagnostik  oder  forensische  Begutachtung  der  einzelnen 
Fälle  und  ihre  äußerliche  Zusammenordnung  nach  klinischen  Gruppen, 
wobei  alle  tieferen  Zusammenhänge  zwischen  psychischer  Artung  und 
sozialer  Haltung  nicht  herausgearbeitet,  sondern  schon  vorausgesetzt 
werden  oder  an  sich  evident  sind,  je  nach  dem  einzelnen  Falle  (Sie- 
fert^),  Wilmanns'^),  Rüdin^)  usw.).  Oder  es  werden  direkte 
kriminalsoziale  Gesetzbildungen  auf  psychologischer  Basis  intendiert . 
Hierbei  aber  kommt  es  nur  zu  zahlenmäßigen  Zusammenfassungen, 
die  bisweilen  einen  gekünstelten  Charakter  tragen,  von  Begriffen, 
die  gar  keinen  theoretischen  oder  gar  psychologischen  Unterbau 
haben,  hinter  denen  oftmals  ein  Prinzip  wissenschaftlicher  Induktion 
vermißt  wird,  die  vielmehr  alles  Problematische  als  gelöst  vorweg- 
nehmen. In  allen  diesen  gewiß  wertvollen  großen  Arbeiten  ist  das 
Bleibende  statistisch  errechnet  und  macht  etwas  über  Spielarten  der 
Milieuwirkung  aus.  Die  psychologische  Verknüpf theit  der  Persön- 
lichkeitstypen mit  ihrem  Milieu  wird  in  keine  Regel  gebracht,  höch- 
stens einmal  an  Einzelfällen,  die  in  der  Luft  hängen,  illustriert.  Es 
geht  dann  gern  die  Rede,  man  arbeite  für  die  Praxis;  und  das  trifft 
auch  z.  B.  auf  Moelis  oder  Sander-Richters  Werke  voll  zu;  — ■ 
oder  man  wolle  ja  auch  nur  Material  für  eine  künftige  Forschung 
sammeln.  Aber  eine  wesentliche  Anbahnung  und  Fundierung  dieser 
Forschung  wird  gar  nicht  erst  versucht.  Oder  man  behauptet,  wie 
Longard,  daß  eine  Gruppe  besonders  gefährlicher  Verbrecher  aus 
Anlage  auch  kriminalpsychologisch  eine  Einlieit  bilde;  und  muß  sich 
gefallen  lassen,  daß  Baer  auf  Grund  einer  ganz  ebenso  trefflicli  beob- 
achteten gleichartigen  Gruppe  jugendlicher  Mörder  diese  ki-iminal- 
psychologische  Einheit  leugnet.  Oder  man  publiziert,  wie  von  Grab e . 
sein  schönes  Material,  um  dann  die  Frage,  ob  es  eine  deskriptive 
kriminalpsychologische  Einlieit  der  geborenen  Puellennatur  gäbe, 
unentschieden  zu  lassen  und  nur  vor  dem  nichtssagenden  Degent- 
rationsbegriff  9)   der  Psychopathologie  eine  Verbeugung  zu  machen. 


^)  Moeli,  Üer  irre  Verbrecher.     Berlin  1888. 

2)  Baer,  Über  jugendl.  Mörder  u.  Totschläger.    Groß'  Archiv.    11.    S.  lOSff. 

3)  V.  Grabe,  Prostit.,  Kjiminal.,  Psychopath.  Groß'  Archiv.  48.  S.  135 ff. 
*)  Grüble,  Die  Urs.  der  jugendl.  Verwahrlosung  und  Kriminal.  Bei'lin  1912. 
5)  Homburger,  Lebensschicksale  geisteskr.  Strafgefangener.  Berlin  1912. 
«)  Siefert,  Über  die  Geistesstörungen  der  Strafhaft.     Halle  1907. 

')  Wilmanns,  Zur  Psychopathol.  des  Landstreichers.     Leipzig  1906. 

*)  Rüdin,  Über  d.  klin.  Formen  d.  Gefängnispsychose.  Allgem.  Zeitschr.  f. 
I^syoh.     18.     S.  447  ff. 

ä)  Wir  haben  die  Verwertung  des  Entartungs-  und  Degenerationsbegriffes 
für  die  Kriminalpsychologie  bisher  mit  guten  Gründen  vermieden.  Ohne  restlos 
den  ablehnenden  Standpunkt  Kauff  manns  (a.  a.  O.  S.  23ff.)  zu  teilen,  meinen 
wir  doch,  daß  es  für  psychologische  Zwecke,  wie  schon  Angiolclla  (Aschaffenburgs 


Das  soziale  Moment  als  Kritrcrium  psychiacher  TypiL.  461 

Doch  besteht  die  Möglichkeit,  durch  Einschiebung  einea  prinzi- 
piellen psychologisclien  Gesichtspunktes  den  beiden  gekennzeichneten 
Forschungsrichtungen  einer  möglichen  Kriminalps\'cliologie  wirk- 
lichen Rückhalt  zu  geben.  Dieser  Gesichtspunkt  läßt  sich  um- 
schreiben als  das  Problem  der  Reaktivität. 

Man  kann  sich  nämlich  fragen,  wieweit  denn  überhaupt,  nicht 
bloß  unter  kriminalpsychologischem  Gesichtspunkt,  die  deskriptiven 
psychopathologischen  Charaktere  durch  direkte  psj'chische  Merk- 
male abgegrenzt  sind;  wieweit  nicht  soziale  Kriterien  zu  ihrer  Ab- 
grenzung mitbenutzt  werden.  Bei  der  Stellung  dieser  Frage  handelt 
es  sich  um  den  Begriff  der  sozialen  Kriterien  nicht  im  Sinne  einer 
Normation,  sondern  in  deskriptivem  Sinne,  als  Merkmale  sozialen 
Verhaltens,  deren  Oberbegriff  die  Reaktion  auf  Reize  über- 
haupt ist.  Die  Voraussetzung  psychopathologischer  Forschung 
bleibt  bei  dieser  Fragestellung  bestehen:  daß  jeder  Typus  eine  de- 
skriptive Einheit  sein  muß;  die  Frage  aber  ist.  ob  diese  Einheit  der 
Beschreibung  zugänglich  ist,  ohne  daß  man  auf  die  soziale  Verhaltens- 
weise als  Index  der  Reaktivität  zurückzugreifen  braucht. 

Denkt  man  beispielhalber  an  den  Typus  des  Rentenkampfhyste- 
rikers,  so  ist  klar,  daß  seine  soziale  Rolle  und  Einordnungsart,  als 
wesentlicher  Ausdruck  seiner  Reaktivität,  das  direkt  beherrschende 
Kriterium  seiner  psychologischen  Einheitlichkeit  ist.  Neben  diesem 
kommt  das  psychologisch  unmittelbar  erhältliche  Material  kaum  in 
Frage.  So  wie  er  abgegrenzt  ist,  müßten  es  nun  auch  die  kriminal- 
psychologischcn  Typen  im  engeren  Sinne  sein! 

In  die  organischen  Psychosen,  in  die  Dementia  praecox  und  m 
manche  psychopathologischen  Typen  (z.  B.  die  Zyklothj'men)  geht 
sicher  kein  soziales  Merkmal  mit  ein.    Ist  das  aber  bei  allen  Typen  so  ? 

Wie  kann  z.  B.  ein  erethisch  Imbeziller  überhaupt  einheitlich 
beschrieben  werden,  ohne  daß  man  den  sozialen  Maßstab  seiner  be- 
sonderen Art  von  Außerdurchschnittlichkeit  heranzieht  ?  Daß  da- 
hinter eine  auch  direkt  greifliche  psychologische  Einlieit  steht,  das 
>>fühlt<i  man  zwar,  aber  objektiv  darstellen  kann  man  sie  nicht.  Die 
deskriptive  Charakteristik  auf  Grund  direkter  psychologischer  Kri- 
terien mag  eine  Forderung  der  Psychopathologie  bleiben.  Ob  sie 
in  jedem  Falle  erfüllbar  ist.  ist  zweifelhaft.  Aber  für  die  Kriminal- 
psychologie besteht  sie  nicht.  Erl>lickt  man  im  sozialen  Verhalten 
unter  den  einzelnen  sozialen  Handlungen  auf  Grund  sorgsamer  In- 
tlividualpsychologie  den  Ausdruck  der  besonderen  Reaktivität  eines 
psychischen  Typus,  so  ist  ein  bestimmter  psychologischer  Gesichts- 
punkt für  die  Krimi nalp.sychologic  gewonnen. 

Das  soziale  Verhalten  fungiert  dann  nämlich  in  doppelter  Be- 
Monatsschrift. I.  S.  207)  ausgeführt  hat,  ledighch  darauf  ankommen  dürft*",  ob 
er  mit  einem  bestimmten  psychologischen  Sinn  erfüllt  ist  oder  nicht.  Er 
dient  nun  aber,  wcnig.<'tens  zurzeit,  nicht  als  Erkenntnismittel,  sondern  als  Ver- 
sohleieningsmittel  psychologischer  Tatbestände,  das  immer  da  angezogen  wird, 
wo  die  psychologische  Bearbeitung  derselben  versagt  oder  unzulänglich  wird. 


462        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  TypenbUdung  usw. 

deutung.  Erstens  ist  es  das  normative  Substrat  der  wertenden  Kri- 
minologie, deren  Normgründe  —  wie  oben  ausgeführt  —  im  gelten- 
den Straf  recht  und  im  sozialen  Ganzen  liegen.  Zweitens  ist  es  der 
deskriptiv  zugängliche  Ausdruck  einer  psychologischen  Einheit,  der 
Reaktivität,  die  wir  im  Wege  psychologischer  Untersuchung  auf 
Wesens-  und  Artungsgrundlagen  psychischer  Typen,  die  ihrerseits 
deskriptiv  unterscheidbar  sind,  gesetzmäßig  zurückbeziehen  können. 
Damit,  und  damit  allein,  ist  die  Brücke  geschlagen  zwischen  den 
soziologischen  und  den  psychologischen  Arbeitsweisen  der  Krimi- 
nologie; damit  erhält  die  Kriminalpsychologie  ihr  eigentliches  Arbeits- 
feld: die  verschiedenen  Weisen  sozialen  Verhaltens,  soweit  sie  der 
adäquate  Ausdruck  der  Reaktivität  psychologischer  Einheiten  sind. 
Damit,  daß  wir  den  Reaktivitätsbegriff  hier  besonders  herausheben, 
vollziehen  wir  gewiß  nichts  Neues.  Aber  das  ist  auch  nicht  unsere 
Absicht.  Nicht  um  neue  Fakten  handelt  es  sich  ja  in  diesen  Me- 
thodenfragen, sondern  um  wissenschaftliche  Sicherung  und  Fun- 
dierung der  alten. 

Und  so  vielfach  über  den  Begriff  der  psychopathischen  Reak- 
tivität geschrieben  worden  ist,  so  ist  doch  für  die  Kriminalpsychologie 
bisher  fast  nichts  herausgekommen,  wenn  man  von  der  Psychologie 
der  Haftpsychosen  und  einigen  anderen  mehr  psychopathologischen 
Einzelfragen  absieht,  die  nur  zufällig  auch  von  kriminalpsycho- 
logischem Belang  sind.  Unabhängig  von  solchen  Spezialproblemen 
hat  Birnbaum^)  ihn  jüngst  in  eine  logisch  eindeutige  Beziehung 
zu  den  Begriffen  der  Konstitution  und  der  seelischen  Eigenart  ge- 
stellt; und  Homburger^)  hat  ihn  zuerst  in  klarer  und  einwandfreier 
Weise  für  kriminalpsychologische  Fragestellungen  schlechthin  auf- 
genommen, allerdings  nur  in  einem  kleinen  Teilgebiete  seiner  Arbeit. 

Homburger  definiert  Reaktivität  als  Aktivität  im  Verhältnis 
zu  psychisch  wirksamen  Geschehnissen;  er  unterscheidet  an  ihr  eine 
qualitative  Richtungskomponente  und  eine  quantitative  Stärke- 
komponente; beide  wirken  in  der  Reaktion,  der  jeweiligen  Einzel- 
handlung, zusammen.  Homburger  erkennt  klar,  »daß  die  Re- 
aktivität eines  Individuums  ein  Ganzes  ist,  ein  relativ 
Abgeschlossenes,  Einheitliches,  somit  auch  ein  relativ 
Konstantes  und  Berechenbares«^).  Sie  erwächst  aus  dem 
Verhältnis  der  im  Entschluß  jeweils  zusammenwirkenden  verstandes- 
mäßigen und  affektiven  Faktoren.  Entsprechend  der  Art,  wie  dieses 
Verhältnis  konstitutionell  präformiert  ist,  hält  die  Richtung  der 
Reaktivität  gewöhnlich  eine  »Hauptorientierungslinie«  inne.  Jedoch 
kann  jenes  Verhältnis  ein  labiles  sein  —  wobei  wieder  die  Art  der 
Labilität  auf  psychologische  Einheiten  zurückführbar  ist:  —  dann 
ergibt  sich  eine  bestimmte  Abwegigkeitsbreite  in  der  Richtung  der 

1)  Birnbaum,  Der  Konstitutionsbegriff  in  der  Psychiatrie.  Zeitschr.  f.  d. 
ges.  Neur.  u.  Psych.    2.    S.  520  ff. 

2)  a.  a.  O.     S.  148ff. 

3)  a.  a.  0.     S.  149. 


Das  soziale  Moment  als  Kriterium  psychischer  Typik.  463 

Reaktivität.  Die  Stärke  der  Reaktivität  ist  ebenfalls  das  Ergebnis 
mehrerer  Umstände,  deren  einer  in  der  auslösenden  äußeren  Ursache 
des  Reagierens  liegt.  Die  anderen  sind  rein  psychischer  Art.  Auch 
der  erstere  ist  natürlich  bis  zu  einem  hohen  Grade  von  der  seelischen 
Artung  des  Menschen  abhängig,  auf  den  er  trifft. 

