^
DAS WESEN DER
PSYCHIATRISCHEN ERKENNTNIS
BEITRÄGE ZUR ALLGEMEINEN PSYCHIATRIE
I
VON
DR. ARTHUR KRONFELD
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1920
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.
Copyright 1920 by Julius Springer in Berlin.
MEINEM LEHEER
HUGO LIEPMANN
GEH. MED.RAT, ORD. HON.-PROFESSOR DER PSYCHIATRIE
AN DER UNIVERSITÄT BERLIN, DR. MED. ET PHIL.
IN HERZLICHER VEREHRUNG
UND DANKBARKEIT
GEWIDMET
Inhaltsverzeichnis.
S«iU
Einleitung 1
Vorbereiteude Einführung in die allgemeinen erkenntnis-
kritischen (Grundlagen.
Metaphysikfreie Naturforschung? 13
Krkenuistheorie oder Vernunftkritik? 21
Geleitworte zum zehnjährigen Bestehen der neuen Fries-
schen Schule 1913) 46
Windelbande Kritik am Philuomenalismus und die Aufgaben
der Psychologie im Ganzen der Erkenntnis . 66
Hauptteil.
Ein Rundblick über Gegeuwartsstrümungen der deutschen
psychiatri>(t'hen und psychologischen Forschnng.
1. Der Sieg der heterolo frischen Forschungntendenzen in
der Psychiatrie 89
2. Das autol ogischc Chaos in der gegenwärtigen Psychiatrie
undderAut'weg \fl
3 Die Problematik in don I'undamenten d er gegenwärtigen
Psychologie 102
t^bor die wissenschaftstlieorctischen (»rnndhigon der Psychologie,
insbesondere die Probleme der psychischen KansalitMt.
1. Einführung in die psy chiatrisch-prak t iorhe Not wendig-
keit psychologischer Theorie. . . . 113
Die klinische Praxis der Psychiatrie ist psychologisch fundiert ... 113
Ist die psychologische Diagnostik heuristisch oder theoretisch bd-
grüudet? 114
Das Kriterium des Symptomatischen ist nicht zufällig 115
Es ist nur aus psychologischer Theorie zu entwickeln . 116
Das Problem des Wissens von fremdem Psychischen 116
Psychologisches Gesetz und symptomatische Analyse 117
Praktische Grenzen der Tragweite theoretischer Psychologie . . 118
Die Zer.-^plitterung der psychologischen Thooretik ist kein Argument
gegen deren Notwendigkeit 118
Philosophischer Ausgangspunkt der psychologischen Theorie . . 120
VI Inhaltsverzeichnis.
Seit«
2. Allgemeine Grundlegung der Wissenschaftstheorie des
Psychischen. Beginn der Kategorienlehre für die Psycho-
logie 121
Wissenschaftstheorie und Kritik der Erkenntnis von Psychischem . 121
Theorie und Phänomenologie. Arten der Theorie 123
Die Kategorienlehre als Inhalt der Wissenschaftstheorie 127
Die Anwendung der Kategorien in der Psychologie 128
Die Temporalität als kategoriales Schema 130
Hieraus ableitbare Kriterien des Psychischen 131
Das reine Selbstbewußtsein als kategoriales Schema 132
Ableitungen aus dem Moment der Qualität 133
Ableitungen aus dem Moment der Quantität 134
3. Das Problem der Substantialität des Seelischen 136
Sonderstellung der Relationskategorien 136
Die Kategorie der Substanz und der Begriff Seele 136
Tätigkeit als Wesensmerkmal des Seelischen 138
Spontaneität und Rezeptivität des Seelischen 139
Parallele Merkmale des Organismenbegriffs 140
4. Einführung in die Probleme der psychischen Kausalität.
Der Begriff der psychischen Funktion 142
Präzisierung des Standpunktes zum Kausalproblem 142
Ursache und Kraft 144
Modifikation des Kraftbegriff'es im Psychischen 144
Der Funktionsbegriff im Psychischen 145
Das Prinzip der Unterscheidung von psychischen Funktionen . . . 147
Erörterung von Einwänden 149
Gegen die Konzeption des Begriffes der Funktion 150
Gegen die Vielzahl psychischer Funktionen 150
Über die Annahme einer einzigen psychischen Kraft 152
Das Wundt-Hetbartsche Argument: den Funktionsklassen entspricht
keine konkrete Wirklichkeit 153
a) Die Unvermeidlichkeit von Abstraktion in der Wissenschaft . . 153
b) Verwechselung von Abstraktion und Induktion beim Wundt-
Herbartschen Einwand löö
c) Das Kriterium der Realität von psychischen Klassen liegt in
der leitenden Maxime ihrer Bildung 156
d) Die Möglichkeit einer natürlichen Systematik von Funktionen 157
Vorläufiges Ergebnis 159
6. Weiteres über die Probleme der psychischen Kausalität.
Der seelische Zusammenhang und das Unbewußte . . . 160
Kausalität und seelischer Zusammenhang 160
Der Begriff des Reizes 161
Potentielle Bereitschaft und auslösende Bedingung 161
Die Kategorie der Wechselwirkung im Psychischen 162
Die weiteren theoretischen Probleme des seelischen Zusammenhanges 164
Bewußtsein und seelischer Zusammenhang bei Lipps 164
Inhaltsverzeichnis. VII
Seitt
Der reale pgychische ZuKiiinin«»nliiing im UnbewuGten bei Lipps . . 165
Kritik dor Lippsschen Theorie 166
Der Begriö' de« Uubewußten 169
Purste Abgrenzungen des Begriff« 170
Das Problem der Reproduktion und ihrer theoretischen Möglichkeit 171
Widerlegung von BcdcnkLu gigen die Zulässigkeit der Konzeption
des unbewußten 173
Über die Möglichkeit positiver Bestimmung des Unbewußten . . . 175
Nochmals Unbewußtes und psychische Realitilt 176
Freud 177
Pirgebnis der Untersuchungen über das Unbewußte 177
6. Die Reize und die allgemeinen Bedingungen psychischer
Dynamik 180
Der Reizbegriff und seine Merkmale 180
Reiz und Disposition 181
Arten der Reize 182
Die dynamische Verknüpfung des psychischen Geschehens 184
Die Rolle der Assoziation 187
Der psychische Ablauf 188
7. Die Erkenntnis der Individualität und ihre wissenschafts-
theoretis chen Grundlagen. Erster Teil 190
Übersicht über die Problemlage 190
Persönliclikeitsbegrift'und Naturwissenschaft. Individuelle Kausalität? 191
Die Erkennbarkeit des Individuellen als Problem 192
Der Lösungsversuch der Geisteswissenschaft bei Rickert 194
Rickerts Analyse der naturwissenschaftlichen Erkenntnis 19ö
Rickerts Analyse der psychologischen P>kenntniß 202
Rickerts Analyse der historischen P>kenntnis. Seine Lösung der
Eikenntnis des Individuellen 213
8. Die Erkenntnis der Individualität und ihre wissonschafts-
theoretischen Grundlagen. Zweiter Teil 222
Individualität und Typus; die idealtypische Begriffsbildung ... 222
Individuelle Kausalität und Gesetz 225
Individualität als kategoriale Erkenntnisform 227
Die Lösung des Individualitätsproblems :i20
9. Bemerkungen zum Problem der Wil lensf rei hei t und ihrer
Vereinbarkeit mit der Naturbestimmtbeit psychischen
Geschehens 231
Psychologische und transzendentale Freiheit 231
Die Antinomie von Freiheit und Gesetz 232
Logische Zergliederung der Voiaussetzungen der Antinomie. . . . 2!^
Schließt die Naturgcsetzlichkeit des Geschehens dessen vollständige
Bestimmtheit ein? 234
Die Auflösung der Antinomie 236
VIII Inhaltsverzeichnis,
Seite
Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger
Wissenschaft.
Die allgemeiue Psychiatrie und die psychiatrische Gesamtforschung 237
Der theoretische Charakter der allgemeinen Psychiatrie 242
Argumente für den praktischen Nutzen theoretischer Untersuchungen
in der allgemeinen Psychiatrie 246
Abwehr der Ausschließlichkeit somatologischer Einstellungen in der
allgemeinen Psychiatrie 247
a) Vom Standpunkte der Psychologie aus 247
b) Vom Standpunkte der Klinik aus 249
Die allgemeine Psychiatrie als Logik und Wissenschafts-Lehre der
Psychiatrie 255
Die praktischen Aufgaben der Psychiatrie und der Nachweis der
immanenten Notwendigkeit ihres Wissenschaftscharakters .... 260
Über die Rede von der Psychiatrie als Kunst 261
Einführung in die Problematik des Wissenschaftsbegriffes 265
Zum Begriff des Wissens 267
Wissen und Wissenschaft 270
Der Wissenschaftsbegriff der Psychiatrie 273
Einige Schwierigkeiten der Anwendung des Wissenschaftsbegriffes
auf die psychiatrische Materie 274
Probleme des Wissens vom Seelischen 277
Psychiatrie als Geisteswissenschaft — eine mögliche Fragestellung? 282
Allgemeiner Rahmen für die vorliegenden Untersuchungen .... 284
Anhang: Bemerkungen über immanente theoretische Kritik
an konstruktiven Hypothesen in der Psychologie 289
Grundlinien der Phänomenologie und deskriptiven Theorie des
Psychischen.
Zur Einführung 303
l. Erlebnis und seelische Funktionen (heu ristische Entwick-
lung der phänomenologischen Grundbegriffe) 308
Vorbegriffliche Umschreibung der phänomenologischen Einstellungs-
weise 308
Die Konzeption des Erlebnisbegriffes bei Dilthey 315
Die Entwicklung des Erlebnisbegriffes bei Lipps . 318
Einige Korrekturen am Erlebnisbegriff 325
Allgemeines über assoziative Strukturen 330
Psychische Erscheinungen, Funktionen und Akte 337
Akte und „Bewußtsein" 341
Akte und „Ich" 343
Akte und Nichtakte 343
Zur Systematik der Aktklassen 344
Akt und Gegenstand 346
Ichvorstellung und Intention 346
lubaltsTerzeichnis. IX
Seit«
Qualität und Materie der Intentionen 346
Die Erlebbarkeit von Akten 349
2. Zum Problem des Wissens von Fremdpsychischem .... 350
3. Erlebnis und Erkenntnis ;Entwicklung des Verhältnisses
der Phänomenologie zur psychologischen Theorie) . . . 364
Zwei Grundprobleme im Begriff der Phänomenologie . . 364
aj Der Begriff der Tatsache im Psychischen 366
Die Einmaligkeit des Psychischen 366
Die zeitliche Kontinuität des Psychischen 365
Erlebnis als Geschehen und als Bewußtseinsform 368
Der Bewußtseinscharakter psychischer Tatsachen. Der „innere
Sinn'- 369
Die Anschaulichkeit psychischer Tatsachen 374
Noch einmal der Erlebnisbegriff 375
b) Phänomenologie als i)8ychologische Wissenschaft . . 378
Die Phänomenalität der Erlebnisse 378
Beschreibung und Abstraktion 381
Anwendung auf die Erkenntnis des fremden ich 384
Abstraktion und induktive Theorie im Psychischen 386
Die Stellung der Phänomenologie in der Psychologie 394
4. Die phänomenologischen Aufgaben in der Psychiatrie
nebst Bemerkungen über die Krankheits- und Synaptom-
begriffe derselben 396
a) Die psy chologisch-klinis chen Fragestellungen und
ihre phänomenologische Zuspitzung 396
b) Die pathologische Intentionalität 412
Zur Theorie und Logik psycliupiitliologischer Typenbildung und
ihres Verhältnisses zur Soziologie, inshosdndere Kriminologie.
Vorbemerkung '*21
1. Einige Bemerkungen über den Begriff des Krankhaften
im Seelischen und die logische Struktur psychopatho-
logischer Typenbildung 423
2. Paradigmatische Erörterung d»!r theoretischen Probleme
des sog. moralischen Schwachsinns 431
3. Das soziale Moment als Kriterium psychischer Typik . . 454
Über den Begriff der Reaktivität ^-^
Über den Begriff der Milieuabhängi^keit 467
Jakob Friedrich Fries und die psychiatrische Forschung 473
Kront'eUl, Psychiatrische K.rkeiiiitnis.
Einleitung.
„Das nOchstc wäre, zu begreifen, daB «Um
Faktische schon Theorie lat." Goethe.
,,Au( die Möglichkeit «'iner Synthese kommt
es an, dann wird jede Fülle spielend bewältigt.
Ein entleerter, «ewaltaam vereinfachter Begriff
iHt um nichts anziehender als ein analytisches
CiiAos, dem das finik'ende Band fehlt. Aber wir
iuben die KInheit in der Hand, and so kann uns
die Komplexität des Inhaltes nicht schrecken.
Karl C'amillo Schneider.
Die im folgenden niedergelegten Gedanken sollten ursprünglich iu
der Homogeneität eines geschlossenen systematischen Werkes auf-
gehen. Seit langen Jahren wissen mich meine Freunde mit einer
systematischen Darstellung beschäftigt, welche allgemeine Psy-
chiatrie als Wissenschaft, im Sinne einer logisch, theoretisch
und methodologisch durchgebildeten Disziplin an die Stelle der bis-
herigen bloßen heuristischen Materialanhäufungen mit ihrem klinisch-
konventionellen Charakter setzen sollte. Der Krieg, welcher mich
an die Front führte, unterbrach die Arbeit an diesem Werke für fast
5 Jahre. Und für den Zurückgekehrten ergäbe sich nun die kaum zu
erfüllende Notwendigkeit, aufs neue von Grund auf anzufangen und
wieder aufzubauen, was so lange verschüttet und brach gelegen war.
Dennoch erschiene es mir als ein Verlust, wenn es dem Zufall diese-s
persönlichen Geschicks anheimgestellt bleiben soll, ob wenigstens die
leitenden Ideen und Gesichtspunkte jener streng wissenschaftlichen
allgemeinen Psychiatrie in die zeitgenössische Forschung zu gelangen
vermögen oder nicht. Deshalb habe ich mich entschlossen, die Ganz-
heit jenes geplanten größeren Werkes aufzulösen, um seinen Grund-
gehalt wenigstens in vorläufiger Form zu retten. So ist das vor-
liegende Buch, wenn es auch sachlich in sich abgeschlossen ist, in
seiner äußeren Form eine Sammlung von einzelnen Abhandlungen
geworden, welche die durchgehende und einheitliche Struktur des
gedanklichen Aufbaues, in den sie als einzelne Teile eingefügt sind,
zwar erkennen lassen, aber nicht zur Schau tragen. Ich hoffe jedoch,
daß auch diese vorläufige Form der Darstellung ihre Absicht voll
erreicht.
Was alle die einzelnen Arbeilen dieses Buches innerlich verbindet,
ist, abgesehen von ihrem Gegenstandsbereich, dem Problem der
Erkenntnis in der Psychologie und Psychiatrie, das innere
Zentrum, von welchem aus dieses Problem angefaßt und bearbeitet
worden ist. Dieses innere Zentrum in seiner ganzen Bedeutsamkeit
Kronfeld, Psychiatrische Erkenntnis. 1
2 Einleitung.
für die psychiatrische Forschung zu beleuchten, ist der wesentliche
Zweck dieses Buches.
Es leitete mich bei seiner Zusammenstellung der Gedanke, nicht
so sehr materiale und faktische Einzeluntersuchungen zur Darstellung
zu bringen, als vielmehr alle diejenigen methodologischen, logisch-
und theoretisch-fundierenden und kritischen Gedankengänge und
Entwicklungen mit präziser Begründung zu versehen, durch welche
psychiatrisch-psychologisches Denken ermöglicht, gesichert
und zum Range wirklicher Wissenschaft erhoben zu werden vermag.
Es schwebte mir als Leitidee vor, die Logik der Psychiatrie und
ihre Wissenschafts- und Erkenntnislehre, wenn auch noch
nicht mit systematischer Geschlossenheit und Strenge, so doch im-
plizit an der Hand ihrer grundlegenden Anwendungsweisen zu ent-
wickeln.
Dies Buch erfordert also vom Verfasser wie vom Leser, sich
intensiv innerhalb desjenigen Forschungsinstitutes für Psychiatrie
und verwandte Gebiete zu betätigen, welches ein jeder von uns mit
sich herumträgt: des denkenden Geistes. Dieser Geist wahr-
haften psychologischen Denkens und Erfassens in seiner Tragweite
und Bedeutung für die psychiatrische Gesamtforschung soll zu inten-
siverer, strengerer, schulmäßigerer und verantwortlicherer Arbeit
hingeleitet werden, als unser Fachgebiet sie bisher kannte und zu-
ließ, wo gerade die psychologischen und psychopathologischen Be-
griffsbildungen und Konzeptionen nur zu oft so beschaffen waren,
daß sie einem Vertreter exakter Wissenschaften mit Recht den Ein-
druck befremdlicher Oberflächlichkeit, subjektiver Willkür, kon-
ventioneller Schematik, unpräzisen und verantwortungslosen Ge-
redes machen mußten. Dieses Streben nach größtmöglicher Ein-
deutigkeit und Präzision in allen Ableitungen und Begründungen,
Begriffen und Terminis belastet naturgemäß die Geduld des Lesers
erheblich. Es ist aber nicht Selbstzweck, sondern seinerseits nur
wieder ein Ausdruck jenes inneren Zentrums, jener verborgenen und
doch deutlichen Einheit, welche auch sachlich die Materien dieses
Buches umfängt. Diese Einheit ist — in ihrer erkenntniskritischen
Zuspitzung — letzten Endes eine »philosophische «, eine weltanschau-
liche: die des kritischen Idealismus der Kantisch-Friesschen Lehre.
Sie präjudiziert natürlich in absolut keiner Weise den Gehalt aller
empirischen Forschung; das würde ihrem Wesen widersprechen;
wohl aber ist sie eine Einheit der Prinzipien und der regulativen
Maximen, der Methoden und kritischen Stellungnahmen denkender
und forschender Empirie auch auf unserem Gebiete. Vor allem aber
ist sie eine Norm der Gesinnung, mit welcher an die Erfassung
psychologischer und psychiatrischer Probleme herangegangen werden
sollte.
Wenn ich das Ziel Und gleichsam die Idee dessen bezeichnen darf,
was mir bei der Abfassung des vorliegenden Buches vorgeschwebt
hat, und den Geist und die Gesinnung, aus der heraus diese Unter-
Einleitung. 3
suchungeii entstanden sind, so möchte ich mich dazu der Worte
eines unserer unsterblichen Führer bedienen. Rudolph Hermann
Lotze schrieb im ersten Buche seiner medizinischen Psychologie
(Leipzig 1852) die folgenden Sätze: »Die Erkenntnis des Seelen-
lebens hat in größerem Maße als andere Wissenschaften, und in
eigentümlicher Weise gelitten. In der Tat dürfen wir uns auf diesem
Gebiete das innigste und eindringendste Verständnis fast mit dem-
selben Recht zuschreiben, mit welchem wir die Unmöglichkeit
beklagen, gerade diesen Besitz in wissenschaftlichen Formen
festzuhalten. Von frühester Kindheit an führt uns die Umgebung
unzählige Wahrnehmungen geistigen Lebens zu; aber mancherlei
Wünsche des Gemüts und die Triebe der Selbsterhaltung zeitigen
aus ihnen mit allzu großer Beschleunigung jenen Instinkt unmittel-
barer Menschenkenntnis, der sogleich den nutzbaren Gewinn seiner
Wahrnehmungen zu verfolgen eilt. Mit dem schnellen Anwuchs
dieser praktischen Klugheit vermag die wissenschaftlichere Neigung
des Verstandes, das Beobachtete auf seine ersten Quellen zurück-
zuführen, niemals gleichen Schritt zu halten. Und so erneuert sich
zwar in dem Lebenslaufe jedes einzelnen die rasche Ausbildung einer
mehr oder minder gehaltvollen Kenntnis des geistigen Lebens, und
die Lücken individueller Erfahrung ergänzend, haben die Über-
lieferungen der Gesclüchte und die Werke der Kunst einen Reichtum
psychologischer Anschauungen um uns aufgehäuft, deren umfassende
Mannigfaltigkeit und eindringende Feinheit wenig zu begehren übrig
läßt. Aber diese lebendige Menschenkenntnis ist dennoch
weder Wissenschaft, noch geeignet eine solche aus sich
zu entwickeln.
Zwar entspringen gewiß auch aus ihr für jedes nachdenkliche
Gemüt allgemeine Gesichtspunkte und zusammenfassende Ansichten
genug, aber sie unterscheiden sich völlig von dem, was eine Wissen-
schaft anstreben würde . . . Auf schwebenden Grundlagen ruht jene
lebendige Menschenkenntnis; imd so wenig wir hoffen dürfen, ihren
praktischen Blick jemals durch wissenschaftliche Überlegungen zu
ersetzen, so wenig vermag sie selbst die Aufgaben der Wissenschaft
zu lösen oder ihrer Lösung auch nur in genügender Weise vorzu-
arbeiten. Jenes Innere der Seele, das der Pädagog nach bestimmten
Zwecken auszubilden, dessen krankhafte Störungen der Arzt, dessen
sittliche Verirrungen der Seelsorger zu heilen unternimmt, bleibt in
seinem eigentlichen Wesen und in den ursprünglichen Gesetzen
seines Wirkens ihnen allen unbekannt. Mit instinktiver Sicherheit
bewegen sie sich in einem Kreise der zusammengesetztesten Ereig-
nisse, die auf ilire unzähligen Bedingungen zurückzuführen die
Wissenschaft, selbst im Besitze der festesten Prinzipien, verzweifeln
müßte; manche Gewohnheiten ferner des Ineinandergreifens geistiger
Tätigkeiten wissen sie den Beobachtungen geschickt genug zu ent-
lehnen, aber die wesentlichste Frage lassen sie unberührt, die nach
den elementaren Kräften, auf deren Wirksamkeit und
4. Einleitung.
Verbindung die Möglichkeit aller dieser Gewohnheiten
allein beruht. Neben dem feinsten Verständnis menschlicher
Charaktere im Leben und neben der schärfsten Zeichnung derselben
in den Werken der Kunst pflegt daher doch selbst em gebildetes
Zeitalter gewissen Grundvorstellungen über die Natur des geistigen
Wesens zu folgen, über deren Roheit es selbst erschrickt,
sobald eine empirische Psychologie ihm die Summe der-
selben in wissenschaftlicher Allgemeinheit vorhält und
abgelöst von dem bestechenden Reichtum spezieller Anschauungen,
die allein in der lebendigen Anwendung ihre gänzliche
Unzulänglichkeit verdeckten.
Dasselbe geistige Dasein nun, welches jene lebendige Kenntnis
so fein in seinen letzten Verzweigungen und so gar nicht in seinen
Wurzeln versteht, hat freilich stets auch den geordneten Angritten
der wissenschaftlichen Untersuchungen offengestanden. Aber ein
doppeltes Mißgeschick hat auch diese ernstlichen Bestrebungen der
Erklärung immer verfolgt. Zuerst hat die überwältigende Wichtig-
keit des Gegenstandes jedes Zeitalter gedrängt, mit oft^ unzuläng-
lichen Erkenntnismitteln eine abschließende Ansicht über ihn zu
suchen. Wie sehr nun auch zur Beurteilung vieler Seiten des geistigen
Lebens die nötigen Grundlagen nur in dem Innern des Geistes selbst
liegen und daher dem Scharfsinn menschlicher Erkenntnis stets
zugänglich sein müßten, so wird doch seine vollständige Aut-
fassung nie ohne jene klaren naturwissenschaftlichen
Anschauungen möglich sein, die im Verlaufe unserer Bildung
sich bekanntlich spät und allmählich entwickelt haben. Im An-
gesiebt so vieler mißlungener Versuche, das geistige Leben zu er-
klären, dürfen wir deshalb die Hoffnung doch nicht aufgeben, wenig-
stens in bezug auf die enger begrenzte Frage, welche den Gegen-
stand unserer folgenden Betrachtungen bilden wird, glucklicüer
zu sein ... ■, r^ ^. a
Es ist daher nicht sowohl die eigene Dunkelheit des Gegenstandes,
die wir scheuen, als vielmehr jenes andere Mißgeschick, dem, wie
wir erwähnten, die Versuche psychologischer Erklärung stets aus-
gesetzt gewesen sind. In jener lebendigen Menschenkenntnis sind
wir mit den Erscheinungen des Seelenlebens äußerlich zu bekannt
geworden, um noch gern zu glauben, die Wissenschaft wisse über
sie mehr Aufklärung zu geben, als unsere unerzogenen Reflexionen
bereits enthalten. Wie jeder andere Kreis von Erfahrungen, so ist
auch der, den wir über psychische Erscheinungen uns
gesammelt haben, durch die unablässige Tätigkeit halb
unbewußter Überlegungen mit einer unfertigen Meta-
physik allenthalben versetzt. Jene äußerliche Vertrautheit
aber mit den Phänomenen des geistigen Lebens trägt die Schuld,
daß wir gerade auf diesem Gebiete die Vorurteile jener unregel-
mäßigen Erklärungsversuche mit viel größerer Hartnäckigkeit,
als sonstwo, den Behauptungen gegenüberstellen, welche eine be-
Einleitung. 5
sonnene Spekulation geltend zu machen luit. Viele« erscheint daher
der allgemeinen Meinung als eine klare und brauchbare Hypothese
der Erklärung, was jede philosophische Theorie als eine
völlig un mögliche Verkehrtheit zurückweisen muß; manches
gilt umgekehrt jener fragmentarisch gebildeten Ansicht als unlös-
bares Rätsel, was die wissenschaftliche Auffassung als einfach und
erledigt betrachten darf. So hat jener unangenehme Zustand der
Dinge sich gebildet, daß zwar jeder zugibt, die Entscheidung physi-
kalischer Fragen hänge von der genauen Kenntnis unl^st reit barer
Grundsätze ab, daß dagegen der Bereich psychologischer
Untersuchungen fast für ein vogelfreies Gebiet gehalten
wird, in welchem bei dem Mangel aller festen Gesetze
und der Unmöglichkeit sicherer Ergebnisse jeder den
Einfällen folgen dürfe, die ihn am meisten anmuten.
Zwar müssen wir zugeben, daß hier wie in allen Wissenschaften,
einzelne unentscheidbare Fragen sich finden, deren Beantwortung
für jetzt einem subjektiven Gefühl des Richtigen anheimgestellt
bleiben muß; nicht minder aber können wir das Vorhanden-
sein ebenso sicherer Grundsätze behaupten, als sie irgend-
einer anderen Wissenschaft zu Gebote stehen. Der Ge-
nialität unserer Forscher mag das schöne Verdienst beschieden sein,
diesen Grundsätzen durch individuellen Scharfsinn eine Reihe wich-
tiger Anwendungen abzugewinnen; in bezug auf die Grund-
sätze selbst dagegen müssen sie mit Aufgebung subjek-
tiver Neigungen sich zu der aufrichtigen Stellung eines
Lernenden verstehen.
Indem wir nun den Versuch wagen wollen, den Zusammenhang
des geistigen Lebens in jenen Grundlagen zu schildern, die der Heil-
kunst von Wert sein können, müssen wir hoffen, daß eine ausdauernde
Teilnahme unserer Leser die Ungunst der Stellung überwinden
werde, in der sich alle solche Bestrebungen gegenwärtig
befinden. Wir sehen uns einem Gegenstand gegenüber, dessen
erste Frische längst durch unzählige vereinzelte und mißglückte
Versuche seiner Erforschung für uns verloren ist; der Zugang zu
dem ferner ,was wir als feststehend und weiterer Entwicklung fähig
behaupten möchten, steht uns nur nach dem langen Wege
einer erschöpfenden Kritik jener V^orurteile offen, die
sich verwirrend um diese Fragen angesammelt haben;
endlich ist, was wir als das Wahre vertreten wollen, nicht eine jener
extremen und kapriziösen Ansicliten, die gegenwärtig am meisten
Hoffnung haben, die erschlaffte Empfängliclikeit für die Behand-
lung dieser Gegenstände wieder aufzustaclieln. Unsere Absicht ist
es vielmehr, eine Auffassung des Seelenlebens zu entwickeln, die
den Anforderungen naturwissenschaftlicher Anschau-
ungen ebenso vollständig Genüge leistet, als sie anderer-
seits unverkümnierten Raum läßt für die Anknüpfung jener geistcs-
wissen-schaft liehen Reflexionen, deren gleiches Recht an unseren
6 ' Einleitung.
Gegenstand zu leugnen wir der Leidenschaftlichkeit unserer Zeit
nicht zugestehen dürfen. Wir wollen versuchen, diese allgemeinen
Grundlagen der psychologischen Untersuchungen hier zusammen-
zufassen, ohne Bildung und Sprache einer bestimmten philosophischen
Schule vorauszusetzen, aber gleichzeitig auch ohne den Zu-
sammenhang mit jenen Elementen der Bildung zu ver-
lieren, die außer der Physiologie das menschliche Nach-
denken bewegen, und deren Einfluß der Naturforscher
sich weder im Leben noch in der Wissenschaft zu ent-
ziehen vermag, oder versuchen soll.«
Der Gesamtumfang des vorliegenden Werkes ist auf drei Bände
berechnet. Der erste Band behandelt, in einer völlig in sich ab-
geschlossenen Weise, den Wissenschaftscharakter, die Geltungs-
grundlagen und die Erkenntnismethoden der allgemeinen Psychiatrie,
sofern sie Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit erheben. Er
enthält also irgendwelche materiale psychiatrische Einzelarbeit
noch nicht. Dies sei sogleich bemerkt, um Enttäuschungen vorzu-
beugen; es soll aber damit nicht gesagt sein, daß sein Inhalt für den
psychiatrischen Denker und Forscher unwesentlich sei. Das Gegen-
teil ist meine feste Überzeugung. Der zweite Band wird die mate-
riale Durcharbeitung der psychischen Reihe von Daten, der dritte
die im weitesten Sinne psychophysischen und außerpsychischen
Problemgebiete behandeln, die im Bereich der Psj^chiatrie bestehen.
Dem hier vorliegenden ersten Bande habe ich einen vorbereiten-
den Teil vorangeschickt, welcher eine Einführung des Lesers in die
allgemeinen erkenntniskritischen Grundlagen gibt, auf denen sich
das Fundament der eigentlichen theoretischen, phänomenologischen
und methodologischen Gedankengänge erhebt, welche ich für den
Wissenschaftscharakter der allgemeinen Psychiatrie als notwendige
und hinreichende Bedingungen erachte. Dieser erste vorbereitende
Teil ist es nun besonders, welcher unter der Ungunst meines persön-
lichen Geschickes in seiner äußeren Form zu leiden hatte. Geplant
war, ihm eine systematisch geschlossene Form strenger Ableitungen
zu geben. Diese Absicht zu verwirklichen, mußte ich aufgeben.
An ihre Stelle habe ich einige synoptische, kritische und polemische
Ausführungen zur philosophischen Erkenntnislehre setzen müssen;
ein Teil derselben ist, freilich in wesentlich anderer Form, schon an
anderen Stellen teilweise schon vor einem Jahrzehnt von mir ver-
öffentlicht worden. Wenn ich es dennoch nicht aufgegeben habe,
diesen vorbereitenden Teil allgemeiner erkenntniskritischer Er-
örterungen überhaupt in dies Werk aufzunehmen, so liegt hierfür
ein doppelter Grund vor: Einmal nämlich soll durch ihn das Inter-
esse für scharfe und präzise Fragestellungen gerade auf diesem all-
gemeinen Gebiet mehr geweckt werden, als dies beim praktisch-
psychologischen und psychiatrischen Leser oftmals der Fall ist, der
in der Erkenntnislehre sich entweder gerne durch einen Wust von
historischer Gelehrsamkeit oder durch schwungvoll vorgetragene
Einleitung, 7
geistreiche Gedanken gefangen nehmen läßt. Weder das eine noch
das andereist wesentlich: es kommt ganz einfach auf richtiges
Denken an; dies und nichts anderes soll an den Ausführungen de«
vorbereitenden Teils dargetan werden. Der zweite Grund der Voran-
stellung dieses erkenntniskritischen Teiles ist, die allgemeinen Grund-
lagen zu schaffen, welche uns zur wissenschaftlichen Bearixjitung
unserer eigentlichen psychiatrischen Probleme festen Halt und
»Standpunkt gewähren.