»Alle  diese  Faktoren  sind  quantitativ  variabel  und  umschließen 
in  ihren  graduellen  Abstufungen  eine  unendliche  Reihe  (?)  mannig- 
faltiger Zusammenordnungen  .  .  .  Innerhalb  einer  weiten  Exkursions- 
breite stellen  sie  die  Fähigkeiten  und  Möglichkeiten  dar  für  eine  ge- 
ordnete und  stetige  Existenz  ohne  Kollision  mit  den  bestehenden 
Rechtsnormen.  In  ihren  Auswirkungen  treten  sie,  in  beweglicher 
Distanzierung  (?)  zu  einem  idealen  Durchschnittstypus,  zu  mehr 
oder  weniger  umschlossenen,  mehr  minder  festgefügten  Verbänden 
zusammen,  den  Individualitäten  und  Cliarakteren.  Ihr  Verhalten 
nennen  wir  .dann  normwidrig,  wenn  sie  den  Anforderungen  der  Ein- 
fügung in  den  sozialen  Zusammenschluß  und  der  Betätigung  inner- 
halb desselben  widerstreben,  sie  verneinen,  bzw.  ihnen  vorübergehend 
oder  dauernd  nicht  zu  genügen  vermögen^).« 

Am  letzten  Satze  ist  interessant  und  bedeutsam,  mit  welcher 
intuitiven  Sicherheit  der  Autor  das  Wesentliche  der  kriminalpsycho- 
logischen Typenbildung  erfaßt  hat:  ihren  Wert  Charakter.  Die  Ver- 
bände von  »Individualitäten«  und  »Charakteren«,  also  die  Typen- 
bildungen, sind  noch  rein  deskriptiv  gewonnene  psychologische  Form- 
gruppen der  Reaktivität. 

Unter  dem  Gesichtswinkel  ihrer  »Einfügung  in  den  sozialen  Zu- 
sammenschluß« tritt  sogleich  der  Normbegriff  auf.  Die  deskriptiv 
gewonnenen  Reaktivitätstypen  brauchen  keine  weitere  Umformung 
zu  erfahren;  sie  bilden  unmittelbar  die  Einheiten  des  Subsumtions- 
materials  unter  diesem  Normbegriff.  Sie  gehen  direkt  als  Elemente 
in  die  normative  Bearbeitung  der  Kriminalpsychologie  über.  Hom- 
burger vermeint  zwar  mit  der  Bewertung  als  normwidrig  nichts 
gerade  Kriminalpsychologisches  zu  sagen;  er  denkt  allgemeiner  an 
den  Begriff  des  Pathologischen.  Diese  Behauptung  ist  irrig  und 
dürfte  aus  dem  schon  als  fehlerhaft  bezeichneten  Aufsatz  Winde  1 - 
bands  hergeleitet  sein.  Der  Begriff  des  Pathologischen  ist  ein  Norm- 
begriff  nur  im  Sinne  einer  immanenten  Teleologie  des  psychischen 
Geschehens.  Der  teleologische  Gesichtspunkt  aber  kann  und  muß 
sogar  für  jede  vortheoretische  Deskription  ausgeschaltet  werden. 
Auch  bei  solch  einer  rein  deski-iptiven  Bearbeitung  müssen  die  Kri- 
terien des  Pathologischen  schon  implizite  vorhanden  sein.  Ihre 
Unterstellung  unter  einen  normativen  Krankheitsbegriff  entspringt 
aus  einer  irrigen  Ansicht  über  das  Wesen  der  Wissenschaft  von  indi- 
viduellem psychischen  Geschehen.  Das  zeigt  sich  auch  an  Hom- 
burgers Behauptung  über  den  normalen  Durchschnittstyp.  Aber, 
was  hier  allein  wichtig  ist:  für  die  kriminalpsychologische  Betrach- 


1)  Homburger,  a.  a.  O.     S.  154. 


464        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

tungsweise  gilt  durchaus,  was  Homburger  für  die  psychopatho- 
logische  schlechthin  aufgestellt  hat.  In  seinen  zitierten  Ausführungen 
liegt  der  wahre  Grund  der  Möglichkeit  von  Kriminalpsychologie; 
hier  liegen  die  Sicherheiten  wie  die  Grenzen  ihres  wissenschaftlichen 
Anspruchs. 

Es  ändert  an  dieser  Sachlage  nichts,  wenn  für  eine  große  Reihe 
von  Typen  das  direkt  deskriptive  Fundament  heute  noch  keineswegs 
zureicht,  sondern  stets  aus  dem  sozialen  Verhalten  ergänzt  werden 
muß;  ja  daß  die  Bildung  einiger  Typen  —  wie  z.  B.  des  moralischen 
Schwachsinns  und  anderer  —  einzig  und  ausschließlich  auf  das  letztere 
basiert  werden  kann,  weil  direkte  psychologische  Kriterien  für  diese 
Typen  fehlen.  Denn  diese  Frage  der  Erkennbarkeit  ist  keine  prin- 
zipielle Frage  des  Sachverhalts.  In  solchem  Falle  wird  man  das 
Tatsachenfundament,  wie  wir  es  getan  haben,  aus  dem  beobachteten 
sozialen  Verhalten  rückschließend  konstruieren  müssen.  •  Jedenfalls 
bleibt  es  heuristisches  Prinzip  dieser  Forschung,  daß  eine  reale  psycho- 
logische Einheit  da  sein  muß,  wenn  man  die  Berechtigung  haben 
soll,  Typen  zu  bilden.  Das  Zusammenordnen  nach  dem  zufälligen 
äußeren  Schicksal  ist  unpsychologisch,  und  nur  wo  die  äußere  Lebens- 
führung der  Ausdruck  einer  einheitlichen  Reaktivität  ist  —  mag  diese 
auch  nicht  direkt  faßbar  sein,  z.  B.  beim  moralischen  Schwachsinn  — 
ist  sie  gestattet. 

Wir  wollen  ferner  an  dieser  Stelle  nicht  in  eine  Detailuntersuchung 
darüber  eintreten,  ob  Homburgers  zwei  Bestimmungsstücke  der 
Reaktivität  psychologisch  erschöpfend  sind:  die  verstandesmäßigen 
lind  die  affektiven  Abläufe.  Wir  wollen  nur  generell  sagen:  Reak 
tivität  ist  der  Inbegriff  der  psychologischen  Bedingungen 
des  Handelns,  des  Sich  Verhaltens.  Dies  ist,  wie  wir  schon  an  dem 
besonderen  Beispiel  des  moralischen  Verhaltens  erörtert  haben,  ab- 
hängig von  der  Art,  wie  reflexionelles  Zweckbewußtsein,  reaktive 
Affekte,  Interessen,  Triebe,  gefühlsmäßige  Reminiszenzen  usw.  den 
Willen  beeinflussen. 

Neben  den  beiden  Komponenten  Homburgers  muß  also  zum 
mindesten  noch  der  Wille  in  seiner  besonderen  Eigenart  in  Rechnung 
gestellt  werden  (Beeinflußbarkeit,  Willensschwäche  usw.).  Aber  auf 
die  absoluten  Verhältnisse  der  einzelnen  Funktionen  kommt  es  hier 
nicht  so  sehr  an:  da  auch  Homburger  betont,  daß  die  Reaktivität 
einen  einheitlichen  und  abgeschlossenen  Charakter  habe,  so  handelt 
es  sich  dabei  um  das  Ergebnis  der  präformierten  Beziehung  zwischen 
den  Funktionen.  Reaktivität  ist  die  Resultante  des  Funk- 
tionszusammenhanges, im  Hinblick  auf  die  Handlung  als 
psychischen  Effekt. 

Eine  Reihe  von  Formen  der  Reaktivität  hat  man  deskriptiv  zu- 
sammengestellt, und  zwar  nach  ihrer  Hauptrichtung  oder  »Haupt- 
orientierungslinie« im  Sinne  von  Homburger.  »Man  spricht  in 
diesem  Sinne  von  konstitutioneller  Verstimmung,  von  sanguinischer 
und    phantastischer    Minderwertigkeit,    pathologischen    Schwindlern, 


Das  soziale  Moment  aJs  Kriterium  psychischer  Typik.  465 

Haltlosen,  von  hysterisch-exzentrischen,  paranoiden  und  epilep- 
toiden  Typen. 

Die  Gruppencharakteristika  besagen,  daß  solche  Individuen  vor- 
wiegend in  dieser  Richtung  eingestellt  sind,  ohne  daß  Ausschläge  in 
anderem  Sinne  ausgeschlossen  wären.  Wie  es  Psychopathen  gibt, 
welche  affektbetonte  Ereignisse  nahezu  stets  und  von  Anfang  an  mit 
depressiver  Verstimmung  beantworten,  verfallen  andere  in  unmutige, 
zornige,  selbst  gewalttätige  Erregung  und  schlagen  dann  vielleicht 
später  in  depressivem  Sinne  um.  Nun  ist  die  -Lage  aber  gewöhnlich 
derart,  daß  der  affektive  Charakter  eines  Ereignisses  eine  in  gleicher 
Richtung  orientierte  Persönlichkeit  besonders  affiziert,  so  daß  zwischen 
Ursache  und  Wirkung  eine  innere  Übereinstimmung  besteht,  welche 
nicht  erst  in  komplizierten  psychologischen  Zwischenvorgängen  zu 
suchen  ist,  sondern  ganz  unmittelbar  zutage  tritt  ^).<< 

Die  angegebenen  Einteilungen  sind  zunächst  solche  von  deskriptiv 
unterscheidbaren  Charakteren,  wenn  man  will,  von  psychopathi- 
schen Typen.  Ein  wesentliches  Merkmal  dieser  Unterscheidung  aber, 
bei  einigen  das  allein  entscheidende  Merkmal,  bildet  ihre  verschiedene 
Reaktivität.  Diese  ist  das  Ergebnis  des  jeweils  verschiedenen  In- 
einandergreifens  der  psychischen  Grundfunktionen.  Letztere  sind 
an  sich  nicht  überall  direkt  beobachtbar,  sondern  müssen  zum  Teil 
rekonstruiert  werden.  Dies  ist  eine  Aufgabe  der  Psychopathologie, 
deren  Lösung  zum  Teil  noch  in  weiter  Ferne  steht.  Aber  das  geht 
uns  an  dieser  Stelle  nichts  an.  Direkt  beobachtbar  ist  jedenfalls  die 
Reaktivität,  spezifisch  wie  sie  jeweils  ist;  und  diese  direkt  beobacht- 
bare spezifische  Konstante  liefert  uns  den  oftmals  entscheidenden 
Anlialtpunkt  für  die  Trennung  psychopathologischcr  Tjrpen  von- 
einander, auch  da,  wo  wir  die  Möglichkeit  exakter  begriff- 
licher Determinierung  des  Charakters  aus  seinen  funk- 
tionalen Grundlagen  noch  nicht  besitzen.  Das  soziale  Ver- 
halten endlich  ist  ein  Index  für  die  Reaktivität,  an  dem  sie  auch 
dann  noch  beobachtbar  ist,  wenn  andere  unmittelbarere,  etwa  ex- 
perimentelle Reize  versagen,  weil  sie  qualitativ  nicht  speziell  genug 
abstufbar  sind.  Es  ließe  sich  zwar  die  Möglichkeit  denken, 
daß  es  einer  differcntiellen  Psychologie  gelänge,  experimentelle 
Reizvarianten  von  solcher  Feinheit  auszuarbeiten,  daß  durch  sie 
die  einzelnen  typischen  Reaktionsformen  ebenfalls  nach  allen 
Richtungen  hin  unterschieden  werden  können.  Aber  tatsächlich 
ist  das  noch  nicht  der  Fall;  und  da  steht  uns  das  soziale  Verhalten 
als  vielseitigste  und  komplexeste  Ausdrucksart  typischen  mensch- 
lichen Reagierens  auch  für  unsere  deskriptiven  Zwecke  allein  zu 
Gebote. 

Dies  soziale  Verhalten  nun  läßt  sich  nach  seinen  verschiedenen 
Weisen  noch  unter  einen  anderen  Gesichtspunkt  bringen:  den  der 
kriminologisch-sozialen  Norm.     Und  damit  ist  die  Grundfrage,  die 


1)  Homburger,  a.  a.  O.     S.  150. 
Eronfeld,  Psychiatrische  Erkenntnis.  30 


466        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

am  Eingang  dieses  Kapitels  gestellt  wurde,  hinreichend  beantwortet: 
inwiefern  das  soziale  Moment  zum  Kriterium  psychologischer  Typik 
zu  werden  vermag.  Diese  Frage  war  uns  identisch  mit  der  nach  der 
wissenschaftlichen  Möglichkeit  von  Kriminalpsychologie.  Was  den 
rein  methodischen  Gesichtspunkt  anlangt,  so  liegen  für  den  psycho- 
logischen Teil  dieser  Frage  nunmehr  keine  Schwierigkeiten  mehr  vor. 
Es  besteht  eine  Kontinuität  von  den  kriminologisch  abgeteilten 
Formen  sozialen  Verhaltens  bis  zu  ihrer  Fundierung  durch  den  zu- 
gehörigen deskriptiven  psychologischen  Typus.  Ob  aber  eine  krimi- 
nologisch-normativ ausgebildete  Einheit  sozialen  Verhaltens  auch 
eine  deskriptiv  einheitliche  Basis  hat,  das  entscheidet  sich  danach, 
wie  weit  sie  der  Index  einer  psychologisch  typischen  Reaktivitäts- 
einheit ist.  Und  das  ist  direkt  beobachtbar.  Ist  das  soziale 
Verhalten  der  Ausdruck  einer  solchen  psychologisch  ein- 
heitlichen Reaktivität,  so  muß  es  als  kriminalpsycholo- 
gisches Ausgangsmaterial  angesetzt  werden,  ohne  einer 
weiteren  Zurückführung  zu  bedürfen.  Ist  es  das  nicht,  so 
muß  es  auf  die  verschiedenartigen  Reaktivitätsgrundlagen  zurück- 
bezogen werden,  denen  es  in  gleicher  Weise  entsprechen  könnte. 
Das  geschieht  einmal  durch  die  Analyse  der  jeweiligen  Reaktions- 
bedingungen,  d.  h.  des  Milieus,  zweitens  von  der  Seite  der  Indivi- 
dualpsychologie  her. 