Was ich bei den (Jedankengängcn dieses Teiles meinem Freunde
Leonard Nelson, als dessen Schüler ich mich fühle und freudig
bekenne, zu verdanken habe, das wird aus jeder Zeile erkenntlich sein.
Weit wichtiger freilich als dieser vorbereitende Teil ist mir alles
das, was in den folgenden eigentlichen Hauptabschnitten dieses
Buches gesagt wird. In ihnen glaube ich das Neue zu geben, was
in psychiatrischen Erörterungen bisher noch nicht, in psychologischen
nur allzu selten zum Ausdruck und zur Formulierung gelangt ist.
Zwischen den einzelnen Abscjinitten besteht, wenngleich ein jeder
von ihnen eine in sich geschlossene und verständliche Abhandlung
darstellt, der innigste Zusammenhang. Ein jeder von ihnen führt
die Beantwortung des Problemkreises: Wie ist allgemeine Psychiatrie
als Wissenschaft möglich? — in bestimmter Richtung weiter; und
so wird hoffentlich der Leser am Schluß dieses Buches ein einheit-
liches Gesamt })ild dessen besitzen, was ich grundsätzlich und metho-
dologisch in das psychiatrische Denken eingeführt und an seinen
einzelnen !^Iaterien verwirklicht sehen möchte. Um dem Leser trotz
der hier gewählten äußeren Form der Einzelabhandlungen dieses
Verständnis für die systematische Einheitlichkeit der vorgetragenen
Gedankengänge zu gewährleisten, bin ich von bestimmten Gesichts-
punkten der .\uswahl und Anordnung des Problemgebietes aus-
gegangen. Zuerst gebe ich eine kurze Synopsis des gegenwärtigen
Standes der psychiatrischen tind psychologischen Forschungstenden-
zen. Es handelt sich hierbei um eine rein ontologische Zusammen-
stellung, aber eine solche, die — ohne Rücksicht auf Einzelarbeiten —
auf die generelle Problemlage selber eingestellt ist. Aus ihr ergeben
sich l)ereits l)estimn\te Anhaltspunkte für die zu leistende Arbeit.
Diese l)esteht nun in der systematisclien Üurchdenkung der zwei
Hauptgebiete der Erkenntnisproblematik der Psychiatrie: der
Wissenschaftstheorie des Psychischen und der Phäno-
menologie des Psychischen. Die beiden umfangreichen Studien,
welche sich mit diesen l>eiden Problemkreisen auseinandersetzen,
betrachte ich als die Kernstücke des vorliegenden Werkes. Zwischen
sie stellte ich einen Entwurf, welcher einige Linien für das allein
mögliche Programm einer Grundlegung der allgemeinen Psychiatrie
zieht. Ein Anhang zu diesen Prolegomenen jeder allgemeinen Psy-
chiatrie, die mit dem Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit
wird auftreten köimen, In^schäftigt sich mit den» Verhältnis imma-
nenter Kritik und deren Bedingungen zu irgendwelchen konstruk-
8 Einleitung.
tiven Hypothesen und sogenannten Arbeitsgesichtspunkten, wie sie
gerade in unserer Wissenschaft an der Tagesordnung sind. Dem
phänomenologischen und psychologisch-theoretischen Problem-
gebiet lasse ich am Schluß noch einige Erörterungen folgen über die
besonderen phänomenologischen Aufgaben der Psychiatrie, die
psychiatrischen Krankheitsbegriffe und die Logik und Theorie des
Verhältnisses von Symptom und Krankheit in der Psychiatrie. Hierzu
gehören auch Untersuchungen über das Verhältnis deskriptiver und
normativer Typenbildungen in der Psychopathologie.
So bereitet dies Buch die Anwendungen seiner logischen, erkennt-
niskritischen und phänomenologischen Ergebnisse auf die Einzel-
materien unserer Disziplin vor, welche zu geben Aufgabe der späteren
Bände sein wird.
Darf dieser Versuch einer Logik der Psychiatrie noch eine nega-
tive Charakteristik erfahren, so kann diese durch einen doppelten
Gegensatz bezeichnet werden: erstens durch den Gegensatz zur
dogmatischen Starre aller konstruktiven Theoreme, welche, oft
unerkannt und mit scheinbarer Selbstverständlichkeit, und dann
am gefährlichsten, unsere Disziplin durchsetzen; mögen diese Kon-
struktionen empiristischen, mögen sie geisteswissenschaftlichen Ur-
sprungs sein, welch letzterer gerade neuerdings in den Arbeiten
mancher Phänomenologen und Pathopsychologen wieder modern
wird. Zweitens durch den Gegensatz zum analytischen Chaos der
»reinen Phänomenologie« und ihrer Systemlosigkeit, ihrer Schein-
tiefe und Geschwollenheit, Welches der positive Ausweg aus dieser
doppelten Gegensätzlichkeit ist, dies sagt ausführlich und eindeutig
das Buch selber; nur so viel sei bemerkt, daß dieser Ausweg keines-
wegs der der gegenwärtigen klinischen Nosologie ist, deren konven-
tionalistische Willkür, kritiklose Sammelei und dogmatische Schub-
facheinteilung, jedes beherrschenden theoretischen Gesichtspunktes
bar, noch immer Orgien feiert. Wir setzen die überragende Leistung
eines Kraepelin nicht herab, wenn wir feststellen, daß die Hyper-
trophie klinischer Gesichtspunkte und Dogmatismen, die in seinem
großen Lehrbuch von Auflage zu Auflage wuchs, eben dies Lehrbuch
von Auflage zu Auflage verwässert und veräußerlicht hat. Sein
Weg ist ganz gewiß nicht der unsrige: Er hat psychiatrische Forschung
in die Gefahr konventionalistischer Relativitäten getrieben; er hat
Psychiatrie als autochthone Wissenschaft mehr und mehr ausge-
schaltet; zurzeit besteht eine Ära fast sklavischer Abhängigkeit der
psychiatrischen Forschung von ihren heterologischen Hilfswissen-
schaften, von deren Sondermethoden, die auf dem Boden fremder
Disziplinen wachsen, sie in tatloser, steriler Gebundenheit die Ver-
mittlung eigenen Fortschreitens erwartet, ohne sie zu finden. Wir
aber wollen uns wieder auf die autologischen Grundlagen psychia-
trischen Denkens, psychiatrischen Erkennens und Wissens besinnen.
Wir werden uns bei der Entwicklung dessen, was wir zu sagen
haben, auf Vorgänger, die wir zum Teil als unsere eigentlichen Lehrer
Einleitung. 9
lind Führer bet rächt t-ii, stützen und berufen, «oweit uns die« irgend
niöglieh ist. Deiinocli wird man die Eigenheit der (Jedanken
dieses Buches und iiire Xeulieit darülx-r nicht verkennen wollen.
Diese Berufung auf Kigenheit und Neuheit des Inhalts ist nun ira
allgemeinen nicht gerade ein günstiges Empfehlungszeichen für
psychiatrische Werke. Und nun noch gar für eines, in welchem mate-
riale Psyciüatrie selber noch gar nicht zu Worte kommt, welches
sich in den vom Einzelforscher so gefürchteten oder belächelten
»Allgemeinheiten« bewegt! Ich gestehe offen, daß ich in dieser Hal-
tung niemals etwas anderes habe sehen können als ein arrogantes
Vorurteil der Befangenheit. Klares Bekenntnis zur Subjektivität
eines Standpunktes ist ehrlicher als der Relativismus skeptischer
»Scheinolijckt ivität ; Streben zum Allgemeinen, zu Gesetz und Be-
gründung ist wahrliafter Wissenschaft als das leere systemlose Sam-
meln disjekter Fakten unter äußerlichen Zweckgesichtspunkten.
Um ein nur scheinbares Paradox meines Freundes Nelson auf-
zunehmen: Je subjektiver und ihrer Subjektivität Ijcwußter, je
mehr in Synthese und System tendierend ein wissenschaftliches
Werk sein wird, um so ehrlicner, unparteiischer und wissenschaft-
licher wird es sein.
Die gesamte in Frage kommende Literatur zu berücksichtigen,
war, so sehr wir uns dies angelegen sein ließen, nicht möglich. Es
hätte dazu eine Arbeit vieler Jahrzehnte gehört. Auch im Interesse
der oft recht schwierigen Darstellung selljer erschien es nicht ge-
boten, sie mit gelehrteni Beiwerk allzu stark zu belasten. Wir stehen,
so schroff wir den sonstigen Standpunkt Rickerts in diesem Buche
ablehnen, wenigstens darin auf seiner Seite, »daß wir heute im all-
gemeinen viel zu viel zitieren«, und machen uns seine Absicht zu
eigen: »in bewußtem Gegensatz hierzu . . . einfach das darzustellen
und zu begründen, was wir für richtig halten; und daher sind fremde
Arbeiten nur dann ausdrücklich genannt, wenn uns dies im Interesse
der Klarlegung eines Gedankenganges wüncheuswert erschien«.
Ich schmücke dies Buch mit dem Namen Hugo Liepmanns,
meines verehrten Lehrers, dem ich als hingebungsvollem Irrenarzt,
als vorbildlichem Forscher und scharfsinnigem Denker mehr ver-
danke, als icii in wenigen Zeilen zu sagen vermag, t^s ist mir eine
Genugtuung, ihm dieses Buch in dem Augenblicke widmen zu dürfen,
wo ich durch äußere Verhältnisse genötigt bin, von der persönlichen
Mitarbeit innerhalb seines Wirkungskreises dankerfüllten Abschied
zu nehmen.
Berlin, Juni 1U19.
Vorbereitende Einführimg
in die allgeiiieinen erkenntniskritischen
Grundlagen.
3Ietaphysikfn'ii* Naturforschung?
Es ist für den, der die tiefsten Grundlagen wissenschaftlichen
Denkens der Lehre Immanuel Kants verdankt, kein erfreuliches
Zeichen, daß gerade in dieser Zeit in den Köpfen der Naturforscher
das Vorurteil wieder Platz greift und sich befestigt, die Wissenschaft
Metaphysik sei so etwas wie ein mystischer Dogmatismus. Und
doch wird dies anscheinend mehr und mehr die allgemeine Meinung;
und derjenige gilt als freier, bahnbrechender Forscher, der sich in
irgendeinem Wege bemüht, die »vorurteilslose« Forschung von der
Metaphysik zu befreien.
In diesen Bahnen wirkte vor allem der berühmte Physiker und
geistreiche Psycholog Ernst Mach. Er hat sich den Ruhm erworben,
das metaphysische Denken aus der Naturwissenschaft von Grund
aus eliminiert zu haben. Der Gehalt seiner — fast möchte man sagen:
metaphysikfreien Metaphysik — die er in stolzer Bescheidenheit
freilich nur als »Skizzen zur Psychologie der Forschung« wertet^)
ist vielen zur Weltanscliauung geworden und gewinnt einen stetig
wachsenden Einfluß auf das philosophische Denken in der Natur-
wissenschaft. Da ist es, scheint uns, nicht ohne Belang, daß die be-
rufene Forschung, die Fachwissenschaft Philosophie, die Me-
tlioden und Thesen einer also propagierten Lehre besonderer Prüfung
unterzieht. Diesem Zwecke dient eine Arbeit des Göttinger Philo-
sophen Leonard Nelson^j. Die Ausführungen des Neubegründers
der Friessclien Philosophie, von hoher Achtung vor der wissen-
schaftlichen Bedeutung des großen Gelehrten Mach getragen, zeigen
zugleich mit unwidersprechliclier Sachlichkeit, wie unversehrt und
siegreich der Kritizisnnis Kants dem versteckten Dogmatismus der
Mach sehen Lelire gegenüber bestehen bleibt.
Damit soll nun keineswegs gesagt sein, daß Nelson den Gehalt
des Empiriokritizismus von Beginn an nach den Kriterien der Kant-
schen Lehre beurteile. Das wäre immerhin eine Art jener Befangen-
heit in einem historisch vorliegenden »System, gegen die Mach im
Anfange seines Werkes mit Recht Einspruch erhebt. Vielmehr folgt
der Kritiker dem Autor auf sein eigenes Forschungsgebiet; er be-
urteilt die Ergebnisse der empirisch-psychologischen Forschungen
Machs nach den Tatsachen der Selbstbeobachtung und prüft, ob
die Machsche Lehre mit der inneren Erfahrunu — auf die sie doch
») »ErkonntniH und Irrtum.« 2. Aufl. IIXXI.
*) »Ist motni)hysikfreic Naturwissenschaft luuglicbT« Abhandlungen der
Friesschen Schule II. 3.
14 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritisciien Grundlagen.
ausschließlich sich aufzubauen vermeint — selber in Konflikt komme ;
oder ob sie in einwandfreier Methodik zu einwandfreien Resultaten
führe.
Mach findet bekanntlich in den Empfindungen, den einfachsten
psychischen Tatsachen, die ^Elemente« unseres inneren Lebens,
auf denen sich alle menschliche Erkenntnis aufbaut. Nun besagt
der Satz : daß die Elemente psychischer Erlebnisse die Empfindungen
seien — wofern er mehr sein will als eine bloße Namenerklärung — ,
nichts anderes als die anschauliche Grundlage aller Erkenntnis.
Schon dem wäre viel entgegenzuhalten. Indes, folgen wir Mach
vorläufig weiter und stellen wir nur die Forderung : daß der Forscher
nunmehr gemäß seiner Annahme die gesamte menschliche Erkenntnis
auf diese intuitive Basis der »Elemente« zurückführe. Mach unter-
zieht sich dieser Aufgabe; er nimmt hierzu die Assoziation zu
Hilfe. Die »Elemente«, sagt er, stehen in Beziehungen zueinander;
hängen voneinander ab: und dementsprechend assoziieren sie
sich, vergesellschaften sie sich zu Komplexen.
Damit ist aber nichts gewonnen. Daß tatsächlich die Inhalte der
äußeren wie der inneren Erfahrung jeweils voneinander abhängen,
ist ja unbestritten; das tiefere Problem aber bleibt zu lösen: Wie
gelangen wir zur Erkenntnis dieser Zusammenhänge?
Daß diese Frage berechtigt ist, räumt Mach ein. Jedoch kann
die Erkenntnis der Verbundenheit von Elementen ihrerseits keine
anschauliche, keine »Empfindung« oder »Beobachtung« (im Sinne
Machs) sein. Denn anschaulich, wie Mach es will, können wir doch
nur in einer endlichen Reihe von Fällen die Folge eines Erfahrungs-
elementes auf ein anderes beobachten; und nicht mehr. Wie aber
erklärt sich die Möglichkeit der Erkenntnis von der Notwendigkeit
der Verbundenheit, von der Bedingtheit des einen durch das andere?
Diese Notwendigkeit des Verbundenseins zweier Phänomene ist
doch von der zufälligen Tatsache, daß es beobachtet wird, ganz
unabhängig. Mach bezeichnet sie als das »Ergebnis eines unwider-
stehlichen Analogieschlusses«. Gewiß, das wissen wir ja. Woher
aber der psychologische Grund dieser »Unwiderstehlichkeit«?
Kant hatte auf diese Frage die Antwort gefunden. Notwendig-
keit und allgemeine Gültigkeit hatte er als die Kriterien der meta-
physischen und mathematischen Urteile, der »apriorischen«,
festgelegt. Mach weiß das wohl. Er wünscht aber den Begriff des
Apriorischen, der ihm ein Stigma »metaphysischer Tendenz« ist,
aus aller Erkenntniskritik auszuschalten. Dieser Wunsch entspringt
einer merkwürdigen Verkennung der Sachlage. Mach glaubt näm-
lich, a priori bedeutet etwa »angeboren«, zeitlich aller Erfahrung
vorausgehend. Diese Auffassung ist aber falsch; und man sollte
meinen, Kant selber habe ihr in den ersten Sätzen seines Haupt-
werkes vorgebeugt. Dennoch spukt sie von Beneke bis auf Mach
immer wieder in dem Schrifttum der Philosophie. Nicht auf die
zeitliche Genese geht das a priori — daß alle Erkenntnis mit der Er-
Metaphysikfreie Naturforschung? 15
fahrung anfange, sind die Einführungsworte in die »Kritik der reinen
Vernunft« — , sondern auf den Grund, die Quelle der Erkenntnis.
Die liegt eben nicht in den zufälligen wahrgenommenen Tatsachen,
sondern in unserer geistigen Organisation selber, in der reinen Ver-
nunft, um mit Knut zu sprechen. In seiner dogmatischen Befangen-
heit gegenüber allem Metaphysischen sieiit Mach diesen Irrtum
nicht und versucht nun, die Relationskategorien, in specie die Kau-
salität, empirisch abzuleiten. Daß dieser Versuch unabwendbar
scheitern muß, ist klar; das Beispiel Humes hätte es, wenn nichts
anderes, dartun können.
Üo wenig Machs Faktoren: Beobachtung und Assoziation, allein
die Notwendigkeit des kausalen Verhältnisses zu erklären vermögen,
so wenig ist es angängig, aus ihnen beiden das Schlußverfahren der
Naturwissenschaften, die Induktion, psychologisch herzuleiten.
Unter der Induktion versteht man eine solche Schlußform: daß man
eine für eine Reihe von Fällen beobachtete Regel für alle ähnlichen
Fälle als gültig erwartet. Das soll nun die Assoziation fundieren.
Diese Assoziation wird für den gegenwärtigen Empirismus tatsäch-
lich mehr und mehr, was ihr der geistreiche Engländer Allen vor
30 Jahren voraussagte : »eine Art psychologischer Deus ex machina,
der für jedes unvollkommen definierte Problem einsteht «. Durch
irgendeine Vorstellung können andere, ehedem gehabte Vorstellungen
mit teilweise gleichem Bestände in die Erinnerung zurückgerufen
werden: Dieser Nexus ist Assoziation. Mit nichten aber enthält eine
solche Verknüpfung bereits irgendeine Erwartung. Ein Beispiel:
Tritt mein Freund, mich überraschend, in mein Zimmer, so assoziiere
ich vielleicht vergangene Tage, an denen er mich bereits unverhofft
besuchte. Keineswegs aber erwarte ich, wenn ich an meinen Freund
denke (wohl gar mit denknotwendiger Sicherheit) — er müsse nun
auch sogleicii eintreten^).
Mach sieht iiu Verlaufe seiner Untersuchungen selber, daß mit
der Assoziation allein die Erwartimg ähnlicher Fälle nicht erklärbar
ist. Zu ihrer Erklärung setzt er außer der Assoziation noch ein diese
bestimmt beeinflussendes »biologisches Interesse« ein. Das
drängt uns, bei allen auftauchenden Vorstellungskomplexen, an die
sich früher geiiabte assoziieren lassen, die uns »lebenswichtigen«
Merkmale, die damals eintraten, aufs neue zu suchen. Ijt^bens wicht ig
ist ein sehr weiter Begriff: alles Nützliche und Schädliche, alles in-
tellektuell Belangvolle steht darunter. Dies mag zugegeben sein;
^) Prinzipiell formuliert: Assoziation ist die Wiederbelebung eines früheren
Vorstellungskomplexes durch einen neuen. Nie aber enthält sie die Erwartung,
daß die in jenem ersten Vurstellungskomplex verbundenen Elemente, sobald ein
Teil von ihnen sich in der Vorstellung erneut, sich auch mit den übrigen damals
wirksamen Elementen wieder verbinden werden. Nelson schafft hierfür die
Antithese, daß die Assoziation eine Verbindung von VorstcUungselementen, die
Erwartung ähnlic! er Fälle die Vorstellung von einer Verbindung der Elemente
onthült.
16 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
und es mag in der Tat richtig sein, daß wir bei allen Assoziationen
nach jenen biologisch interessanten Elementen suchen. Aber wenn
^ir — irgendwie gespannt — suchen, ob sie vorhanden seien, so
erwarten wir doch nicht, daß sie vorhanden seien. Daß wir gerade
das aber erwarten, ist ein psychologisches Faktum. Das Interesse
würde nur unsere Spannung auf die Entscheidung, nicht aber die
Voraussicht des Ergebnisses erklären können. Dabei setzt das
biologische Interesse, das uns auf die Entscheidung über das Auf-
treten bestimmter ähnlicher Fälle (nämlich nur der lebenswichtigen)
gespannt macht, seinerseits schon wieder die Erwartung ähnlicher
Fälle voraus! Denn wenn irgendwelche »Merkmale« vms nützlich
oder schädlich waren, dann treibt uns das Interesse doch nur deshalb
dazu, sie wiederum zu erwarten, weil wir erwarten, mit ihrem
Wiedereintreten werde auch der damals eingetretene Nutzen oder
Schaden (das Lebenswichtige eben) sich wiederholen. Man sieht den
Zirkelschluß! Das Problem der Induktion bleibt bei Mach ein
ungelöstes.
Er streitet dem induktiven Schlüsse der Naturwissenschaften
freilich — von seinem Standpunkt aus konsequent — jede logische
Berechtigung ab : Dieser ist ihm lediglich die sattsam besprochene
gewohnheitsmäßige Erwartung des Ähnlichen auf Grund eines bio-
logischen Interesses. Aber er kann natürlich nicht daran denken,
ihn als wertlos zu verwerfen; das würde den Tatsachen der gesamten
Naturwissenschaft widersprechen. So setzt er der Induktion an
Stelle ihrer logischen Berechtigung das Kriterium des Erfolges.
Dieses ist nun eigenartig. Gewiß können induktive Hypothesen
im Erfahrungsgebiet insofern ihre Berechtigung erweisen, als ihnen
selbst keine Erfahrung widersprechen darf und ihre theoretischen
Folgen direkt empirisch geprüft werden können. Aber die Voraus-
setzung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Geschehens überhaupt,
die schließlich im Obersatz aller Induktion steht, ist aus der Er-
fahrung in keiner Weise abzuleiten. Der empirische Erfolg der In-
duktion soll, wie es scheint, nur die Berechtigung der Annahme be-
weisen, daß die beobachtete Regelmäßigkeit keine zufällige sei.
Darin liegt aber doch weiter nichts als die Stabilierung irgendeiner
Gesetzmäßigkeit im Geschehen, also eben der — ausschließlich lo-
gische ■ — Regreß auf jenen Obersatz aller Induktion. Was aber
hat das mit dem Kriterium der Richtigkeit eines induktiven Schlusses
zu tun?
Der Grundfehler, der Mach immer wieder scheitern machte, wird
des öfteren auch ihm mehr oder minder deutlich bewußt: nämlich
die Einseitigkeit des Dogmas, daß alle Erkenntnis aus der Beob-
achtung stamme. Ganz klar scheint ihm dies einmal zu werden;
er schreibt: »Um angeben zu können, daß ein Element von einem
oder mehreren anderen abhängt, und wie diese Elemente vonein-
ander abhängen, welche funktionale Abhängigkeit hier besteht,
muß der Forscher aus Eigenem, außer der unmittelbaren Beobachtung
MetuphvHikfroii- Natur£or»H:huti{;? 17
(jJelegcnein hin/.iifügrii << ^a. a. (». S. 3I(J). Daü di-i- iJiiiker uiilii
merkt, wir or mit dieser tiefen und wahren EitiHicht allem früher
Gegebenen widerspriiht ! -- Was ist nun dies wKigene«, da« wir alli-
um die Erkenntnis Kingenden in tiefem Hemühen zu erj;rüiiden
suchen? Die Beobaehtung nicht, wie er zugibt, Aljcr auch die Lt^gik
nicht. 8io ist leero Form und kommt nur als Mittel, nicht als Quellt-
der Erkenntnis in Frage, wie Mach mehrfach einräumt. Unlxjfri«-
digend ist Machs Antwort: einmal spricht er von »instinktiven Er-
fahrungen« (a. a. 0. S. 272). Der Erkeimt ni.swert gewis.ser »all-
gemeiner Prinzipien« beruht nach ihm darauf, »daü ihr Gegenteil
sehr stark mit unseren gesamten instinktiven Erfahrungen kon-
trastiert«. Aber eine Erfahrung, die nicht auf Beobachtungen, auf
psychischen Eindrücken beruht, ist keine Erfahrung: so bleibt Machs
Termiinis ein inlialt leeres Wort.
Wir wissen die Antwort seit Kant. .Sie gibt die Vernunft-
kritik. Jene »allgemeinen Prinzipien« sind die von Mach tot-
gesagten synthetischen Urteile a priori.
Al)er Mach will n\in einnuil um jeden Preis den Apriori.smus aus
der Erkenntnis eliminiert wissen: und so hat er noch eine letzte Ab-
wehr gegen diese Rückkehr ins Metaphysische, deren Notwendigkeit
sich dem Nachdenkenden hier schier übermächtig aufdrängt: seinen
Begriff der »Abstraktion«. Abstraktion füllt die Lücke in seiner
Lehre aus; sie führt von Einzelurtcilon zum Gesetz, zur Erkenntnis.
Sicherlich ist richtig, daß die Abstraktion von den zusammen-
gesetzten, besonderen Einzelfällen des Urteils auf ein einfacheres
Allgemeines, dali sie zuletzt auf die Prinzipien führt, unter denen wir
alles Geschehen begreifen. Daß wir also die Abstraktion gebrauchen,
um auf die Denkgrundsätze zu kommen, und daß wir anders nicht zu
ihnen gelangen können, das hat kaum ein Erkeinitniskritikcr je be-
stritten. Diese Abstraktion, ein logischer V'organg, ist demnach
die Methode zur Auffindung der Gesetze aus Urteilen: in keinem
Wege aber kann dieser Formalprozeß als die Quölle, der Ursprung
der Erkenntnisinhaltc dieser CJesetze angesehen werden. Und eben-
sowenig gewituien die Erkenntnisinhaltc durch Abstraktion den
Charakter der Notwendigkeit. Allgcmeiniieit ist nicht Notwendigkeit,
Gültigkeit für einen großen Umkreis von Tatsachen nicht notwendige
Gültigkeit für jede unter den Begriff fallende Tatsache. — Mach
zieht hier den zwiefachen — und l>cido Male falschen, von ihm seibor
hier \ind da als unzulänglich erkaimten — Schluß: Was nicht aus
der Erfahrung stammt, kommt von der Abstraktion her; und was
nicht der Abstraktion entlehnt sein kaiui. ist Erfahrxmg. Stets,
wenn er die Erfahrung als unzulängliche Erkennt nisqucUe befunden
hat, beruft er sich auf die Abstraktion; und wenn ihm umgekehrt
ein Gesetz (wie z. B. das der Trägheit) nicht als in sich logisch not-
wendig erscheint (wiw es ja tatsächlich auch nicht ist), so führt er
es auf empirischen Cirund zurück. Das ist natürlich ein ganz unzu-
längliches Verfahren.
K r <> n f r I d , roychUtrlacbe Erkenotois. S
18 Vorbereitende Einfühnmg in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
Indessen hat Mach einen Gedanken in die Erkenntniskritik ge-
tragen, der in dieser Zeit der soziologisch-genetischen Betrachtungs-
weise vielleicht bestechender und förderlicher sich ausnimmt als
sonst wohl. Er hat das Entwicklungsprinzip, in etwas transformierter
Gestalt, als Prinzip der Denkökonomie, in die Debatte geworfen.
Dies regulative Prinzip der biologischen und sozialen Wissenschaften,
das sich logisch auf Induktionen mit Wahrscheinlichkeit auf er baut,
scheint auch eine Reihe von Philosophen geradezu fasziniert zu haben :
ich nenne die Pragmatisten verschiedener Provenienz: James,
Schiller, Mark Baldwin, Mauthner, diesen Dogmatiker des
Skeptizismus, und selbst Simmeis überschauenden Geist. Keiner
aber hat es auf geistreichere und bestechendere Weise auf das Er-
kennen angewandt als Mach. Zum Teil ist seine Gedankenführung
freilich auch da nicht neu. Ältere Logiker, ebenso tiefgründig als
in den Kreisen der Fachleute heute vernachlässigt, nennen bereits
unter den heuristischen Maximen der Systematisierung von Erkennt-
nissen als »oberste Formel« das »Gesetz der Sparsamkeit«, das nicht
anderes besagt als Machs »Prinzip der Denkökonomie«: daß nämlich
die Vollkommenheit der Natürerkenntnis dann erreicht ist, wenn es
gelingt, alle Erscheinungen unter eine möglichst geringe Zahl von
Gesetzen zu bringen. Indessen will Mach über diese unstreitig rich-
tige Maxime wissenschaftlicher Systembildung hinaus. Nicht um
die Form der Erfassung von Erfahrungserscheinungen unter Gesetzen
handelt es sich, sondern der Gehalt der Gesetze selber ist ihm
ein sich wandelnder. Vernunft ist ihm eine Form der Adaptation
an das biologische Milieu; Denkvermögen, Denkformen ein Produkt
des biologischen Vorteils. Was sich unter dem Druck der Prinzipien
der Biogenese an ererbten und erworbenen geistigen Inhalten dem
Organismus Mensch aufprägte, das wird dem Bewußtsein Werkzeug
methodischer Forschung.
Das ist sehr kühn. Richtig, wahr wäre dann also nur noch das
biologisch Förderliche! Nichts anderes besagen die Sätze wie ein
solcher: »Eine Erkenntnis ist stets ein uns unmittelbar oder doch
mittelbar biologisch förderliches psychisches Erlebnis. Bewährt sich
hingegen das Urteil nicht, so bezeichnen wir es als Irrtum.« (Und
viele andere Stellen seiner Werke i).) Gilt diese Betrachtung auch
vom Prinzip der Denkökonomie — das dort wohl auch ein Natur-
gesetz ist — , so ist auch dieses Prinzip nicht im gewöhnlichen Sinne
richtig oder wahr: sondern seine Annahme ist biologisch vorteilhaft.
Und auch dieser Satz: es sei biologisch vorteilhaft, anzunehmen, daß
das Wahre das biologisch Vorteilhafte sei — ist nicht wahr, sondern
biologisch vorteilhaft anzunehmen. Und so fort. Der Wahrheits-
begrift Machs scheitert an der Unauflösbarkeit dieses unendlichen
Regresses. Überdies ist klar, daß dann, wenn mit diesem Prinzip
1) Das Umgekehrte: daß alle Erkenntnis zugleich irgendwie einen biolo-
gischen Vorteil repräsentiere, ist am Ende richtig, aber für ihren Wahrheitsgehalt
erst recht kein zulängliches Fundament.
Mot«phyNikfi<-ic Naturf<ji> lima''? 19
dif |Ji'i!k(.i>'|iarius als Kriterium il<.i Ku iii igK<i' m ili-r Niit m«' h<miiiI-
nis eiuf^fHftzl werden soll, en ain »richtigHten« erucheiiil. ull«- I>enk-
urlx-it zu ersparen: womit denn die Möglichkeit aller N'aturwirtMcn-
Hchnft erlischt und das Prinzip »ich «ellxT aufhebt. Auf« entHchie-
donstc sei betont, dnÜ der Kritiker dtiriin un.schuldij? int, wenn dioHo
Konsequenz wie eine Satire klingt.
Mach scheitert daran, dali er einen Xur-Empirisniu« proklamiert,
der die Wirklichkeil apriorischer Krkenntniscpiellen vorurteiUvoll
und kraujpfhaft ülxMsiehf ; der dabei zum Dogma erstarrt, da** seiner
eigenen Logik und den Tatsachen introspektiver Psychologie wider-
Hprieht ; der in der Folge die Möglichkeit aller Naturwissenschaft, auf
die er sieh gründet, und mithin sich selbst vernichtet,
Immanuel Kant, dessen »philosopiiische Dekrete« Mach etwas
geringschätzig Ix-iiandelt, schrieb in der Vorrede zur Kritik der prak-
tischen Vernunft die Worte: »Was Schlimmeres könnte alx?r diesen
Bemühungen wohl nicht begegnen, als wenn jemand die unerwartet«
Entdeckung machte, dali es überall gar keine Erkenntnis a priori
gebe noch geben könne. Allein es hat hiermit keine Not. Es wäre
ebensoviel, als ob jemand durch Vernunft lx*wcisen wollte, daß es
keine V^crnunft gäbe.«
Ernst Mach hat — trotz allem — diesen Versuch unternommen.
Uns scheint alxT — und Nelson hat es gezeigt — , er ist dabei nicht
eben glücklich gewesen.