Daraus  folgt  z.  B.,  daß  der  Begriff  der  kriminellen  Neigung  kri- 
minalpsychologisch keine  Stelle  hat.  Es  folgt  ferner  z.  B.,  daß 
der  Begriff  des  phantastischen  Schwindlers  eine  kriminalpsycho- 
logische Einheit  bildet.  Es  folgt  endlich,  daß  der  Begriff  des  Affekt- 
verbrechens, wenn  er  auch  noch  keine  endgültig  formulierte  kriminal- 
psychologische  Einlieit  ist,  doch  sicherlich  in  solche  Einheiten  auf- 
spaltbar ist,  je  nach  den  Reaktivitätstypen,  denen  die  kriminologischen 
Arten  des  Affektdelikts  adäquat  sind.  Möglicherweise  bleibt  hier  ein 
psychologisch  nicht  glatt  subsumierbarer  Rest.  Und  endlich,  um  auf 
den  Begriff  des  geborenen  Verbrechers  zurückzukommen,  von 
dem  wir  ja  ausgegangen  waren,  so  liegen  die  Verhältnisse  hier  so:  er 
ist  ganz  zweifellos  keine  kriminalpsychologische  Einlieit,  insofern  wir 
bei  der  oben  durchgeführten  psychologischen  Analyse  verschiedene 
und  verschiedenartige  psychische  Typen  fanden,  die  zu  dem  gleichen 
sozialen  Verhalten  führen  konnten,  aber  nicht  zu  führen  brauchten; 
dennoch  ist  er  als  eine  solche  kriminalpsychologische  Einheit  brauch- 
bar, wenn  man  ihn  auf  zwei  dieser  Gruppen  zurückführt :  den  mora- 
lischen Schwachsinn  (ohne  Gefühlsgrundlagen)  und  den  erethisch 
Imbezillen  (ohne  Hemmungsgrundlagen  der  Verbindlichkeit  von 
Zeitmoral). 

Beide  Typen  sind  zwar  charakterologisch  verschieden  strukturiert; 
aber  der  Effekt  der  verschiedenartigen  Strukturen,  soweit  er  sich  in 
der  Reaktivität  äußert,  ist  der  gleiche. 


Das  soziale  Moment  als  Kritoriura  psychischer  Typik.  467 

Über  den  Begriff  der  Milieuabhängigkeit. 

Nicht  ganz  so  klar,   wie  der  methodische  Weg  jetzt  sein  dürfte, 
welcher  vom  sozialen  Verhalten  zum  menschlichen  Typus  führt,   ist 
der  andere,   welcher  vom  sozialen  Verhalten  zu  den  Tattypen  geht. 
In  den  Tattypen  steckt  noch  ungegliedert  und  unberücksiclitigt  das 
persönliche  Moment    von  Täter  und   Motiv  und  das   Milieumoment 
von   Situation   und   objektiver   Bedingung.      Im   sozialen   Verhalten 
hingegen,  wofern  es  auf  die  Einheiten  gebracht  ist,  von  denen  bisher 
die  Rede  war,  und  die  für  die  Kriminalpsychologie  erforderlich  sind, 
spielt   das   Milieu   die   Rolle   einer   praktisch   zu   vernachlässigenden 
Konstanten.     Und  um  die  Einseitigkeit  dieses  Gesichtspunktes  aus- 
zuschalten und  das  Milieu  in  die  ihm  zukommende  ätiologische  Rolle 
einzusetzen,  ohne  doch  kriminalpsychologische  Errungenschaften  auf- 
zugeben,  ist   es   notwendig,    die   kriminalpsychologischen   Einheiten 
des  Verhaltens  in  ihrer  Beziehung  zum  Milieu  schlechthin  zu  unter- 
suchen.    Wir  führen  sie  unter  dem  vergleichenden  und  einheitlichen 
Gesichtspunkt  ihrer  Milieuabhängigkeit  zusammen.     Es  sei  von 
vornherein   bemerkt,    daß    der    Begriff   der   kriminalpsychologischen 
Reaktivität  und  der  Begriff  der  Milieuabhängigkeit  einander  nicht 
entsprechen.     Aber  freilich  steht  die  Art  der  Milieuabhängigkeit  in 
psychologischer   Verknüpfung    mit    der    Reaktivität.      Mehrere    ver- 
schiedenartige Reaktionsformen  können  sich  in  bezug  auf  Art  und 
Grad  der  Milieuabhängigkeit   gleich   verhalten.     In  den   Arten   der 
Milieuabhängigkeit    haben    wir    den    direkten    kriminalätiolo- 
gischen Faktor  rein  herausgearbeitet.     Seine  psychologischen  wie 
seine  kriminalsozialen  Anteile  sind  beide  mittelbarer  Art  und  in  dem 
Medium  einer  dritten,   direkt   ätiologischen   Betrachtungsweise  auf- 
gegangen,   die    ihrerseits    dabei  aus  rein    deskriptivem  Material    ge- 
wonnen ist.     Von  dieser  Begriffsbildung,  die  in  der  gegenwärtigen 
Kriminalistik    noch    nicht    die   ihr    gebührende    methodische    Rolle 
spielt,   sondern    meist    als  unwesentlicher  Teil  der  Kriminalpsycho- 
logie   abgehandelt  wird,    soll   im  folgenden  einiges   Wenige    gesagt 
werden. 

Der  Vorteil,  der  durch  die  Anwendung  des  Begriffs  der  Milieu- 
abhängigkeit in  dem  von  uns  gemeinten  Sinne  erzielt  würde,  bestünde 
unseres  Erachtens  besonders  darin,  daß  der  Unklarheit  ein  Ende  ge- 
macht würde,  die  in  dem  bisherigen  Begriffe  der  exogenen  Ursache 
liegt.  Der  Unterschied  der  exogenen  von  den  endogenen  ^lomenten 
ist  zwar  theoretisch  klar,  bereitet  aber  in  seiner  Anwendung  große 
Schwierigkeiten.  Die  Tatsache,  daß  jemand  in  erhöhtem  Maße  durch 
exogene  Reize  bestimmbar  und  beeinflußbar  ist,  ist  ihrerseits  doch 
nicht  exogen,  sondern  endogen  präformiert.  Hier  liegt  ätiologisch 
eine  kaum  behebbare  Bedenklichkeit  für  die  sogenannten  reaktiven 
Psychosen  und  pathologischen  Reaktionen.  Denn  auch  wenn  man 
diese  gemäß  obiger  Erwägung  nunmehr  durch  vorwiegend  endogene 
Faktoren  bedingt  betrachten  würde,  so  wäre  wiederum  der  zeitlich 

30» 


468        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

bestimmte  Ausbruch  der  Psychose  (in  der  Haft,  nach  einem  Unfall), 
ihr  besonderer  inhaltlicher  Typus  und  ihr  Verlauf  jeweils  ganz  un- 
erklärt. Man  kann  ja  natürlich  von  Fall  zu  Fall  abzuschätzen  ver- 
suchen, mit  welchen  Stärkegraden  exogene  und  endogene  Faktoren 
miteinander  oder  besser  ineinander  wirken;  und  so  geht  man  ja  auch 
meist  vor.  Aber  hierbei  kommt  die  gesetzmäßigeNotwendigkeit 
und  Einheit  dieses  Ineinanderwirkens  nicht  zum  Ausdruck.  Und 
daher  lassen  sich  auch  keinerlei  Gesetze  über  diese  Wechselwirkung 
aufstellen,  v/as  doch  erstes  Erfordernis  einer  Kriminologie  wäre.  Daß 
ein  reizbarer  Mensch  tatsächlich  nur  gereizt  ist,  wenn  das  Milieu  ihn 
reizt,  und  daß  theoretisch  ein  Milieu  denkbar  wäre,  in  dem  der  reiz- 
barste Mensch  niemals  gereizt  wäre,  dies  ist  trivial.  Was  aber  folgt 
daraus  an  gesetzmäßiger  Beziehung  zwischen  exogenem  und  endo- 
genem Faktor?  Doch  nur  die  trivialen  und  dabei  nicht  einmal  ohne 
weiteres  vereinbaren  Sätze  ,daß  das  Milieu  immer  »schädlich«  ist, 
und  daß  jemand,  der  gereizt  ist,  wenn  es  ein  anderer  noch  nicht  wäre, 
wohl  besonders  reizbar  sein  muß.  So  naiv  dieses  Beispiel  eines  Schluß- 
verfahrens klingt,  so  muß  man  doch  sagen:  viel  mehr  hat  man  in 
diesem  Gebiet  bisher  nicht  ausgerichtet.  Und  doch  besteht  eine 
gewisse  Möglichkeit  hierzu.  Einmal  darin,  daß,  wie  wir  schon  aus- 
führlich dargestellt  haben,  die  Reizbarkeit  in  diesem  Beispiel  ohne 
alle  Rücksicht  auf  die  äußeren  Anlässe,  unter  denen  sie  sich  äußerte, 
aus  der  Reaktivität  in  dem  von  uns  definierten  Sinn  als  aus  ihrem 
psychologischen  Gesetz  begriffen  wird.  Auf  diese  Weise  würde  er- 
klärt, warum  ein  bestimmter  psychischer  Typus  gerade  gereizt 
reagiert,  nicht  etwa  traurig  oder  lachend  oder  phantastisch.  Zweitens 
aber  muß  ebenso  gesetzlich  begriffen  werden,  was  für  Faktoren  nach 
Qualität  und  Art  eine  Reaktion  erzwingen.  Und  zwar  nicht  absolut : 
denn  da  dürfte  es  überhaupt  keinen  einzigen  Reiz  geben,  der  nicht 
psychisch  irgendwie  wirkte;  und  bei  der  Mannigfaltigkeit  äußerer 
Reize  und  psychischer  Strukturen  käme  da  überhaupt  nichts  Über- 
sehbares oder  gar  Gesetzmäßiges  heraus.  Vielmehr  gilt  diese  Frage 
in  einer  mehrfach  eingeengten  Bedeutung :  von  den  Reizen  kommt 
nur  derjenige  Komplex  in  Frage,  der  durch  das  soziale  Zusammen- 
leben in  seinen  gegenwärtigen  ökonomischen,  rechtlichen  und  gesell- 
schaftlichen Formen  umrissen  wird;  dieser  allerdings  vor  jeder  be- 
stimmten Gliederung,  welche  dieKriminalstatistik  an  ihm  vornehmen 
muß.  Hinzu  kommt  aber  noch  die  besondere  jeweilige  Reaktivität 
selber  in  ihrer  psychologischen  Bestimmtheit.  Nur  dann  ist  Aus- 
sicht auf  Gliederung  und  damit  auf  Gesetzmäßigkeit  gegeben.  Das 
Problem  der  Milieuabhängigkeit  kommt  also  auf  die  Frage  hinaus, 
wie  die  Reaktivitätsformen  in  einem  als  ungefähr  gleichartig  voraus- 
gesetzten Milieu  sich  qualitativ  und  quantitativ  aktualisieren;  es 
ist  identisch  mit  der  Frage  der  exogenen  Bestimmbarkeit  für  die  vor- 
ausgesetzten Reaktivitätstypen,  aber  nicht  der  Bestimmbarkeit 
schlechthin,  sondern  nur  so  weit  sie  das  soziale  Verhalten  anlangt. 
Diese  Bestimmbarkeit  hat  nicht  nur,  wie  es  zuerst  scheinen  könnte, 


Das  soziale  Moment  als  Kritorium  psychischer  Typik.  469 

Grade  —  die  etwa  der  Leichtigkeit  entsprächen,  mit  der  die  einzelne 
Reaktivitätsart  sich  realisiert;  denn  das  würde  ja  nicht  wesentlich 
über  den  Reaktivitätsbegriff  hinausführen;  sondern  diese  Bestimm- 
barkeit hat  auch  qualitativ  verscliiedene  Arten  —  denn  einmal 
erfordert  jede  Reaktivitätsform  ilirer  eigenen  Qualität  nach  ver- 
schiedene und  andere  Milieubedingungen,  um  wirksam  zu  werden. 
Zweitens  aber  darf  man  nicht  vergessen,  daß  der  Zweck  dieser  ganzen 
Erwägungen  ein  kriminologischer  ist.  Hiernach  handelt  es  sich 
nicht  um  jedes  beliebige  soziale  Reagieren,  sondern  um  ein  solches, 
das  Verstöße  gegen  —  freilich  apsychologisch  fundierte  —  Normen 
enthält  oder  mittelbar  nach  sich  zieht.  Solche  Verstöße  sind  nur 
möglich,  wenn  vom  Gesichtspunkte  des  Milieus  aus  ihr  Gegenteil 
ebenso  möglich  wäre,  aber  im  realen  Falle  nicht  eingetreten  ist.  Diese 
erklärungsbedürftige  Tatsache  bedingt  ja  unsere  Fragestellung.  Es 
muß  dann  also  so  sein,  daß  es  im  Wesen  bestimmter  Milieu - 
Situationen  liegt,  qualitativ  eigenartige  Reaktivitäts- 
formen zu  qualitativ  divergenten  Reaktionen  zu  ver- 
anlassen, -jf 

Hieraus  folgt:  die  Arten  der  Milieuabhäugigkeit  ergeben 
sich  einmal  aus  den  Arten  der  Reaktivität,  welche  nur 
mit  bestimmten  Milieureizqualitäten  adäquat  reagieren: 
zweitens  aus  den  Arten  der  Milieureize,  die  zu  einer  anti- 
sozialen, beziehungsweise  normwidrigen  Reaktion  be- 
sonderer Reaktivitätsqualitäten  bedürfen.  Diese  beiden 
Gesichtspunkte  durchdringen  sich  in  unserem  Begriff  der  Milieu- 
abhängigkeit. Man  könnte  prinzipiell  daran  denken,  jeden  dieser 
beiden  Gesichtspunkte  rein  für  sich  herauszuarbeiten.  Aber  damit 
käme  man  zu  Grenzbegriffen,  die  ihrerseits  keine  Realität  haben : 
vom  Milieugesichtspunkte  aus,  unter  Vernachlässigung  seiner  Be- 
zogenheit  auf  Reaktivitätsformen,  käme  man  zum  Begriff  von  Milieu- 
situationen, die  unter  allen  Umständen  antisoziale  Reaktionen  er- 
zwingen, oder  solchen,  die  solche  unter  keinen  Umständen  bedingen; 
beides  sind  irreale  Konstruktionen;  und  für  das,  was  zwischen  diesen 
beiden  Extremen  liegt,  fehlte  jedes  Kriterium  der  Gliederung.  Genau 
die  gfeiclie  Konstruktion  ließe  sich  auch  vom  Gesichtspunkt  der 
Reaktivitätsform  machen,  führte  jedoch  bei  Vernachlässigung  der 
Milieusituation  ebenfalls  zu  fiktiven  Gebilden:  nämlich  einem  unter 
allen  Umständen  und  prinzipiell  immer  antisozialen  Reagieren  einer- 
seits, zu  seinem  Gegenteil  andererseits.  Für  das  Dazwischenliegende 
gibt  es  überliaupt  keine  Einteilung  außerhalb  des  Milieugesichts- 
punktes: denn  Avgnn  ein  Reaktivitätstyp  sieh  >>bald«  antisozial  ver- 
hält, >>bald<»  nicht,  so  liegt  bei  identischem  Typus  die  unterscheidende 
Bedingung  im  Milieu.  Weil  derartige  theoretische  Gebilde  fiktiv 
sind,  luid  weil  auch  tatsächlich  ihr  Bildungsgesichtspunkt  ein  un- 
natürlicher ist,  darum  gehen  wir  eben  bei  der  Bestimmung  der  Milieu- 
abhängigkeit von  dem  Gesichtspunkt  der  verschiedenen 
Beziehungsqualitäten     zwischen    Reaktivität     und    Reak- 


470        Zur  Theorie  ujid  Logik  psychopathologischer  Typenbildung  usw. 

tionsform  aus,  die  sich  durch  die  Zwischenschaltung  der  Milieu- 
bedingungen ergeben.  Wir  vermeiden  aber  hierbei  die  Schwierigkeit, 
die  exogenen  Faktoren  direkt  neben  die  endogenen  zu  stellen,  weil 
uns  durch  diese  Fragestellung  das  unlösbare  Problem,  welcher  Be- 
dingungsreihe gesetzmäßig  der  Vorrang  zukommt,  entsteht. 

Diese  logischen  Bestimmungen  ließen  sich  noch  viel  genauer  und 
in  größerer  Breite  entwickeln;  indessen  glauben  wir  an  dieser  Stelle 
darauf  verzichten  zu  sollen.  Uns  liegt  mehr  daran,  innerhalb  des  so 
gewonnenen  Begriffs  der  Milieuabhängigkeit  noch  eine  qualitative 
Unterscheidung  vorzunehmen,  die  praktisch  von  unmittelbarerer 
Wichtigkeit  ist  als  die  prinzipiellen  Entwicklungen. 

Man  wird  rein  deskriptiv  mehrere  Arten  von  Milieuabhängigkeit 
unterscheiden  können,  wenn  man  als  deren  äußeres  Kennzeichen 
vorwiegend  das  Verfallen  in  Antisozialität  benützt.  Bei  der  ersten 
Art  wird  das  Individuum  —  als  eine  passive,  sozusagen  amorphe, 
plastische  Masse  —  von  jedem  Milieu  und  Milieuzufall  ständig  und 
bis  auf  die  formalen  Fundamente  herab  um-  und  neugebildet.  Die 
zweite  Art  der  Milieuabhängigkeit  erstreckt  sich  nicht  auf  die  Gesamt- 
heit psychischer  Bildung,  sondern  nur  auf  bestimmte  und  begrenz- 
bare Weisen  seelischer  Tätigkeit  und  sozialen  Verhaltens.  Und  diese 
sind  auf  Charakteranomalien  und  -Unstimmigkeiten  zurückzuführen, 
die  zwar  präformiert  sind,  aber  latent  und  inhaltleer  verbleilien 
könnten,  wenn  nicht  das  Milieu  sie  zugleich  aktualisierte  und  mit 
jeweils  besonderen  Inlialten  und  Merkmalen  versehen  würde.  Die 
dementsprechenden  besonderen  Folgewirkungen  sind  also  zwar  reine 
Milieuwirkungen,  und  sie  sind  auch  je  nach  dem  Milieu  von  einander 
völlig  verschieden:  und  dennoch  eignet  ihnen  eine  gemeinsame  for- 
male psychische  Basis,  deren  Existenz  vom  Milieu  unabhängig  ist, 
so  fest  verankert  ihre  Funktionsmöglichkeit  an  der  Voraussetzung 
des  auslösenden  Milieus  ist.  Diese  besondere  psychische  Basis  bleibt 
auch  trotz  aller  Milieuwirkungen  unverändert  bestehen.  Bei  einer 
dritten  Art  von  Milieuabhängigkeit  ist  die  Möglichkeit  gegeben,  daß  — 
die  psychische  Basis  sei  sonst  wie  sie  wolle  —  der  Einfluß  des  Milieus 
niemals  ein  so  großer  wird,  daß  nicht  andere  den  Willen  bestimmende 
Faktoren  stärker  wären.  Hiernach  ist  eine  Konstanz  des  sozialen 
Verhaltens  gewährleistet,  welche  auch  in  einem  sozial  schädlichen 
Milieu  das  Zustandekommen  antisozialen  Verhaltens  verhindert.  Und 
diese  Konstanz  ist  nicht  ein  Effekt  äußerer  Furcht,  sondern  der  adä- 
quate Ausdruck  des  psychischen  Wesens  dieser  Menschen,  soweit 
dasselbe  innerhalb  der  Sozietät  reagiert. 

Es  gibt  natürlich  Übergänge  zwischen  diesen  droi  Gruppen.  Aber 
an  sich  sind  sie  durch  bloße  Beobachtung  unterscheidbar.  Daß  sie 
bestehen,  liegt  an  den  jeweiligen  Besonderheiten  der  ihnen  zugrunde 
liegenden  Reaktivitätsformen,  speziell  an  der  Art,  wie  sich  diese  im 
sozialen  Verhalten  aktualisieren.  Diese  Arten  der  Milieuabhängigkeit 
lassen  sich  also  zwar  nicht  auf  psychologische  Einheiten,  nämlich  auf 
solche  der  Reaktivität,  zurückbeziehen;  aber  das  Aktualitätsmoment 


Das  soziale  Moment  als  Kriterium  psychischer  Typik.  471 

der  verschiedenen  fundierenden  Reaktivitätsformen  ist  für  jede 
Grupi)e  im  Effekt  jeweils  das  gleiche. 

Für  die  dritte  Grui^pe  ist  dieser  Nachweis  am  leichtesten  zu  führen. 
Zu  ihr  gehört  die  Mehrzahl  der  sozial  lebenden  Menschen.  Wie  ver- 
scliicdeu  diese  in  ihrer  seelischen  Konstitution  auch  sein  mögen, 
immer  sind  sie  vor  einem  Hineingleiten  in  antisoziales  Verhalten  durch 
diese  ihre  Konstitution  geschützt;  wider  ihre  natürliche  Resistenz 
in  dieser  Beziehung  vermag  auch  ein  schädigendes  Milieu  nichts.  Es 
soll  dabei  gar  nicht  verkannt  werden,  daß  tatsächlich  die  Mehrzahl 
der  Menschen  nicht  nur  hierdurch,  sondern  zugleich  auch  durcli  ihre 
ökonomische  Lage  und  ihre  sonstige  äußere  Situation  vor  dem  Rechts- 
brechertum  bewahrt  bleibt;  das  hindert  nicht,  daß  diese  Resistenz  — 
auf  so  verschiedene  psychologische  Einlieiten  sie  zurückfülirbar  ist  — 
als  gemeinsamer  Reaktivitätseffekt  hinzukommt  und  ein  besonderes 
Merkmal  bildet,  während  auch  ein  günstiges  Milieu  die  Angehörigen 
der  beiden  anderen  Gruppen  nicht  vor  Rechtsbruch  zu  bewahren 
braucht.  Natürlich  gilt  all  dieses  nicht  absolut;  diese  Resistenz 
gegenüber  dem  Milieu,  soweit  es  zur  Antisozialität  führen  könnte, 
kann  verschieden  Grade  haben,  und  Gelegenheits-,  Not-  und  Affekt- 
delikte treffen  auch  bei  diesem  Typus  der  Milieuabhängigkeit  wohl 
einmal  zu.  Aber  vom  Einzelfall  aus  gesehen,  liat  die  Kriminalität 
dieser  Gruppe  nichts  mit  dem  Wesen  der  Charaktere  zu  tun,  die  ihr 
angehören. 

Ein  wenig  schwieriger  liegen  die  Verhältnisse  schon  bei  der  erst- 
genannten Gruppe  von  Milieuabhängigkeit.  Ihre  Einheit  liegt  in  der 
abnorm  großen  exogenen  Bestimmbarkeit  der  Reaktivität,  und  zwar 
in  ihrer  qualitativ  allseitigen  Bestimmbarkeit.  Es  ist  keine  ein- 
heitliche >>Hauptorientierungslinie  <<  der  Reaktivität  da,  oder  wemi 
eine  da  ist,  so  sind  doch  die  Milieumomente  von  stärkerer  richtung- 
bestimmender Kraft.  Das  kann  auf  verschiedenen  Anlageanomalien 
beruhen,  mögen  wir  diese  nun  als  Suggestibilität  oder  als  Willens- 
schwäche oder  als  gefühlmäßige  Gleichgültigkeit  und  Stumpflieit  oder 
als  torpiden  Schwachsinn  voneinander  trennen.  Die  Form  der  Milieu- 
abhängigkeit, die  als  gemeinsamer  Effekt  dieser  verschiedenartigen 
psychischen  Strukturen  und  ihrer  Verbindungen  herauskommt,  ist 
die  der  Haltlosigkeit.  Der  Begriff  des  Haltlosen  oder  Instable  ist 
also  kein  im  engeren  Sinne  psychopathologi scher,  sondern  ein  auf 
verschiedene  psychopathologische  Einlieiten  zurückgehender  Misch- 
begriff, der  erst  dann  möglich  wird,  wenn  der  Begriff  der  Milieu- 
abhängigkeit als  Einheit  vorausgesetzt  wird.  Die  Kriminalität  dieses 
Typus  hat  bei  aller  Vielseitigkeit  auch  das  eine  gemeinsame  Merkmal, 
welches  aus  der  besonderen  Ai't  der  Milieuabhängigkeit  folgt.  S'.e  ist 
reines  Milieuprodukt.  Zu  den  aktiven  energischen  Verbrechern  ge- 
hört dieser  Typus  niemals,  oder  doch  nur  innerhalb  einer  verbreche- 
rischen Gemeinschaft,  einer  Bande,  und  auch  da  nie  als  Führer. 

Am  verwickeltsten  liegen  die  Verhältnisse  bei  der  zweiten  Art  von 
Milieuabhängigkeit,  die  wir  unterschieden  haben.     Bei  ihr  liegt  eine 


472        Zur  Theorie  und  Logik  psychopathobgischer  Typenbildung  usw. 

elektive  Abgestimmtheit  von  besonderen  Milieusituatio- 
nen mit  besonderen  einzelnen  psychischen  Zügen  vor, 
gleichviel  ob  diese  für  das  Wesen  des  Typus,  dem  sie  angehören,  be- 
langvoll sind  oder  nicht.  Es  ist  klar,  daß  sich  hier  eine  große  Zahl 
von  graduellen  Unterstufen  dieser  Milieuabhängigkeitsart  ergeben 
muß,  je  nach  der  Zahl  und  dem  Charakter  der  Milieusituationen, 
denen  jene  Reaktivitätszüge  besonders  entsprechen,  und  je  nach  der 
Intensität  dieser  Züge  und  ihrem  Vorwiegen  in  der  Gresamtreaktivität. 
Wenn  man  dies  Wechselverhältnis  nach  seiner  psychologischen  Seite 
hin  verfolgt,  so  findet  man  auch  hier  keinerlei  Einheit.  Aber  man 
kann  doch  Gruppen  von  Zusammengehörigem  umschreiben,  die  den 
gleichen  Aktualitätseffekt  der  Reaktivität  herbeiführen.  So  werden 
es,  um  bei  primitiveren  Funktionen  zu  beginnen,  Triebanomalien  be- 
sonderer Art  (z.  B.  sexuelle)  sein,  deren  Wirksamkeit  durch  besondere 
Reize  der  Umwelt  geweckt  und  mit  Inhalten  versehen  wird.  Auch 
allerlei  andere  dispositionelle  Faktoren  sind  denkbar,  deren  Aktuali- 
sierung an  besondere  Milieuzustände  und  Zufälle  gebunden  ist.  Bei 
komplizierteren  psychischen  Strukturen  —  und  das  ist  das  Häufigere 
■ —  kommen  vor  allem  jene  besonderen  Anomalien  der  Funktionen 
und  Funktionszusammenhänge  in  Frage,  deren  Aufwendung  das  Ich 
in  der  Umwelt  bei  irgendeiner  besonderen  Gelegenheit  braucht,  um 
sich  —  und  sei  es  nur  vor  dem  eigenen  Selbstgefühl  —  durchzusetzen. 
Geltungsbewußtsein,  Erfolgsfreude  und  auch  ganz  elementare  Funk- 
tionslust sind  anfangs  der  Lohn,  später  das  Motiv  zur  Weiterent- 
wicklung dieser  Züge;  und  die  Umwelt  und  jene  »besondere  Gelegen- 
heit« setzt  Richtung  und  Besonderung  jener  Entwicklungen.  Unter 
sehr  vielen  anderen  Gruppen  gehören  auch  diejenigen  hierher,  deren 
Kriminalität  durch  ein  besonderes  äußeres  Erleben  provoziert  wird: 
Michael  Kohlhaas  und  Schillers  »Verbrecher  aus  verlorener  Ehre«. 
Daß  beim  realen  Einzelfall  die  geschilderte  Wechselwirkung  noch 
komplizierter  liegt,  daß  primitivere  und  verwickeitere  Strukturen 
sich  verbinden,  daß  gegen  ethische  und  andere  Gegeneinflüsse  des 
Milieus  abgewogen  wird:  dies  alles  mag  für  unsere  generelle  Um- 
schreibung außer  Anschlag  bleiben.  Der  Art  nach  bildet  jedenfalls 
das  Aktualitätsmoment  all  der  hierher  gehörigen  verschiedenartigen 
Reaktivitätstypen  eine  Einheit,  die  allerdings  graduell  abstufbar  ist. 
Hierher  gehören  die  meisten  Psychopathien  ihrer  Kriminalität  nach, 
insbesondere  ein  großer  Teil  der  hysterischen  und  pseudologischen 
Charaktere. 