Uns bleibt eine Frage: Woher kommt diese »antimetaphysische
Tendenz«, die gerade in den Werken unserer größten Forscher immer
wieder eklatiert und sie ins Abwegige führt i Hier hat ein glänzender
Geist sich ein System der Erkenntnis geschaffen, das, in gerader Linie
fortgeführt, mit der größten Konsequenz sich selber wieder aufhebt.
Und das nur deshalb, weil ein Gegensat zgcfülil ihn gegen eine Meta-
pliysik antrieb, deren einzige Inhalte ihm dogmatische Piiantasmen,
»Xebel der Mystik« erschienen.
(Jewili trägt Metaphysik so, wie sie historisch getrieben wurde,
den Charakter ins Malilose führender Spekulation. Aber Kant hat
den unsagbar tiefen Gedanken einer Kritik der Vernunft in fast voll-
kommener Weise durchgedaciit und danüt jede Möglichkeit unge-
gründeter Dogmatik auf seiner Basis aufgehoben. Wenn seit Kant
noch fast nichts weiter erreicht wurde, wenn Epigonen sein Werk
mißverstanden und ihre Mißverständnisse als Fehler Kants ausgaben,
wenn heute von Cohen bis Lipps, vom »Transzendentalismus« bis
zum »Psychologismus«. jene s|H'kulaiivo Dogmatik herrscht wie
ehedem — trägt .Metaphysik ihrem Wesen nach die Schuld darauf
Weiter aber: glaubt man mit solchen Systemen wie diesem, des meta-
physikfroien Empirisnnis, jene »Nebel«, die aus verworrenen Cteistern
in der Metaphysik aufgestiegen sind, zu verscheuchen? Metaphysik
ist die Wissenschaft von den in unserer geistigen Organisation —
Kant sagt: »reine Vernunft« — gegebenen, alle Erfahrung erst er-
möglichenden, aller Gesetzgebung überhaupt zugrunde liegenden
20 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritisohen Grundlagen.
Grundprinzipien der Erkenntnis. Entweder man stimmt dem zu,
daß die Erfahrungsinhalte sich nach den notwendigen Gesetzen der
Vernunft verbinden — dann treibt man Metaphysik — oder man
leugnet das — , dann erklärö man alle Wissenschaft für amüsanten
(oder nicht amüsanten) Phantasiesport. In der Tat: wer die Meta-
physik ausschaltet, gerade der ist es, der das Wissen den »Nebeln«
ausliefert, die er verdrängen wollte; gerade der setzt an Stelle not-
wendiger und allgemeingültiger Erkenntnis das chaotische Spiel
biologisch bedingter Assoziationen, in dem alle Verbindungs weisen
ihre nur nach Simplizität, Dauer und Lungenkraft der Propagierung
differente Berechtigung besitzen — ein Verfahren übrigens, das
natürlich auch Metaphysik, freilich unerkannte und falsche, zur
Voraussetzung hat. Eben der aber wundere sich nicht, wenn Aus-
wüchse, skeptizistische oder mystische Outriertheiten gerade durch
jene offenen Türen mit eintreten, die er für die »von konventionellen
Schranken des Denkens« befreite Forschung eingerannt hat.
Was ist nach alledem das Wesen der immer wieder geforderten,
bei ihren Verwirklichungsversuchen immer wieder mißglückten meta-
physikfreien Naturwissenschaft? — Im »Bacon« des Charles de
Remusat (1857) findet sich die Stelle: »L'empirisme sans philosophie
rend le sceptre au dogmatisme sans philosophie; l'autorite se releve
lä oü avait triomphe l'examen, et l'oeuvre de la renaissance est de-
truite. — Tel est le terme fatal vers lequel marche cette ecole scienti-
fique qui se croit l'extreme gauche de la science.«
Es ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst Nelsons, den
Beweis hierfür in seiner systematischen Zergliederung der Mach-
schen Erkenntnislehre wiederum erbracht zu haben, Kant sollte
der Naturwissenschaft kein »Überwundener « sein, sondern ein Führer
werden.
Erkcnntnistlit'oric oder VrnuiiiftkritikV
Die folgenden Ausfülirungen knüpfen an das Werk nu'ine.s Fround's
und philosopliiöchen Führers Leonard Nelson: »Clx?r das so-
genannte Erkenntnisprobloni «, GöLtingen 1908, an.
Nelson gibt in diesem umfassenden Werke den systematischen
Ausbau dessen, was er — gewissermaßen programmatisch — in seiner
Arbeit »Die kritische Methode«*) niedergelegt hatte. Sein neues
Werk geht ülx'r das Grundsätzliche dieser ersten Arlx-it nicht hinaus,
es enthält aber eine ausführliche Ableitung der Fehlerquellen, die im
neueren philosophischen Denken zur Verkennung der Richtigkeit
dieser Methode und zu der infolgedessen in der zeitgenössischen
Philosopliie herrschenden Diskrepanz der Auffassungen, Standpunkte
und Methoden geführt haben.
Die Wurzel des Streites, der seit Kant im geschichtlichen Ablauf
sich immer erneuernd, noch heute ungeschlichtet zwischen Trans-
zendentalismus und Psychülogismus schwebt, erblickt Nelson in
der Umbiegung der Vernunft kritischen Problemstellung in die »er-
kenntnistheoretischc«. Anstatt zu fragen: welche Kriterien haben
wir dafür, ob ein Urteil eine richtige Erkenntnis sei oder nicht, —
fragen Ix'ide Heerlager der um die Philosophie Bemühten, ob ea
überliaupt eine objektiv gültige Erkenntnis gebe oder nicht. Diese
Problematisierung der Objektivität unserer Erkenntnis ist im wissen-
.schaftlichen Woge nicht auflösbar. Worm sollte das Kriterium der
Objektivität von Erkennt nis.sen gegeben sein? In einer Erkenntnis?
Das gestattet formale Ijogik nicht: denn auch dieser E.kenntuis
objektive Gültigkeit ist ja Problem. In irgendeiner Gegelx-nheit
also, die nicht Erkenntnis ist ? Aber auch diese Gegebenheit müUte
man kennen, um sie als Kriterium anzuwenden. Sie kann zwar
ex definitione nicht Inhalt, müßte aber Gegenstand der Erkenntnis
werden, um als Kriterium zu dienen. Der Erkenntnis — damit ist
iHjreits wieder das Problematische ihrer Gültigkeit in die Anwendung
des Kriteriums hineingetragen. Denn um über die Gültigkeil unserer
Erkenntnis des Kritoriunus eine Entscheidung zu fällen, müßte man
das Kriterium selbst schon wieder angewendet haben, und so fort.
1) Dio kritisch«« Methode und das VerhältniH der Psjcholojiic rur Philoaophio.
Ein Knpitcl nud der Mothodenlehro, .Abhandlungen der Kriesschon Schule,
Bd. I. 19<>4. (Aueh i\la Sonderdruck erschienen.)
22 Vorbereitende Einführung in die aUgem. erkenntniskritiachen Grundlagen.
Wer nun aber aus der Unauflösbarkeit des erkenntnistheoretischen
Problems auf den Mangel objektiver Gültigkeit in unserer Erkenntnis
überhaupt schließen wollte, der würde voreilig einem Problem negative
Entscheidung vindizieren, das er als unentscheidbar erkannt hat.
Und wer andererseits aus dem Ausspruche dieses negativen Ent-
scheids : ich weiß, daß ich nichts weiß — gemäß dem Satze vom Wider-
spruch die objektive Gültigkeit wenigstens dieser Erkenntnis postu-
lierte, — oder aber wer diesen Satz als falsch hinstellte und somit
auf ein Wissen schlösse, — der würde in beiden Fällen ebenfalls vor-
schnell schließen. Zweifellos findet hier ein Widerspruch statt, und
zwar in der Behauptung des Wissens um das Nichtwissen. Daraus
folgt nur die sichere Falschheit dieser Behauptung; nicht aber die
Tatsache des Dennoch- Wissens. Denn das wäre ein synthetisches
Urteil; und Logik läßt aus dem Satze vom Widerspruch nur die Ab-
leitung analytischer Urteile zu. Hiermit ist die Unmöglichkeit der
Erkenntnistheorie prinzipiell nachgewiesen.
Dieser grundsätzliche Gegenbeweis gegen die Möglichkeit einer
Erkenntnistheorie läßt sich am Beispiel aller heute verfochtenen
Spielarten derselben zur Anwendung und Bewährung bringen.
Alle überhaupt möglichen Erkenntnistheoreme müssen ein Kri-
terium der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis aufrichten, an dem
sie die Erkenntnis prüfen. Dieses Kriterium kann entweder wiederum
eine Erkenntnis sein — oder nicht.
Ist es eine Erkenntnis, so kann es hier einerseits durch Reflexion
vor das Bewußtsein treten — diese Anschauung vertreten Natorp
und Marcus. Andererseits kann es in unmittelbarer Bewußtheit,
evident, gegeben sein — so Meinong.
Liegt das Kriterium außerhalb der Erkenntnis, ist es ein prak-
lisches, normatives Kriterium — so kann wiederum einerseits dies
Wertkriterium mittelbar im Nutzen der Erkenntnisinhalte liegen —
diese Auffassung verfechten Mach und die Lehrer des »biologischen
Vorteils«; andererseits aber kann ein unmittelbarer Wert es aus-
zeichnen, es kann in einer kategorischen Forderung beruhen —
Gegensätze wie Rickert und Lipps vereinen sich in der Annahme
dieses Standpunktes .
Folgen wir diesen verschiedenen Möglichkeiten im einzelnen.
Natorpi) sieht, wie alle Erkenntnistheoretiker, in dem Ver-
hältnis der Erkenntnis zum Gegenstande der Erkenntnis ein Problem.
Zwar ist uns auch der Gegenstand der Erkenntnis nur in der Erkennt-
nis gegeben; aber Erkenntnis stellt doch den Gegenstand hin unab-
hängig von allen Relationen zum erkennenden Subjekt. Diese Un-
abhängigkeit der Position des Gegenstandes in der Erkenntnis von
der Tatsache, daß er vorgestellt, erkannt wird — diese Unabhängigkeit
soll bewirkt werden durch eine Abstraktion von der Subjektivität,
von der Tatsache des Erkanntwerdens. Welche Gründe machen
1) Philosophische Monatshefte. Bd. XXIII. 1887.
Erkenntnistbeurie oder Vcmunf tkritik ? 23
diese Al^traktiun nun notwendig, verbürgen die Geltung ihre« Er-
gebninses? Natorp antwortet: Subjektivität der Erkenntnis be-
deutet da« unmittelbare Verhältni« de« Erkennt niHgegenMtande« zum
Ich. Diesi- Subjektivität laut sieh positiv lx?stimnjen al« da>i Er-
scheinen'). Im (jegen>atze aber zu der Subjektivität do i-
nendenf gilt seine ge.setzmäUige Auffsussung als die gegei n
wahre*). Somit ist die gesetzmäßige Herau.sstellung de« Allgemeinen
aus dem einzelnen Erscheinenden prinzipiell die Vcrgegenatändlichung,
Objektivierung unserer subjektiven Erkenntnisinhalte; und »die Be-
ziehung der Erscheinung zum Gesetze muß die in aller Erkenntnis
ursprüngliciie Beziehung auf den Gegenstand erklären«»). Da«
Gesetz also wird zum erkenntnistheoretischen Kriterium.
An all diesem ist gewiß richtig, daß der Erkennende die Daten
seiner äußeren und inneren Erfahrung dem Allgemeinen, dem Gesetze
unterordnet. Daß er seine Waiirnehmungsinhalte nicht regellos
aneinanderreiht, sondern in ihnen das (Josctz zu erfassen sucht.
Daß er demnach eine Gesetzlichkeit in den Gegenständen seiner Em-
pirie voraussetzt, die ihm das Kriterium dafür wird, Erscheinungen,
die sich ihr nicht einfügen, der objektiven Realität zu entkleiden.
Aber nur dafür! Nur als solch ein negatives, eliminatives Kriterium
wird die antizipierte (iesetzlichkeit auf die Erscheinungen anwendbar:
positive Ableitung des Individuellen aus dem vorausgesetzten All-
gemeinen ermöglicht sie nicht. Positives Kriterium der Realität ist
einzig die Anschauung. Sie gibt ihren jeweiligen Inhalten die subjek-
tiv unmittelbare Assertion; und diese Assertion besteht zu Rechte, so-
lange nicht der Wahrnelimungsinhalt einen Widerspruch zu den unab-
hängig gewonnenen (Je.'^etzen aufweist, der seine Realität in Frage stellt.
Es ist bekannt, daß E. Marcus*) den Versuch gemacht hat, den
Kant mißlungenen transzendentalen Beweis der Grundsätze — über
den noch zu sprechen sein wird — exakt durchzuführen: eine groß-
artige, aber, wie wir wissen, von Beginn ab aussichtslose Konzeption.
Marcus Ix'weist indirekt den Satz: die Realitäten stehen unter aus-
nalimslosen Regeln (nämlich den Analogien der Erfahrung Kants);
er faßt diese Regeln als »Gesetz der Erhaltung des dynamischen
Charakters«*) zusammen. Angenommen, dies Gesetz hätte keine
Gültigkeit in der Xatur, so würde keine Erfahrung (in Kants Sinne)
möglich sein; das läßt sich a priori einsehen. In der Tat; setzt man
die Definitionen von Marcus an Stelle seiner Worte, so ergibt sich
der Satz: »Gesetzt die Realitäten ständen nicht unter ausnahmslcKsen
Regeln« — so ließen sich keine allgemeinen Regeln über die Realitäten
.lufstellen*). Dieser Satz (als ein analytischer) ist allerdings a priori
») a. ». O. S. 273.
«) a. ». O. S. 25U.
») a. a. O. S. 259.
*) Kants RcTolutionsprintip usw. Herford 1902.
») a. a. O. S. 10.
•) Nrlflon. S. 469.
24 Vorbereitende Einführung in die allgcm. erkenntniskritischen Grundlagen.
einzusehen! Marcus fährt nun fort: »Ergo läßt sich einsehen, daß
es keine Natur gibt-, die unsere apriorischen Sätze widerlegt. Folg-
lich werden sie stets bestätigt, oder es wird überhaupt nichts erkannt.
Diese Einsicht ist der Grund unserer Vorstellung von ihrer Notwendig-
keit«i). Gewiß; sofern etwas erkannt wird! Diese Prämisse
liegt implicite als unausgesprochener Untersatz des Syllogismus vor.
Wird erkannt? D. h. ist es möglich. Aussagen von allgemeiner Gültig-
keit zu machen? Ja: unter der Voraussetzung der Gültigkeit des
)5Gesetzes von der Erhaltung des dynamischen Charakters«. Als
welches aber gerade begründet werden soll! Hier steckt die petitio
principii der Marcus sehen Argum.entation.
Meinong2), der die Möglichkeit eines Erkennen?, »das niclit . . .
zunächst Urteilen wäre «3), nicht anerkennt, bemüht sich um das
Kriterium der Wahrheit oder Falschheit von Urteilen. Wahrheit
gewisser Urteile ist ihm verbürgt durch das psychologische Faktum
der Evidenz ihres Inhaltes. Solch evidente Urteile können nicht
falsch sein ; es liegt in ihrer Natur, wahr zu sein, wobei als ihre Wahr-
heit die Tatsächlichkeit des in ihnen Prädizierten, des »Objektivs«,
definiert wird. Auch hier liegt die durch die erkenntnistheoretische
Problemstellung heraufbeschworene petitio principii klar zutage.
Wie will ich erkennen, ob ein Objektiv Tatsache, ein Urteil also wahr
ist, wenn mir das Objektiv doch eben nur im Urteil erreichbar ist!
»Man müßte«, sagt Nelson*), »schon wissen, daß das Urteil wahr
ist, um es mit seinem Objektiv vergleichen zu können.« Es gibt
ja nun die evidenten Urteile beiMeinong: Evidente Urteile können
nach ihm nicht falsch sein. Denn das Urteil: evidente Urteile können
nicht falsch sein — ist ein evidentes Urteil. Aber angenommen,
dieser merkwürdige letzte Satz gelte, so folgt daraus allein keines-
wegs, daß ein evidentes Urteil nicht falsch sein kann. Dazu gehört
noch eine zweite Prämisse; und diese müßte lauten: ein evidentes
Urteil kann nicht falsch sein. Und das ist gerade das zu beweisende. —
Hierzu kommt das weniger Belangvolle, daß die willkürliche Stig-
matisierung der Evidenz als des Kriteriums der Wahrheit eigenartige
psychologische Folgerungen haben muß — und bei Meinong auch
hat: z. B. die Evidenzlosigkeit der Träume und Halluzinationen;
eine Auffassung, die den Tatsachen innerer Erfahrung nicht ent-
spricht.
Nelson bespricht sodann das Prinzip aller biologisti sehen Er-
kenntnistheoretiker, die, fasziniert durch nicht ganz ausgereifte
Entwicklungshypothesen, in der Vernunft nichts anderes sehen als
eine Form der Anpassung an das biologische Milieu, in Gesetzen
nichts als Konvention; die also das Kriterium der Wahrheit von
Erkeimtnis in dem (biologisch oder sonstwie) Fördernden erblicken.
1) a. a. 0. S. 26.
2) Meinong, Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens. 1906.
3) a. a. O. S. 18.
4) S. 481.
Krkenutnistheorie otlor Vomunflkrilik? 25
Was hier die Pragmalisten Avenarius, Macli, Poincare, Jamea,
Schiller mehr oder weniger versteckt und ausgearbeitet lehren, hat
Simmel*) auf eine klare Formel gebracht; und wenn diese biologi-
stische Aljwegigkeit auch für das sonstige Wirken dieses reiclien
Geistes kaum charakteristisch ist, so tut Nelson doch ganz recht
daran, gerade an Simmeis sehr klarer und durchsichtiger Argu-
mentation den prinzipiellen Fehler aufzuweisen.
Die Formulierung dieses Erkenntnistheorems hat zwei Spielarten.
Einmal die: Das Wahre ist als solches das Nützliche. Sodann
die: Das Kriterium des Wahren ist das Nützliche, Gilt der erste
Satz als angenommen, so heißt dies: es ist nützlich, anzunehmen,
das Wahre sei das Nützliche; und dies wiederum bedeutet, es ist
nützlich, anzunehmen, es sei nützlich, anzunehmen, das Wahre sei
das Nützliche. Und so fort. Es liegt ein Regressus in infinitum vor;
und der Biologist oder Pragmatist steht vor der unmöglichen Auf-
gabe, ihn zu Ende zu führen, um einen Wahrheitsbegriff zu erhalten.
Ganz dasselbe gilt vom zweiten Satze: Ist das Kriterium der
Wahrheit der Nutzen, so kann dieser Satz nur behauptet werden,
sofern wir wissen, daß seine Annahme nützlich ist; und der Satz,
daß es nützlich sei, anzmiehmen, daß das Kriterium des Wahren der
Nutzen sei, gilt ebenfalls nur unter dem Kriterium als wahr, daß es
nützlich sei, anzunehmen, das Kriterium des Wahren sei der Nutzen.
Auch hier ist der Regreß ein unendlicher; seine Aiiflösung unmög-
lich; folglich der Nutzen als das Kriterium des Walircn unmöglich*).
Aus diesem Einwände exakt logischer Prüfung lassen alle übrigen
gegen die Biologisten vorgebrachten Einwürfe sich ableiten. Damit
ist der Biologismus und Pragmatismus als Erkenntnistheorie wider-
legt.
Besonders wichtig aber erscheint mir das, was Nelson gegen den
glänzencLslen V'ertretcr erkenntnistheoretischer Problenuitik, gegen
Rickert zu sagen hat. Nach Ricker t^) ist bekanntlich das Prinzip,
das einer Verbindung von Vorstellungen im Urteil die Assertion,
den Wahrheitsanspruch zuerteilt, die kategorische Nötigung, diese
(und nur diese) Vorstellungsverbindung zu vollziehen. In der For-
derung, das Urteil zu fällen, in diesem Urteilensollen ist das Kri-
terium der Gültigkeit, Wahriieit, des Erkenntniswertes gegeben.
»Das ,Seiende' oder die .Wirklichkeit' sind lediglich zusammen
fassende Namen für das als so oder so seiend Beurteilte**); und
»Wahrheit ist nichts anderes als die Anerkennung des Sollens*«),
solches sind grundlegende Thesen Rickcrts. Wenn man daraufhin
fragt, an welches als existierend zu denkendes Subjekt denn diese
*) Archiv für syKtonintischc Philosophie. Bd. I. S. 35.
-) (Jepon Ernst Muchs Lehre vom Gesetz, der Deakökonoraie vergleiche dio
vorhergihcmli; Arbeits
3) Der (Jogonstnnd der Erkenntnis. 2. Avifl. liKM.
*) IV. a. O. S. 120.
6) a. n. O. S. 118.
26 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
Forderung ergehe, zu urteilen, da doch die Existenz nach Rickert
auch nur ein Urteilsprädikat sei, so antwortet er: »an das Bewußt-
sein überhaupt«; denn dieses sei ein »solches, das von keinem Stand-
punkt aus Objekt werden kann«i). Und auf die weitere Frage, wie
er dann aber dies so definierte »Bewußtsein überhaupt« zum Objekt
einer erkenntnistheoretischen Untersuchung machen könne, belehrt
er uns, erstens werde ja nicht das Bewußtsein überhaupt, sondern
nur sein Begriff hier Gegenstand einer Erkenntnis, und zweitens
habe auch das »Bewußtsein überhaupt« selber keine V/esenheit,
sondern sei eine begriffliche Abstraktion. Wir würden dann also
vom Begriffe eines Begriffs reden, und könnten Aussagen über seine
Sphäre und Merkmale usw. machen. Wenn aber Rickert sagt,
dieses Bewußtsein sei ein urteilendes, kein bloß vorstellendes Bewußt-
sein, so sagt er etwas über das »Bewußtsein überhaupt« selber aus,
und nicht über den Begriff vom »Bewußtsein überhaupt«; das aber
widerspricht der von Rickert selbst gegebenen Erklärung, das
»Bewußtsein überhaupt« könne niemals Objekt werden.
Was bedeutet denn dies: »Wahrheit ist nichts anderes als die
Anerkennung des Sollens ? « Wenn dieser Satz wahr sein soll, so muß
er per definitionem besagen: es soll geurteilt werden, Wahrheit sei
nichts anderes als die Anerkennung des Sollens. Und wenn dies
»es soll geurteilt werden « Anspruch auf Gültigkeit besitzt, so beruht
das nach Rickert darauf, daß geurteilt werden soll, es solle ge-
urteilt werden, Wahrheit sei nichts anderes als die Anerkennung
des Sollens. Und so fort in unendlichem Regreß. Denn nach Rik-
kerts eigener Lehre besteht die Wahrheit jedes Urteils darin, daß es
gefordert ist; und in dieser Definition kommt der zu erklärende
Begriff versteckt selbst wieder vor.
Man könnte nun — und Lippss) hat das getan — annehmen,
die Wahrheit eines Urteils finde in der Forderung, es zu fällen, nicht
ihre Bedeutung, sondern nur ihr Kennzeichen. Aber auch diese
gemäßigtere Fassung des Erkenntnistheorems vermeidet den Kar-
dinalfehler nicht. Woher weiß Lipps, daß das Kriterium der Wahr-
heit eines Urteils in der Forderung besteht, es zu fällen? Weil die
Forderung besteht, zu urteilen, das Kriterium der Wahrheit eines
Urteils bestehe in der Forderung, es zu fällen. Und das Urteil, daß
diese Forderung besteht, ist nur insofern Erkenntnis, als die For-
derung besteht, zu urteilen, es bestehe die Forderung, zu urteilen,
das Kriterium der Wahrheit eines Urteils bestehe in der Forderung,
es zu fällen. Auch hier eine unvollendbare Reihe!
Gewiß ist Erkenntnis im Urteile nur dadurch möglich, daß wir
die uns verliehene Willkür der Vorstellungsverbindung ausschalten
wollen, daß wir erkennen wollen. Es ist klar, daß das Wissen um
diese Abhängigkeit des Urteilens vom Willen eine psychologisch -
1) a. a. 0. S. 45.
2) Psychologische Untersuchungen. Bd. I. Heft 1. 1905.
EriMOntninUieorie oder VemunftkritikT 27
empiriBche Krkenntnia ImI. l'^sycin>l^)gI^( im- Kmpiric /«if^t un.s .ikxrr
zugleich, <lali es aiich KrkenntniHHC gibt, die nicht L'rleilr liud, z. B.
die Hiiitiliciieii Waliriicliinungeii, die alhu nicht willkürlich und keine
niittelbaro assertorische Verbindung von Hchon vorher gebildeten
VorMtcUungen Hind. Sondern sie »ind unmittelbare V'onitcllungen
mit elxjnso unmittelbarer Assertion, die keineswegs von den V^or-
Btellungen isoliert ist und erst z\i ihnen hitizutritt. Wenn also mein
Wuhrheitswille mich nötigt, ein Urteil zu fällen und ihm die -\s«ertion
zu gel>en, so tut er das, weil dann in diesem Urteil gerade diejenige
Voi-stellungaverbindung vorliegt, die mir unmittelbar assertorisch
war. In der Urteilserkenntnis wird demnach mittelbar meine un-
mittelbare Erkenntnis reflektiert. Daß ich ein Urteil fälle, dazu
mag ein Wahrheitswille, ein Sollen mich iK'wegen; wie es ausfällt,
wofern es wahr ist, das l>edingt ausschlieülich der Inhalt meiner
unmittelbaren Erkenntnis, der seinerseits von meinem Willen un-
abhängig ist.
ir.
Bedeutet nun aber, so fragt Nelson im zweiten Teile seines
Werkes, die Ablehnung der erkenntnistheoretischen Fragestellung
nicht »die Proklamierung des offenbaren Dogmatismus?«*) So
scheint es. Erkenntnistheorie fordert nach dem Satze des Grundes
die Begründung aller Erkenntnis. Und wir sahen, daß diese Be-
gründung auf einen un vollendbaren Regreß führt, in jeder Form
immer wieder führen muß, — an dem die Erkenntnistheorie scheitert.
Sollte nun also nichts übrig bleiben, als daß nach wie vor dogmatische
Sjxkulation Erkenntnis zu erreichen suciit ?
Beide Seiten der Alternative zwischen Erkenntnistheorie und
Dogma halxMi die gemeinsame falsche Voraussetzung, Erkenntnis
und Urteil seien identisch. Die Erkenntnistheorie nun wendet den
Satz vom Grunde infolge dieser falschen Voraussetzung über die
Urteile hinaus auf die Erkenntnis üWrhaupt an; und so bleibt zuletzt
lediglich der vage V^ersuch der Begründung der Erkenntnis durch ihren
Gegenstand übrig.
Aus dieser Alternative befreit uns eines: die Unterscheidung
von Vernunft und Keflcxion. Alle Reflexion, alles Urteilen
wiederholt lediglich eine unmittelbare Erkenntnis; und in ihr
liegt da« Kriterium des Richtigen und Falschen an unseren Urteilen.
Auf sie also muß von allen Urteilen zurückgegangen werden; selber
alK«r ist sie nicht (etwa durch Bt>ziehung auf ihren Gegei\stand) bo-
gründbar oder hinsichtlich ihrer Geltung verdäclitig: denn Ik'gründung
sowohl als Zweifel sind .selU^r erst möglich auf ihrer Grundlage, unter
der Voraussetzung ihrer (Jültigkeit.
HaiHMi wir dies klar erkannt, so erwächst die Aufgabe, in dieser
Weise die Metophj-sik zu begründen; die synthetischen Urteile
») S. 521.
28 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntuiskritißchen Grundlagen.
a priori durch bloße Begriffe auf die Grundsätze zurückzuführen und
deren Rechtsnachweis durch die Aufweisung ihi-es Ursprungs in der
ixnmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft zu erbringen. Dieses
Problem, diese Kritik der reinen Vernunft, führte Kant der Lösung
entgegen.
Welche Modalität hat nun diese kritische Begründung der Er-
kenntnis? Die ursprüngliche Dunkelheit, Außerbewußtheit unserer
unmittelbaren Erkenntnis ist die Ursache dafür, daß es uns nicht
gegeben ist, metaphysische Grundurteile durch direkte Vergleichung
mit ihr auf ihren Rechtsanspruch zu prüfen, wie dies der Mathematiker
durch Demonstration seiner Sätze in der reinen Anschauung vermag.
Vielmehr muß die unmittelbare Vernunfterkenntnis erst zum Gegen -
stände einer Untersuchung gemacht werden; und dies geschieht eben
dadurch, daß wir ihr Vorhandensein, ihre Gegebenheit als Tatsache
der inneren Erfahrung aufweisen.
Der inneren Erfahrung. Hier lag für die Kritiker J, F. Fries'
und seiner Schule stets der schwerste Stein des Anstoßes. »Was
a priori ist, kann nicht a posteriori erkannt werden«, so lautete schon
Kuno Fischers Anathemai). Daran ist so viel richtig, daß der
Grund von Erkenntnissen a priori nur wieder in Erkenntnissen
a priori liegen kann. Das jedoch ist ebenso gewiß ein pures Dogma:
daß die Methode der Zurückführung auf diesen apriorischen
Grund — den sie also gar nicht enthält, sondern dessen Existenz
sie nachweist — ihrerseits auch apriorisch sein müsse. Man kann
das Willkürliche dieser Annahme gar nicht scharf genug hervorheben.
Für die Erkenntnistheorie liegen diese Dinge freilich anders. Sie
muß den Grund aller Erkenntnis nicht aufweisen, sondern
enthalten; er ist nicht ihr Gegenstand, sondern ihr Inhalt.
Sie also ist von gleicher Modalität wie die Erkenntnis, deren Grund
sie zum Inhalt hat. Setzt man an Stelle der Kritik also die Erkennt-
nistheorie ein, so muß diese Problemstellung zum Transzenden-
talismus führen. Umgekehrt schließt der Psychologismus aus
der Tatsache, daß erkenntniskritische Begründung nur durch innere
Erfahrung möglich ist, darauf, daß der Grund aller Erkenntnis in
der inneren Erfahrung liege. Beide Schlüsse, der des Transzenden-
talismus und der des Psychologismus, sind falsch; und der Fehler
steckt in der Fassung des Begriffes der Erkenntnistheorie.
Die Vernunftkritik bringt diese Antinomie beider Richtungen
zur Auflösung: indem sie den Grund aller Erkenntnis als
transzendent, die Begründung metaphysischer Urteile
aber als ein psychologisch empirisches Verfahren statuiert.
Natürlich legen sich auch die Erkenntnistheoi'etiker die Frage
vor, von welcher Modalität die Methode der Erkenntnisbegründung
sei. Aber hier wird fast nie scharf zwischen Grund und Begründung
geschieden; es Vikariieren dafür verschwommene Termini, die an-
1) Die beiden kantischen Schulen in Jena. S. 18.
KrkcnntniBt'i. nunfikriiik? 59
«chttulicluMi Analof^ien entlehnt mikI iumI clcmii hhIi Ix-iii«- B ^rmi'-
beiordnen hi.sHen (»Wurzel«: N'atorp; »Urhoclen«: Frege; »Hf-imata-
ort«: HusHcrl). Hert-chtigt n^l tltr Kiiiwand ganz gewiU. den Frego
und besonders Hu.sMerl luachen: dali der (Jrund der Logik nicht in
der Psychologie liege; daO unmöglich ».Sütze, welche »ich auf die
bloDo Form bezichen, crHchlossen werden nollen au« Sätzen einen
ganz heterogenen (lehalts«»). Berechtigt: denn im »ErHchlieOen«
liegt die Hyposta^ierung dieses pHychologi.sehen V'erfahreiLs als einer
Beweisart; und im Beweise muß modalisclie Gleichheit von Prä-
miBson und Konklusion gefordert werden. Aljor eben um den Beweis
der Grundsätze handelt es nich in der Kritik gar niclit, sondern um
ihre Deduktion; und diese enthält, wie wir schon sahen, den f Jrund
der Grundsätze nicht.