Damit  wäre  das  Problem  dieser  Untersuchung,  das  Verhältnis 
der  psychopathologischen  Typenbildung  zu  soziologisch-krimino- 
logischen Gesichtspunkten,  Normen  und  Merkmalsbildungen,  soweit 
geklärt,  als  dies  eine  grundsätzliche  logische  und  theoretisch-imma- 
nente Bearbeitung  zu  erreichen  vermag.  Auch  auf  diesem  Gebiet 
der  Psychiatrie  kann  materiale  Forschung  nunmehr  als  gesichert 
und  abgegrenzt  gelten. 


Jakob  Friedrich  Fries  und  die  psychiatrische 
Forschung. 

Fries  hat  sich  über  psychiatrische  Fragen  nur  an  einer  einzigen 
Stelle  seines  vielbändigen  Lebenswerkes  geäußert,  nämlich  im  zweiten 
Bande  der  psychischen  Anthropologie^).  Hier  allerdings  drängen 
sich  wichtige  theoretische  und  ärztliche  Fragestellungen  eng  anein- 
ander. Will  man  —  ohne  sich  auf  die  prinzipielle  Bedeutung  der 
Friesschen  Untersuchungen  einzulassen  —  ein  Urteil  über  die  histo- 
rische Einordnung  seiner  psychiatrischen  Leistungen  in  die  Ge- 
schichte unserer  Wissenschaft  gewinnen,  so  ist  es  notwendig,  sich 
einige  Daten  zum  Vergleich  zu  vergegenwärtigen.  Da  ist  das  Wich- 
tigste: Esquirols  großes  Hauptwerk  erschien  erst  1838.  Lediglich 
seine  Dissertation  war  in  der  damaligen  Literatur  von  maßgebendem 
Einfluß.  In  der  deutschen  Forschung  aber  herrschten  Männer  wie 
Reil.  Hoffbauer  und  Heinroth.  Letzterer  hatte  auch  auf  viele 
Einzelurteile  von  Fries  starken  Einfluß.  Es  war  also  zu  jener  Zeit 
die.  bekannte  Kantische  Forderung  aus  seiner  Anthropologie,  die 
Psychiatrie  tunlichst  den  Philosophen  zuzuweisen,  durch  die  Stel- 
lungnahme der  Ärzte  selber  in  hohem  Grade  verwirklicht.  Die  soma- 
tologische  Opposition  war  zur  Zeit,  als  Fries  seine  psychiatrischen 
Ansichten  niederschrieb,  noch  nicht  hervorgetreten;  das  Hauptwerk 
ihres  geistigen  Führers  Jacobi  erschien  erst  1844.  Soweit  sie  sich 
in  der  damaligen  Literatur  bereits  geltend  machte,  stand  sie  auf 
denkerisch  recht  tiefer  Stufe.  Bezüghch  des  Wesens  der  Geistes- 
störung herrschte  die  »philosophische«  Erklärungstendenz:  der  Be- 
griff der  Geisteskrankheit  wurde  ethsch-religiös  bestimmt. 

In  jener  eigenartigen  und  dunklen  Zeitepoche  der  Psychiatrie 
äußerte  nun  der  Nichtpsychiater  Fries  Gedanken,  welche  denen  der 
damaligen  Fachleute  weit  vorauseilten;  Gedanken,  deren  erstes  Auf- 
tauchen in  der  psychiatrischen  Fachliteratur  wir  erst  sehr  viel  später, 
1855  bei  Spiel  mann  und  dann  bei  Grie singe r,  wiederfinden.  Füi* 
diese  Gedanken  müssen  wir  verschollene  Prioritätsansprüche  Fries' 
geltend  machen.  Wir  erfüllen  damit  eine  historische  Pflicht,  ohne 
der  gewaltigen  Lcbensleistung  insbesondere  eines  Griesiuger  damit 
den  geringsten  Abbruch  tun  zu  wollen. 

Die  psychiatrischen  Stellungnahmen  von  Fries  sind  in  mancher 
Hinsicht  fast   verblüffend.     Fries  Avidcrlegt   und  klärt   die   Lehren 


1)  Jena.    1.  Aufl.  1820.    2.    1837. 


474  Jakob  Friedrich  Fries  und  die  psychiatrische  Forschung. 

Heinrotlis,  des  psychiatrischen  Meisters  der  damaligen  Zeit.  Er 
betont  den  rein  symptomatologischen  Charakter  der  psychischen 
Krankheitsabgrenzungen.  Er  betont  weiter  die  Notwendigkeit  der 
Annahme  ihrer  somatisch-ätiologischen  Basis.  In  gewisser 
Weise  erkennt  er  bereits  die  Unterscheidung  organischer  und  funk- 
tionaler Greistesstörungen.  Er  versucht  Unterscheidungen  der  psy- 
chischen Symptome  in  ursprüngliche  und  abgeleitete,  primäre  und 
sekundäre  —  freilich  ohne  diese  Termini  zu  gebrauchen.  Klar  er- 
kennt er  die  Sonderstellung  der  Psychopathien.  Vor  allem  aber 
strebt  er  bereits  danach,  von  symptomatologischen  zu  nosologischen 
Einheiten  zu  gelangen.  Letzteres  freilich  ist  ihm  nicht  gelungen; 
überhaupt  ist  vieles  von  seinen  Ausführungen  im  einzelnen  falsch. 
Wir  wissen  nichts  darüber,  ob  Fries  über  ausreichende  klinische 
Erfahrungen  verfügte.  Sollte  dies  nicht  der  Fall  gewesen  sein,  so 
bleibt  seine  theoretische  Intuition  auf  unserem  Fachgebiet  um  so 
erstaunlicher.  Jene  Irrtümer  im  einzelnen  werden  künftige  Forscher- 
generationen  auch  der  unsrigen  mit  Leichtigkeit  nachAveisen  können. 
Nicht  auf  sie  kommt  es  an;  sondern  auf  die  prinzipielle  Seite 
des  methodischen  Eingestelltseins  der  Forschung.  Und  hier  finden 
wir  bei  Fries,  40  Jahre  vor  dem  Wirken  Griesingers,  eine  zwar 
vielfach  noch  verschleierte,  dennoch  aber  deutliche  Anbahnung  mo- 
derner Fragestellung. 

Wir  wissen  heute  viel  zu  wenig  mehr  von  der  psychologischen 
Systematik  und  sjanptomatologischen  Theoretik  jener  »philosophi- 
schen« Ära  der  Psychiatrie,  in  der  Fries  lebte.  Wir  beurteilen  einen 
Heinroth  nur  zu  leicht  ausschließlich  nach  seinen  ethisch-theo- 
logischen Grundauffassungen  der  Geisteskranklieiten,  und  nach  deren 
seltsamer  dämonologischer  Formulierung.  Wir  übersehen  leicht 
seine  außerordentlichen  Leistungen  im  einzelnen.  Wir  tun  dies, 
weil  seine  Grundauffassung  uns  Heutigen  wie  eine  unverständliche 
Abirrung  des  Geistes  vorkommt.  Daß  dies  aber  so  ist,  liegt  nicht 
nur  an  diesen  Grundauffassungen  eines  Heinroth;  es  liegt  auch 
darin,  daß  wir  kaum  mehr  fähig  sind,  uns  deren  innere  Gründe  klar 
ins  Bewußtsein  zu  heben.  Und  daß  wir  dies  nicht  mehr  können,  ist 
nur  eine  Folge  unserer  ausschließlich  klinischen  und  konventiona- 
listischen  Einstellungen.  Jene  alten  Psychiater  aber  wußten  noch, 
was  wir  kaum  mehr  fühlen:  die  ungeheure  Metapher,  welche  genau 
genommen  in  der  Übertragung  des  medizinisch  somatischen  Krank- 
heitsbegriffes auf  Psychisches  liegt.  Diese  Metapher  können  wir 
uns  aber  an  mehreren  Merkmalen  des  Krankheitsbegriffs  selber 
demonstrieren . 

Der  Krankheitsbegriff  der  somatischen  Medizin  ist  entweder  der 
pathogenetische,  oder  der  klinisch  nosologische.  Beiden 
Krankheitsbegriffen  ist  gemeinsam,  daß  das  Verhältnis  von  Sym- 
ptomen und  fundierendem  Organprozeß  ein,  wenigstens  im  Prinzip, 
theoretisch  einsichtiges  ist.  Die  ausgebildete  Theorie  dieser  Ein- 
sicht in  die  Beziehung  von  Symptom  und  Krankheitsprozeß  ist  ja 


Jakob  Friedrich  Fries  und  die  psychiatrische  Forschung.  475 

gerade  der  pathogenetische  Inbegriff,  das  >>innere  Gesetz«  der  be- 
treffenden Krankheit.  Es  kommt  oftmals  vor,  daß  dieses  Gesetz 
selber  in  seinen  einzelnen  Bestimmtheiten  noch  nicht  bekannt  ist, 
daß  wir  aber  gleichAvohl  empirisciie  Anhaltspunkte  dafür  haben,  sein 
Bestehen  anzunehmen:  dann  sind  die  Merkmale  des  nosologischen 
Krankheitsbegriffes  gegeben. 

In  der  Psychiatrie  nun  ist  das  Verhältnis  des  Symptoms  zur 
ätiologisch  somatischen  Basis  grundsätzlich  niemals  ein  einsichtiges. 
Schon  Spiel  mann  hat  diese  Wahrheit  klar  formuliert  an  die  Spitze 
seiner  Diagnostik  gestellt.  Die  Abhängigkeit  bestimmter  psychi- 
scher Veränderungen  von  bestimmten  körperlichen  Veränderungen 
ist  zwar  konstatierbar,  aber  nicht  erklärlich.  Der  Krankheits- 
begriff und  die  Krankheitseinlieit  der  Psychiatrie  im  Einzelfalle  kann 
daher  niemals  über  die  nosologisch  ätiologischen  Kriterien  hinaus- 
kommen; die  pathogenetische  Bearbeitung  derselben  ist  restlos 
nicht  möglich.  Auch  was  im  Einzelfalle  Symptom  ist,  und  warum 
ihm  der  symptomatische  Charakter  innewohnt,  ist  aus  pathogene- 
tischen Gründen  nicht  einsichtig. 

Aber  wir  müssen  noch  weiter  gehen:  Selbst  die  nosologisch- 
ätiologischen  Fragestellungen  sind  für  einen  großen  Teil  des  psj'- 
chiatrischen  Forschungsgebietes  gar  nicht  anwendbar.  Man  denke 
etwa  an  die  abnormen  Charaktere,  die  Neurosen  und  Psychopathien, 
die  Grenzzustände  und  die  theoretischen  Rätsel  des  Hysteriebegriffes. 
Es  gibt  keine  theoretische  Brücke  zwischen  zwei  Krankheitsbegriffen, 
wie  etwa  >>Gicht«  einerseits,  »pathologischer  Lügner«  andererseits. 
Der  eine,  Gicht,  ist  der  logischen  Struktur  nach  ein  echter  noso- 
logischer Kranklieitsbegriff.  Was  aber  ist  der  der  pathologischen 
Lüge  für  ein  Kranklieitsbegriff?  Und  was  von  dieser  gilt,  gilt  von 
der  Hysterie  und  den  Psychopathien  und  so  weiter.  Wenn  wir  in 
diesen  Fällen  von  »Krankheit«  reden,  müßte  uns  die  Metaphorie 
dieser  Redeweise  viel  deutlicher  sein,  als  sie  es  tatsächlich  ist. 

Diese  Psychopathien  sind  nun  zunächst  rein  deskriptive  Ord- 
nungstypen. Das  begriffliche  Problem  dessen,  was  an  ihnen  Krank- 
heit ist,  haftet  an  der  Struktur  dieser  Typenbildung  selber.  Klar 
ist,  daß  diese  Typenbildung  nicht  bloß  deskriptive  Durchschnitts- 
strukturen und  Reaktionsweisen  aufstellt;  sie  nimmt  vielmelir  für 
sich  in  jedem  Einzelfalle  den  Charakter  einer  gesetzmäßigen  Einheit 
in  Anspruch.  Nur  der  Grad  der  Ausbildung  dieser  Einheit  an  der 
lebendigen  Realität  des  Einzelfalles  kann  schwanken.  Diese  gesetz- 
mäßige Einheit  aber  ist  faktisch  bei  den  meisten  Typenbildungen 
unserer  Grenzzustände  nicht  deskriptiv  gewonnen,  nicht  nach  Er- 
klärungsgesichtspunkten theoretischer  Art  orientiert;  sondern  sie 
ist  von  Wertbestimmungen,  von  normativen  Gesichtspunkten  durch- 
setzt. Dies  ist  logisch  so,  wenn  wir  es  praktisch  auch  nicht  gern 
wahrhaben  wollen  und  die  Relativität  unserer  Wertungen  nach  allen 
möglichen  teleologischen  und  sozialen  Zufallski-iterien  voll  begreifen. 
Logisch  bleibt  darum  doch  bestehen,  daß  Begriffe  wie  Minderwertig- 


476  Jakob  Friedrich  Fries  und  die  psycliiatrische  Forschung. 

keit,  Schwachsinn,  Demenz,  Psychopathie,  ja  selbst  der  Begriff  des 
Abnormen  Ausdrucksformen  eines  Wertens  sind.  Es  ist  ein  Zukunft - 
problem  unserer  Forschung,  diese  normativen  Gesichtspunkte  durch 
theoretische  und  deskriptive  alhnählich  zu  ersetzen.  Vererst  bleiben 
die  Maßstäbe  dieser  Wertung  fundiert  in  irgendeiner  relativistischen 
sozialen  oder  kriminologischen  —  oder  auch  in  einer  ad  hoc  erfundenen 
anthropologisch -biologischen  Teleologie.  Täuschen  wir  uns  doch 
nicht  darüber,  daß  unser  Degenerationsbegriff  selber  im  Grunde  ein 
Wertbegriff  ist,  der  nur  deshalb  deskriptiv  aussieht,  weil  er  in  der 
somatischen  Medizin  eine  beobachtbare  und  objektiv  registrierbare 
pathologisch-anatomische  Analogie  besitzt.  Im  Psychischen  fehlt 
ihm  diese  Basis. 