Bei Husserl ist übrigens die antipsychologistische Tendenz, die
er in die Kritik hineinträgt, deshalb nicht ohne Eigenart, weil er eine
deskriptive Phänomenologie des Erkcnntnia- und Denkerlebens aU
Vorarbeit und Fundament ierung logischer »Statuiertingen selber er-
heischt. Es steht doch außer allem Zweifel, daß die Inhalte solcher
phänomenologischer Vorarbeiten der inneren Erfahrung entnommen
werden müssen, also guter Bestand der Psychologie sind. Die Not-
wendigkeit einer psychologischen Begründung der rationalen Er-
kenntnis scheint sich hier gerade dem, der Husserls Gedankengange
und seinen meisterhaften, für die Forschung richtunggebend ge-
wordenen EinzeluntcrHuchungcn folgt, überwältigend aufzudrängen.
Indes Husserl scheint hier einen Sprung zu machen und. um das
Gebiet phänomenologischer Deskription des empirischen Charakters
zu entkleiden, eine »kategorialo Anschauung«*) einzusetzen. Offen-
bar unter der dogmatischen Voraussetzung, alle unmittelbare Er-
kenntnis sei Ansciiauung. Wozu bedürfte es dann aber ül>erhaupt
noch der Reflexion? An anderer Stelle sagt er ülx'rdies ausdrücklich,
daß die innere Wahrnehmung eine sinnliche sei und daß ihre Mo-
dalität zu der ihrer möglichen Gegenstände in keinerlei Beziehung
stünde.
Also ist der Antipsychologist Husserl auf dem gleichen Wege
psychologischer Kritik wie wir. Und doch verwirft er die psycho-
logische Tlioorcmbildung, aus der die Deduktionen der Grundsätze
zu erfol^'eii haln'n. Mit Unrecht scheint uns.
Endlich werden von Nelson die erkennt ni-^kritischen Ausfüll-
rungen Lipps' ausführlich geprüft. Lipps») kommt der Lösung
des Problems der kritischen Methode ziemlich nahe, aber auf einem
gewundenen Wege, der ihn plötzlich in einen falschen Psychologismua
hineingleiten läßt. Er fordert eine »Grundwissenschaft«, die »aus
») Husserl. I>ipiiKho l'ntorsuchunn.n. IIKX). Bd. I. S. 166.
•) n. n, O. Hd. II. S. 616. Vgl. hioriibor die apütort^n AbhAndluogon dieae«
Bacho.H.
s) Inhalt und Grgonstand. Psychologie und Ix>gik. Vgl xo Lippt L^bre
die späteren Arbeiten des Buches.
30 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
allem Erkennen das Apriorische herauslöst «i). Diese Wissenschaft
hätte also das Apriorische, das, »was alle Erkenntnis erst zur Er-
kenntnis macht«, den Grund aller Erkenntnis zum Gegenstande.
Lipps nennt diese Wissenschaft aber die »reine« oder »erste« oder
»Grundwissenschaft« in der Annahme, daß sie den Grund aller Er-
kenntnis enthalte, zum Inhalte habe. Das ist falsch. Und da
Lipps bei dieser Grundwissenschaft, ausgehend »vom individuellen
Bewußtsein« (also von psychologischen Tatbeständen) »zum reinen
Bewußtsein«, zu »metaphysischen Folgerungen« gelangt, tritt er in
den psychologistischen Irrtum ein.
III.
Weitaus das Tiefste und Wertvollste gibt Nelson im dritten
Teile seines Werkes, den er »die Geschichte der Erkenntnistheorie«
überschreibt. Ungelöst ist ja heutigen Tages noch das historische
Problem: Worin liegt der Grund dafür, daß Kants unsagbar tiefe
Durchführung des vernunftkritischen Gedankens, der die Metaphysik
von aller spekulativen Dogmatik zu befreien, sie zu konsolidierter
Wissenschaft zu erheben berufen war, — daß Kants Werk erst
eigentlich in die Arbeit seiner Weiterbildner jene klaffenden Diver-
genzen hineintrug, aus denen wir heute noch nicht hinauskommen
können ?
Die Antwort auf dieses Problem wird nur aus kritischer Betrach-
tung der Kant sehen Lehre abzuleiten sein.
Kant lehrte den transzendentalen Idealismus; die Unmöglichkeit
positiver Erkenntnis von Dingen an sich. Seine Begründung war
einmal die Auflösung der Antinomien. Ihm selber dünkte sie
die weniger belangreiche Begründung; wir freilich haben in ihr mit
Nelson, der sie in extenso nachprüft, die eigentliche und echte Be-
gründung des transzendentalen Idealismus zu würdigen. Daneben
steht, stets von Kant auf das klarste herausgehoben, der formale
Idealismus. Aller Erfahrungserkenntnis liegen Erkenntnisse
a priori als ihre Form, d. h. als Bedingung ihrer Möglichkeit, zu-
grunde. Von den Dingen aber erkennen wir a priori nur, was wir
selber in sie hineinlegen 2), Daher können die Gegenstände aller Er-
fahrungserkenntnis keine Dinge an sich sein.
Es wird hier etwas über das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegen-
stande ausgemacht. Nach Kant kann eine notwendige Überein-
stimmung von Erkenntnis und Gegenstand nur unter einer von folgen-
den beiden möglichen Bedingungen stattfinden: »Entweder wenn
der Gegenstand die Vorstellung, oder diese den Gegenstand allein
möglich macht «3). Diese Theorie des Verhältnisses von Erkenntnis
und Gegenstand hat wiederum Obersätze; nämlich erstens den,
1) a. a. 0. S. 557.
2) Kr. d. r. V. Vorrede zur 2. Auflage.
3) Kr. d. r. V. § 14.
KrkfnntriiMtlieorje oder Vomundkritik ? 'M
«laß zwiricIuMi KrkeniitiiiH und GfgonHtaiuJ ein kauMaii-. Vfiiiuiiuj«
Vorliegt; und zweiten« den, daU dieser Kaunalnexiih ein unmittel-
barer ist — so dal) etwa eine präntabilierte Harmonie von vornherein
auHge.schaltet wäre. Wovon noch zu sprechen sein wird. Ferner
sind VorauHHct Zungen über das 2^it Verhältnis nötig, um für dio ver-
schiedenen Erkenntnisarten zu entscheiden, welche der genannten
IJcdingungen für sie vorliegt . iK^nn da.s Kriterium der Anwetidbarkeit
{ >h*sclieina «) der Kategorie der Kausalität ist das Zeit Verhältnis. Aus
dem allgemeinen Verhältnis der Sinnlichkeit zum Verstände ') nimmt
Kant ab, das Wesen sinnlicher Erkenntnis liege in der Kczeptivität,
im pa.ssiven Affiziertwerden von CJcgenständen. Erkenntnis a poste-
riori sei demnach »eine Erkenntnis, ho wie sie unmittelbar von der
Gegenwart des (Jegenstandes abliängcn würde«*). Erkenntnis a priori
dagegen gehe vor dem (Jegenstando selbst vorher.
Diese Prämis-sen sind synthetische Urteile: keine logisch-analy-
iische Notwendigkeit stützt sie. iSie sind apriorisch: denn sie sollen
allgemein und mit Notwendigkeit gelten. Sie sind nicht anschaulich.
\lso sind es echte metaphysische Urteile.
Metaphysische Urteile müssen Ix^gründet werden. Allein nirgends
hat Kant in der Tafel der Grundsätze des reinen Verstandes den
Grund dieser vier Sätze gezeigt. Und es ist schlechterdings un-
möglich, sie von hier abzuleiten. Sie sind unbegründbar; Dogmen.
Weiter: sie enthalten Aussagen ülx?r das Verhältnis der Dinge an sich
/.u unserer Erkenntnis. Die Möglichkeit einer solchen Au.ssage aber
widerspricht Kants eigenen Nachweisungen, widerspricht dem (Grund-
gehalte des formalen Idealismus selbst. Denn schon die Aussage:
die Dinge an sich sind a priori unerkennbar — schon die Zulassung
dieser .\ussage widerspricht ihrem Inhalte: sind die Dinge an sich
a priori unerkennbar, so ist auch kein Wissen um diese Unerkenn-
barkeit möglich. Die Behauptung dieses Wissens bildet zu seinem
Inhalt einen Widerspruch. Jede einzelne der vier Prämissen des
formalen Idealismus steht in Widerspruch mit dem formalen Idealis-
mus selbst. Damit entfällt der formale Idealismus.
Kant kam zu seiner Disjunktion, daß entweder die Erkenntnis
den Gegenstand oder dieser die Erkenntnis möglich mache, auf Cirund
folgender Überlegung : Er legte sich die Frage vor, wie die notwendige
t^bereinstimmung der Erfahrung mit den Begriffen ihrer Gegenstände
möglich sei '). Und antwortete: Entweder ermöglicht die Erfahrung
die.'ie 1^'griffe; oder umgekehrt, diese Begriffe ermöglichen die Er-
fahrung. I>etzteres ist al)er der Fall bei den K ■ m; denn diese,
Begriffe a priori, enthalten ja den Grund der "' keit aller Er-
fahrung ül)erhaupt.
Die.se Feststellung ist ganz richtig; und eine der denkerischen
Großtaten Kants. Aber sie l)csagt lediglich etwas über das Vcr-
>) Kr. d. r. \*. Tmnftzondcntalc Logik. Einleitung I.
«) Prologomen«. $ 8.
») Kr. d. r. V. 2. Auinjnl>c. $ 27.
32 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
hältnis der apriorischen Erkenntnis zur Erfahrung, und absolut
nichts über das Verhältnis der apriorischen Erkenntnis zu ihrem
Gegenstande. Kant hat das tatsächlich verwechselt, und zwar an
mehreren Stellen^), wie Nelson sehr klar erläutert.
Nun hat überdies Kant selbst erkannt, daß seine vielbesprochene
Disjunktion der möglichen Beziehungen zwischen Erkenntnis und
Gegenstand unvollständig war; daß noch ein dritter Weg offen bleibt:
die Hypostasierung einer prästabilierten Harmonie; so etwa, als
wenn unsere subjektive geistige Anlage derart organisiert wäre, »daß
ihr Gebrauch mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung
fortläuft, genau stimmte« (»Präformationssystem der reinen Ver-
nunft«). Trendelenburgs Einwurf, Kant habe in seiner Dis-
junktion die Möglichkeit dieser Annahme übersehen, stimmt also
nicht; wie schon Kuno Fischer ihm nachwies.
Kant lehnt allerdings das Präformationssystem ab. Einerseits
aus dem teleologischen Gesichtspunkt, daß eine solche »Voraus-
setzung vor bestimmter Anlagen zu künftigen Urteilen« es bei allen
unseren Urteilen im Vagen lasse, »was der Geist der Wahrheit oder
der Vater der Lügen uns eingeflößt habe«; daß also bei ihr ein Kri-
terium des Wahren und Falschen an unserem Urteilen fehle. Das
ist richtig; indes ist die Präformation an sich noch nicht widerlegt. —
Ferner führt Kant gegen das Präformationssystem an, daß mit der
Annahme desselben den Kategorien die Notwendigkeit ihrer Geltung
abhanden kommen würde; wenn z. B. die Kategorien der E-elation
nur auf eine »uns eingepflanzte« subjektive Notwendigkeit, gewisse
empirische Daten in bestimmten Verhältnissen verbunden zu denken,
zurückgeführt würden. »Ich würde nicht sagen können: die Wir-
kung ist mit der Ursache im Objekte (d. i. notwendig) verbunden,
sondern ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese Vorstellung nicht
anders als so verknüpft denken kann. « Das stimmt aber nicht.
Wenn ich »so eingerichtet« bin, denken zu müssen: A ist B, so denke
ich eben: A ist B: und nicht: ich sei nur so eingerichtet, denken
zu müssen, A sei B. Überdies setzt ja die Präformation voraus, daß
tatsächlich unser Denken mit den Abläufen der Natur in prästabi-
iierter Übereinstimmung steht. Kants Argument entfällt demnach.
Außerdem aber enthält das Wissen um die Art, wie ich eingerichtet
bin, ebenfalls Anspruch auf objektive Gültigkeit. Kant müßte
folgerecht sagen: Ich bin nur so eingerichtet, denken zu müssen,
ich sei nur so eingerichtet, denken zu müssen usw. — und der be-
kannte unendliche Regreß tauchte wieder auf.
Zugegeben sei das: die subjektive Notwendigkeit, ein Sachver-
hältnis zu denken, erlaubt noch nicht den Schluß auf die objektive
Notwendigkeit dieses Sachverhältnisses. Beim Präformationssystem
lägen die Dinge dann so: den kategorischen Grundformen würde die
analytische, logische Notwendigkeit in der Tat fehlen. Ihre objektive
1) z. B. Proleg. § 36.
Er; Vernunft Lritik? 33
(lüitigkcit wäre Io^imh /.uijiiii^r. MetaphvHiMclif .\im wc-ndigkeit al>cr
hrauchto ihnen durcliauH nicht zu fehlen. Diene würde allerdings
nicht im lleweiswege (id chI logi»ch). sondern unmittelbar auf-
gewiesen werden müssen.
Das prinzipiell Entscheidende in der Beurteilung der Präforma-
tionslehre liegt in folgender Erörterung: Eine jede P]rkenntni"theorie
muli, um möglich zu sein, auf der Voraussetzung fußen, dali unserer
Erkenntnis (wenigstens zum Teile) transzendrritnle Wahrheit inne-
wohnt. Auch der formale Idealismus. Mit welchem Rechte spricht
denn Kant den formalen Bedingungen der Erfahrung transzendentale
l^«alitiit ab? Er muli für die erkenntnistheoretischen Olx?r»ätze
dieses Urteils transzendentale Wahrheit beanspruchen. Wofern wir
also die transzendentale Walirheit eines erkenntnistheoreti-schen
Urteils als Präformat ion.ssystem bezeichnen, hat dieser Ausspruch
Kants das Präformationssystem zur Grundlage. Die Bestreitung
des Präformat ionssystems schlielJt also einen Widerspruch ein.
Sorgfältig von dieser Fassung des Präformationssystems zu unter-
scheiden ist freilich der Versuch, die Präformat ion auf einer theo-
logischen Basis aufzurichten. Hier hat Kant in der prachtvollen
H.-iefstelle (an Marcus Herz) wider Crusius und den Deus ex
maciiiiia ganz recht. Denn wolier sollten wir von dem Geiste, der uns
die Regeln unseres Urteilens einpflanzte, Erkenntnis erlangen, wenn
nicht vermöge der Regeln unseres Urteilens? Deren Wahrheits-
ansprüche doch gerade erst durch die Annahme der uns vom Geiste
verliehenen Erkenntnismöglichkeit begründet werden sollen! Hier
liegt (>in Zirkelschluß vor.
Also: wenn Kant auch mit Recht diese zweite Form der Präfor-
mation »das Ungereimteste, was man nur wählen kann« nennt —
s(l hat er die erste Form der Präformat ion damit durchaus noch
nicht abgetan; im Gegenteil: der Erkenntnistheorotiker wird
sie iniplicile immer vorau.ssetzen müssen.
Wir hatten als Voraussetzungen des formalen Idealismus gefunden :
das V^erhältnis der Erkenntnis zum Gegenstaude ist ein kausales, und
zwar ein unmittelbar kausales. Was aber causa im einzelnen Falle
ist — ob Erkenntnis, ob Gegenstand — , wird durch das Zeitverhältnis
dessen bestimmt, was von beiden dem anderen »vorhergeht«. Bei
<liT Erkenntnis a priori geht die Erkenntnis dem Gegenstand vorher.
Was bedeutet dies nun? Einmal ist unter »Gegenstand« ganz offen-
bar der Wahrnehmungsgehalt, das empirische Material verstanden.
Dann hat der Satz den Siim: Erkenntnisse a priori sind unabhängig
von der FIrfahrung. Gegensfand einer Erkenntnis katui aln^r in weite-
rem Sinne jedi-s Vorgestellte, jedi'S Subjekt, von dem etwas prädi-
ziert wird, heißen. Für apriorische Erkenntnis wäre der CJegenstand
danach »mter Umständen ein Allgemeines, eine bloßo Fonn, ein
Gesetz. In diesem Falle aber wäre Kants Satz vom Zeit verhält ni.««
falsch; auch jede Erkenntnis a priori hätte ihren Gegenstand un-
mittelbar l>ei sich.
Kr>)nfi-lil, r^VifiUlrU.-lir Krkrr.iittiu 3
34 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
Versteht man unter Gegenstand empirische Gegebenheit, so hat
Kants große Frage: wie es möglich sei, Gegenstände a priori zu er-
kennen — mit Recht die Lösung erfahren: weil jeder Gegenstand
(der Erfahrung) seiner Form nach durch die a priori erkannten Ge-
setze erst möglich wird. Was wir a priori erkennen, ist also die Form
der Erfahrungsgegenstände. Diese Form aber ist ihrerseits Gegen-
stand der apriorischen Erkenntnis — Gegenstand in seiner zweiten
Wortbedeutung !
Diese beiden Bedeutungen sondert aber Kant nicht scharf von-
einander ab; so kommt er zu seiner Erkenntnistheorie. Er fragt
(bei der Auf Weisung der reinen Anschauung als Grund der Möglich-
keit der Mathematik): »Wie ist es möglich, etwas a priori anzu-
schauen? Anschauung ist eine Vorstellung, so wie sie unmittelbar
von der Gegenwart des Gegenstandes abhängen würde. Allein wie
kann Anschauung des Gegenstandes vor dem Gegenstande selbst
vorhergehen?« Die Verwechslung ist hier ganz durchsichtig. Dem
»Gegenstande«, sofern er empirische Gegebenheit bedeutet, geht die
reine Anschauung tatsächlich vorher. Bezeichnet man indes mit
»Gegenstand« einer Erkenntnis das in ihr Erkannte, so hat auch
die rein anschauliche Erkenntnis ihren Gegenstand unmittelbar bei
sich; und die Hindernisse sind aus dem Wege; — die Prämisse vom
Zeitverhältnis zwischen Erkenntnis und Gegenstand fällt freilich
damit.
Wir kommen zum Schluß: Der formale Idealismus ist hinfällig,
verfehlt, und als Begründung des transzendentalen nicht zu ge-
brauchen. — — —
Ein zweites wichtiges Abirren der Kant sehen Arbeit, das für
die Erkenntnistheorie folgenschwer ward, ist sein transzendentaler
Beweis der Grundsätze. Die prinzipielle Unmöglichkeit des trans-
zendentalen Beweises überhaupt wurde bereits im ersten Teile dar-
getan. Wie führt nun Kant dies Unmögliche durch?
Schicken wir zum Verständnis voraus: Kant faßt nur zu häufig
noch in aristotelischer Tradition die Trennung der Logik — als der
apriorischen Erkenntnis in analytischen Urteilen — und der Em-
pirie — als der aposteriorischen Erkenntnis in synthetischen Ur-
teilen — als eine richtige und vollständige Disjunktion auf. Wenn-
gleich er die synthetischen Urteile a priori als erster herausgestellt
und einem Teile von ihnen, den mathematischen, den Grund auf-
gezeigt hat, so hat er das gleiche bei den synthetischen Urteilen
a priori durch bloße Begriffe noch keineswegs mit Klarheit erreicht.
Die Möglichkeit dieser synthetischen Urteile a priori soll begründet
werden; das ist sein Problem. Nun hat der Begriff der »Möglichkeit«
einen doppelten Sinn. Einmal den objektiven der Gültigkeit. Dann
den subjektiven des psychologischen Ursprungs (wovon außerdem
noch das genetische Problem der »physiologischen Ableitung« Kants
sorgfältig zu unterscheiden ist). Zunächst handelt es sich für Kant
um die erste Bedeutung; die objektive Möglichkeit. Auf Grund der
Erk „. ... -j ; Veniunftkritik? 30
««x'lxMi voriiuHgeHclucklt'M Animlime d»?r überkoinmem*n lJi>jurjktion
ist dnH Kiiti'riuin di-r Ciültigkeil «yiithftLsciuT Urlcilo entweder Kni-
pirie oder Logik. Würo es Empirie, duim küiinto e« keine synthe-
tischen Urteile u priori von objektiver (Jültigkeit gelxjn. Bleibt
uImo die Logik. Der )x*rühmte Beweis wird folgendermaßen geführt:
Innerhalb der Erfahriingserkenntni.s ist un« eine Scheidung zwiHchen
Wuhrluit und Stliein nio^Iicl;. Die Kriterien für diese Scheidung
liefern uns die synthetischen Urteile a priori als Prinzipien dt-r .Mög-
lichkeit der Erfahrung. Durch diese Prinzipien allein kann der Begriff
der wissenschaftlichen Wahrheit definiert werden. »Erkenntnis &
priori hat nur dadurch Wahrheit, daß sie nichts weiter enthält, als
was zur synthetischen Einheit der Erfahrung überhaupt notwendig
ist «•)• »Die Möglichkeit der Erfahrung ist also das, was allen unseren
Erkenntnissen a priori objektive Kcalität gibt«*).
Was wir schon prinzipiell festgestellt haben, wenden wir als Kri-
terium der Stichhaltigkeit an diesen Beweis. Die apriorischen Grund-
>ätze sind möglich auf Grund der Wirklichkeit der Erfahrung; die
Erfahrung; aber ist ja selbst nur möglich unter Voraussetzung der
Objektivität der apriorischen Grundsätze! Ein Zirkel.
Wie wir diesen »Beweis« auch fassen mögen: nie erreichen wir
mehr als den rein analytischen Satz, daß gewisse Prinzipien auf
«•inem Gebiete gelten, das durch diese Prinzipien gerade definiert wird.
Wenn die metapliysi.schen Grundsätze den Grund der Möglichkeit
der Erfahrung enthalten, so kann nicht die Mögliciikeit der Erfahrung
den Grund der metapiiysischen Grundsätze enthalten. Das ist klar.
Einen Grund aber müssen diese synthetischen Grundsätze doch
haben; und ihn zu finden ist auch Kants Bemühen*). Nelson
hatte, im zweiten Teile seines Buches, diesen Grund schon aufgedeckt :
es war die nichtanschauliche unmittelbare Erkenntnis der reinen
Vernunft. Kant war es nicht gelungen, sie zu finden; denn ihm galt
die dogmatisclie Disjunktion der Erkenntnis in Anschauung und
Urteil; und so mußte er, da er die metaphysische Erkenntnis als
nichtanschaulich erkannt hatte, sie auf Reflexion zu gründen suchen.
So kam er zum transzendentalen Beweise.
.\n dessen Stelle rückt nunmehr, als eigentliches Problem der
Vernunftkritik, die Deduktion der Grundsätze aus dieser unmittel-
baren Erkenntnis im subjektiv psychologischen Wege. Auch Kant
kannte wohl die Aufgabe einer »subjektiven IX^duktion«*); aber er
erteilte ihr nur eine präparalorische Nebenfunktion. Er nahm viel-
mehr nii. die Kritik haln» die Aufgabe, die metaphv'sischen Grund-
>iit/c zu Ix'weisen; sie enthalte also deren CJrund — was bei der De-
duktion tatsächlich nicht der Fall ist — und sei also hinsichtlich
ihrer Modalität gleichartig den durch sie begründeten metaph^'sischeu
») Kr. d. r. V. (ReoUm.) 8. IM.
•) Kbetid«. 8.222.
*) Ebond«. 8. 238 and {mm.
*) Kr. d. r. V. S. 113f.
36 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
Sätzen. Er zog Kritik und Metaphysik zusammen unter den Ober-
begriff der transzendentalen Logik; jener Wissenschaft, die erstens
die apriorischen Vernunfterkenntnisse synthetischer Art enthält
(Metaphysik) und zweitens ihren Ursprung bestimmt (Kritik)').
Es wird demnach die Kritik an die Spitze des Systems der Vernunft-
erkenntnis gestellt; und daraus resultieren nun zwei Möglichkeiten:
Einerseits nämlich wissen wir prinzipiell und können jederzeit
faktisch aufweisen, daß die Sätze der Kritik auf innerer Erfahrung
fußen; also erkennen wir in Kants Fassung der transzendentalen
Logik den drohenden Fehler psychologischer Ableitung des Systems
der Vernunfterkenntnis aus empirischen Obersätzen.
Andererseits aber sind die Sätze des Systems der metaphysi-
schen Erkenntnis, wie Kant definitiv feststellte, synthetische Urteile
a priori aus Begriffen; wenn also die transzendentale Logik Kants
die logische, syllogistische Ableitung der Sätze des Systems aus denen
der Kjitik zum Inhalt hat, so müssen die Obersätze dieser logischen
Ableitung, also die Inhalte der Kritik, ebenfalls synthetische Urteile
a priori durch Begriffe sein. So verführt die falsche Identifizierung
der Modalitäten von Kritik und System klar zum »transzenden-
talistischen Vorurteil« (das oben genauer erörtert wurde). Implicite
liegt in Kants Fassung des Begriffes der transzendentalen Logik
bereits die Möglichkeit dieser beiden Fundamentalfehler aller späteren
Erkenntnistheorie beschlossen; die kritische Errungenschaft stürzt,
und das Dogma erneut sich. —
Aus Nelsons »axiomatisierender « Zergliederung der Voraus-
setzungen, die dem Denkwerke Kants unterlagen, geht hervor, daß
hinter ihnen allen zuletzt immer der Fehler steht: daß Kant Re-
flexion und unmittelbare Erkenntnis nicht scharf gesondert hat.
Was um so bemerkenswerter ist, als Kants größte Entdeckung, die
der synthetischen Urteile a priori aus bloßen Begriffen, zusammen
mit dem mathematischen Analogon ihn eigentlich geradezu auf diese
Unterscheidung hätte führen müssen. Denn steht einmal die Tat-
sache des Vorkommens synthetischer Urteile a priori aus bloßen Be-
griffen fest, so muß die Frage nach ihrem Grunde gestellt — und bei
der Antwort Anschauung und Reflexion in gleicher Weise als dieser
Grund abgelehnt werden. Und damit hält man dann die
Lösung in Händen.
Der Schluß erfolgt mit Deutlichkeit aus drei Prämissen: Erstens
— wir besitzen metaphysische Urteile. Zweitens: Reflexions-
erkenntnis ist mitelbar. Oder, was dasselbe ist: Reflexion enthält
nicht den Grund synthetischer Urteile; ein logisches Kriterium ma-
terialer Wahrheit ist unmöglichi^. Drittens: Das Bewußtsein um
die metaphysische Erkenntnis ist nur durch Reflexion möglich (wir
besitzen keine intellektuelle Anschauung). — Hieraus folgt die Exi-
1) Ebenda. S. 80. '^
2) Kant lehrt dies ganz genau so. Vgl. Kr. d. r. V. S. 81 f. Logik, Einl. VII.
Krkenii' fikritik? 37
»teil/, tlci unniittelhartMi unniiiuHchaulichfii KrkenntniH tli-r n-iinMi
Vernunft ab< (Jjund der niotapliyHi»cht*n Krkennlni«.
Kttr»t nun Ix^ging die Unkorrekt heit, an der zweiten I'rJirni.iHo,
wenn er selbst sie aucl» lelirt, nicljt gleichinäliig fetitzulialtcn. Neben
ihr taucht unausgesprochen immer wieder das traditionelle Dogma
auf: alle Erkenntnis ist entweder Anschauung oder Reflexion. Hält
man diese dogmatische Trämissc aufrecht, so muß man eine der drei
faktischen streichen. Hut weder die erste: dann folgt der Empi-
rismus. Oder die zweite: dann folgt der logische Dogmatismus.
Oder die dritte: dann folgt die intellektuelle Anschauung, der In-
tuitivismus und der Mystizismus. — Oder aber man streicht da«
Dogma: dann bleibt die Annahme der unmittelbaren Erkenntnis der
reinen Vernunft übrig (Kritizismus).
IV.
Diese vier prinzipiell möglichen Schlü:se — und die auf jedem
von ihnen jeweils sich aufbauenden Philosopheine — sind nun in
der Tat auch im historischen Ablauf von den Fortbildnern Kants
verfociiten und systematisch durchgeführt worden. Der Empirismua
feierte durch Bcneke, der logische Dogmatismus durch Hegel,
der Mystizismus durch Schelling seine Auferstehung; Jacob
Friedrich Fries aber brachte den eigentlichen Kritizismus, wie ihn
Kant angebahnt hatte zur Vollenduung. Es ist, wo nicht das größte
Verdienst, so doch die scharfsinnigste Leistung Nelsons, die grund-
sätzliche Notwendigkeit jenes geschichtlichen Werdens hier aus
Kants Werk selber abgeleitet zu haben.
Hierüber ist noch einiges zu sagen. Nelson zergliedert zunächst
das Werk des Denkers, der, heute hinter größeren Nachfolgern zurück-
stehend, doch als der eigentliche Schöpfer des metluxlisciien Werkee
wie des malerialen Fundamentes zu U'trachten ist, auf dem Beneke
und Ficlite, Schelling und Hegel erst ihre dogmatischen CJe-
bäude errichten konnten: Karl Leonhard Ueinhold.
Rc inhold sieht in dem analytischen Regreß das methodische
Prinzip der Kant sehen Kritik. AIkt die Zergliederung geht ihm
nicht weit genug. Denn das Prinzij) der .Möglichkeit der Erfahrung,
aus dem die regressiv gewonnenen metaphysischen Grund-sätze be-
wiesen werden, bedarf selbst einer weiteren Reduktion auf Oliersätze.
Als höchstes, letztes Fundament muß ein Prinzip gefunden werden,
das sowohl die inetaph\'sischen Grundsätze als auch diesen Satz der
Mögliclikeit der Erfahrung zu Folgesätzen hat; mehr noch: da.s auch
der praktischen Metaphysik zugrunde liegt, auch den Ober«atz aller
Logik darstellt.
Die Wissenschaft von diesem Prinzip, die »Elementarphilosophie«,
hat auszugehen vom Begriffe der bloßen Vorstellung, den wir au«
dem Bewußtsein schöpfen. Das Faktum des Bewußtseins muß da«
Fundament der Elcmentarphilosophio letzthin seinerseits begründen.
38 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
Und zwar wissen wir durch bloße Reflexion über dieses Faktum:
»daß die Vorstellung im Bewußtsein durch das Subjekt von Objekt
und Subjekt unterschieden und auf beide bezogen wird«i) (»Satz
des Bewußtseins«).
Nun ist aber nicht abzusehen, wie sich Reinholds Forderung
eines obersten Grundsatzes für Logik und Metaphysik erfüllen lassen
sollte. Dieser Grundsatz müßte entweder analytisch oder synthe-
tisch sein. Allein aus analytischen Grundsätzen folgen nie synthe-
tische Schlußsätze, und aus synthetischen Sätzen nie analytische!
Die Einzahl dieses Grundsatzes zwingt ferner zur Erinnerung daran,
daß zu jedem Syllogismus zwei Prämissen gehören, daß sich also
aus einem Grundsatz allein gar nichts entwickeln läßt. Sodann
kann es überhaupt keine höheren Sätze geben, aus denen die meta-
physischen Grundsätze beweisbar würden. Denn da die zu beweisen-
den Grundsätze synthetisch sind, müßte es wenigstens eine Prämisse
auch sein. Diese könnte aber nicht empirisch sein — denn die Kon-
klusion ist ja metaphysisch — ; metaphysisch aber könnte sie auch
nicht sein — denn unter den metaphysischen Sätzen sind ja die Grund-
sätze, die bewiesen werden sollen, die allgemeinsten. Der ganze
Fundamentierungs versuch ist also falsch.
Reinhold kam zu ihm offenbar dadurch, daß er den analytischen
Regreß Kants als die einzige Methode der Kritik wertete. Er über-
sah dabei, daß durch diese Methode zwar die metaphysischen Grund-
sätze tatsächlich herausgestellt werden, nie aber über den Grund ihrer
Gewißheit etwas ausgemacht wird. Gerade das letztere ist aber das
eigentliche Problem der Kritik. Und diese Auf Weisung des Grundes
kann im Wege logisch analytischen Regresses nicht geschehen. Sie
wird, wie Nelson im zweiten Teile seines Buches nachwies, im Wege
innerer Erfahrung vollzogen. Reinhold selbst will ja etwas ähnliches,
wenn er die Elementarphilosophie als Wissenschaft von den Merk-
malen bloßer Vorstellungen statuiert; aber er übersieht die Tatsache,
daß die Modalität solcher Wissenschaft eine empirische ist. Indem
er aus den Inhalten dieser Wissenschaft die metaphysischen Grund-
sätze im Beweisverfahren abzuleiten sucht, vollzieht er also, ohne
es zu merken, die Introduktion des empiristischen Psycho-
logismus in das System der Metaphysik (an dessen Spitze ja seine
ungewollt empirische Elementarphilosophie steht). — Daß Rein-
hold die Grundsätze aus irgendeinem anderen Prinzip zu beweisen
versucht, und aus diesem Beweis verfahren Vernunftkritik macht —
das zeigt, daß bei ihm im letzten Grunde das Kant sehe Vorurteil:
Erkenntnis sei entweder Anschauung oder Reflexion — weiter-
bestehen blieb und sogar zum eigentlich treibenden Moment seiner
Spekulation geworden ist. Das Resultat, das er erzielt — indem er
von irgendwelchen dogmatischen Prinzipien seiner Elementarphilo-
1) »Über das Fundament des philosophischen Wissens«. 1791. S. 78. Des-
gleichen »Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens «.