Jene  Metaphorie  des  logisch  theoretischen  Gehaltes  der  psychia- 
trischen Krankheitskriterien  besteht  also  tatsächlich;  und  wenn  jene 
alten  psychiatrischen  Denker  den  Krankheitsbegriff  aus  dem  Körper- 
lichen heraus  an  die  frisch  eroberte  psychiatrische  Materie  heran- 
trugen, so  hatten  sie  jene  Metaphorie  klar  erfaßt.  Jene  Metaphorie 
ist  der  eigentliche  und  wahre  Grund  zu  Kants  Forderung,  den  Medi- 
zinern die  Beurteilung  psychiatrischer  Fälle  zu  entziehen  und  sie  den 
Philosophen  vorzubehalten.  Ebenso  klar  erkannten  jene  alten 
Psychiater  die  Sonderstellung  der  Psychiatrie  in  bezug  auf  die  ätio- 
logische Fragestellung  und  das  normative  Moment  psychiatrischer 
Einheitsbildungen.  Aus  dieser  Erkenntnis  aber  erwuchs  der  Zeit- 
irrtum jener  ganzen  damaligen  Forschungsrichtung:  Beide  Mo- 
mente, das  ätiologische  und  das  normative,  wurden  für  psychisches 
Geschehen  miteinander  verbunden,  dieses  wurde  durch  jenes  erklärt, 
und  zwar  ethisch.  Für  diese  Erklärung  ergab  die  theoretisch  ge- 
forderte Willensbestimmtheit  alles  psychischen  Geschehens,  wie  sie 
die  rationalisierende  Psychologie  des  klassischen  Idealismus  hyposta- 
sierte,  den  Ausschlag.  So  wurden  Sünde  und  Schuld  bei  Reil,  Laster 
und  gewucherte  Leidenschaften  in  der  Dissertation  Esquirols  und 
bei  Ideler,  Auflehnung  gegen  den  Naturzweck  bei  Hoffbauer, 
Besessenheit  vom  Bösen  bei  Heinroth  zu  den  Bestimmungsstücken 
des  Wesens  geistiger  Erkrankung.  Logisch  und  theoretisch  spielten 
jene  Bestimmungsstücke  dieselbe  Rolle,  welche  heute  der  Degene- 
rationsbegriff spielt.  Jene  moralischen  Konstruktionen  wurden 
also  gleichsam  durch  eine  biologische  ersetzt.  Nur  unter  diesem 
Gesichtspunkte  lassen  sich  die  alten  Psychiater  überhaupt  ver- 
stehen. 

Aus  dieser  Richtung  konstruktiver  Befangenheit  ragte  nun  Fries 
einsam  heraus.  Zur  Grundauffassung  eines  Heinroth  bemerkt  er: 
>>er  hat,  wie  es  leider  bei  uns  so  gewöhnlich  geworden  ist,  sich  meta- 
physisch wieder  einigen  neoplatonischen  Abstraktionen  anvertraut 
und  dadurch  die  Glaubenslehre  ...  in  die  wissenschaftlichen  Vor- 
stellungsarten eingemengt.  So  fingiert  er  sich,  daß  der  Geisteskranke 
in  die  Gewalt  eines  bösen  Geistes  gegeben  sei.  Allein  dies  alther- 
kömmliche Bild  steht  dem  Arzte  nicht  wohl  an.     Böse  Geister  sind 


Jakob  Fiiedrich  Fries  und  die  psychiatrische  Forschung.  477 

Dinger,  die  man  nicht  sehen  kann  .  .  .  und  Nicßwurz,  Brechweinstein 
und  Karlsbaderwasscr  sind  wunderliche  Waffen  gegen  Geister.« 
Trotz  dieser  kaustischen  Kritik  fährt  Fries  aber  mit  Recht  fort: 
»Doch  ist  es  fast  ungerecht,  dieses  Heinroth  gegenüber  auch  nur 
zu  erwähnen,  da  die  Ausführung  der  Lelire  bei  ihm  von  diesen  Fehlern 
ganz  frei  bleibt.« 

Aber  nicht  bloß  die  zufällige  Torheit  der  Konstruktion  böser 
Geister  —  die  ganze  »philosophische«  Behandlung  der  psychiatrischen 
Problemstellung  wird  von  Fries  verworfen.  Gegen  die  Kantische 
Forderung,  daß  die  psychologischen  Lehrer  der  philosophischen 
Fakultät  und  nicht  die  Lehrer  der  medizinischen  Fakultät  als  psy- 
chiatrisclie  Sachverständige  fungieren  sollten,  sagt  der  Kantschüler: 
»diese  Meinung  teile  ich  aber  gar  nicht  mit  ihm  .  .  .  Männer  von 
klarem  Geiste,  welche  die  Gelegenheit  haben,  vielfältig  und  ausdauernd 
die  Leiden  und  Sorgen  der  Menschen  teilnehmend  zu  beobachten  .  .  . 
teilnehmende  Ärzte,  welche  ihre  Aufmerksamkeit  vorzüglich  auf 
diese  Seite  gerichtet  haben,  werden  hier  am  richtigsten  zu  urteilen 
vermögen.«  Und  noch  bedeutsamer  sagt  er  an  anderer  Stelle:  »Die 
meisten  Beobachter  wollen  Geisteskrankheit  nur  zu  einem  psychischen 
Leiden  machen,  bei  dem  die  organischen  Fehler  erst  Folgen  der  Seelen- 
störung sein  sollen.  Dies  wird  aus  metaphysischen  Voraussetzungen 
so  bestimmt,  und  ich  fürchte,  auch  im  Leben  nach  diesen  gedeutet. 
Ich  getraue  mich  doch  noch  zu  behaupten,  daß  jede  wahre  Geistes- 
krankheit ein  Unglück  und  nicht  eine  Verschuldung  ist.« 

Die  Stellung  des  Psychologen  in  der  psychiatrischen  Forschung 
grenzt  er  grundsätzlich  folgendermaßen  ab:  »Der  Psycholog  kann 
mit  seinen  Hifsmitteln  nur  die  psychischen  Krankheitssym- 
ptome beschreiben  und  unterscheiden,  aber  das  eigentliche  Wesen, 
die  Einheit  des  ganzeh  krankhaften  Zustandes  ist  wohl 
immer  somatisch  begründet  und  nur  von  ärztlicher  Beurteilung. 
.  .  .  Die  Krankheit  selbst  besteht  im  tiefsten  Grunde  doch  in  einem 
körperlichen  Übel,  mit  dessen  Hebung  sie  allein  gründlich  geheilt 
werden  kann,  während  sie  mit  bloß  psychischen  Erleichterungsmitteln 
eigentlich  nur  verdeckt  wird,  wenn  von  wahrer  Geisteskrankheit  und 
nicht  nur  von  ethischer  Verwilderung  oder  Verkümmerung  die  Rede 
ist.«  Fries  will  mit  den  letzten  Worten  also  die  ethisch  Verwilderten 
und  Verkümmerten  von  den  wahren  Psychosen  abgrenzen;  und  zu 
diesem  Zweck  stellt  er  folgende  Alternative  auf:  Entweder  »sie 
sind  .  .  ,  nicht  geisteskrank.  Es  wäre  also  unrichtig,  darum  allein 
(weil  sie  ethisch  verwildert  sind)  ihre  Zurechnunsgfähigkeit  für  auf- 
gehoben zu  erklären«.  Oder  »für  dies  Letztere  muß  doch  noch  etwas 
Eigenes  hinzukommen  .  .  .  ein  unglückliches  psychisches  Ereignis, 
welches  organisch-körperlich  begründet  sein  möchte«.  Fries  sucht 
also  auch  bei  den  Psychopathen,  sobald  ihre  Besonderheit  wirklich 
die  Breite  der  charakterologischen  Normalität  überschreitet,  dispo- 
sitionelle, konstitutionelle  körperliehe  Faktoren. 

Immer  wieder  betont  er,    der    Philosoph,  diese  organische  Basis 


478  Jakob  Friedrich  Fries  und  die  psychiatrische  Forschung. 

des  Psychotischen,  ohne  aber  hinsichtlich  der  Artung  desselben  der 
empirischen  Forschung  konstruktiv  vorzugreifen,  wie  dies,  trotz 
seiner  Warnungen,  lange  nach  ihm  noch  Jacobi  und  Flemming 
in  oft  recht  törichter  Weise  taten.  Fries  unterscheidet  angeborene 
und  erworbene,  heilbare  und  unheilbare,  ununterbrochene 
und  periodische  Geistestörungen,  und  hält  sich  mit  dieser  Unter- 
scheidung wohl  an  Esquirol.  Überall  aber  intendiert  er  bei  seinen 
Unterscheidungs versuchen  klare  nosologische  Krankheitsformen.  So 
finden  sich  in  seiner  Darstellung  neben  vielem  Falschen  vereinzelte 
überraschende  Bemerkungen:  »Es  finden  sich  Krankheiten  geistiger 
Schwäche  und  Zerrüttung,  zu  denen  die  Anlage  offenbar  ererbt  ist, 
wiewohl  sie  nicht  von  der  Kindheit  an  bestehen,  sondern  erst  in 
einem  reiferen  Alter  ausbrechen.«  Oder  er  spricht  von  unheilbaren 
Demenzen,  und  nennt  da  als  Beispiel  »Blödsinn,  der  auf  langandau- 
ernde heftige  Krampf krankheiten  folgt«  und  »solchen,  der  die  Folge 
langanhaltender  Trunksucht  ist«.  Von  den  periodischen  Formen 
sagt  er  unter  anderem :  »Der  Arzt  muß  bei  vielen  Formen  der  Krank- 
heit, deren  Paroxismen  nach  langen  Zwischenzeiten  wiederkehren, 
darin  äußerst  vorsichtig  sein,  daß  er  den  Kranken  nicht  für  zu  früh 
genesen  halte.«  Diese  Ausführungen  werden  nicht  nur  um  ihrer 
Richtigkeit  willen,  sondern  vor  allem  als  Beweise  dafür  wieder- 
gegeben, daß  die  grundsätzliche  Fragestellung  in  all  diesen  Beispielen 
durchaus  auf  nosologisch-klinische  Einheiten  gerichtet  ist.  Dies 
ist  im  Jahre  1820  gewiß  etwas  Erstaunliches. 

Fries  läßt  sich,  dieser  grundsätzlichen  Einstellung  entsprechend, 
sogar  auch  auf  ätiologische  Gesichtspunkte  ein.  »Exaltation,  De- 
pression, Wahnsinn,  Verrücktheit,  Melancholie,  Blödsinn  .  .  .  sollten 
dies  wirklich  die  Formen  der  Krankheit  selbst  und  nicht  nur  ihrer 
psychischen  Symptome  sein?  Ich  zweifle  sehr.  Es  sind  damit  wohl 
größtenteils  nur  psychische  Symptome  unterschieden.  Eine  rein 
geistige  Erkrankung  der  Vorstellungskräfte  kann  ich  mir  nicht  denken. 
Ich  würde  nur  von  psychischen  Krankheiten  sprechen,  bei  denen 
uns  das  körperliche  Leiden  noch  unbekannt  geblieben  ist,  welches 
ihnen  zugrunde  liegt.«  Und  ferner:  »Mir  scheint  alles  darauf  an- 
zukommen, daß  das  die  Krankheit  eigentlich  konstituierende 
Übel  richtig  von  den  veranlassenden  Ursachen  unterschieden 
wird.«  Letztere  können  körperlich  oder  psychisch  sein;  ersteres 
aber,  das  konstituierende  Moment,  ist  nichts  anderes  als  jenes,  welches 
wir  heute  mit  der  Bezeichnung  des  endogenen  Faktors,  oder  der 
Disposition,  meinen.  Fries  selber  benutzt  sogar  schon  den  Ter- 
minus Disposition  in  einer  noch  heute  gültigen  Weise:  »Veranlas- 
sungen, welche  in  einem  Fall  schnelles  Eintreten  der  Geisteskrankheit 
zur  Folge  hatten,  gehen  in  anderen  Fällen  ohne  Gefahr  vorüber.  Es 
muß  also  zu  solchen  Veranlassungen  erst  noch  eine  ungünstige  Dis- 
position im  Kranken  hinzukommen,  durch  welche  die  Krankheit 
selbst  bestimmt  wird,  und  diese  wird  zuletzt  immer  eine  körperliche 
sein.     Als  solche  wird  sie  .  .  .  ihren  Sitz  im  Nervensystem  haben, 


Jakob  Friedlich  Fries  und  die  psychiatrische  Forschung.  479 

und  darum  werden  Avir  die  Krankheit  selbst  immer  als  in  einem  Haupt- 
leiden  der  Nerventätigkeit  begründet  anzusehen  haben.« 

Den  Begriff  der  Disposition  finden  wir  freilich  schon  bei  Kant 
in  der  Anthropologie.  Aber  wie  verzerrt  ist  er  dort  in  seinen  psychia- 
trischen Anwendungen  gegenüber  diesen  ganz  modern  anmutenden 
Ausführungen  von  Fries.  Jene  Ausführungen  erscheinen  uns  Heu- 
tigen zwar  als  fast  selbstverständliche  Grundwahrheiten  unserer 
Disziplin.  Man  bedenke  aber,  was  ich  schon  mehrfach  betonte,  daß 
sie  hier  im  Zeitalter  der  dämonologischen  Spekulation  über  Geistes- 
kranldieit,  40  Jahre  vor  Griesinger,  in  ihrer  noch  heute  gültigen 
Formulierung  ausgesprochen  wei-den.  und  zwar  von  einem  Philo- 
sophen! Es  scheint  mir  dies  ein  in  unserer  Literatur  ganz  einzig- 
artiges Faktum  zu  sein. 