S. 258 und pass.
Krkt'nntniBlhuoho oder Vi-muiiftkhtikT S9
fiophiü die liihalle der Metuphysik epwyllogiMtiach ableitet — , mt die
Wiedeniuf rieht ui»g des iogisclion DogmutisinuH auf den Trüm-
mern verluMHeiier Vernunft kritik.
Die rixMimlnne von Keinliolds Feliler in ein DcnküyBtein kann
diesem zwei mögliclie Tendenzen geixjn. Entweder man nimmt an:
die KlementarphiluHophie int aU der Grund der metaphyHiHcheu Er-
kerujtnis von gleielier Modalität wie diese, also apriorisch — darau»
folgt da.s erkennt iiistheoretisehe System, wie ea Fichte in der Wissen-
Bcliaftslehre aushaut. Oder man bleibt Ix'i den Tatsachen und sagt:
Wissenschaft vom Vorstellungsvermögen ist empirisch; und daa aus
ihr Bewiesene muÜ mit ihr modalisch gleichartig sein — dann syste-
matisiert sich Keinholds Fehler im psychologischen Genetismua
Bcnekes. Also: als tiefster Ursprungsort der noch lieute sich Ije-
fehdenden Ix-iden Erkenntnistheoreme, des Transzendentalismus
und des Psychologismus, liegt in der Historie der nachkantischen
Pliilosophic hier, bei Keinhold, der Denkfehler vor: daß eine
Wissenschaft möglich sei, die das konstitutive Funda-
ment der Philosophie zum Inhalte hat. In dieser mit sorg-
samer Schürfe herausgearbeiteten Tatsache sehe ich den Schlüssel zur
(Jesciiichte der nachkantischen Erkenntnislelire; sie erschließt zum
ersten Male definitives Verständnis des historischen Entstehens
der erkenntnistheoretischen Diskrepanzen bei den Nachfahren
Kants.
Von den zwei möglichen Ausbauten des Reinholdschen Fehlere
ist der eine der, dali die Apriorität der Elementarphilosophie be-
hauptet wird. Hier systematisiert sich das »transzendentale Vor-
urteil«, wie es Fries treffend nennt; man sieht die Bahn, die Fichte
beschritt. Fichte übernimmt Reinholds Forderimg eines obersten
Grundsatzes der gesaniten Philosophie, setzt aber den Regreßversuch
Reinholds noch über dessen Prinzip des Bewußtseins fort. Über
dem Begriffe der Vorstellung noch stehe der der »Tathandlung«.
Auf diese aber dürfen die Kategorien noch nicht angewendet werden;
sie sind ja ein erst Abzuleitendes; es handelt sich also um ein Tun
ohne Tuendes; jegliche Beziehung auf das Subjekt hat auszuscheiden.
Dieses Tun ist das »Ich«. Im Ich über fallen Subjekt und Objekt
zusammen; sie sind »gleich ursprünglich in der Ichheit verbunden«»).
Aus dem Satze: »Ich = Ich« geht »die ganze Philosophie hervor«;
aus ihm vernuig die Wissenschaftslehre »allen möglichen Wissen-
schaften nicht die Form allein, sondern auch den Gehalt zu geben«*».
Hier also die Forderung echten dogmatischen Ix>gizismus, aus
einer analyliselien Vergleichungsformel tlas gesamte Wissen ab-
zuleiten! Dazu kommt, daß Fichte als einziges Begründungs-
verfahren den Beweis hinstellt ^) und die für den Logizisten ja un-
vermeidliche Folgerung zieht, willkürlicher Reflexion die letzte
>) Wirko. B«l. II S. 442.
«) Wirke. B4l. I. S. m.
») Kbondn. IW. I. Ü. TfOS. Bd. 11. <!. 253ff.
40 Vorbereitende Einführung in die ailgem. erkenntniskritisclicn Grundlagen.
Entscheidung über die Grundsätze des Sytems zu überlassen. Indes
fühlt er die Undurchführbarkeit seines Weges; ja er erkennt gar
Reflexion als ein an sich leeres Formalvermögen i). So stößt er doch
auf ein »unmittelbares Bewußtsein«, eine »Selbstbeobachtung«, mit
der er die ersten Ausgänge seines Systems begründet, mit der er
»wahrnimmt«, daß neben freien Vorstellungen auch solche, die vom
Gefühl der Notwendigkeit begleitet werden, in uns auftreten. (Nach
dem .Grunde des Systems dieser Vorstellungen fragt er ja.) Und
immer, wenn Reflexion nicht ausreicht, greift er zu dem, »was sich
nur innerlich anschauen läßt«, zum »unmittelbaren Bewußtsein«
zurück. Ist das nicht aber krasser Psychologismus? Fichte beugt
dem vor: dies »unmittelbare Bewußtsein« ist kein empirisches. Das
heißt: bei Fichte hat die philosophische Erkenntnis ihr konstitu-
tives Prinzip in der Selbsterkenntnis; philosophische Erkenntnis ist
intellektuell (rational), Selbsterkenntnis ist unmittelbar anschaulich.
Fichte lehrt also die intellektuelle Anschauung.
Indes zeigt psychologische Selbstbeobachtung denn doch, daß so
etwas wie unmittelbare Selbsterkenntnis der inneren Erfahrung an-
gehört; und daß andererseits das Bewußtsein um die philosophische
Erkenntnis ein mittelbar reflexionelles ist. Fichtes Lehre wider-
spricht den Tatsachen.
Fichte identifiziert sein genanntes Problem bekanntlich mit dem
des Verhältnisses von Erkenntnis und Gegenstand: »Wie hängen
unsere Vorstellungen mit ihren Objekten zusammen ? « Und löst es
absolut idealistisch :»Das Bewußtsein des Gegenstandes ist nur ein
nicht dafür erkanntes Bewußtsein meiner Erzeugung einer Vor-
stellung vom Gegenstande «2). In seiner Begründung dieser Lösung
ist fast jeder Satz falsch, schief und zweideutig. Uns kommt es hier
zunächst auf eine Kritik im einzelnen weniger an, hier genüge fol-
gende allgemeine Erwägung. Angenommen, Fichtes Lösung und
das darauf Erbaute stehe fest, so gilt also: Das »reine Ich« erzeugt
das »Sein«. Dies »reine Ich« ist kein persönliches, ist nicht mein
Ich; das wäre ja Psychologismus. Ist dem aber so, wie entsteht
dann der Gedanke meines persönlichen Ichs? Offenbar nur ebenso
wie der aller äußeren Realität. Daraus folgt, daß der »Zusammen-
hang dieses Außer-uns mit uns selbst nur ein Zusammenhang in
unseren Gedanken ist «3). Also haben wir innerhalb des vom »reinen
Ich« erzeugten »Seins« gewisse »denkende Wesen« von nichtdenken-
den (»Dingen«) zu unterscheiden. Dieser Unterschied von indivi-
duellem Subjekt und Ding ist also nur ein Erzeugnis des »reinen
Ich«. Aber damit ist ja das Problem gar nicht gelöst! Es steckt
ja vielmehr hier: wie hängen die Vorstellungen des durch das »reine
Ich« erzeugten denkenden Wesens mit den außer ihm befindlichen
»Dingen« — deren sonstige Provenienz ja gar nicht interessiert —
1) Ebenda. Bd. II. S. 254.
2) Ebenda. Bd. II. S. 221.
3) Werke. Bd. IJ. S. 238ff.
KrkenntuiBti ^ . ruuiiitkhtikT 41
zuHaniniou? Ficlitca »Lööuiig« gibt uu« darf zu lo->.ii(l<- l'robifui
verdeckt, doch ubHoIut UMgelötit, auf» neue auf!
JSoweit Fichte. Sein Philosophem in alle Tiefen (un<l Untiefen)
nachzudenken, int hier nicht der Ort, wo nur die Tendenz nach-
gezeichnet werden sollte, in der er von KantauH weiterging. Nelson
hat das mühevolle Cjeächäft gründlich besorgt. Diese gründliche
Prüfung FichtoM durch Nelson ist eine hocherfreuliche lieaktion
auf den Geist einer Zeit, in der es möglich wurde, in einem flaciion,
rhethorisch schwülstigen, unabgeklärten Denkwerke wie dem Fichteti
einen tiefen, teuren Besitz zu erblicken. Diejenigen, die zum Prei«e
Fichtes ihre Stimme am lautesten erhoben haben, sind nun am
Worte; es ist nicht nur aulk'rordentlich interessant, sondern zugleich
auch ein clementtircs Gebot wissenschaftlicher Moral, sich mit Nel-
sons exakten sachlichen Argumentationen auseinanderzusetzen: sie
strikt zu widerlegen — oder einem entlarvten Idol zu entsagen^).
Bei Fichte fand sich — das zeigte sich bereits — noch keine feste
Bestimmung darüber, ob die (transzendentale) Kritik (oder Wissen-
schaftslehrc oder dergleichen) die Quelle ihrer Erkenntnis in der
Anschauung oder der Reflexion habe. Seine Nachfahren entschieden
sich; Hegel wäiilte die logizistischc, Schclling die intellektuell-
anschauliche Seite der Alternative. Damit ist ihr jeweiliges System
im Grundstock festgelegt. Begnügen wir uns damit, diese Wurzeln
aufzuweisen.
Der psychologiatische Fortbildner Kants (oder Reinholds) ist
Beneke. Kr erkennt deutlicher als Kant die Leerheit der Re-
flexion'). Ferner ist er sich über die sinnlich-empirische Natur der
Anschauung klar. Aber er hat noch das aristotelische Vorurteil der
Disjunktion der Krkemitnis in Anschauung und Reflexion; und so
folgert er, dali alle Wissenschaft ozuletzt aus der Erfahrung schöpfen«
müsse; und daß '»eine Piiilosophie a priori, in der Form von Begriffen
wie in der Ftirm von Anschauungen, ein leeres Phantom sei«').
Jene dogmatische Disjunktion führt ihn also zum empiristischen
Psychologismus. Wie steht nun Beneke zum Werke Kants? Er
fußt auf dem Fehler Reinholds; er verwechselt den Inhalt der
Kritik — die er mit Recht als empirisch anerkennt — mit ihrem
Gegenstande, dem Grunde der metaphysisciien Grundurteilc. Wenn
man mit Kant die Modalität der letzteren als apriorisch annähme,
wäre es widerspruchsvoll, sie durch empirische Kritik zu begründen;
da aber die Kritik zweifellos empirisch ist, so darf man die meta-
phjrsischen Grundsätze eben nicht als apriorische annehmen. Sondern
') Auf dioaen 1900 an inaO^cbcndor Stelle vcrüIfontlichtcD Aufruf ist natur-
lich HU» d«"ni LagtT di-r Fichtcancr jede Antwort aungeblirbco. Stall drsam h«t
die natioiml«' HogrisU-ning Fichte im Weltkrit>g (örmhcb iura pracccplor IJcr-
maniar ivu.igi -Hcbinuckt.
*) Kant und dir (ihilotiophiiK-hc Aufpnho unMTtT Zeil. 1832, S. 12, 18.
38, 02. L«-hrburh «I«t l»Kik oJh Kunstl. lin- d. s D,nl,fi!.. 1S3L\ .<:. XIV.
*) Logik. S. (k>.
42 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkeaatniskritischen Grundlagen.
ebenfalls als empirische. Sein Grundirrtum ist also der, daß er an-
nimmt, die kritische Begründung der philosophischen Erkenntnis
müsse den Grund dieser Erkenntnis enthalten. Aber auch der
Empirist meint »die wahre kantische Lehre « zu lehren »nicht seinem
Buchstaben nach, sondern seinem Geiste nach« . . .
V.
Haben wir Nelson so die Aufweisung des Grundes der Divergenz
aller erkenntnistheoretischen Weiterbildner Kants in einer falschen,
ihnen allen gemeinsamen — von Kant mit seinen wahrhaft großen
Entdeckungen oft unbewußt vermengten, von Reinhold zuerst
deutlich hingestellten — Voraussetzung zu verdanken, so schulden
wir ihm gleichen Dank für seine klare und vollendete Auflösung der
erkenntnistheoretischen Verwirrnis, die jene falsche Voraussetzung
hervorrief. Alle seine früheren Arbeiten waren schon dieser, von
ihm als richtig erkannten, eigentlichen Lösung des vernunftkritischen
Problems gewidmet; und so sind es auch die letzten Kapitel dieses
Werkes. Was Kant angebahnt hatte, J. F. Fries hat es, abgeklärt
und zielsicher, beendet. Ihm verdanken wir den reifen, geläuterten
Kritizismus, in dem das erkenntnistheoretische Dogma prinzipiell
überwunden ist.
Schon in seiner ersten Schrift i) hat Fries die Frage des Zu-
sammenhanges von Kritik und System der metaphysischen Grund-
sätze beantwortet. Er erwägt die prinzipiell denkbaren Lösungen
der Frage nach dem Grunde der metaphysischen Grundurteile. Aus
irgendeinem rationalen Wissenschaftssystem sind sie nicht progressiv
ableitbar: sie selber sind ja die allgemeinen rationalen Erkenntnisse.
Induktiv sind sie ebenfalls nicht beweisbar: denn bei rationalen Ur-
teilen liegt der Gültigkeit des Besonderen — aus dem sie erschlossen
werden müßten — immer schon die des Allgemeinen zugrunde.
Bleibt die Unmöglichkeit eines Beweises! Und die Forderung,
die Grundsätze als unbeweisbar an der Hand der Regel aufzuweisen.
Wie eine solche Auf Weisung voliziehbar sei, ha-t Kants regressives
Verfahren, die Abstraktion vom Einzelnen zum Allgemeinen, gezeigt.
Aber der Regreß gewährleistet nicht die Gültigkeit des Rechts-
anspruches der gefundenen Grundsätze; -denn er zeigt ihren Grund
nicht auf. Eine objektive Begründung dieser Grundsätze ist jedoch —
das sahen wir vorher prinzipiell — nicht möglich.
Es gibt nur zwei Auswege: entweder auf jede Begründung des
Rechtsanspruches zu verzichten; oder aber die Spekula,tion sub-
jektiv zu wenden; und die Grundsätze hinsichtlich ihres subjektiven
Ursprunges in der Vernunft psychologisch aufzuweisen. Es handelt
sich also darum, eine psychologische Theorie über die Beschaffenheit
der erkennenden Vernunft zu schaffen und aus ihr die metaphysischen
1) Über das Verhältnis der empirischen Psychologie zur Metaphysik. 1798.
ErkenntniBthoorie oder Vernimltkritik ? 43
GniiidHiitz«- zu deduzieren (Deduktion im .Sinne der oben gemachten
Ausfüllrungen). Kine Holclie Tlieorie fulit auf den KrkenntnisHen der
inneren Eifahrung. Dieser Gedankengang ward wehon im zweiten
Teil enlwiekelt. Er erklärt auch dius Verhältnis der Philosophie zur
Psychologie: Gegenstand der Kritik ist der Grund der uietaphyBiächcn
Grundsätze, die den Inhalt der Metaphysik bilden. Inhalt der Kritik
sind psychologische Sätze von assertorischer Modalität.
Der Transzendentalismus ist so beseitigt; denn es ward l>ewie8en,
daß ein Beweis der allgemeinsten metaphysischen Sätze aus anderen
rationalen Sätzen unmöglich ist. Und der Psychologismus ist be-
seitigt; denn es ward bewiesen, daß ein induktiver Beweis metaphysi-
scher Grundsätze unmöglich ist.
Und Fries beugt sogleich dem Haupt einwände vor, der seit
seinem Wirken mit stetig steigender Verständni.slosigkeit immer wieder
erhoben worden ist : daß sich die kritische Deduktion in einem Zirkel
bewege. Gewiß muß man, um eine Theorie der Vernunft zu formen,
die Gesetze der Logik und überdies die »metaphysischen Gesetze
einer möglichen Erfahrung überhaupt « vorau.ssetzen — obwohl es
scheint, »als sollten sie erst bewiesen werden«. Sie sollen al)er gar
nicht bewiesen werden! Sollten sie das, so läge tatsachlich ein Zirkel
vor. Was aber hier geschieht, ist dies, daß die Erkenntnis a priori
als eine Qualität unserer geistigen Organisation, »als zu den Zuständen
meines Gemütes gehörig«, nicht aber hinsichtlich ihrer objektiven
Gültigkeit, psychologischen Ol^ersätzen unterstellt wird. Die De-
duktion ist kein Beweis der Grundsätze und soll auch keiner sein;
darauf kommt hier alles an; das scheidet sie von allem Psychologismus.
Rs fragt sich nun noch, ob diese psychologische Kritik — ihre
Möglichkeit zugegeben — für die Begründung der Metaphysik not-
wendig sei. Man könnte ja, wenn sicli auch zur kritischen Theorie
der Vernunft metaphysische Voraussetzungen nicht umgehen lassen,
einfach deren System frei von aller empirischen Beimischung un-
mittelbar aufstellen. Das möchte so sein, wenn es nicht ungeheuer
schwierig wäre, diese metaphysischen Prinzipien in abstracto rein
und systematisiert herauszustellen. Weit leichter und naturgemäßer
ist es, mit ihnen in concreto, an gewöhnlicher Erfahrung angewandt,
zu arl>eiton; weit leichter — und weit l^sser vor Fehlern bewahrend.
Li diesem Gebrauche haben wir den, wie Fries es bezeichnet, »ein-
zigen Standpunkt der Evidenz für spekulative Dinge«.
Man hat dagegen einwenden wollen, daß solche kritiklose Be-
rufinig auf die Erfahrung dem comnuin sense der Keid, Beattie usw.
die olH>rsto Kichterschaft in philosophischen Dingen ülx^rtrage. Man
täuscht sich. Der common sense und seine empirischen Urteile ent-
halten keineswegs den Grund der (iültigkeit philosophischer Sätze.
Allerdings, wo dieser Grund gelegen sei — um diese Frage beant-
worten zu können, müssen wir unsere Erkeinitnis ihrer Beschaffen-
heit nach zimächst einmal betrachten; und dies ist eine Tätigkeit
innerer Erfahrung. Mag sein, daß diese .Anknüpfung ans Empirische
44 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
unser Wollen nicht gegen Irrtum feit : — das dürfte wohl in keinem
Wissensgebiete anders sein. Sicherlich am wenigsten im kritiklos
phantastischen Kartenhausbau dogmatischer Dialektik.
Im zweiten Teile wurde das hypothetische Urteil bewiesen: wenn
es synthetische Urteile a priori aus Begriffen gibt, so muß deren Grund
in einer nichtanschaulichen unmittelbaren Erkenntnis liegen. In
diesem Teile wird nunmehr der direkte Existenzbeweis dieser un-
mittelbaren Erkenntnis nichtanschaulicher Art erbracht, und zwar
psychologisch-empirisch erbracht. Die Psychologie lehrt, als Mittel
der Erkenntnis sei uns Sinn, Assoziation und Reflexion gegeben.
Die Reflexion nun läßt sich auf willkürliche Assoziation unter Leitung
der Aufmerksamkeit zurückführen. Sind diese Mittel, Sinn und
Assoziation, zulänglich, um synthetische Urteile a priori aus bloßen
Begriffen zu ermöglichen? Es läßt sich beweisen, daß sie das nicht
sind. Daraus folgt dann notwendig die Existenz einer nichtanschau-
lichen unrefiektierten, also unmittelbaren Erkenntnis als Grund der
synthetischen apriorischen Urteile aus Begriffen. Der Beweis soll
aus empirischen Daten erbracht werden. Nun ist die Apodiktizität
von Urteilen kein empirisch feststellbares Faktum; sondern nur der
Anspruch gewisser Urteile auf Apodiktizität. Wir stellen also em-
pirisch fest, daß wir im Besitze gewisser Urteile sind, die einen An-
spruch auf Apodiktizität enthalten. Wie ist dieser Anspruch psycho-
logisch möglich? Die Frage ist in dieser Form (für den Satz der
Kausalität) zum ersten Male von Hume gestellt worden. Hume
führt diesen Anspruch auf das psychologische Gesetz der Erwartung
ähnlicher Fälle zurück; glaubt ihn also als eine durch Assoziation
entstandene psychologische Gewohnheit erklären zu können. Das
ist aber falsch. Wenn ich eine Vorstellung habe, so können durch
sie andere, auf sie irgendwie bezogene Vorstellungen reproduktiv in
Erinnerung gebracht werden: dieser Nexus ist Assoziation. Asso-
ziation ist die Reproduktion eines früheren Vorstellungskomplexes
durch einen neuen. Nie aber enthält sie bereits irgendeine Erwar-
tung. Denn die Möglichkeit einer Erwartung enthält bereits die
Vorstellung einer objektiven Verknüpfung; Assoziation aber ist nur
eine subjektive Verbindung von Vorstellungen. Also ist die »Er-
wartung ähnlicher Fälle « durch Assoziation nicht zu fundieren. Nun
ist die Vorstellung einer objektiven Verbindung aber ein unbezweifel«
bares psychologisches Faktum. Dies Faktum wäre nicht möglich,,
wenn unsere Erkenntnismittel nur in Sinn und Assoziation bestünden.
Es muß also einen besonderen Grund dafür geben; und dieser Grund
ist die unmittelbare nichtanschauliche Erkenntnis. So ergibt sich,
im Wege steter Empirie, ein »von allem Verdacht spekulativer Täu-
schung befreites Kriterium« (Fries), das die Existenz einer nicht-
anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis beweist.
Es sei wiederholt: Über die objektive Gültigkeit metaphysischer
Urteile macht die psychologische Kritik gar nichts aus. Objektive
Gültigkeit wird für die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft,
?>kenntautbeorio oder Vemunf tkritik ? 45
auB der jene Urteile kritisch deduziert werden, schon vorausgesetzt.
Denn aller Zweifel nachträglicher Reflexion an der objektiven Geltung
der unmittelbaren Erkenntnis setzte diese zu seiner eigenen Möglich-
keit schon voraus! Freilich steht für das Recht dieser Voraushetzung
die Kritik nicht ein. Die Ik<rufung auf dos faktische »Seibetvertrauen
der \'ernunft « ist vielmehr ihr olx;rster (Jrundsatz.
Was also die Kritik eigentlich leistet, ist das. sie deduziert durch
den Existenzlx?weis der unmittelbaren Erkenntnis der reinen V^er-
nunft die Möglichkeit einer Metaphj'sik. Gerade al>er das suchte
Kant mit seiner Krage: Wie synthetische Urteile a priori aus bloßen
Begriffen möglich seien. Sie also löst das Problem streng wissen-
schaftlich und eindeutig.
Diese große Entdeckung von Fries, wie sie die Fehler der kan-
tischen und nachkantischen Erkenntnistheorien klar heraushebt,
ermöglicht zugleich in ihrem .systemati.schen Ausbau die Anbringung
der Korrekturen an Kants kritischem Werke. Sie beseitigt den for-
malen Idealismus, sie gibt eine richtige Begründung des transzenden-
talen Idealismus, sie ermöglicht eine spekulative Begründung der
Ideenlehre. Dem sei hier nicht gefolgt : es hieße das Lebenswerk
des großen Denkers in einige Zeilen pressen.
Vielleicht aber regen diese Ausführungen die zeitgenössischen
Forscher dazu an, dies Lebenswerk, ein Denkmal deutschen Geistes,
wieder der Vergessenheit zu entreißen und zu studieren. Den Gewinn
davon wird unsere Forschung haben, auf welches Gebiet sie sich auch
erstrecken möge.
Geleitworte zum zehnjährigen Bestehen der neuen
Friesschen Schule (1913).
Eingedenk der Bedeutung dessen, was uns als Aufgabe gesetzt
und Ziel unserer Arbeit ist, und erfüllt vom Gefühl unserer Verant-
wortung: so legen wir Anhänger der philosophischen Lehre von
Jacob Friedrich Fries im zehnten Jahre unserer Arbeitsgemein-
schaft Rechenschaft ab über deren Ziel, Sinn und Form. Und erneut
rufen wir uns an diesem Zeitpunkt ins Bewußtsein, welche Stellung
wir innerhalb der geistigen Kräfte und Richtungen des gegenwärtigen
Zeitalters unserer Schule beimessen.
Der Schule — wir bilden in der Tat und mit Wissen und Willen
die Gemeinschaft einer Schule. Wir wissen uns in direkter innerer
Kontinuität mit jenem ersten Schülerkreise, den der Schöpfer und
Gestalter unserer philosophischen Überzeugungen um sich einte,
noch als ihm das öffentliche Lehramt der Philosophie von der ängst-
lichen Brutalität eines um seinen eigenen Fortbestand allzu besorgten
politischen Quietismus entzogen worden war: des Kreises von Schü-
lern, als dessen Vertreter Männer wie Schieiden, Schlömilch,
Apelt, de Wette, Sclimid und Mirbt noch der heutigen Nach-
welt sichtbar sind. Wie diese Männer mit der Bezeichnung als Schule
neben der sachlichen Gefolgschaft noch eine Beziehung persönlicher
Pietät vor dem großen Denker zum Ausdruck brachten, der einsam,
von den damals regierenden geistigen und politischen Mächten ge-
hässig in einen fast resonanzlosen Hintergrund gedrängt, stillwirkend
und innerlich unangefochten an dem Lehrgebäude schuf, dem wir
anhängen: so ist es auch, seit den Tagen unseres Zusammenschlusses,
unser ausdrückliches Streben, uns als seine Schüler zu fühlen und
seine Schüler zu sein. Seine Schüler zu sein: in der eigenen Er-
arbeitung dessen, was er geschaffen hat, und in dessen Fortbildung
und Festigung besteht die einzige, aber alles umgreifende Pflicht,
die einem jeden von uns gesetzt ist. Als seine Schüler uns zu fühlen:
das Bewußtsein des Wertes dessen, was wir, in gleichgerichteter
Arbeit, von ihm empfangen haben, das Wissen um die Stärke und
Sicherheit des Besitzes und um die Größe der Aufgabe, dieses beides
schließt uns zu einem Ganzen zusammen und stellt uns, eine Geistes -
gemeinschaft, verehrend und voll Dankes vor das Bild seiner
geistigen Persönlichkeit, deren Leben und Wollen uns Vorbild ist,
wie seine Lehre der Quell unserer Sicherheiten.
Geleitwort« tum xebnjilirigen Bwtehen der oouen Friedlichen Schule (1013). 47
Wir brauchleii diese Haltung — vor ihm und zueinander — nicht
/,u rechtfertigen. HäniiHche Glossen, wie »ie jemand von außen her
wider die »Schule« aufbrachte, lafiHon uns gleichgültig. Und in dem
vt'rflo.'^senen .Iiihrzeiint, da wir, unter der liingebcnden tind opfer-
vollen Führerseliuft Nelsons, die Lehre Fries' in uns aufnehmen
und zur Weiterwirkung bringen durften, da die innere Arbeit an
uns und die Niederlcgung der rein wissen-schaft liehen Früchte der-
selben un.scre einzige Wirkungsform war, da wir keine 25cit und keinen
Wunsch hatten, Meinungen einer zufälligen (iegonwart zu beachten — ,
hat uns jeder N'ersueii, unser Seinsrecht als Arbeitsgemeinschaft vor
der (Hfenlliehkeit darzutun, absolut ft;rngelegen. Nunmehr alx;r ist
vielleicht die Zeit gekommen, in künftiger Arljcit das, was wir er-
worUm haben und heute besitzen, auch anderen zu übermitteln,
denen die Vielfältigkeit der zufällig gerade herrschenden Philoso-
pheme und die Ansichten, die ihre Vertreter an den Hochschulen
über Fries' Lehre verbreiten oder — verschweigen, den Zutritt
zum Werke Fries' bisher versperrten. Es soll in Zukunft nicht
mehr dem Zufall überlassen sein, ob ein denkender Mensch
dies Werk kennen lernt oder nicht!
Mit dieser Zwecksetzung rechtfertigen wir die Form uuaere«
Bestehens.
Die.se Form liat, schon rein äußerlich betrachtet, gerade in den
Arbeitsweisen gegenwärtiger philosophischer Richtungen einige be-
merkenswerte Analogien. Fast alle diese treiben, unausgesprochen
und oft nur halb der Tragweite und des Zieles bewußt, in den letzten
Jahren auf eine Form von Organisation hin, welche die neue
Friessche Schule sich von Anfang nn mit Bewußtsein vorgesetzt
hat, noch zu einer Zeit, als im philosophischen Denken allein das
Individuum und die Originalität bewertet wurde: auf die organisierte
(.Jemeinsehaftsarbcit, auf die Schulbildung — welchen Namen
uiun ihr auch geben mag.
So war der Marburger Transzendentalismus, der sich neukan-
lisch nennt, seit den Tagen der älteren Friesschulo vielleicht das
erste in sich abgeschlos-sene Philosophem, dessen Lehre sich um daa
Werk und das Wirken einer Persönlichkeit konsolidierte. Die
Hinsicht in Irrtümer jenes Philosophems wird uns nicht abhalten,
die ethisch- werbende Kraft jenes V^erhältnisses von Lehrer und Schule,
wie es in Marburg geherrscht hat, zu würdigen. Wir glauben freilich,
gerade von der Persönlichkeit des philosophisclien Lehrers sollte zu
fordern sein, daß sie hinausrage ülx'r die Gegenwart, in der seine
Schüler stehen, daß sie über ihr sei und niclit in ihr, sich noch wan-
delnd, unabgeschlossen, irrend. Um das Bild des Vollendeten, des
\'erklärt(«n muß die Organisation sich kristallisieren können, wie
durch einen notwendigen Naturprozeß historischen Geschehens, mit
innerer Notwendigkeit und organisch erwachsend. Das war Aristo-
teles dem philosopischen Geiste des Mittelalter»; daa ist Karl Marx
der Sozialist ischon Bewegung der Gegenwart.
48 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
Wir werden nicht untersuchen, wie weit der Kreis der Marburger
Forscher diesen Postulaten der wahrhaften, idealen Schule sich an-
näherte. Lange Jahre hindurch war er jedenfalls der einzige, dessen
aktuelles Wirken dem der Schule wenigstens äußerlich glich. Dann
trat vor einigen' Jahren eine andere Strömung individualer Kultur
hervor, mit dem Anspruch, ein Weltbild zu bieten und ein sittliches
Gebot zu diktieren, deren Vertreter sich ebenfalls als ein Kreis von
Schülern um eine schöpferische Persönlichkeit scharten als um ihr
Zentrum: der Kreis um Stefan George. Aber was den Kreis der
Anhänger dieses großen Dichters auf immer aus dem Bereiche wahr-
haft philosophischen Geistes ausschließt, das ist die Heteronomie
der Prinzipien des Weltbegreifens und der sittlichen Gesinnung, die
ihn durchherrscht. Stefan George ist nicht der Lehrer, er ist der
Meister. Er hat nicht Schüler, sondern Jünger. Sie erarbeiten nicht,
als autonome Persönlichkeiten und mit innerer Freiheit, was er als
Gebot und sittliche Norm entäußert, sie nehmen es hin und halten es
für verbindlich, weil er es entäußert hat. Nicht die autonome Ver-
nunft des Einzelnen ist der Rechtsgrund der Prinzipien, sondern der
Glaube an einen Menschen. Gewiß ist es sinnlos und ungerecht, in
Georges schöpferisch gestaltetem Weltbild das eines Ästheten zu
sehen: dies aber ist schlimmster Ästhetizismüs, daß der Glaube der
»Jünger « an diesen empirischen Menschen sich eine religiöse Geberde
leiht, um sich wirksam zu machen, um die eigene dogmatische Halt-
losigkeit mit einer gewaltsamen Mystik zu umkleiden. Diese Haltung
widerstreitet echter Religiosität ebenso wie dem Geiste wahrer Philo-
sophie und dem Wesen schulmäßiger Gemeinschaft. Aber auch hier
bleibt zum Mindesten äußerlich die schulähnliche Gemeinschaft ein
bemerkenswerter Hinweis.