Was  nun  die  »veranlassenden  Ursachen«,  oder  wie  wir  heute 
sagen  würden,  exogenen  Momente  anlangt,  so  nennt  Fries  hier 
neben  manchem  Falschen  »Verletzungen  des  Gehirns,  Druck  auf  das 
Gehirn,  fehlerhafte  Beschaffenheit  desselben,  Andrang  des  Blutes 
nach  dem  Gehirn,  fortdauernde  schwächende  Einwirkungen  durch 
langwierige  Fieber,  Blutungen,  Krämpfe,  Trunkenheit«.  Ferner 
findet  sich  bei  Fries  als  exogenes  Moment  besonders  genannt :  »Meta- 
stasen von  anderen  Krankheiten,  besonders  Hautkrankheiten,  auf 
das  Gehirn. «  Für  diese  merkwürdige  Behauptung,  welche  Fries  nicht 
näher  belegt,  muß  wohl  in  der  zeitgenössischen  medizinischen  Lite- 
ratur irgendeine  Quelle  bestanden  haben.  Es  ist  jedenfalls  kaum 
anzunehmen,  daß  damit  eine  Andeutung  des  Lues-Metalues-Problems 
bei  ihm  schon  vorweggenommen  sei,  welches  erst  später  zu  der  großen 
Entdeckung  von  Falret  und  Baillarger  geführt  hat. 

Der  Zweck  dieser  Darlegungen  ist  zu  zeigen,  wie  sich  überall  in 
Fries'  psychiatrischen  Darlegungen  eine  strenge  Innehaltung  des 
nosologischen  und  ätiologischen  Standpunktes  geltend  macht.  Bei 
ihr  verbleibt  Fries  auch  in  der  deskriptiven  Einzeldarstellung  der 
geistigen  Störungen.  Bei  dieser  aber  weiß  er  sehr  genau,  daß  er  be- 
stimmte nosologische  Bilder  noch  nicht  zu  geben  vermag,  sondern 
nur  Symptome  und  Symptomgruppierungen.  Auch  mit  diesem  Wissen 
ist  er  seinem  Zeitalter  um  eben  die  40  Jahre  voraus,  welche  bis  zum 
Auftreten  Griesingers  vergingen.  »Wollen  wir  nun  zur  Unter- 
scheidung bestimmter  Krankheitsformen  übergehen,  so  müssen  wir 
zuerst  auf  unsere  Behauptung  zurücksehen,  daß  jede  nur  psycho- 
logische Beschreibung  dieser  Übel  eigentlich  zur  psychischen 
Semiotik  der  Krankheitslehre  gehört,  indem  die  geistigen  Krank- 
heitserscheinungen nicht  das  Ganze,  nicht  die  Einheit  der  Krankheit 
selbst  sind,  sondern  nur  Anzeigen  des  krankhaften  Zustandes  ge- 
währen. Wir  beschreiben  zunächst  nur  psychische  Symptome  der 
Krankheit  und  haben  diese  von  dem  Ganzen  der  einzelnen  Krankheit 
wohl  zu  unterscheiden.  Es  werden  in  dem  krankiiafton  Zustand  eines 
Menschen  oft  die  verschiedenartigsten  psychischen  Symptome  .  .  . 
miteinander  wechseln,   aber  die  Krankheit  selbst  bleibt  im  letzten 


480  Jakob  Friedrich  Fries  und  die  psychiatrische  Forschung. 

Grunde  dieselbe  und  für  ihre  Einheit  werden  wir  nur  körperliche 
Bestimmungen  zu  geben  vermögen.  Im  entgegengesetzten  Fall 
werden  psychisch  fast  dieselben  Erscheinungen  der  völligen  Geist- 
losigkeit  bestehen  und  die  Krankheit  selbst  wird  doch  m  verschie- 
denen Fällen  sehr  verschieden  sein.«  ,    •  -p   • 

Die  Ausführung  dieser  psychiatrischen  Symptomatik  bei  iJiies 
bietet  nun  des  Eigenen  nicht  allzuviel.  Es  ist  für  den  Ausbildungs- 
stand  der  psychiatrischen  Symptomatik  vielleicht  bezeichnend,  daß 
damals  von  Pinel  bis  Griesinger  ein  wesentlicher  symptomato- 
logischer  Fortschritt  sich  eigentlich  nicht  anbahnte.  Nur  der  eine 
Unterschied  besteht:  daß  was  Griesinger  und  vor  ihm  Fries  und 
Spiel  mann  eben  nur  für  Symptome  hielten,  war  jenen  anderen 
Forschern  mehr  oder  weniger  unmittelbar  die  Krankheit  selber. 

Es  wird  daher  an  dieser  Stelle  auf  die  symptomatologischen  Ein- 
teilungen Fries  nicht  näher  eingegangen.    Eins  jedoch  an  ihnen  ist 
neu-  nämlich  Fries' Versuch,  die  einzelnen  Symptome  durch  psycho- 
logische Abstraktionen  auf  primäre  Wurzeln  zurückzufuhren    welche 
ihrerseits  mit  psychologischen  Mitteln  nicht  weiter  reduzibel  sind, 
sondern  als  letzter,  unmittelbarer  Ausdruck  der  Störung  selber,  als 
psychotische  Primärsymptome,  zu  gelten  haben.    Dieser  Reduktions- 
versuch  der  Symptome  bei  Fries  ist  auch  als  ein  Gesichtspunkt  für 
die   moderne   phänomenologische   und   deskriptive   Symptomzerglie- 
derung  von  hoher  Bedeutung.    Fries  trennt  drei  symptomatologisch 
verschiedene  Gruppen  von  psychischen  Veränderungen:   Störungen 
der  sinnlichen  Anregung,  Störungen  des  unteren  Gedankenlaufes  und 
Störungen  des  oberen  Gedankenlaufes  oder  der  willentlichen  Aktivität. 
Die  Störungen   der  sinnlichen  Anregung  zu  allem  psychi- 
schen Geschehen  sind  heute,  genau  so  wie  Fries  es  intendiert  hat, 
ein  Gebiet  besonderer  phänomenologischer  Forschungsemstellung :  das 
unmittelbare   Erleben   der   Außenwelt   sowie   der  inneren  eigenen 
Vorgänge,  die  Halluzinationen  und  verwandte  Gebilde  gehören  hierher. 
Die  Störungen  des  unteren  Gedankenlaufes  würden  wir  heute 
als   die    mnestisch-assoziativen   bezeichnen.      Unsere   moderne 
Psvchologie  gerade    auf  psychiatrischem   Gebiet   war  bis   vor  ganz 
kurzem    freilich  nicht  daran  gewöhnt,  die  Friessche  Trennung  m 
unteren  und  oberen  psychischen  Ablauf  mitzumachen.    Sie  fundierte 
alles  geistige  Geschehen  rein  assoziativ.     Ob  mit  Recht  oder  mcht 
das  zu  untersuchen  kann  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein.     Tatsache 
ist  jedenfalls,   daß   seit  einigen  Jahren  nicht  nur  die   Psychologen, 
sondern  auch   schon  einzelne  namhafte  psychiatrische  Forscher  m 
der  psychologischen  Symptomatik  neben  und  über  die  Assoziations- 
psvchologie    die    Psychologie    der    aktmäßigen,    intentionaien 
psychischen  Abläufe  stellen.     Und  es  ist  einem  Forscher  wie  Berze 
hoch  anzurechnen,  daß  er  als  erster  die  Priorität  von  Jakob  Fned- 
rich  Fries  in  dieser  Hinsicht  offen  anerkannt  hat.    I^i  »emem  Werk 
»Die   primäre  Insaffizienz  der  psychischen  Aktivität  (1914)«  )  sa  t 
er-  »Jakob  Friedrich  Fries  unterschied  schon  drei  Stufen  der  Aus- 


Jakob  Friedrich  Fries  und  die  psychiatrische  Forechung.  481 

bildung  des  menschlichen  Geistes:  sinnliche  Anregung,  unterer  Ge- 
dankenlauf, oberer  Gc dankenlauf.  Zum  gesunden  Geistesleben  ist 
nach  Fries  erforderlich,  daß  die  Selbstbeherrschung  den  unwillkür- 
lichen Assoziationen  (unterer  Gedankenablauf)  überlegen  bleibt,  da- 
mit nicht  Traum  das  vernünftige  Urteil  und  niedere  Begierde  die 
vernünftige  Handlung  verdränge.«  Das  Wesen  und  der  Maßstab 
der  Geistesgestörtheit  sei,  »daß  die  Kraft  des  oberen  Gedankenlaufes 
gebrochen  sei,  oder,  wie  es  bei  anderer  Gelegenheit  heißt,  daß  die 
Kraft  der  Selbstleitung  der  Gedanken  geschwächt  oder  vernichtet 
wird  und  daher  der  untere  Gedankenlauf  sich  der  Herrschaft  des 
oberen  entzieht  oder  denselben  ganz  beherrscht.  Wir  deutschen 
Psychiater  haben  es  daher,  nebenbei  bemerkt,  durchaus  nicht  nötig, 
auf  die  Unterscheidung  zwischen  einem  »psychisme  superieur«  und 
einem  »automatisme  mental«  als  eine  Entdeckung  der  »französischen 
Autoren«  hinzuweisen,  wie  dies  seitens  einzelner  Psychiater  in  der 
letzten  Zeit  geschehen  ist.  Was  Fries  als  die  »Kraft  der  Selbst- 
leitung« bezeichnet,  ist  die  psychische  Aktivität;  der  »obere  Gedan- 
kenlauf« nach  Fries  ist  unser  »Gedankenablauf«;  der  »untere  Ge- 
dankenablauf«, die  »unwillkürlichen  Assoziationen«  nach  Fries  sind 
unsere   »Assoziationsabläufe,« 

So  greift  auch  die  moderne  Forschung  bereits  wieder  vereinzelt 
auf  Fries'  psychiatrische  Leistung  zurück,  und  ist  sich  dabei  teil- 
weise auch  schon  seiner  Priorität  bewußt. 

Nicht  nur  Berze,  auch  Meyerhof  hat 2)  diesen  Schritt  auf 
Fries  zurück  in  mannigfacher  Hinsicht  bereits  getan.  So  einmal 
in  seiner  Ausbildung  der  psychologischen  Theorie  psychotischer 
Symptome,  sodann  aber  auch  in  seiner  generellen  Enwicklung  eines 
psychologischen  Kriteriums  der  Zurechnungsfähigkeit.  Diese  hat 
Fries  ebenfalls  aus  seiner  Lehre  vom  oberen  Gedankenlauf  abge- 
leitet, ähnlich  wie  Berze  es  schon  dargestellt  hat.  Das  Kiiterum 
der  Zurechnungsfähigkeit  liegt  in  der  Unterdrückung  der  Herrschaft 
des  oberen  Gedankenlaufes. 

An  einzelnen  Stellen  der  Friesschen  Darstellung  erscheint  es 
sogar  zeitweise  so,  als  habe  Fries  den  Unterschied  der  organischen 
und  der  funktionellen  Psychosen  bereits  zum  Ausdruck  bringen 
wollen.  Fries  trennt  nämlich  »körperliche  Geisteskranklieiten,  bei 
denen  die  Veranlassung  des  geistigen  Leidens  im  Körper  sehr  be- 
stimmt erkannt  wird«,  und  »wahre  Geisteskranklieiten,  in  denen 
nicht  zu  bestimmt  eine  körperliche  Kranklieit  als  Ursache  des  geisti- 
gen Leidens  erkannt  wird«,  —  obwohl  sie,  wie  wir  sahen,  grundsätz- 
lich von  Fries  vorausgesetzt  wird.  Indes  ist  diese  Stelle  etwas 
vieldeutig,  und  wir  wollen  daher  nicht  mit  Sicherheit  behaupten, 
daß  Fries  diesen  Unterschied  wirklich  schon  formuliert  hat  lehren 
wollen. 


1)  S.  217  ff. 

2)  Beiträge  zur  psychologischen  Theorie  der  Geistesstörungen.  Göttingeu  1910. 
Kronfeld,  FBychiatriscbe  Erkenntnis.  31 


482  Jakob  Friedrich  Fries  und  die  psychiatrische  Forschung. 

Aus  dem  Vorgetragenen  geht  wohl  hervor,  daß  die  Grundlagen 
psychiatrischen  Denkens,  welche  auch  heute  noch  in  unserem  For- 
schungsgebiet grundsätzlich  nicht  überholt  sind,  sich  bei  Jakob 
Friedrich  Fries  als  erstem  Denker  mit  einer  Deutlichkeit  und  Klar- 
heit ausgesprochen  finden,  welche  alle  seine  psychiatrischen  Zeit- 
genossen in  keiner  Weise  besitzen.  Und  es  erscheint  als  eine  Pflicht 
historischer  Gerechtigkeit,  diese  bisher  fast  völlig  unbekannte  Tat- 
sache der  Vergessenheit  zu  entreißen  und  diesem  großen  deutschen 
Denker  auch  in  der  Geschichte  unserer  Fachwissenschaft  zu  der  ihm 
gebührenden  Stellung  zu  verhelfen. 

Aber  nicht  nur  diese  historische  Aufgabe  stellt  uns  das  psycho- 
logisch-psychiatrische Werk  von  Fries.  Darüber  hinausgehend 
haben  alle  Abschnitte  des  vorliegenden  Buches,  welches  von  den 
Grundlagen  der  Psychiatrie  als  Wissenschaft  handelt,  an  das  denke- 
rische Gesamtwerk  Fries'  als  unseres  philosophischen  Führers  an- 
knüpfen müssen.  Logik,  Wissenschaftslehre,  deskriptive  und  dyna- 
mische Theorie  des  Psychotischen  und  die  Methodologie  der  psycho- 
logischen Induktionen,  so  wie  sie  im  voranstehenden  entwickelt 
worden  sind,  fanden  in  dem  philosophischen,  erkenntniskritischen 
und  psychologischen  Lehrgebäude  von  Jakob  Friedrich  Fries 
ihr  Fundament,  ihre  Ausgangspunkte,  ihre  Maßstäbe  und  ihre  Be- 
gründungen. Neben  der  historischen  Rolle,  welche  Fries  in  der 
Psychiatrie  spielt,  wird  also  die  prinzipielle  und  systematische  Be- 
deutung seines  Gedankenwerkes  für  den  Fortschritt  der  Psychiatrie 
zu  wahrer  Wissenschaft  von  unvergänglicher  Bedeutung  sein.  Dafür 
sollen  die  Blätter  dieses  Buches  zeugen. 