Und gerade in der jüngsten Zeit ergreift diese Tendenz zu einer
wenigstens äußerlichen Organisation selbst solche philosophischen
Richtungen, die ihr dem Wesen nach ganz ungemäß sind. So ist
gewiß die gegenwärtige »Kulturphilosophie« aller Scliattierungen in
ihren Arbeitsweisen heute noch genau so individual zerfallen, wie es
ihre Inhalte und Ansprüche seit Beginn ihrer Ausbreitung waren.
Noch haftet ihr das Merkmal an, innere Verwandtschaften, die sich
zwischen einzelnen ihrer Träger zeigen, eher zu lockern und durch
Trennmauern dem Blicke zu verbergen, als zum Fundamente gemein-
samer Weiterarbeit zu machen. Jeder dieser Forscher legt Wert
darauf, daß seine Eigenart weithin sichtbar sei. Und selbst diese
dissoluteste aller philosophischen Strömungen hat sich nunmehr eine
Art gemeinsames Bette gegraben: im »Logos«, dem Orte, wo ihre
Autoren an die Öffentlichkeit treten.
Ebenso handelten andere philosophische Gemeinschaften der
Gegenwart. Von den lärmenden monistisclien Organisationen wollen
wir schweigen. Aber z. B. gründete sich unlängst der deutsche Po-
sitivismus eine Stätte organisierten Zusammenwirkens. Die Gesell-
schaft für positivistische Philosophie entstand; hier sollen unsere
Geleitworte zum zehnjahrigtii Be«t«'hcn d<T neuen Frieawhen Schule (1913). 49
l)e(ieutciuli-n Nut iirfcirscluT und Mathciimtikcr, diTen exakte Kinzel-
tdrschung da« VVertvoIlHto und vielleiclit allein Dauernde iwt, was
da« wisHenseluift liehe Deutsehland »iimerer Tage hervorbringt, für
ihr unciune.standenes luetaphysisehes Hediirfni.n das Surrogat einer
l'.'friedi^uMj^ erhalten, das sie nieht mit ihrer all/.u vorsiehtigen SelbMt-
l>'»scliräiikung hinsieht lieh der tiefstiMi inenschliehen Probleme in
Konflikt bringt.
Und aueh die jüngste aufgekoiMMiinc Rieht ung philosoplüscher
ArlH'it, die phänomenologisehc, steht im liegriff sieh zu organisieren.
l'ViMlieh weist ihr Führer fast noch entschiedener als jene der anderen
-ich herausschälenden (Jegenwartstendenzen gemeinsamer philo-
-ophiseher Arbeit den Gedanken der Schule ab: Es sei nieht ein
Sehulsystem, das hier Gleichgerichtete verbinde und »das gar bei
allen künftigen Mitarlx>itern vorausgesetzt werden soll; was sie ver-
eint, ist vielmehr die gemeinsame philosophische Ül>erzeugung« . . .
Und nun wird als Inhalt der gemeinsamen philosophischen Über-
zeugung ein so fundamentaler methodischer und systematischer Leit-
gedanke angegeben, daß man erstaunt die Zurückhaltung bedenkt,
die hier nicht zur voll ausklingenden Konsequenz organisierten ge-
meinsameix Wirkens sich zu entschlicUen in der Lage ist.
Es ist in der Tat eine falsche Vorsicht, die in diesen Beispielen
da.s Ergriffensein von einem Gedanken meistert, der, nach der Mei-
nung seiner Erzeuger, an Reichtum und Tragkraft über den einzebien
Menschen hinauszureichen bestimmt ist. Oder es besteht dieses
Ergriffensein gar nicht : und was spräche mehr wider den Gedanken!
II.
Doch, daü wir eine Schule sind und sein wollen, ist nicht etwa
die Gebärde einer unklaren Begeisterung; so wenig wie es bloße Xach-
ahmung der zur äußeren Organisation hint reil>enden Tendenz ist,
die wir an Beispielen in der pliilosophischen Gegenwart auffanden.
Was wir am Beispiel einiger gegenwärtiger Piiilosopheme äußerlich
als Tatsache ihrer Bearl>eitungswei.so feststellten, was wir selbst
ferner zu verwirklichen lx»strebt sind, hat sein sicheres Fundament
innerer (Jründe. Nelson hat uns, in den Werdezeiten unserer Orga-
nisation, oft genug diese (Jrümle ihrer Bildung, die Gründe der Zweck-
mäßigkeit jedes schulmäßigen wissenschaftlichen Philosophierens, an
«lie Hand gegeben.
Wir wollen Philosophie als strenge Wi.ssensehaft . Das Wahrheits-
prinzip aller theoretischen Wissenschaft, das Wertprinzip un.seres
Ix«l>ens. die N«irm unseres Verhaltens sollen einsichtig und von all-
gemeiner (ieltung sein: dieser .Vnsprueh liegt in ihrem Begriff. All-
gemeingültige Einsichten zu In^gründen ist .AufgalK» der Wissen-
schaft. Nur diejenige Antwort auf die philosophischen (trundfragen,
die spekulativen wie die praktischen, erkennen wir an. welche diesem
Anspruch auf systematische Wahrheit genügt. Das kann nur eine
Kronfrld, I'ayrhUtriM-hc Krkrnntnia. 4
50 Vorbereitende Einführung in die aUgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
einzige sein; und es muß eine sein! Sie zu erreichen, erfordert eine
ungeheure Vorarbeit. Die Kriterien dieser Wahrheit sind zu ent-
wickeln; die Vernunft ist zu prüfen, wieweit sie diesem tiefsten aller
Probleme genugzutun vermag. Diese Vorarbeit umfaßt die gesamte
Erkenntnislehre ; sie vollzieht sich in den Klritiken der Vernunft.
Die Forderung der Einheit und der systematischen Wahrheit
philosophischer Wissenschaft führt uns zur Ablehnung jeder Mög-
lichkeit, Philosophie etwa durch das Studium ihrer Geschichte zu
lernen. Der Historiker der Philosophie kann sein Material, die Be-
hauptungen der aufeinander abfolgenden Philosopheme, gar nicht
auf die einzig wesentliche, für unser geistiges Leben bedeutungsvolle
Frage hin prüfen: ob sie wahr oder falsch sind. Denn dazu müßte
er jene Kriterien von wahr und falsch bereits besitzen, die das Stu-
dium der Geschichte ihm erst erschließen soll. Durch faktische Fest-
stellungen historischer Art kommt man der philosophischen Wahr-
heit um keinen Schritt näher. Im Gegenteil: jene vielfach befolgte
Methode, Philosophie aus ihrer Geschichte heraus zu verstehen,
ergibt, wie Nelson uns oft gezeigt hat, nur zu sicher ein unwürdiges
Bild von der Philosophie, in dem man keinerlei Fortschritt der Er-
kenntnis entdeckt, sondern nur eine Abfolge von Systemen, deren
jedes dem vorangehenden widerstreitet. Dieser Aspekt ist die psycho-
logische Quelle der Abneigung aller exakten Einzelforscher wider die
Philosophie und der Grund der gänzlichen Ohnmacht und Einfluß-
losigkeit derselben gegenüber dem praktischen und politischen
Geisteslebens der Gegenwart. Was ist, fragen die hier stehenden
Laien, deren philosophische Interessierung ein unabsehbarer Gewinn
für die Hebung des geistigen Gesamtniveaus wäre, von einer Abfolge
widersprechender Terminologien an eindeutiger Bereicherung für
Rechtssetzung und Staatsleitung, für Naturerkenntnis, Kunstver-
stehen, religiöse Überzeugung und Seelenbildung denn zu erwarten?
Und sie gleichen damit dem Kallikles Piatons (Gorgias, Kap. 40),
der sich »gegenüber den Philosophierenden genau in derselben Lage
befindet wie gegenüber solchen, die stammeln und spielen«. Tat-
sächlich ist nun ganz gewiß die Geschichte des philosophischen Den-
kens gar nicht so unbefriedigend; es gibt in ihr wie in der Geschichte
aller Wissenschaften einen Fortschritt der Einsicht; nur kann man
diesen natürlich nicht bemerken, wenn man nicht schon einen
Maßstab für die Beurteilung philosophischer Leistungen
besitzt.
Diesen Maßstab erreicht und verbürgt allein die kritische
Selbstbesinnung der autonomen Vernunft. Philosophieren:
das ist Selbstdenken. Es steht in geradem Gegensatz zum Erlernen
des von anderen Gedachten auf deren historische Autorität hin.
Aber freilich, diese Forderung des Selbstdenkens wird oft, und
gerade von den Historikern der Philosophie zuerst, verwechselt mit
der falschen Forderung einer Originalität. Verwechselt wird die
Selbständigkeit des Denkens mit der Eigenart des Gedachten. Wo-
Geleitworto zum rühnjahrigt-n B««t«h«i tliT ncueu I ■ i 3). 51
fern ubci Philosophie nicht anders besteljen sulI denn aU Wlsscn-
Hchaft, kommt e» nicht darauf an, daß wir anderes denken ab) andere,
sondern darauf allein : daß, was wir denken, wahr ist. Würde
diese FordiTung von allen, die Philosophie treiben, erfüllt sein, so
könnte es gar nicht anders sein, als daß notwendi^^ alle inhaltlich
Gleiches dachten. Dies ist das Endziel; dies allein das zu Erstrebende.
Originalität ist, als Forschungsmethode, das gerade
Gegenteil von Wissenschaftlichkeit. Die Forderung di*s
Selbstdenkens schlielit nur aus, daß wir der Autorität üljerkommener
Meinunu; uns hinpel>en; nicht: daß wir Belehrung annehmen.
Und die Belehrung von Generation zu Generation enthält allein
erst die Bürgschaft wissenschaftlichen Fortschritts, in der Philo-
sophie wie in allen übrigen Wissenschaften. Der einzelne, welcher
vermeint, ohne alle Rücksicht auf die Geistesarbeit der vor ihm ge-
wesenen Generationen zum Ziel seiner Problemlösungen gelangen
zu können, ermangelt der Selbstkritik.
Man ülx'rtrage für einen .\ugeiiblick diesen Gesichtspunkt auf die
Arbeit des einzelnen etwa in irgendeiner exakten Naturwissenschaft:
das Bild, welches diese Wissenschaft böte, wäre grotesk! Und —
es sei wiederholt — exakte, strenge Wissenschaft im Sinne
dieser vorbildlich durchgcarIxMteten Disziplinen — : so oder gar
nicht soll Philosophie sein!
Belehrung also, die das Denken des Belehrten nicht autoritär
bindet, sondern didaktisch leitet und fördert, schul mäßige Be-
lehrung in einer Kontinuität wissenschaftlichen Arbeitens mit ge-
wesenen und zugleich strebenden Forschern: dies ist Gewähr und
Bürgschaft echter Wissenschaftlichkeit in allen Wissenschaften, und
damit auch in der Philosophie. Hier liegt der innere Grund der
Notwendigkeit für die Bildung einer Schule; und weil sie die so allein
verbürgte wissenschaftliche Sicherung und systematische Rundung
ihres philosophischen Wollens irgendwie unausgesprochen fühlen,
darum treiU'ii zurzeit alle philosophischen Strömungen mehr oder
minder geradlinig auf die Schulbildung zu.
Freilich, ohne sie mit Bewußtsein zu erstreben. Im Gegenteil:
man wird sich berechtigt fühlen, den einfachen Gedankengang, der
uns zur Schule gemacht hat, für trivial zu erklären und mit Ein-
wänden zu ersticken.
Nun, den V^)rwurf der Trivialität nehmen wir gerne auf uns. Wer
alle Originalität.ssucht als unwürdig und unwi.'<.senschaftlich ablehnt,
dem wird ihr CJegentcil nur eine Konsequenz seines Willens zur Wissen-
schaftlichkeit Iwdeuten. So wenig Originalität uns ein Kriterium de«
Wertes einer Meinung ist, so wenig ist ihr Gegenteil, Trivialität, uns
ein Kriterium ihres Unwertes. Sachlichen Einwänden aWr sind wir
zugänglich.
Der Haupteinwand wider jede Schule in der Philosophie, joner
Einwand, der wohl auch bei allen gegenwärtigen Philosopheracn
bewirkt, daß ihre Träger trotz der Tendenz zur Schule ängstlich Tor
4«
52 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
dem Anschein der Schule zurückschrecken, entspringt ans dem ver-
breiteten Widerwillen vor jeder Art von Parteinahme. Man be-
fürchtet von ihr eine Beschränkung des Gesichtskreises, Einseitigkeit,
Dogmatismus. Vernünftig sei es und würdig, über den Parteien zu
stehen, tolerant zu sein.
Diese Maxime der Toleranz endet geradeswegs beim Indifferentis-
mus, der Uberzeugungslosigkeit. Nur ein innerlich unwahrer Ästhe-
tizismus, dem jedes sittliche Gebot fremd ist, kann hierin etwas wie
Würde finden! Aber auch die Vernunft kommt, auf einem solchen
Standpunkte, nicht zu ihrem Recht. Der Vernünftige ist nicht der,
welcher auf jede eigene Meinung verzichtet und jede fremde toleriert :
sondern der, welcher sich die richtige, das ist eben die vernünftig
begründete Meinung bildet. Die Wahrheit selbst ist Partei, ist
einseitig und intolerant : es gibt über einen Gegenstand stets nur eine
einzige Wahrheit! Sie kann nicht wie ein Mosaik aus den verschie-
denen widerstreitenden Meinungen der einzelnen Philosopheme
zusammengesetzt werden. Durch ihren bloßen Begriff schließt sie
alle die unendlich vielen möglichen Vorstellungsweisen, die von ihr
abweichen, als Irrtum aus. Wer sie alle nebeneinander gelten lassen
will, der verzichtet auf die Wahrheit.
Es kann daher nur eine Schule Recht haben. Und es wird eine
Recht behalten!
Ein Philosoph also, der behauptet, keiner Schule anzugehören,
täuscht sich — oder andere. Er kann seinen Partei- und Schul-
standpunkt wohl verschweigen: aber er kann nicht über ihn hinweg,
kann ihn nicht entbehren. Und dies Verschweigen bedeutet nicht
eine größere Objektivität, sondern innere Unklarheit — oder Un-
ehrlichkeit. Unehr]ic]ikeit liegt in einem Anspruch auf Objektivität,
die tatsächlich nicht besteht. Wie die historische, so ist auch
diese relativistische Scheinobjektivität etwas, das dem wahren Wesen
des Philosophen im Tiefsten widerspricht. Der wahre Philosoph
soll sich seiner subjektiven Parteistellung sehr bewußt
sein; er soll sie stets ,wenn er lehrt, mitbezeichnen und Rechenschaft
über sie ablegen. Je streitbarer, intoleranter, parteiischer
er alsdann an andere Philosopheme, an die Historie der
Philosophie herantritt, um so ehrlicher, unbefangener,
glaubwürdiger, um so wahrer und gerechter wird sein
Urteil sein. Wenn man es, weil er irrte, verwirft — die Achtung
vor seiner Geschlossenheit und seinem moralischen Verantwortungs-
willen wird man ibm nicht versagen dürfen. Philosophie aber wird
wieder jenes Mark und Rückgrat erhalten, welches die sicherste
Stütze für einen wirklichen Fortschritt der Arbeit ist.
Nelson hat uns ferner gezeigt, wie dies Schulmäßige der Arbeits-
weise in den anderen Wissenschaften längst durchgedrungen ist.
Damit ist ein Einwand vorweggenommen, den man wider diese Wer-
tung der schulmäßigen Arbeitsform vielleicht geltend machen könnte :
das Beispiel anderer Disziplinen. Man hat etwa auf die Mathematik
Ueleitworto zum zehnjährigen Be«tchcn «ler neuen FricoÄchen Schule (1913). .03
hingewiesen und Ixiluinpfet, hier fehle das Schuhnäüige ganz. Da«
ist ein Irrtum. Dan Ft-hlen den Schuhnüßigen int nur ein Hchein-
bares; und dieser An.sehein bewoirtt Icdiglieh, um wieviel weiter fort-
geschritten der Erkennt ni.s.stand in allen anderen Di.sziplinen i.st ab
in der Philosophie. In Wahrheit herrscht gerade in der Mathematik
das Schulmäliige der Arlx'it unbeschränkt: al)er hier ist es eine
einzige große Scliule, die sich siegreich durchgerungen und dio
vielen widerstreitenden Schulen aulier Kraft gesetzt Ijat ; die ein©
Schule, weil ihre Lehrmeinung die richtige ist. Nicht schuhnäßige
Arbeit fehlt in der Mathematik: es fehlt lediglich der Streit der
Schulen. Die Zugehörigkeit aller heutigen Mathematiker zu dieser
einen Schule, deren Ijchrer GauU war, ist gewissermaßen etwas
Selbstverständliches; sie braucht nicht durch Ix'sondere Benennung
betont zu werden — und nur darum wird sie ülx^rsehen.
Nur der Streit der Schulen ist vielleicht ein Mangel; er ist das
Anzeichen des Garens und Werdens, aus dem wahrer Fortschritt
erst noch herauswachsen soll. Das Schulmäßige alxM- ist vielmehr
der einzige Charakter der Wissenschaftlichkeit. Wo aber in einer
Wissenschaft jener Mangel noch Ix^steht, da ist er nur durch den
Sieg einer Schule über die anderen zu beenden; nicht etwa durch Ver-
zicht auf das Schulmäßige ül)erhaupt. Das Unerquickliche, das
jedem Streit anliaftet, darf luid wird den wahrhaft Lel>enskräftigen
nicht beirren und zu derartigen Kon.sequcnzen führen. Denn was
würde, durcli das Aufgeben des Schulmäßigen, erreicht ? Nur eine
Vervielfältigung der Lehrmeinungen. Es würde soviel Parteien
wie Philosophierende geben. Und also entweder eine unübersehbare
Vervielfältigung des Streites und der Kampfplätze — oder der inner-
lich unwahre, scheinoV)jektive, tolerante, gewaltsame Quictisinus der
Lebensschwäche, der. wofern Philosophieren ein Suclien mich Wahrheit
ist, das Ende alles Philosophierens bedeuten würde.
So ersteht die Notwendigkeit, eine Schule gemeinsamer philo-
sophischer Arbeit zu bilden, und durch das Schulmäßige der gemein-
samen ArlxMf Garantien dafür zu gewinnen, daß die Philt>sophie in
wissenschaftlichen Hahnen vorwärts schreitet. Diejenige Schule,
welche diese CJarantie in vollstem Umfang gewährleistet, wird den
Fortschritt in philosophischen Dingen an sicli heften. Und sie wird
eines Tages, fern von allen Wertungen zufälliger Zeitumstände, den
Sieg über die anderen Meinungen davon tragen, den, wenigstens in
tlen übrigen Wissenschaften, die Wahrheit noch stets über den Irr-
tum errungen hat. Dann wird es auch in der Philosophie, ähnlich
wie schon jetzt in der Mathematik, nur eine Schule geben. Auch
dann, freilich, wird nur dio erste Vorarbeit an der Lösung der letzten
Probleme geleistet sein; denn unendlich groß ist die Aufgabe. Aber
der Weg zu diesen lÄisungen wird gebahnt und Ix^treten sein.
Dies sind die Gründe, aus denen vor zehn Jahren Nelson vnid
.seine engsten philosophischen Freunde mit klareni Wissen und Willen
zur neuen Friesschen Schule zusammentraten. Wie aus ihr, infolge
54 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
der allmählich sich verbreiternden Basis und unter einigem Wechsel
der Organisationsformen, das sich herausbildete, was heute die
Jacob Friedrich Fries-Gesellschaft darstellt — davon wird,
ebenso wie von unseren Prinzipien und Forderungen an den einzelnen
Zugehörigen, noch an anderer Stelle die Rede sein.
III.
Wir aber stellen uns heute erneut die entscheidende Frage : welches
sind denn nun eigentlich die Prinzipien, deren Bewahrung und För-
derung unsere Organisation sich zum Ziel setzt ? Ist die Bezeichnung
derselben durch die Namen Kant und Fries nicht so unbestimmt,
daß sie uns nur sehr unwesentlich von anderen philosophischen Be-
strebungen der Gegenwart unterscheidet? Zwei Möglichkeiten
scheinen zu bestehen. Entweder das dogmatische Hinnehmen und
Aufnehmen aller Forschungen und Lehren dieser Meister — ist die
Gesellschaft dann nicht zur Rolle einer dogmatischen Sekte ver-
urteilt, deren Errichtung mit Wissenschaft, mit kritischer Selbst-
besinnung nichts zu tun hat? Oder Kritik auch am Werke der
Meister — mit welchem Rechte legt sich dann aber die Gesellschaft
auf die Namen dieser Meister fest, mit welchem Recht beansprucht
und erfüllt sie ihre wissenschaftliche Sonderstellung?
Wir meinen: wer die »Abhandlungen der Friesschen
Schule«!) bisher ohne Vorurteil gelesen hat, dem beantworten sich
diese Fragen leicht. Weder die eine noch die andere Seite der oben
aufgestellten Alternative trifft zu. Kurz und begründungslos setzen
wir hierher, was wir als höchste Voraussetzungen unserer Gemein-
schaftsarbeit betrachten. Gelänge es irgendeiner wissenschaftlichen
Nachprüfung, diese Fundamente zu erschüttern, so hätte unsere
Organisation ihr Seinsrecht eingebüßt — so wäre unsere Arbeit ein
philosophischer Irrweg gewesen, wie es viele gab. Wir halten die
Möglichkeit einer so gearteten wissenschaftlichen Gegenargumenta-
tion für ausgeschlossen; wir haben Gründe für diese Meinung; ebenso
wie wir in der Lage sind, unsere Fundamente selbst positiv wissen-
schaftlich zu sichern.
Diese Fundamente sind:
das theoretische Weltbild des transzendentalen Idealismus,
die ethische Gesinnung des moralischen Rigorismus,
das methodische Prinzip des Selbstvertrauens der Vernunft
in die Wahrheit ihrer Erkenntnisse, das sich wissenschaftlich an-
wendet in der Methode des autonomen Selbstdenkens, der
kritischen Methode.
In diesen drei tiefsten Errungenschaften kristallisiert sich uns
in der Tat das Erbe Kants und Fries'; und zwar mit einer Spezi-
fität, die es von allen anderen sich kantisch nennenden Philosophemen
1) Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 4 Bände.
Geleitwort« zum zehnjährigen liestehen der ne\.' - bul«(i913). 55
flondert und abhebt. Inwiefern das so ist, inwiefern ca gerade der
speziell Friessche Anteil an diesen Grundforderungen alle*« Philo-
BophierenH int, näntlith da«, wa« wir unter kritischer Metluxle ver-
BteluMj, wjiH die SondcrHtelUing unseren PhiloHophiorenn lx.'dingt:
das ist in unseren Veröffentlichungen oft und ausführlich genug
auseinandergesetzt worden. Hier liegt die Tendenz der Fri esschen
Schule zu sprachlicher und logischer Präzision, ihre Tendenz zu
axiomatischcr ArWitsweisc l)Ogründet ; hier liegen die Wurzeln ihrer
liostrebung, die kritische Lösung metaphysischer Probleme
auf dem neutralen Boden der Psychologie zu erreichen,
ohne in irgendeinen Psychologismus zu verfallen. Und
ebenso liegt der Kern der Sonderstellung Friesscher Ethik in diesen
(Srundlagen, der Autonomie der Vernunft, dem rigoristischen Prinzip
»ind der kritisch-psychologischen Methode der Ausbildung bereits
fest und bestimmt Ijcschlossen. Das alles kann hier nicht seine
besondere und einzelne Begründung erfahren; auch bedarf es
dessen nicht; dem Ausbau und der Begründung dieser Positionen
ist ja die ganze Arbeit der Friesschen Schule mit ihren Veröffent-
lichungen, ist die ganze wissenschaftliche Leistung unserer Gesell-
schaft gewidmet. Hier findet der Interessierte und der Gegner die
Mittel der Überzeugung, die wir liesitzen; und es ist uns hierbei
sachlich nicht wesentlich, ob wir für diese Methode und Gründe von
unseren philosophischen Lehrern übernehmen konnten, oder ob an
deren Stelle brauchbarere, kritisch haltbarere und einwandfreiere
Methoden selber ausgebildet werden mußten. Den Prinzipien der
Meister sich iiinzugeben. den Geist ihrer Philosophie lebendig zu
erhalten: das steht nicht im Widerspruch damit, an Begröndungs-
weisen, an Einzelheiten des Ausbaues Neues zu schaffen und Kritik
zu üben. Dieses letztere Verhalten allein vermag vielmehr den Vor-
wurf des Dogmatismus von der Schule abzuwenden, ihrer Arbeit
den Charakter wahrhafter Wissenschaftlichkeit zu sichern.
IV.
Wollen uir den Versucii wagen, die Besonderheit unserer philo-
sophischen Stellung im Rahmen der geistigen Gesamtkultur des
Zeitalters, in welchem sie entstand und zu ihrer jetzigen Form sich
ausbildete, historiscli z\» umreilien*). «o dürfen wir — im Bewußt-
sein der Lückenhaftigkeit einer derart skizzenhaften Retrospektive
gerade im gegenwärtigen Moment — mit unserem Führer Nelson,
der uns zuerst eine solche Überschau entwickelt hat, etwa folgendes
feststellen.
Der neueren Philosophie ist ihre Aufgabe gestellt worden durch
die Entstehung der modernen Naturforschung. Diese moderne
•) Anni. l>ei der Kom>ktur: V>jl. hiortu neuere VeruffenthchunRcn atu der
Neuen Fries Schule, vor allem Muhlvatein, Dio rtirupuucho lU-ionnation.
Leipzig 191!).
56 Vorbereitende Einführung in die allgein. erkenntniskritischen Grundlagen.
Naturforscliung hatte die alten Autoritäten aller Gebiete der mensch-
lichen Kultur untergraben und zerstört, und so entstand das große
Problem für die Philosophie, was nun an Stelle dieser alten Auto-
ritäten treten sollte. Neue Normen waren statt der zerstörten auf-
zurichten. Dies war die Aufgabe, die sich das Zeitalter der Auf-
klärung bewußt gestellt hatte. Es galt, sich nicht mehr irgend-
welchen neuen Autoritäten zu beugen, sondern nur »der eigenen
Vernunft zu vertrauen«. Den historischen Höhepunkt im Vollzug
der Lösung dieser Aufgabe stellt das Gebäude der k an tischen Philo-
sophie dar. Aber diese Vernunft, die Normen für alle Kultur geben
sollte, wußte man nicht von der Reflexion zu unterscheiden. Man
verwechselte die Vernunft mit dem leeren Verstand, mit dem bloßen
Reflexions vermögen. Es entstand so der vergebliche Versuch, die
Normen in Wissenschaft, Religion, Ethik und Ästhetik auf bloße
Reflexion zu gründen. Diesem Fehler war die Leibniz -Wolf f sehe
Theorie extrem verfallen, diesem Fehler verfiel auch — will man sie
nach ihrer tiefsten Tendenz beurteilen — Kants Kritik der Vernunft.
Kants Kritik der Vernunft ist der großartigste Versuch, die meta-
physischen Prinzipien auf bloße Reflexion zu gründen; sie ist die^
größte Anstrengung, die in der Menschheitsgeschichte gemacht worden
ist, ihr Problem allein aus den Mitteln des Verstandes zu lösen. Und
es war ein tragisches Verhängnis im geschichtlichen Werdegang der
damaligen Philosophie, daß in diesem Irrtum Kants der Angelpunkt
seines Philosophems allein erblickt wurde; die neuen und frucht-
baren Keime, die neben ihm in Kants Philosophie sich entwickelten,
wurden nicht beachtet.
Es war historisch notwendig, daß ein Zeitpunkt kommen mußte,
dem die Form, in der Kant versucht hatte, das Grundproblem der
modernen Philosophie zu lösen, nicht genügen konnte, dem die Er-
kenntnis aufging, daß die kantische Kritik an der Leerheit der
Reflexion ebenso scheitern müßte, wie die Philosophie seiner rationa-
listischen Vorgänger; dem es aufgehen mußte, daß Kant das Hume-
sche Problem im letzten Grunde ungelöst hatte stehen lassen und
damit den metaphysischen Skeptizismus unwiderlegt gelassen hatte.
Diese Einsicht rief eine allgemeine Reaktion hervor. Es war ganz
klar geworden, daß die logische Reflexion als Quelle der metaphysi-
schen Erkenntnis unzulänglich bleiben muß und daß die Reflexions-
philosophie, wie man dieses Unternehmen nannte, durchaus auf fal-
schem Wege war. Die Konsequenz war eine allgemeine Verzweiflung
an der menschlichen Vernunft. Diese Konsequenz mußte sich noch
besonders aufdrängen durch den Ausgang der französischen Revo-
lution, die es unternommen hatte, die Ideale der Aufklärung in die
Praxis des Lebens umzusetzen und eine Umgestaltung der mensch-
lichen Gesellschaft nach den Forderungen der Vernunft zu bewirken.
Das Fehlschlagen dieser Hoffnungen schien ein deutlicher Beweis
für die Ohnmacht der menschlichen Vernunft zu sein. Es setzte
damals die große Bewegung ein, die man als Romantik bezeichnete.
Geleitworte zum zehujährigmi Bealfhcn der neuen Kriciischen Schule ( 191 3). 57
Eh trat in ihr eine Rückkehr von d«-n Idealca der Aufklürunj» zu den
gestürzten Autoritäten ein, e« bcnmehtigte »ich der (Jebildeten eine
allgeineine Voraclitung und ein ullgenieiner Haß g<-geii die Reflexion
als die Quelle aller V\>e\ — man denke an den Wortführer Jacobi
und die gerade historische Linie, die sich von ihm zu Schelling«
Philosophie der Offenbarung hinzieht. Die Tendenz wurde groß,
auä der Wirklichkeit, die man mit der Vernunft nicht mciMtern zu
können glaubte, hineinzuschreiten in das Reich des Irrationalen,
das man in sich vorzufinden vermeinte. Jener Hang zum Mystizis-
mus trat auf, der nichts ist als die Nachgeburt der vMjweiidung von
verstandesmäliiger Kritik, des Versuches, das freie Denken abzusetzen.
Mehr und mehr sah man den Grund der Werte in dunklen geheimnis-
vollen und mystischen Zonen, fern von dem l)egrifflich Klaren und
wissenschaftlich Haltbaren. Und auch jener weitere Schritt wurde
getan, den wir noch ülx'rall in di-r Historie auf dem Weg ins Irrationale
vorgezeichnet finden: der kScluitt zum Historizismus, zt>r autoritären
Heteronomie des Gewordenen. Das Staunen und die Pietät vor der
verstandesmäßigen Unbegreiflichkeit des positiven, komplexen,
historisch Entstandenen führte dazu, hier den eigentlichen Grund
aller Nornu-n zu suchen. Damit taucht jene reaktionäre, hoffnungs-
und fortschrittsfeindliciie Tendenz auf, die sich noch stets an jede
Form der Mystik geknüpft hat.
Daß diese Wendung im Gang der Kultur den Menschen in vieler
Hinsicht bereichert hat, wird niemand leugnen. Damals war es,
daß wahrhaft die deutsche Seele eine zentrale und herzliche Be-
ziehung zur Kunst gewaiui; damals ging das Verständnis für Reli-
gion und Geschichte dem Mensehen neu auf; und durch dies alles
formten sich vertiefte Gebilde der Ahnung göttlichen Geistes. Und
trotz alledem: dies ist eine Epoche innerlicher Unwahrhaftigkeit ;
und dcshall) kann kein Zweifel sein, daß die Schattenseiten in dieser
ganzen geistigen Bewegung, von der sich die Ciebildeten forttragen
ließtMi, ihr Licht verfinstern. Es wäre darauf angekommen, nach dem
Gesetzmäßigen, Allgemeingültigen zu suchen: man haschte nach dem
Eigenartigen, Individuellen, Originalen. Ein Kultus der genialen
Persönlichkeit setzte ein, der sich nicht selten ülx'rschlug; und auch
die Kunst, erst leuchtende Folie und sodaiu» Ix'fruchtete Blüte der
hier entbundenen Kräfte, wurde im historischen Verlauf der Er-
eignisse mehr inul mehr von einer Richtung btOierrscht, die nur den
Mystizismus begünstigte und eine Entfremdung zwischen Kunst
und Leben schuf, die auf die Dauer Wert und Wirken der Kunst
untergral>cn mußte.