Namenregister. 


Aall  163. 

Abderhalden  95,  417. 
Ach  1U5,  349,  350,  374. 
Adler  lül,  111.  188,  287. 
Albrecht  141. 
Allen  15. 
Allers  94. 
Alzheimer  92.  93. 
Arigioleila  4H0. 
Auton  433.  4.52. 
Apeit  4H,  272,  388,  391. 
Aristoteles  34,4/,  107,142, 

167,  193,  227,  321,  339. 
Arndt  98,  18 J. 
Aschaö'enbure:    240,    253, 

422,  433,  435,  436,  452, 

457,  459. 
Avenarius  25,  204. 

Bach  94. 

Bacon  258,  272,  388. 

Baer  437,  4fiO. 

Baillarger  398,  479. 

Bain  149. 

Baldwin  18. 

Beattie  43. 

Beneke  14,  37,  39,  41,  67, 
103,  381.  385. 

Bentham  441. 

Bergmann  128.  142.  161, 
226,  227,  375. 

Bergson  111.  1.35,  154, 
193,  203,  260,  261,  283, 
336,  351.  360.  36t5. 

Berkeley  204,  365. 

Bernays  130. 

Berze  139,  170.  171,  174. 
249,  433,  443,  446.  447, 
453.  454,  480,  481. 

Bielschowsky  93. 

Binswanger  408,  436. 

Birnbaum  96,  97,  399, 462. 

Biunde  352. 

Bleuler  98,  99,  145,  161, 
182,  1H8,  257,  2S9,  293, 
294,  295.  298,  299.  300 
301,  302,  401,  405,407, 
415,  417,  438,  439,  440, 
442,  446,  452. 


Boltzmann  272. 

Bonhöffer  96.  97. 

Brentano  107,  108,  119, 
128,  131,  132,  133,  13S, 
146,  148,  150,  157,  158, 
172,  174,  189,  205.  206, 
208,  209,  270,  277,  319, 
321,  339,  340,  341.  342, 
344,  347,  367,  369.  370, 
371.  372,  373,  377,  378, 
379,  390.  395,  416. 

Brodraann  93. 

Bühler  104. 

Burake  94. 

Burke  448. 

Claßen  141. 

Clifford  352. 

Cohen  19.  28. 

Cohn,  J.  111. 

Comte  105.  326.  371. 

Cornelius  109,  155,  331. 

Crusius  a3. 

Darwin  352. 
Delbrück  452,  453. 
Demokrit  73. 
Descartes  73. 
Di!theyl04.  211,283.315, 

316,  317,  318,  319,  329, 

359. 
Dittmar  238. 
Dodire  104. 
Driesch  140,  227,  228. 
Drobisch  103. 

Ebbinghaus  104. 
V.  Economo  93. 
Einstein  129,  130,  131. 
Emanuel  95. 
Erdmann  104.  .352. 
E^qnirol  89.  396,  473,  476, 

478. 
Exner  90. 

Falret  398,  479. 
Fankhaus^-r  142. 
Fechrier  171.  276,333,365. 
Feuerbach  59. 


Fichte  37,  39,  40,  41 
12ü,  139. 

Fischer,  K.  28,  32. 

Flechsig  93. 
!  Fleraming  116,  478. 
I  Forel  292. 
I   Förster  95. 

Fortlagft  103. 

Frege  29. 

Freud  10^,  in,  172, 
188,  287,  289,  290. 
293.  294.  295,  297, 
299,  300,  383.  392, 
416,  417. 

Freundlich  129. 

Fries  2.  1.3,  21,  28, 
39,  42,  43,  44,  45, 
47,  53,  54,  55,  61, 
64,  65,  74.  77,  78, 
86,  120,  123,  127, 
131,  139,  158,  159, 
266.  267,  329,  341, 
389,  391,  473,  474, 
476,  477,  478,  479, 
481,  482. 

Furtmüller  445. 


.  81, 


177. 
291. 
298. 
414. 


37. 
46. 

80. 
128, 
240, 
387, 
475. 
480. 


(iaupp  407. 

Geiger  1 10,  283,  350,  353. 

George  48. 

Goethe  1,  72.  79. 

Goliistein  419. 

V.  Grabe  460. 

Gräfe  94. 

(iregor  96. 

Griesinger  89.  90.  99,  113, 

IIH,  238,  239,  240,243. 

264,  398.  405.  473.  474. 

479,  480. 
Groos  353. 
Gruhle  401,  460. 
Gudden  93. 
Guyau  441. 

Hamilton  77,  78.  148. 
V.  Hartmann  167. 171.178. 

179,  180. 
Hauptmann  93. 
Hecker  90. 

31* 


484 


Namenregister. 


He^el  37,  41,  69,  64,  67, 
72,  79,  86,  122,  311. 

Heinroth  89, 154,  239, 258, 
396,  426,  473,  474,  476, 
477. 

Held  93. 

Hellpach  149,  170,  171, 
173,  174,  175, 177,  242, 
423, 

Helmiioltz75,76,199,272. 

Henry  131. 

Herbart  70,  76,  103,  149, 
152,  153,  154,  155,  156, 
163,  333,  348,  352,  370, 
397. 

Herz,'M.  33. 

Hirt  101,  174,  410,  411. 

Hoche  401,  406. 

Hoeffding  334. 

Hoefler  341. 

Hoffbauer  89,  239,  396, 
473,  476. 

Homburger  96,  467. 

Hume  15,  44,  66,  67, 142, 
204,  272,  334. 

Husserl  29,  76,  101,  108, 
1Ü9,  110,  111,  119,  124, 
133,  138,  139,  146,  148, 
150,  158,  174,  283,  294, 
306,  311,  314,  319,  321, 
325,  338,  339,340,341, 
342,  343,  344,  346,  347, 
348,  349,  350,  351,  360, 
361,  362,  363,  369,  376, 
377. 

Jacobi  67,  78.  240,  473, 
478. 

Jahnel  93. 

James  18,  25. 

Jaspers  101, 115, 168,196, 
224,  27H,  351,  359,  860, 
381,  382,  383,  384,  394, 
401,  409,  410,  411,  412, 
416,  418,  419. 

Ideler  476. 

Joerger  96. 

Isserlin  94,  240,  253,  299. 

Jung  100,  188. 

Justschenko  247. 

Kafka  95. 

Kahlbaum  90,  400. 

Kauffmann  94,  453,    460. 

Kant  2,  13,  14,  15,  17,  19, 
20,  21,  23,  28,  30,  31, 
32,  33,  31,  35,  36,  37, 
38,  41,  42,  46,  64,  56, 
66,  67,  69,  72,  73,  74, 
76,   77,   78,   79,  80,  81, 


82,  83,  84,  85, 120, 121, 
122,  127,  128,  129,  131, 
133,  136,  137,  139,  142, 
14H,  148,  149,  159,  162, 

167,  168,  173,  192,  204, 
205.  207,  213,  221,  228, 
232,  236,  244,  254,  258, 
266,  267,  271,  272,  278, 
301,  315,  326,  348,  371, 
379,  381,  388,  476. 

Kieser  239. 

Kirchhofi'  196. 

Kleist  94,  399. 

Knauer  94. 

Kraepelin  8,  89,  90,  91, 
92,  93,  97,  98,  99,  240, 
245,  400,  404,  405,  407, 
408,  417,  418,  437. 

Kretschmer  101. 

Kroner  199,  20D. 

Klüger  110. 

Küipe  104,  105,  109,  119, 
349,  371,  4C8. 

Kurella  434,  435,  436. 

Lange  96. 

Leibniz  56,  67,   81,   171. 

Lewandowsky  289,  294, 
295. 

Liepmann  9,  94,  433,  481. 

Lindau  453. 

Linne  157,  395,  408. 

Lipps  19,  22,  26,  29,  30, 
103,  105,  110,  152,  161, 
163,  164,  165,  166,  167, 

168,  169,  176,  177,  1T8, 
2(6,  283,  306,  311,  318, 
319,  320,  321,  3i^2,  323, 
324,  326,  326,  327,  329, 
331,  332,  341,  342,  3.50, 
352,  353,  356,  367,  359, 
373   384. 

Locke  67,' 75,    139,   272, 

317,  324,  334,  370. 
Lombroso  425,   437,  438, 

439   453. 
Longärd    434,    437,    452, 

453,  454,  460. 
Lorenz  96. 
Losskij  360. 
Lotze  3.    103.    143,    148, 

149,  291,  339,  340,  353. 

Mach  13,  14,  16,  16,  17, 
18,  19,  20,  21,  22,  23, 
24,  25,  104,  119. 

Magnan  399,  426. 

Maimon  81. 

Maibe  104,  349. 

Marcus,  E.  22,  23,  24. 


Martius  96,  143. 

Marty  108,  128,  150,  259, 

279,  340,  341,  344,  345, 

395. 
Marx  47,  69,  60. 
Mauihner  18. 
Mayer  410,  437,  463,  464. 
V.  Meinong    22,    24,    86, 

108,  111,  150,  155,  168, 

283,  331,  337,  340,341, 

344,  349. 
Mendel  96. 
Messer  104,  107,  109,  160, 

339,  341,  362. 
Meyerhof  120,    123,  152, 

207,  371,  386,  403,  419, 

481. 
Meynert  90,  398. 
Mill    67,    106,    142,    148, 

272,  388,  441. 
Mirbt  46. 

Moebius  154,  156,  158. 
Moeli  96,  460. 
Monakow  182. 
Morel  399,  425. 
Munk  93. 
Mühlestein  65. 
Müller,  G.  E.  104,  107. 
Müller,  J.  76. 
Münsterberg  111, 137, 203, 

205,  283. 

Nasse  240. 

Natorp  22,  23,  29,  118, 
119,  137,  138,  145,203, 
205,  283,  342. 

Nelson  7,  9,  13,  16,  19, 
20,  21,  23,  24,  25,  27, 
29,  30,  32,  35,  36,  37, 
41,  42,  47,  49,  62,  53, 
76,  109,  131,  156,  208, 
232,  234,  235,  236,  266, 
306,  361. 

Neumann  98. 

Newton  72,  129,  144,  388. 

Nietzsche  445. 

Nissl  92,  93. 

Nonne  95. 

Österreich  101,  110 

Pasteur  119. 

Pfänder  103,  283. 

Pfahl  94 

V.  d.  Pfordten  150. 

Pilzecker  104. 

Pinel  480. 

Piaton  60,  73,  167,  363. 

Poincare  26,  272. 

Poppelreuter  381. 


Namenregister. 


485 


Prandtl    103.    352. 

3ö4,  355,  356. 
Prichard  432. 


353. 


Kanke  93. 

Ranschburg  163. 

Reicbardt  95, 

Eeid  43. 

Reil  89,  239,  473,  476. 

Reinhold  37.  38,  39,  41  42. 

fieiss  97. 

de  Rerausat  20. 

Renouvier  161. 

Richter  437.  460. 

Rickert  9.  22,  25,  26,  111, 
119,  129,  168,  194,  195, 
196,  197,  198,  199,  200, 
201,  202,  203,  204,  205, 
207,  208.  209,210,211, 
212,  213,  214,215,216, 
217,  218,  219,  220,  221, 
222,  223,  225,  226,  260, 
261,  283.  296,  303,  324, 
336,  359. 

Rieger  94,  260,  251,  252. 

Romanes  352. 

Rosenstein  289,  290,  291, 
294,  298.  299,  301. 

Rosental  418. 

Roux  143. 

Russell  146. 

Rüdin  96,  460. 

Sander  437,  460. 
Scheler  103,110,221,283, 

350,  352,  357,  358,  359, 

360,  362,  384,  385,  410, 

445. 
Schelling  37,  41,  57, 64,  69, 

81,  111,  122,  200.  308, 

362. 


Schilder  101. 

Schiller  18,  25. 

Schieiden  46. 

Schlick  129. 

Schlömilch  46. 

Schmid  46,  123, 128,  135, 

137,  139,  394,  397. 
Schneider  1,  141. 
Schopenhauer  72,  161. 
Schröder  97,  407,  408,409. 
Schulz  163. 
Schule  90,  116. 
Schumann  104. 
Selz  204. 
Semon  174,  180. 
Shaftesbury  445. 
Sielert  96.  4(0. 
Sigwart   1 98. 
Siramel  18,  25,  111.   194, 

195,  260,  261,  283. 
Smith,  Ad.  441. 
Sommer  94,  95,  435. 
Spearman  110. 
Specht  101,  410,  419. 
Spencer  67. 
Spielman    113,   114,    116, 

405,  473.  475,  480. 
Spielmeyer  93. 
Spinoza  74.  75. 
Stahl  58.  59.  60. 
Stärcke  289,  292,  294,  299. 
Stern  110,  353. 
Störring  371. 
Strauß  59. 
Sträußler  93. 
Stumpf  104,  108,119,146, 

338,  348,  349. 

Thomas   von  Aquin    107, 
339. 


Tomaszewbki  95. 
Trendelenburg  32. 

Urstein  98,  406. 

Verworn  14-^,143, 161, 180. 
Vischer.  R.  103. 
Vogt  93. 
Volkelt  353. 

Wähle  172. 

Wassermann  95. 

Watt  1(5. 

Weber,  E.  94. 

Weber,  M.  111,  223,  224, 
225,  261,  283. 

Wernicke  90.  94, 115, 189, 
357,  39"^,  400. 

W^estphal  90,  105,  114, 
238,  2-10,  398. 

de  Wette  46. 

WheweU  272,  388. 

Wilmanns  96,  409,  460. 

Wirth  104. 

Windelband  66,  68,  69, 
70,  71,  72,  73,  74.  75, 
76.  77,  78,  79,  SO,  81, 
82,  83,  84,  85,  86,  119, 
192,  199,  457,  463. 

Witasek  108,  341,  354. 

Wolfi-  56,  149. 

Wori'inger  10^. 

Wuiidt  75,  102,  103.  104, 
106,  107,  110,  119,  137. 
149,  153,  154,  155,  156. 
204,  205,  206,  208.  319, 
348,  350,  352,  370,  397 

Ziehen  90,  104.  106.  109, 
119,  339,  407,  408. 


Druck  von  Breitkopf  &  Härtel  ia  Leipzig. 


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