Wir finden die gleiche Tendenz auf allen (Jebieten geistigen Ix«lH»ns.
Anstelle der vorher erst rebten natürlichen Religion trat die Schätzung
des positiven Kirehentums. In der Politik kam man zurück von den
Ideen der Menschenrechte und des Weltbürgertums zur Schätzung
der nationalen Eigenart, der Würde der einzelnen Nationen im Gegen-
satz zu den anderen. Und in der Rechtslehre triumphierte wiederum
58 Vorbereitende Einführung in die aligem. erkenntniskritischen Grundlagen.
die historische Rechtsschule über das Naturrecht und sprach der
Zeit den Beruf der Gesetzgebung ab mit Gründen, die, wären sie
triftig, für jedes Zeitalter gelten würden. Hatte der Mangel des
Aufklärungszeitalters in seiner bloßen Intellektualität gelegen, in
seinen Rationalismen, in seiner Überschätzung des Vermögens von
Wissenschaft und Verstand, so trat jetzt ein diesem Mangel gerade
entgegengesetzter anderer auf. Ein Irrationalismus brach herein in
verschiedenen Spiegelungen, sei es in der des Ästhetizismus, sei es der
des Historismus. Die Frage nach der Wahrheit verschwand aus dem
Geiste derer, die sich um ein im Subjekt allein verwurzeltes, intui-
tives Innewerden des Absoluten bemühten; die Frage nach der Be-
rechtigung der bestehenden Zustände wich der Untersuchung ihrer
geschichtlichen Entstehung.
So war es damals auch in der Philosophie. Man legte allen Wert
auf die persönliche, originale Formel, keinen auf die wissenschaftliche
Wahrheit. Die Philosophie zog sich von Wirklichkeit und Leben
zurück; — sie ward zur bloßen dialektischen Abwandlung der Be-
griffe, ohne allen Ernst und festen Hintergrund. Oder aber sie zog
sich auf die bloße Erforschung der Geschichte der Philosophie zurück.
Man darf sich nicht darüber täuschen, welche bedeutenden prak-
tischen Folgen diese Änderung der Denkweise gerade auch in der
Philosophie gehabt hat. Es sei insbesondere auf einen Umstand hin-
gewiesen, nämlich auf den Einfluß, den die Philosophie dieser'Epoche
auf eine der wichtigsten Formen, in denen sich philosophisches Denken
in die Praxis des Lebens umsetzt, ausgeübt hat: auf die Politik. Es
genügt, den Namen Stahl zu nennen, dessen legitimistische Rechts-
und Staatslehre religionsphilosophisch auf die spätere Ausbildungs-
form der Schellingschen Philosophie gestützt wird. Der Ausgangs-
punkt der Betrachtungen Stahls liegt in einer Polemik gegen den
politischen Liberalismus der Aufklärung. Diese Kritik des poli-
tischen Liberalismus der Aufklärung besteht bei Stahl nun darin,
daß er immer wieder auf die Leerheit der Reflexion hinweist, auf
die Ohnmacht des Verstandes, aus sich eine Gesetzgebung für das
gesellschaftliche Leben der Menschen zu erzeugen. Und in dieser
Kritik behält Stahl recht. Es ist ein wirklicher Fehler der Auf-
klärung, daß sie aus der Leere der Reflexion einen Gehalt an be-
stimmten Gesetzen erzwingen will. Der falsche Schluß aber, den
Stahl aus dieser Kritik des Liberalismus zieht, ist die Lehre von
der Ohnmacht der menschlichen Vernunft, die Lehre, daß wenn wir
nicht dem Anarchismus, der völligen Gesetzeslosigkeit verfallen
wollen, wir zur Autorität zurückkehren müssen. Die Konsequenz
ist die legitimistische Staatslehre, das monarchische Prinzip, und die
Lehre vom christlichen Staat, jener göttlichen Institution, deinen
Zweck in dem Seelenheil der Menschen liegt.
Mit gleicher historischer Notwendigkeit aber zeitigte das roman-
tische Denken noch andere, unter sich heterogene, politische Systeme,
deren jedes seinen eigenen Tod in seiner theoretischen Konstruktion
Celiütworto zum zchnjubn^' . !i<-n der neaen F^ieanbea Schule (1913). 59
«elbHt enthält. So verMchiedcii ctwii die Hegelscho StaatHauffaM«ung
von der StuhlHchen i.st, ho hat .sie docli mit ihr du« (JeineiriJiame
des Gegenaatzes gegen den IndividualiHintis der Aiifklürungsplülo-
eophie. Naeh Hegel i.st nielit das Individuum, sondern der Staat
selbst Zweck, er ist nicht nur eine göttliche Institution wie bei Stahl,
sondern in ihm verwirklicht sich die Gottheit selber, und das Indi-
viduum sinkt zu dem Hange eines blolien Mittels für den Staatszweck
herab. Die Ix'hre von der ümnipotenz des Staates ist hieraus ledig-
lich eine Folge. Auch diese Lehre führt auf eine Heteronomie, auf
die Unterwerfung des Individuums unter die äußere Norm des ob-
jektiven Geistes, die in Gestalt des Staates an es herantritt. Die
lähmenden quietistischen Folgen dieser Lehre haben bittere histo-
rische Früchte gezeitigt.
Alx'r die Hegeische Lehre war auch des entgegengesetzten Ex-
trems ihrer praktischen Anwendung aufs Leben fähig. Der Mar-
xismus ist nichts als eine ihrer Entwicklungsformen. Und dabei
ist er nach seinen philosopliischen Fundamenten im Grunde nichts
als ein Teilsymptom des Materialismus. Und dieser Materialismus,
mit seiner verflachenden und kulturlosen Tendenz, steckt auch
schon im innersten Kern des Hegelianismus mit innerer Not-
wendigkeit mit drin. In ihm erlebt dtvs Hegeische Philosophen!
das Schicksal des dialektischen Umschlagcns in sein Gregenteil. Was
bedurfte es dazu weiter, als die Hegeische Begriffswelt, die für ihn
mit der Welt des Geistes eines war, lediglicli als eine Welt bloßer
Bfgriffe anzuerkennen, um ihr die Realität abzusprechen und damit
<lem puren Materialismus zu verfallen! Es ist bekannt, wie Feuer-
bach, Strauß und Marx diesen Schritt taten. In der Tat, wenn
man den Hegclschen Realismus der Begriffe fallen läßt, so bleibt
nichts übrig als das Dasein der Materie; und man braucht nicht
einmal auf den .\nspruch eines absoluten Wissens zu verzichten,
man kann an der Identität von Denken und Sein festhalten, um auf
den Satz zu kommen, daß nur die Materie Existenz hat, und das
Denken zu einer bloßen Erscheinungsweise der Materie zu machen.
Es zeigt sich so, daß die höchste Blüte des romantischen Philoeo-
phierens, daß das Hegolsehe Sj'stem, im Grunde durchaus irreligiös,
rein naturalistisch ist und seinen entgegengesetzten Anschein nur durch
Wortspiele vortäuscht. Nach Hegel ist Gott nur der allgemeine Be-
griff des Seins und er realisiert sich nur im Bewußtsein der Menschen.
Der konsequente Schluß hieraus ist, daß Gott nur in der Vorstellung
der .Menschen existiert, daß er der Gegenstand einer puren Illusion ist.
Und s»> steht es auch, in der praktischen Philosophie, mit dem an-
geblichen Widerspruch des Marxismus mit der Hegelschcn Lehre.
Der revolutionäre Charakter der marxisti.schcn und der Quietismus
der Hegelschcn und Stahlschen Staatsdoktrin scheinen nichts Ge-
meinsames zu iH'sitzen. Um so interessanter ist es, zu sehen, welche
gemeinsamen kulturellen Züge tlie marxistische Lehre gerade mit
diesen ihren .\ntip<>d«'n verbindet. Das Gemeinsame jener an und
60 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
für sich so entgegengesetzten politischen Auffassungen liegt in der
Kritik des von der Aufklärung überkommenen politischen Liberalis-
mus. Dem reflexionsphilosophischen Aufklärungsliberalismus, der in
seiner Konsequenz als Anarchismus erkannt wird, wird eine Auffas-
sung entgegengesetzt, die das Selbstbestimmungsrecht des Indivi-
duums einem inhaltlich bestimmten Staatszweck unterordnet. Alle
diese Staatslehren kommen so zu einem heteronomen politischen
Prinzip. Der Unterschied ist nur der, daß bei Stahl der Staat wesent-
lich zum religiösen Vormund der Bürger gemacht wird, bei Marx
zum wirtschaftlichen. So zeigt sich hier, daß die beiden ganz feind-
lichen Parteien, die konservativ-klerikale und die sozialistische, die
sich heute die politische Herrschaft streitig machen, in ihrer theo-
retischen Begründung und damit zugleich ihrer historischen Ent-
stehung einen gemeinsamen Ausgangspunkt besitzen : nämlich in der
Reaktion gegen den aus der Aufklärungsphilosophie stammenden,
irrig fundierten individualistischen Liberalismus.
Und wiederum waren es die Naturwissenschaften, welche
zum zweitenmal in den Gang der neueren Philosophie eingriffen und
diese ganze romantische Bewegung hinwegfegten. Die Naturwissen-
schaften, wenigstens in ihren theoretischen Teilen, waren der einzige
Zweig der allgemeinen Kultur geblieben, der durch die romantische
Spekulationsweise nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Ihre Sicherung lag in der festen Ausbildung ihrer Methode. Und
von dem Ausbau dieses methodisch gesicherten Besitzstandes ging
die Gegenbewegung aus. Aber diese Gegenbewegung verfiel, sobald
sie sich philosophisch generalisierte, in dieselbe Einseitigkeit, wie
die schon vorher unter dem Einfluß der Naturwissenschaften in der
Philosophie entstandene Strömung; sie verfiel in den Empirismus,
den Monismus und die verschiedenen anderen Spielarten des Na-
turalismus. Abermals handelte es sich um die Tendenz, unabhängig
von allen Autoritäten zu werden. Dies Ziel hoffte man mit Hilfe der
Naturwissenschaften zu erreichen. Mit ihrer Hilfe hoffte man alle
Fragen lösen zu können, von deren Entscheidung die Regelung des
gesellschaftlichen Lebens der Menschen untereinander abhängt. Von
ihr erhoffte man praktische Normen. In diesem historischen Momente
sollte besonders die neue evolutionistische Biologie die Erzeugerin
der neuen Philosophie werden. Aber auch dieser Naturalismus
mußte sich bald überleben. Er trug den Keim der »Selbstzerstörung
von vornherein in sich. Dieser Keim der Selbstzerstörung lag in der
kritiklosen empiristischen Grundauffassung von der Methode der
Naturwissenschaften. Die Konsequenz dieses Empirismus ist all-
mählich der Skeptizismus; und dieser Skeptizismus mußte sich
schließlich gegen die eigenen Ergebnisse der Naturforschung selber,
die ihn zum Siege geführt hatte, richten. Er mußte zur Bestreitung
der Möglichkeit von Naturerkenntnis überhaupt und auf der anderen
Seite damit zugleich zur Bestreitung der Möglichkeit einer Erkenntnis
objektiver Normen in der Ethik führen.
(IfUitvrortc zum ix'hnjahri^;' ! .11 der ncu«-n Krifi»*chon Schule (1913). Gl
l>if .HkoptizistiHchen KonHcqufnzeii trefffii daher nicht nur die
vcrfehltfii ViTSUflic eituT philosophiHchen AuHlM*utung der Natur-
wiMsenschuften, sondern sie inuliten die eigene Autorität der Natur-
wissenHclmften seihst untergrahen. Und dann niulite diene an sich
HclbKt verzweifehide Wissenschaft auch alshahi aufhören, der all-
irenicinen, reaktionär ronmntischen Bewegung feindlich zu bleiben.
Indem sie auf ihre urMpriinglichen Ansprüche verzichtete, zur Er-
kenntnis objektiv gühiger (lesetze zu gelangen, hörte sie auf, diesem
v«rfeinerten AU-rglaulx-n g»'fährlich zu »ein. Denn eine Natur-
wissenschaft, die niclit objektive Gesetze der Natur er-
kennen will, sondern »ich darauf beschränkt, Konven-
tionen zu treffen, hinsichtlich der Art, wie es für uns
zweckmäßig ist, über die Natur zu denken, die also ülier-
haiipt darauf verzichtet, ülxjr die Natur zu urteilen, eine solche
Naturwi.ssenschaft wird notwendig mit jedem iK^liebigen Alx"rglauben
iii Kintracht leben können. So zeigt sich, daÜ letzten Grundes auch
diesem im Namen der Aufklärung und der Geistesfreiheit auftretenden
Kmpirismus eine reaktionäre Tendenz anhaftet. In der Gegenwart
sehen wir sie bereits breit entwickelt. Die fortgeschrittenen gegen-
wärtigen Kinpiristen leugnen, dali die Naturwissenschaft Gesetze
erkennen kann, die objektiv in der Natur gelten; sie Ijehaupten, daß
das Gesetz der Naturwissenschaft sich, soweit es über die bloüe und
mitteilbare Beobachtung und das Experiment hinausgeht, lediglich
auf Definitionen Ix-schränkt, d. h. auf willkürliche terminologische
Festsetzungen. Wenn wir also nach den Wahrheiten fragen, die in
der Natur gelten, so schweigt die Wissenschaft. Die Antwort auf
solche Fragen gibt uns nicht die Wissenschaft, sondern nur die Kirche,
die alte oder eine neue! Diese Auffassung findet sich allerdings so
unumwunden nur bei wenigen ausgesprochen. Aber die Ursache
liegt nicht etwa in einem sonderbaren und zufälligen Einfall dieser
wenigen, sondern in einem grolnMi Mang»>l an Konsequenz Ix'i den
anderen. Die einzig bündige Konsequenz aus dem in der Wi.sscn-
schaft heute allgemein angenommenen Empirismus ist die Ohnmacht
der Wissenschaft in bezug auf die Erkenntnis der Wahrheit. Diese
Konseciuenz ist für jeden logisch Denkenden so einleuchtend, daß
sie sich mehr und mehr durchsetzen muli; und das um so mehr, als
andere Mächte an dieser Knt wickelung ein starkes Interesse haben.
Es findet liier eine Kapitulation der Wissenschaft vor den äuUeren
Autoritäten statt und es treten wieder hetcronome Prinzipien daa
Erbe der sich seilest verachteiulen Wissenschaft an. So entsteht eine
große rück.Hchritt liehe Iknvegung durch die die mehrhundertjährige
BefreiungsarU'it der Wissenschaft wieder rückgängig gemacht wird.
Diese Ent Wickelung ist teils (irund, teils erst recht auch Folge
der Nicht l>eachtung und des Nicht verstehens der kritischen Philo-
sophie, wie sie von Fries ausgebildet worden ist. Die gegenwärtig©
Philosophie hat sich auf diese Weise sell>st ihr Urteil gesprm'hen, sie
hat auf ihren großen Beruf verzichtet, der ihr in der Geschichte der
62 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniekritischen Grundlagen.
Menschheit zukommt, auf ihren Beruf als Beschützerin der Geistea-
freiheit und als Hüterin der Autonomie der Vernunft.
Ein Ausweg ist hier nur möglich durch eine Rückkehr
zur kritischen Philosophie. Nur möglich dadurch, daß man
den Grundfehler, der dieser historischen Entwickelung zugrunde
liegt, aufdeckt und beseitigt. Dieser Fehler ist letzten Endes kein
anderer als die Nichtunterscheidung der Vernunft von der leeren
Reflexion. Die Aufklärung des Unterschiedes von Reflexion und
Vernunft ist der Ausgangspunkt der großen Reform der Philosophie,
die Fries begründet hat. Es kommt nunmehr darauf an, dieser
Friesschen Entdeckung allgemeines Verständnis und allgemeine
Anerkennung zu verschaffen, um den wirklichen Mangel der Auf-
klärungsphilosophie zu beseitigen und damit auch zugleich die Wurzel
der durch ihn erzeugten reaktionären Bewegung, unter deren wachsen-
dem Einfluß wir heute noch stehen, zu zerstören. Es ist der gemein-
same Fehler der Auf klärungsphilosophie und der ihr entgegengesetzten
romantischen Philosophie, die Vernunft mit der leeren Reflexion
verwechselt zu haben. Ebenso verkehrt wie es war, aus der bloßen
Reflexion, dem bloßen Vermögen der Aufklärung, den Gehalt, den
nur die Vernunft geben kann, erzwingen zu wollen, so war es auf der
anderen Seite verkehrt, durch die richtige Einsicht in die Unmöglich-
keit dieses Beginnens, die leere Reflexion zur Quelle aller Wahrheit
und Gesetzgebung machen zu wollen, zu einer Verzweiflung an der
Vernunft selbst sich hinreißen zu lassen. Durch die Trennung von
Vernunft und Reflexion werden diese beiden entgegengesetzten
Fehler zugleich aufgehoben. Durch sie allein gelingt es einerseits,
die skeptische und anarchistische Konsequenz der bloßen Reflexions-
philosophie zu vermeiden, und andererseits die romantische Konse-
quenz, die mit der Verwerfung der Reflexion verbundene Rückkehr
zur äußeren Autorität auszuschließen. Die Reflexion ist allerdings
für sich leer, aber wir können doch nicht ohne sie zur Wahrheit ge-
langen. Sie ist vieiraehr das notwendige Mittel, um die in uns liegende
dunkle Erkenntnis der Vernunft zur Klarheit des Bewußtseins zu
erheben. Wir können uns über die Schranke der Reflexion nicht
dadurch hinwegsetzen, daß wir die Reflexion von uns werfen; damit
verzichten wir überhaupt auf das Bewußtsein der Wahrheit. Wir
können es nur dadurch, daß wir die Reflexion zu Ende führen bis zu
dem Bewußtsein um den Gehalt der unmittelbaren Erkenntnis zu
unserer Vernunft.
So soll uns die Friessche Philosophie wieder dazu verhelfen,
gegenüber allen falschen Lehren von der Ohnmacht der menschlichen
Vernunft eine Lehre vom Selbstvertrauen der Vernunft in ihre Rechte
einzusetzen. Sie soll uns dazu verhelfen, aus dieser Lehre die prak-
tischen Konsequenzen für das Leben zu finden und festzusetzen!
(;. Mjahrigenli .ic(i913). 63
V.
Wenden wir den Blick aber von diesem hirttorischon Hilde zum
gegenwärtigen Stande der geistigen Kultur, ho erkennen wir, daß ihre
Herkunft und ihre Entwickclung ihren Charakter bestimmt haben.
Noch stehen im geistigen Zentrum doa gegenwärtigen Ix-bens die
fortwirkenden Kräfte der naturwissenachafl liehen Arbeit der letzten
Menschenalter. Feindselig al>er bestehen auf der anderen Seite
neuroniuntische CJegenströinungen.
Niemand wird den außerordentlichen, rasch errungenen Fort-
schritt der Xiiturerkenntnis in den letzten Jahrzehnten leugnen und
verkleinern wollen. Aber die allgemeine begeisterte Aufnahme ihrer
Erfolge, vom ganzen Volke gespürt an einer ungeahnten Erleichterung
technisch sozialer Bedürfnis l>efriedigung, führte zur ül>ersteigerung
der an sie gestellten Anfortlerungen und Hoffnungen, ein abgerundetes
Weltbild geben zu können, was ihr dem innersten Wesen und dem
wahren Anspruch nach versagt ist. Zugleich stellte sich eine Über-
schätzung der praktischen Werte ein, welche durch sie zweifellos
errungen worden sind. Sie schien zum Quell aller Werte überhaupt
zu werden, und diese .\uffassung verrät eine Selbstgenügsan^keit,
eine selbst überhebende Selbstbeschränkung, die notwendig alle Be-
wegung ülxjr die Nützlichkeitswerte hinaus zu den zeitlosen, an sich
gültigen Werten zum Stillstand und zum Zurückfluten bringen und
in einer Art von geistiger Barbarei endigen muß. Diese beiden furcht-
baren Fehler in der Einschränkung des Wertes der Naturwisseixschaft
für die Erkenntnis und für das Leben hängen miteinander zusammen.
An der theoretischen Überspannung des naturwissenschaftlichen
Erkenncns und seiner Wendung ins Weltanschauliche sind die Natur-
forscher großenteils selber schuld. Nur eine Minderzahl sind jene
Theoretiker, die resignieren. Und wenn sie resignieren, so geschieht
dies so radikal, daß sie hoffnungslosester Skepsis und reaktionären
Dogmatismen verfallen. Die Mehrzahl der Naturforscher
aber, von dem Erfolge ihrer Einzeldisziplin getrieben,
legt ihren naiven und hoffartigen Empirismus auch an
alle Probleme des reinen Denkens.
Die mechanistische Naturauf fa.ssung schlägt über in eine Mecha-
nisierung des Welt ganzen. Materialistische Auffassung verödet alle
Erkenntnis, alle Lebensgebiete. In der Seelenlehre täuscht die ex-
perimentelle Verf lachung eine erkünstelte Vertrautheit mit jenem
Geheimnisvollen und Tiefen unserer geistigen Organisation vor, die
\ms verliehen ist, um Welt und Wert in ihrem Wesen zu begreifen.
Eine mehr oder wei)iger verschämte Nützliehkeitslehro leitet die
Bildung der olwrstcn Normen unserer sittlichen Haltung aus irgend-
welchen sozialen Instinkten oder aus Kindheitserfahrungen her; und
mit dieser Genesis glaubt sie ihre Geltung zu rechtfertigen. Am
Ganzen sozialer Bildungen sieht sie als wesentliches nicht mehr die
Persönlichkeit, ilir Wirken, ihre Motive und ihren Wert, sondern
64 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
dynamische und ökonomische Bildungsfunktionen, die, aus toter
Masse quellend, starr und leblos und jenseits alles menschlichen
Wollens sich verweben. Es ist schon viel, wenn einer von diesen,
durch alle Entwickelungsmoral und Soziologie hindurch, das wahre
ethische Problem überhaupt bemerkt, überhaupt anerkennt: es ist
schon viel, wenn ihn dieses Sehen zu derjenigen Haltung treibt, die
der Empirist vor der apriorischen Norm, die er nicht ausmerzen kann,
allein einzunehmen fähig ist: zur ethischen Skepsis. Entgötterung,
Entsittlichung, Entpersönlichung: dies Endziel empi-
ristischer Geistesrichtung ist längst erreicht und wirkt
in der Masse weiter.
Aber auch das Gegengift der anderen Seite unseres Geisteslebens
ist, an sich betrachtet, ein Gift. Transzendentalismen, die an Schel-
ling und Hegel anknüpfen, ein Historizismus, der im tiefsten Grunde
skeptisch und schrankenlos-subjektiver Individualismus ist, ein Ethos,
das im Individuum wurzelt und der objektiven Begründung ermangelt,
die es auch nach dem Stande der Methode jenes Philosophierens
niemals erfahren kann; dazu eine Geberde von Religiosität, Ver-
achtung der ehrlichen und sachlich begrenzten Arbeit der Natur-
wissenschaft und eine im tiefsten Grunde reaktionäre Tendenz, deren
Wurzeln wir vorhin aufzeigten: in dieses Extrem entflieht man dem
anderen. Die individuelle Zerfahrenheit und Zuchtlosigkeit der gegen-
wärtigen Kunst, die sich, statt ihre Kräfte harmonisch zu ordnen, in
schrankenlosen Subjektivitäten entlädt, ist ihre hybride Blüte.
Und zwischen beiden Extremen, zwischen der Entgeisti-
gung der Welt und der Verachtung des Gesetzes, pendelt
der Geist der Moderne hin und her, direktionslos, neuig-
keitslüstern, unverantwortlich, unschöpferisch, anar-
chisch zum Verfall hin.
Wir aber in unserer Arbeitsgemeinschaft wollen wieder
aufrichten helfen die Achtung vor echter Naturwissen-
schaft; aber ihren Anspruch an Erklärungswert begrenzen.
Das Ethos wollen wir hochrichten; aber auch begründen.
Wir wollen Gott nicht hineinziehen in das historische, das psycho-
logische, das naturwissenschaftliche Erfassen und Bestimmen der
Gegenstände unserer Umwelt, aber ihn bekennen. Metaphysik
wollen wir, aber als strenge Wissenschaft.
Und wir sind unserer Sache sicher. Mag, im gegenwärtigen Mo-
mente noch, die offizielle Philosophie an den deutschen Hochschulen
sich der Lehre Fries' mehr oder weniger verschließen: es kann die
sichere Fortwirkung ihrer W^ahrheit nicht berühren. Im Gegenteil:
wir glauben konstatieren zu müssen, wie die. gänzliche praktische
Ohnmacht und Einflußlosigkeit dieser offiziellen Philosophie auf das
soziale und kulturelle Gesamtniveau unserer Zeit gerade daraus ent-
springt, daß sie aller der Elemente mangelt, die das Wesen unserer
Philosophie ausmachen. In stetem Ringen mit dem ethischen Pro-
blem, dem sie methodisch nicht gewachsen, auf dessen Wissenschaft-
G oldtworle zum zchnj.ihrig«-n H©j<U"hon (U't neuen Friofsoh'-n Schule (1913). 63
liehe Lösung «io nicht vorbereitet ist, hlfibt die offizielle Philosophie
eine Utitt'rhnltiing von Kuchleuten, die oline ütiÜcrf* H^-Monanz in»
(tanzen des geiHtigcn DeutHchland verhallt. Wir alx-r, die wir gern,
und in gleicher Weiae ohne Stolz und ohne Bescheidenheit, außerhalb
dieser Konvent ikel stehen, dürfen mit Freude in unseren Iteihen vor-
wiegend PerHÖnlichkeiten au« der Praxi.s deH Lelxjns sehen. Päda-
gogen, Politiker und Theologen, die ihrer lietütigung letzte Normen
und Wissenschaft liflie Si(;herung von der philosophischen Arbeit der
Schule erhoffen und erhalten; Männer der Einzelforschung aus allen
Zweigen der Naturwissenschaft, der Historie und der soziologischen
Disziplinen, die ihre Arbeit am wissenschaftlichen Weltbild unserei'
i*hilosopheins gesichert verankern und aus dieser Verknüpfung den
Wert und die wi.ssenschaftliche Bedeutung ihrer Einzelarl>eit zu er-
kennen und zu iK'grenzen vermögen.
Wir wi.s8en, wie klein unser Kreis noch ist, wie lx?grenzt unsere
Arbeit, wie wenig weittragend unsere äußere Wirkung. Aber im
Keime wenigstens, das dürfen wir bereits heule aussprechen, schlingt
sich um divs Zentrum der kritischen Philosophie von Kant und Fries
in unserer Arl^Mtsgemcinschaft, nicht nur die universitas scientiarura,
sondern auch die Gesamtheit praktisch geistiger Be»ufe. Hier, da.s
glauben und hoffen wir, liegt die Wurzel unserer Kraft, hier die Ver-
heißung unserer Zukunft.
Kronfeld, P«]rchUUkKb« Er
Windelbands Kritik des Phänomenalismus und die
Aufgabe der Psychologie im Ganzen der Erkenntnis.
Es ist neuerdings üblich geworden, auf die Psychologie und ihren
wissenschaftlichen Anspruch zu scheiten und so zu tun, als mische
sie sich unbefugt in wichtige menschliche Angelegenheiten ein, deren
Bearbeitung ihr nicht zufalle, und deren Lösung ihr versagt sei. Man
wirft ihr vor, sie verflache durch ihr ungeziemendes Eindrängen die
ethischen und religiösen Grundfragen, indem sie die Norm des Sitt-
lichen und den Gehalt des Glaubens auflöse und verflüchtige, als
seien das zufällige menschliche Vorstellungsweisen, mit ebenso zu-
fälligen anderen Inhalten und Abläufen verknüpft und aus ihnen
herleitbar, und zu einer höheren Betrachtung dieser Dinge vermöge
sie sich nicht aufzuschwingen. Und man behauptet, eine gleiche
psychologische Verständnislosigkeit vor dem Anblick der Funda-
mente allen Wissens und jener dunklen Gründe zu finden, aus denen
künstlerisches Schaffen und Erfassen kommt. Darum nennt man
den Psychologen flach und ehrfurchtlos, einen, dem die Tiefen fehlen,
aus denen die großen transzendierenden Kräfte des Geistes aufsteigen;
darum sei er selber zur Sterilität verurteilt und ersetze — ein trivialer
Pedant — seine Unfähigkeit zur Zeugung wahrer Werte durch eine
empirische Verflachung und Mechanisierung der seelischen Kräfte;
aus seinem Ohnmachtsgefühl und der eigenen Armut heraus parasi-
tiere er in der reicheren Seele der anderen; und besonders nimmt
man ihm seine Apparate übel. Und es ist seltsam, daß ungefähr die-
selben, die das sagen, dennoch von den psychologischen Fragestel-
lungen sich nicht losmachen können und in nur methodisch oder
heuristisch andere Bahnen gleiten, mögen diese nun an den Namen
Freud anknüpfen oder an okkultistische Hoffnungen oder an spiri-
tistische Glaubensartikel.
Es geht bei diesen Verwerfungsgründen psychologischer Betrach-
tungsweise, scheint mir, die Rede und der Begriff von vielem durch-
einander, das man wohl trennen sollte.
Niemand wird verkennen, daß ein Psychologismus in die Arbeit
des Geistes und in die Welt der Werte und Geltungen eingedrungen
war, der sich mit allem fertig dünkte, wenn er es hinsichtlich seiner
seelischen Gegebenheit erkannt und zergliedert — schlimmer: wenn
er es in eine psychophysiologische Schablone gebracht und von ihr
aus »erklärt« hatte. Das spezifisch Heutige dieses Psychologismus
ist seine biologische Note; im Prinzip ist er ein Teilphänomen jenes
Windel bands Kritik d. l'huuuiiunalisinujt u. d Aufgabe d. l'Hycbologie u«w. 07
ultübcikumiueneii Ktupiri.HinuH, der Hcit den Tagen der Hngländer
mit einer Art hiütorisclion Zwangen und gloieliHani traditionell mit
rutionalereti IMiilosopheinen weclmelt. So folgte Leibnizauf Locke,
urul nai'li H u nie kam Kant; nach dem HrbiitsMen Hügel« erschienen
Beneke und Mill; dieser aber und Spencer bilden da« metluxlo-
UjgiHchü Arsenal einer Natnrwisaenschaft, deren Siegesgefühl vor
keinem Problem mehr zurückMchreckt. Ihre letzten philooophiüchen
Vorfechtcr leben jetzt, und der biologische oder, wie er «ich gerne
nennt, pragmalische Psychologismu« ist ihr Produkt. Die Iloaktion
auf ihn, von der wir eingangs sprachen, ist das erste Symptom des neuen
Kichtungswechsels : die Transzendentalismen kommen wieder auf.
Ich will prinzipiell l)chaupten, wa« sich schon aus der Wertung
dieses historischen Geschehens ergibt : daß es keinen Gewinn darstellt,
wenn der jjsychologistische Fehler von dem transzendentalist ischen'
abgelöst wird. Wozu wird ein transzendentalist isches Erkenntnis-
theorem kt)nstruiert '. Es sollen letzte, allgemeinste Sätze hin.sichtlich
ihrer Geltung Ix^gründel werden. Gewiß darf man diese Geltung nicht
dadurch beweisen, daß man sie psychologist isch auf Weisen inneren
i'lrfahrens zurückbezieht, aus denen sie stammen sollen: sie gelten
ja vor aller Pwfahrung und unabhängig von ihr. -Aber man darf eben-
sowenig den Versuch machen, diese letzten Erkenntnisgründe aus
Voraussetzungen zu ersciiließen, deren Geltungswert der ihrigen
gleicht : denn diese Voraussetzungen müßten, um den versuchten
Schluß zu gestatten, noch allgemeiner sein, als jene letzten Erkenntnis-
gründe, die erst aus ihnen folgen sollen. Diese sind al)er als die all-
gemeinsten definiert. Und wolier käme denn der Geltungsgrund
jener »Voraussetzungen«? Für ihn erneuerte sich doch das Problem
der Gellung, das man gerade lösen wollte. In der Tat werden alle
ilicse Transzendentalismeu an irgendeinem Punkte dogmatisch. Sie
»setzen «dann l>edingungslos irgendwelche »letzten«, endgültig letzten
Prinzipien oder sie gel)cn vor, sie intuitiv zu erfassen; und dann ist
der H<'i'htsanspruch dieser Intuition da.s Dogma. Wäre ein Trans-
zendentalismus wirklich ein Fortschritt unserer fundamentalen Er-
kenntnis, so wäre der stete Rückschlag ins Psychologist ische gar
nicht zu Ix^greifen. Ihm bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich.
Aber damit ist der Psychologismus nicht etwa gerechtfertigt.
Aus der zufälligen Wirkli<'likeit seelischer Befunde läßt sich gewiß
die CJellung der liöchsten Prinzipien nicht beweisen I Deren Geltung
ist ja die wesentliche Voraussetzung auch für die bloße Möglichkeit
jener liefunde. Die psychologist ische Wendung ist wirklich ein
Relativieren der ewigen und wesenhaften Fundamente des Geistes;
sie ist elx'nso flach wie sinnlos; denn mit dieser Relativierui " t
sie nur, daß auch alle un.sere Erkenntnis ihren aijsoluten W
wt>rt einbüßt; und ist das so, dann wird man auch den Wert ihrer
»Wahrheiten« einzuschätzen wi.ssen.
Iit der Tat ist die relativistische Zeit des Geistes eine Zeit der
Normlosigkeit. Auf allen Gebieten hat sich das gezeigt, dem der
5«
68 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
Kunst wie dem des Erkennens und des Glaubens. Und da am Be-
wußtsein der Norm das Schöpfertum verankert ist, so ist die psycho-
logistische, relativistische Epoche eine solche unschöpferischer Leere
und Ärmlichkeit.
Und es mag sein, daß die Psychologie da manchmal als will-
kommene Ausflucht gedient hat, um diese Unfähigkeit zur Gestaltung
der Totalität vom eigenen Geiste aus mit dem Schilde einer objektiven
Notwendigkeit, einer gegenständlich bedingten Resignation zu decken.
Aber die Ehrfurchtslosigkeit und das selbstzweckhafte und somit
zwecklose Zerspellen der Realitäten schützt sich nur mit dem psycho-
logistischen Vorwand, zu dem es die Psychologie mißbraucht; es
wäre auch ohne sie da und würde sich anders entladen, wäre ihm ihre
Methode verschlossen. Wie die Menschen sind und wie ihre Charaktere
und Neigungen, dies ist ganz gleich; es ficht die Wissenschaft nicht
an, er rührt nicht an ihre Methoden und ihren Bestand, die ihrem
eigenen objektiven Gesetze gehorchen. Die Wissenschaft von der
Natur und ihre notwendigen Weisen des Auflösens und Zergliederns
sind als solche weder ehrfurchtslos noch ehrfürchtig; sie stehen in
der erhabenen Sphäre einer Sachlichkeit, die eine Bewertung nach den
Motiven menschlicher Zufälligkeiten nicht duldet. Und die Psycho-
logie, die Wissenschaft von der Natur der Seele, soll nicht ungerecht
das Opfer eines ethischen Unwillens werden, welcher wider den Selbst-
gefälligen frommt, der weltanschaulichen Mißbrauch mit ihr treibt.
Sie hat aber auch in der Fundierung der metaphysischen Prin-
zipien, der ethischen Normen, der höchsten religiösen Geltung, ihre
Stelle. Und mit dieser Behauptung, die, wie wir zeigen werden,
nur scheinbar im Widerspruch zu dem bisher Gesagten steht, knüpfen
sich diese Ausführungen an die jüngst erschienene Abhandlung
W. Windelbands: »Über Sinn und Wert des Phänomenalismus «i).
Der bedeutende Geschichtsschreiber der Philosophie nimmt es hier
auf sich, gegenwärtige Tendenzen der geistigen Bewegung, noch
bevor sie zu Reife und Frucht gelangt sind, wie fertige historische
Ganzheiten zu werten. Eine solche Behandlung der flüssigsten aller
schwebenden Fragen kommt, bei aller Weite der Perspektive, doch
immer auf Prognosenstellung und Warnung oder Zustimmung hinaus.
Darin liegt ihr Wert, aber auch ihr Stachel für den Leser, der sich
noch in unbefreitem Mitarbeiten an dem Problematischen weiß, auf
das Windelband bereits wie auf Fertiges und Abgeschlossenes
zurückblickt. Prognosen sind Dekrete, und Dekrete in Grundfragen
der Philosophie fordern zur Auflehnung heraus. Dadurch wirken
sie Gutes : denn indem sie Lösungsmöglichkeiten ausschalten, müssen
sie sie zuerst aufstellen; so wächst, an der Hand Windel band scher
1) Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. d. Wissensch., philos.-histor. Klasse,
9. Abhandl. 1912. Wir verstehen hier und in dieser ganzen Abhandlung aus-
drücklich unter Phänomenalismus nicht die sich selbst so nennenden Spiel-
arten des »positivistischen« Empirismus eines Mach usw., — sondern das
Gleiche, was Windelband meint: die Naturtheorie des kritischen Idealismus.
Windi-lbandd Kritik d. i'ha.. .,. . ......ci , , u. d. Au/gu.^ ^ , v bulogie usw. 69
CJedunkonführung, diu Einniclit und CborsiiJit des \VidiT«trfitendon.
Dieses M(Mneiit i.st es, iiebon der Bedeutung des Denkers und I^*hrers
Windel band, in erster Linie, diis uns zu auHführlicher Würdigung
seiner Ablumdlung veranlnÜt. Hierzu alx*r kunimt ein weitere«:
Windel band ist einer von jenen transzendentalistiaehen Verächtern
der Psychologie; und aueii Windelbands neue Arlx-i^ wci.st der
Psychologie eine Stellung im und zum Erkenntnisganzen zu, die von
den Psychologen nicht unwidersprociien hingenommen werden darf.
Die Zuweisung dieser Stellung ist aber durch tiefgreifende allgemein-
philosophische Anschauungen fundiert, und ist typisch für eine starke
Strömung gegenwärtiger »Kulturphilosophie f, deren Exponent hier
Windelband ist. Wir sollten diesen Streit einmal ehrlich aus-
fechten! Für die Argumentation der gekennzeichneten Richtung ist
nun Windelbands jüngste Abiiandlung ein vorbildliches Beispiel.
Sie verwirft den Phänomenalismus als Philosophera; sie billigt seine
Betrachtungsweise zwar der mathematischen Xnturtheorie als Maxime
zu, erklärt aber das GegenstuncLsgebiet naturwissenschaftlicher Er-
kennt iiisart als übi'rhaupt von nur sekundärem Belang, dem gegen-
über »das V^erständnis der Welt der Werte, als der höheren Realität,
durch die Kulturwissenschaft, d. h. durch die historischen Dis-
ziplinen«, gewährleistet werde. Anthropologische Arbeitsweisen
werden daher nicht ohne Heftigkeit als untauglich zu philosophischer
Grundlegung verworfen; auf die »große Bewegung der Idcntitäts-
philosopiiie«, auf Schellings »Transzendentalen Idealismus« als
die vorgezeichnete Richtlinie einer wahriiaft fortschreitenden philo-
sophischen Entwicklung wird bekenntnishaft hingewiesen. Auf die
Begründung, die solche (Jedanken tragen soll, muß gerade der Natur-
wissenschaftler, der Phänomenologo und Psychologe, eingehen, um
sein Wirken vor sich selber zu rechtfertigen.
Windel band hält es für bedeutsam an der Philosophie dieser
Zeit, daß sie die Einschränkung philosophischer Arlx»it auf Erkennt-
nistheorie aufzugeben und zur Behandlung der »eigentlichen« sach-
lichen Probleme vorwärts zu dringen scheint. »Denn eine sich von
allen inhaltlichen Problemen ausschließende Erkennt nb«theürie, die
keine tieferen Wurzeln iiat, ist immer in (Jefahr, auf die Dauer ent-
weder zu einer sehenuitischen Methodologie oder gar nur zu einer
psychologischen Entwicklungsgeschichte der Vorstellungen zu ver-
dorren: ihr natürliches Ende ist der Relativismus, der «ich heute
Pragmatismus nennt.« Dekrete! aber sie sollen uns zunächst noch
nicht aufluiiten. — Das (^IxTwiegen erkenntnistheoretischer Pro-
bleme, inunerhin entschuldigt als eine »geschichtlich notwendige
Zwischenstufe«, fand seinen Ursprung in einer einseitigen Restriktion
der Philosophie auf Kants Phänomenologie, auf seine Zertrüm-
merung der alten .Metaphysik, »seine Lehre von der wissenschaftlichen
Unerkennbarkeit des Dings-an-sich «. Das Karditialproblem der
Erkenntnistheorie, das Verliältnis von Bewußtsein und Sein. Wuison
und Wirklichkeit, Erkenntnis und Gegenstand wird vom Phäno-
70 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritisclien Grundlagen.
menalismüs nach einer der möglichen Richtungen beantwortet.
Jene Frage, sagt Windelband, »erlaubt viele Antworten: das
Verhältnis muß durch irgendeine Kategorie gedacht
werden, und es lassen sich mehr als eine mit guten Gründen darauf
anwenden . . . « Ist das richtig ? Jenes Verhältnis läßt sich auch
rein semiotisch, im Sinne einer Zuordnung ohne irgendwelche kate-
goriale Bestimmung, denken, als ein »Entsprechen« von Erscheinung
und Gegenstand, ein Zeichensein oder ein »Hindeuten« des Scheins
aufs Sein (Herbart). Man kann diese Zuordnung sogar als moda-
lisch notwendig setzen, wenn man auf dem Standpunkt steht, daß
lediglich die Art, die Bestimmtheit der Notwendigkeit, nicht aber die
Notwendigkeit selber in einem Verhältnis kategorial gedacht werden
muß. Freilich ist dieser Standpunkt kein unanfechtbarer, und teilt
man ihn, so bleibt doch die Setzung der Notwendigkeit in diesem
Falle ein erkenntnistheoretisches Dogma. Doch ist das semiotische
Erkenntnistheorem auch ohne diese Dogma möglich i). Aber sehen
wir von alledem ab, gestehen wir selbst zu : das Verhältnis von Gegen-
stand und Erkenntnis müsse »durch irgendeine Kategorie gedacht
werden«, so gilt diese Forderung doch nur, wofern es überhaupt
»gedacht«, erkannt zu werden vermag. Windelbands
Formulierung setzt eine objektive Erkennbarkeit dieses
Verhältnisses bereits voraus. Ist die Frage nach dieser Er-
kennbarkeit nicht aber eben das Problem der Erkenntnistheorie?
Und löst nicht der Phänomenalismus dieses Problem gerade, indem
er es als unlösbar erkennt? Bestreitet er nicht gerade die Erkenn-
barkeit, die objektive Bestimmbarkeit der Beziehung zwischen Er-
kenntnis und Gegenstand? und daher auch jede der möglichen kate-
gorialen Bestimmungen dieser Erkennbarkeit? Denn es fehlt ihm
an jedem objektiven Kriterium, durch das er »Sein und Bewußt-
sein«, »Objektives und Reales« auf ihre Übereinstimmung und Be-
ziehung vergleichen könnte.
Wenn Windelband also bereits in seinen Voraussetzungen und
Ausgangspunkten die Forderung erhebt, diese Beziehung irgendwie
kategorial zu denken, so wird dem Prinzip des Phänomenalismus
von vornherein der Boden entzogen; Windelband kann dann den
aufs Phänomenale beschränkten Arbeitsweisen in ihrer Tragweite
niemals gerecht werden, und es ist schließlich kein Wunder, wenn
er »psychologisches Verdorren« dort sieht, wo uns der Boden echter,
dogmenfreier Wissenschaft bescheidene Früchte trägt.
Wir also setzen kategoriale Verknüpfungen nur da, wo sie hin-
gehören: als Prinzipien möglicher Erfahrung, zwischen den Er-
scheinungen selber. Und wir würden in dem Ansetzen einer kate-
gorialen Beziehung zwischen Erkenntnis und Gegenstand erstens
einen erkenntnistheoretischen Fehler, zweitens aber keinen Akt des
Phänomenalismus, sondern einen Akt der Zerstörung allen Phäno-
1) Über den einzig möglichen Einwand gegen alle Semiotik s. sp.
Wincldband» Kritik ti. ii. i li-i-nuB u. d. Aufgabe «1. i > -•:<!•*. 71
monalisinns frl»liiki'n. U.iiuiii U-^rüßi-ii wir iitn ho erfnuttr den in
WiiKlflbundM gjiMZfr Al»lmiullinig erhr<i<-htt?n historiMrlirii Nach-
weis, daü auch dan AnHotzen einer «olcheii katogorialen lk*7.iehung
bisher noch niemnlH dclctür für den PliäiioineMaliHinus geworden ist.
Windel band prüft niiiiilidi in der Folge die einzehien Kategorien
auf iliro Tauglichkeit durch, für diese Ik'ziehuug cinzuntehen. Taug-
lich wäre diejenige, deren Ansatz den GegeiiHtand von der p]rkcnntni«
aus Ix'stiiutnt, mithin den l'hiinonienali.snui.s üIxTwindet. Windel -
band findet nun, dali keine einzige Kategorie in diesem Gebrauche
es in Wahrheit ermöglicht, von der Erscheinung aus das Sein wirk-
lich zu ergreifen, mit Inhalt und Bestimmung zu versehen; daü also
trotz ihrem Ansatz ein unausrottbarer Phänomenalismus bleibt,
hinter dem das Objektive völlig »unl)est immbar und unaussagbart
verschwindet. Windel band findet das, naturgemäß, am histo-
rischen Beispiel; es ließe sich auch systematisch ableiten . . . Windel -
band wird hier zur starken Stütze des Phänomenalismus. Aber er
wird es wider eigenes Wissen. Denn seltsamerweise läuft seine
Nachprüfung unter der Fiktion, daü es immer irgendein phäno-
nicnalist ischcs Philosophem in der Geschichte gewesen sei, welches
jeweib eine der möglichen kategorialen Beziehungen zwischen Sein
und Erscheinung aufnahm: und mit dem Mißglücken der Anwend-
barkeit der betreffenden Kategorie iK'hauptet er dann — nicht etwa
das Verfelilte derartiger erkenntnistheoretischer Methoden, sondern
die Unbrauchbarkeit der fraglichen Spielart des Phänomenalismus!
Als ob das Kriterium der Unbrauchbarkeit eines Philosophems darin
läge, daß es sich nicht widerspricht . . . Jene historischen Sj'steme,
deren Stellung und Unhalt barkeiten niemand anschauliclier als
Windelband uns darzulegen wußte, mögen in einzelnen Zügen und
Fragestellungen an solche piiänomenalistischer Art erinnern: dennoch
gehören sie ganz prinzij)iell nicht zum Phänomenalismus, den ihre
Versuche kategorischer Verknüpfung von Schein und Sein gerade
zerstören, und ihre Unhalt barkeit beweist gar nichts gegen die.*<en!
Deiuioch ist es von größtem Interesse, Winclelband zu den ein-
zelnen Versuchen kategorialer Verknüpfung von Erkenntnis und
Gegenstand zu folgen, obwohl — oder weil — seine Ausführungen
dem Phänomenalismus die Waffen, die ihn schlagen sollten, zur
Verteidigung in die Hände spielen.
Schon wenn der naive Intellekt der Ikziehung zwischen Sein und
Bewußtsein durch tue Kategorie der Gleichheit Umstimmt, Wahr-
heit also durch die (Jleichlieit von Erscheinung und Sein verbürgt
ist, so nniü, wie Windelband zeigt, der Phänomenalismus darin
eine Wurzel finden, daß es • Bewußtseiendes gibt, dem kein Sein
entspricht «; daß also »die Momente, denen wir auch ein Sein zu-
8chreil)en zu dürfen glau)>en, v(»n anderen Ik?stimmungen zu scheiden
sind, die zwar elH-nfails allgemein und notwendig vorgestellt werden,
aber auf den Wert der .Mibildlichkeit dem Seienden gegenüU'r kei.en
Anspruch halxMi«. Mit dem letzteren ist der Erschcinungsbeg:iff
72 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
umschrieben; und diesen Phänomenalismus, der lehrt, »daß die
sinnlichen Bestandteile der menschlichen Weltvorstellung nur als
Erscheinungen angesprochen werden, dagegen die rationalen Mo-
mente als übereinstimmend mit dem Wesen der Wirklichkeit gelten
dürfen«, bezeichnet Windelband als partiellen. Ihn läßt er auch
in gewissem Maße zu, als Voraussetzung der Naturforschung, der
quantitativen Gesetzesbestimmung durch mathematisch-konstruk-
tive Theorie. Ihr gelten die Qualitäten als phänomenal, als wahres
Sein die Quantitäten, die räumliche Ordnung. Doch schon schränkt
Windelband das Recht dieser partiellen Phänomenalität ein;
»woher das Recht dieser Scheidung?« Qualität und Quantität seien
doch untrennbar in dem einen und gleichen Erleben verbunden:
»weshalb sollen die einen Phänomene, die anderen Realitäten sein?«
Sobald das Interesse der mathematischen Naturtheorie erlischt,
versagt nach Windelband auch die Berechtigung dieser Trennung;
sobald die Natur ohne diesen Zweck angeschaut wird, fordert das
»Recht dieses unmittelbaren Erlebnisses« auch die objektive Realität
der Qualitäten. — Seltsam, daß in einem Erkenntnis verfahren
falsch sein kann, was im anderen richtig war! Oder ist das »un-
mittelbare Erlebnis « kein Erkennen ? was kümmert uns aber dann
sein Anspruch an die Realität der Qualitäten? »Interesse der Na.tur-
theorie — Recht des unmittelbaren Erlebnisses«: so entscheidet,
mit einer leichten Geste, jene »Kulturphilosophie«, die
auf unsere sachlich-begrenzte Arbeit wie auf ein »Ver-
dorren« herabsieht, über Probleme von so gewaltiger
Tragweite, wie es der Erkenntnisanspruch der gesamten
Naturwissenschaft ist. Spürt sie auch die Last ihrer Verant-
wortung? — Aber zweifellos geistreich wird aufgewiesen, wie in dieser
Forderung des unmittelbaren Erlebens an die Objektivität der Quali-
täten der philosophische Nerv der Goethe sehen Farbenlehre liegt
und der Grund, aus dem ihr so heterogene Systemschöpfer wie Hegel
und Schopenhauer zustimmten.
Die Wertscheidung zwischen Qualität und Quantität in ihrem
Verhältnis zum Sein darf also nach Windelband, jenseits der natur-
theoretischen Schranke, fallen. Aber es gibt zwei Wege sie aufzu-
heben: man kann das objektive Sein der Qualitäten, man kann die
Phänomenalität der raumzeitlichen Ordnung aussprechen. Dies
letztere tat Kant. Gewiß ist seine Begründungs methode der Phäno-
menalität von Raum und Zeit eine ganz andere als die der Subjek-
tivität von Sinnesqualitäten: sie ist, wie Windelband sagt, der
»Preis« der Anwendbarkeit mathematischer Theorie auf die em-
pirischen Inhalte; wir halten diese Fundierung von Newtons Werk
für eine seiner größten Leistungen. Aber wir gestehen Windel band
zu : wir kommen damit nicht über das Prinzip der Möglichkeit von
Naturerkenntnis hinaus und genügen dem Interessengebiet »un-
mittelbaren Erlebnisses« nicht.
Freilich wird durch Kant, was zum Phänomen wird, Inhalt-
Windelband--« Kritik d. l'i n. <i. Aufi,- il,<- d !••<. hc, ,. 75
lieh viel weiter gefalit als vorcicin; (I.im g»-.i;iiiitf ^< i^innUindlichc und
geöclu'hciido Aulk-n und Innen. Und aiilicr den inathernatiMchon
lieHtininiungBslücken inügliclier Erfaljrung werden V(jn ilmi noch
weitere Forniprinzipien der Phänomene ilirer Absolutheit entkleidet:
die katogorialen Grundformen, insofern auch sie erst in ihrer An-
wendung auf Erfahrung zu F!rkenntniHprinzipien werden. Mit die>»cm
Schritt Kants war, wie Windelband sagt, »alle Metaphysik über-
haupt « (Kant hat gesagt: alle dogmatische Metaphysik) »preis-
gcgclx>n «.
Windclband faUt, wie er die mathematische Synthcsis als Er-
kenntnisgrund aus den naturtheoretischen Postulaten von Demo-
krit und Descartes liistorisch ableitet, so auch, in nicht neuer und
nicht ganz richtiger Analogie, die dynamisch-kategorialo iSynthesis
Kants als ein geschichtliches Derivat der Stellung auf, die Piaton
den Ideen, den »logischen« Beziehungen, als dem wahren Wesen der
Phänomene eingeräumt hatte. Den phänomenalistischen Zug aller
dieser iSystcme betonend, sieht er daher in Kants Werk eine Ver-
schmelzung der mathematischen »demokritisch -cartesiani-
schen« mit der »platoni.'^ch «-»logischen <i Forderung »partiellere
Phänomenalismen an das wahre Sein, an Objektivität und Absolut-
heit. Man darf das, trotzdem Kants Dissertation Zeugnis ablegen
muß, für eine jener reizvollen Konstruktionen hallen, an denen der
Historiker Windel band Überfluß hat. Schließlich sind Piatons
Ideen ja inhaltlich, formal, in ihrer gegenseitigen Rangabstufung
und in ihrem Bezug auf die Phänomene, also ziemlich in jeder Hinsicht,
etwas anderes als die kategorialen Grundformen möglicher Erfah-
rung; von ihnen so unterschieden, wie eben Seins best immungen
von Erkenntnisbestimmungen sein können. Und demjenigen, der
nur wissen will, ob Kants Lehre von den Kategorien und ihrer An-
wendbarkeit richtig ist oder falsch, erscheint die Feststellung äußer-
licher Ähnlichkeiten mit anderen historisch vorgekommenen An-
sichten, die Kants Lehre weder zu fundieren noch psychologisch
zu motivieren geeignet sind, im Grunde als unerheblich . . . Jeden-
falls: nach Windclband begründet diese »Verschmelzung«, die
Kant zwischen jenen Ix-iden »Postulaten« vollzieht, indem sie jede
Metaphysik zerstört, den absoluten Phänomenalismus. iXnin die
kategoriale Beziehung bestehe nicht in einer Verknüpfung bestimmter
Erkenntnisse (Windelband: »Erkeimtnisinhalte«) — , sondern in
»einem Verhältnis zwischen der Gesamtheit der bestimmten Inhalte
und etwas völlig Unlx'stimmtem «. »Und von diesem Unbestimmten
sollte man nichts wissen, als daß es, da es zu dem Bestimmton in
jene kategoriale Beziehung gebracht und also von ihm unterschieden
wurde, notwendigerweise etwas anderes sein miLssc, als alles in der
Erscheinung Gegebene.«
Wir mü.Hsen widersprechen: Kants Kategorien verknüpfen tal-
sächlich nur Erscheinungen; nirgendwo in der Kategorienlehre
»Wesen«, »Ding an sich« und Erscheinung. Die Phänomenalität
74 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritisclien Grundlagen.
der durch die Kategorien verknüpften Erscheinungen wird auch
nirgends bei Kant aus der Geltung kategorialer Verknüpfungen
hergeleitet, wie das Windelband in dem eben wiedergegebenen
Zitat behauptet. Diese ganze Interpretation Windelbands ist,
mit allen ihren Konsequenzen, hinfällig. Allerdings findet sich bei
Kant der Ansatz zu einer kategorialen Verknüpfung von Gegenstand
und Erkenntnis im Sinne einer doppelseitigen kausalen Abhängigkeit :
im »Übergang zur transzendentalen Deduktion«, §14, steht: »Es
sind nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische Vorstellung
und ihre Gegenstände zusammentreffen, sich aufeinander notwen-
digerweise beziehen und gleichsam einander begegnen können. Ent-
weder wenn der Gegenstand die Vorstellung, oder diese den Gegen-
stand allein möglich macht. Ist das erstere, so ist diese Beziehung
nur empirisch, und die Vorstellung ist niemals a priori möglich« . . .
usw. Aber diese erkenntnistheoretische Stelle hat mit der Grund-
legung der Kategorienlehre und der Feststellung der empirischen
Anwendung der Kategorien gar nichts zu tun; sie kann gut fortfallen,
ohne an System und Gebrauch der Kategorien nach Kant irgend
etwas zu ändern. Sie allerdings setzt, dogmatisch, eine Beziehung
zwischen Erkenntnis und Gegenstand; und im Kampfe wider solche
Meinung würden wir Windelbands Vorantritt dankbar anerkennen.
Fries hat diesen Kampf schon vor 100 Jahren aufgenommen. Und
mit dem Worte, das hier auch Windelband — nicht wider diesen
Satz, sondern gegen das, was er Kants Kategorienlehre unterlegt —
findet, spricht Windelband nur die eigenste Meinung des Phäno-
menalismus aus: »Mit dieser Umbiegung des Satzes aber verliert
die Kategorie ihre Brauchbarkeit für die Erkenntnis . , . wird be-
hauptet, das Wesen sei prinzipiell nicht bestimmbar, so ist die Kate-
gorie im eigensten Sinne des W^ortes gegenstandslos geworden. «
Nichts anderes haben wir von Anfang an behauptet ! Und gerne
werden wir uns Windelbands Führerschaft anvertrauen, der diese
Unbrauchbarkeit noch »an zwei anderen Kategorien verfolgen«
will; wiederum freilich in der Abischt, damit den Phänomenalismus
zu belasten, der sich wirklich unschuldig weiß. Diese kategorialen
Setzungen zwischen Erkenntnis und Gegenstand sind das Verhältnis
von Substanz und Inhärenz und die Kausal Verknüpfung.
Die Unzulänglichkeit des ersteren Verhältnisses will Windel -
band am Spinozismus erweisen. Sobald die Attribute, aus denen
nach ihm die Substanz »besteht «, »noch in dem Sinne von ihr unter-
schieden werden wie im empirischen Denken das Ding von seinen
Eigenschaften, so wird die Substanz zur leeren Form der Substan-
tialität und Gott so völlig unbestimmt und unaussagbar wie von
jeher in der negativen Theologie der Mystik«. Wird hier Spinoza
nicht zu klein gesehen? Prinzipiell ist dort die Unendlichkeit
möglicher Attribute von der Substanz prädikabel, und durch sie ist
eben Gott » bestimmt « und » aussagbar «, Daß nur zwei davon aller-
dings dem menschlichen Erkenntnisvermögen zugänglich sind, ist
WiniI«'H>'"i«I« Kritik (1 riiinomenaliamus u. d. Aufgabe d. 1'.^ , 75
eint' niiihi(>2>'U.p^i-.i ii iniMclitige Begrenzung. Und die»«« findet in-
Hoferri ihren Ausj^leicli, aln nich aus dem V'rrhültniH der M<«li zu den
Attributen die ganze Vit-Iheit ge.setzinäliigcr I*rädiknti(»tien ergibt,
deren System die unvollendbaro Aufgalx? des \Vi««enschaftHganzen
ist. Die Analogisierung dieses in sich ruhenden naturalistischen
PanHuismus mit irgendeiner Mystik können wir, im Zeitalter Wil-
helm W'undts, auf sich In'ruhen lassen. Richtig ist. daü der S pino-
zismus die phänomenale (Jeltung von Natur involviert. Dali die«
eine »stete (Jefahr« Ix-deute, ist ein Windel bandsches Dekret.
Wertvoller und feiner als alle jene anfechtbaren Historizismen
erscheint uns ein hier angefügter Exkurs Windel band s ülx'r die
Stellung der empirischen Einzeldisziplinen zum Phänomenalitäts*
problem: Auch diese Stellung nämlich entwickelt sich in Abhänj^'ig-
keit vom Substanz-Inhärenz-Verhältnis. Windelband zeigt, daß
jede einzelwissenschaftliche Ablauff.lK'stimmung zu einer Trennung
akzidenteller, phänomenaler Bestimmungen vom dinghaften Kern
des durcharbeiteten Gegenstandsgebictes gelangen muß, und daß
diese Au.ssoiiderung des »Dinges«, das Eigenschaften »hat«, in der
Architektonik der Wissenschaft sich stetig weiter und weiter voll-
zieht, dnli der (Jegenstand immer '> absoluter « und leerer, die Phäno-
mene immer Ix^reicherter werden. Zuletzt gelangt so die Empirie,
soweit sie analysiert, zu der bloßen Postulierung einer unerfahrbaren
Substanz als Gegenstandsgrund. So endete ja z. B. Locke. »Auch
dieser Begriff«, sagt Windel band mit Reclit, »bedeutet dann mit
seiner Inhaltslosigkeit nichts als die hypostasierte Begriffsform der
Inhärenz«. Also auch von der Empirie aus ein gebieterisches Zu-
schreiten auf den Phänomenalismus.
Mit der Ansetzung des substantialen Verhältnisses zwischen Be-
wußtsein und Sein ist die Anerkennung einer notwendigen Zuord-
nung l>eidcr gegelx-n. Denkt man, sagt Windel band , diese als real,
HO »spielt das Verhältnis von Wesen und Erscheinung in die Kate-
gorie der Kausalität hinüber. Die Erscheinung ist so, weil das Wesen
so ist ; das Wesen wird der Grund und bald auch die Ursache der
Erscheinung genannt.« Die Kausalkategorie werde also vorwiegend
angesetzt »in der Richtung einer Abhängigkeit der Erscheinung vom
Wesen«. Winilclband sieht, etwas mißtrauisch, diese kausale
Verknüj)fung hinter allem naturwissenschaftlichen Phänomenalismus
auftauchen, greift zum Beweise auf Protagoras und dessen Lehre
von der Wirkung der Körper auf das Bewußtsein durch Erzeugung
verschiedener Empfindungen zurück und meint: »Im Prinzip lehrt
man Um aller Feinheit der Detailausführung, welche die Forschung
inzwischen gebracht hat, doch heute noi'h genau dasselU*«. Der
moderne Xominalismus und Helmholtz* ph>-siologischo Dptik. »die
weit davon entfernt ist, kantisch gedacht zu sein«, sollen hierfür
zeugen.
Be.Hser hätte Windelband diese Berufung unterlassen. Denn
sie Ix'weist nur. daßer hierzwtsi immerhin grundverschiedene Problem«
76 Vorbereiteude Einitlhrung in dio aügcin. crkenatnislaitibclien Graiidlagea.
fälschlich identifiziert hat: das psychophysische Verhältnis
(zwischen physischem Reiz und zugeordneter psychischer Reaktion)
und das erkenntnistheoretische Verhältnis (zwischen transzen-
dentem Gegenstand und Erscheinung). Protagoras mag sie noch
nicht gesondert haben; aber trotz »aller Feinheit der Detailaus-
führung« hat die neuere Forschung das »im Prinzip« Verschiedene
dieser beiden Fragestellungen nicht übersehen. Und daß Helm-
holtz' »physiologische Optik« weit davon entfernt ist, kan tisch
gedacht zu sein«i), gereicht sowohl Helmholtz als Kant zum
Ruhm, deren jeder sein spezielles Problem klar abzugrenzen wußte.
Um nun zur erkenntnistheoretischen Seite dieses Windelband-
schen Problemgemischs zurückzukehren, so wäre hiermit die mo-
derne semiotische Auffassung der Sachlage, die Kant mit dem
Moment inauguriert hat, wo er die Phänomene und Noumene ein-
ander »entsprechen« ließ, zu den Versuchen kausaler Verknüpfung
von Gegenstand und Erkenntnis geworfen. Das ist nicht berechtigt :
die Semiotik, von Her bar t bis Husserl, stabiliert keineswegs ein
erkenntnistheoretisches Kausalverhältnis, wie ihr Windelband
hier unterlegt. Sie bezeichnet vielmehr ihre erkenntnistheoretische
Stellung ziemlich genau. Windelbands Einwand ist also keiner.
Der einzige Einwand, der wider die Semiotik, ja wider allen nicht
absoluten Phänomenalismus gemacht werden kann, ist Windel -
band völlig entgangen. Es ist der logische des »introjizierten Wieder-
spruchs«, den Nelson aufgestellt hat. Der behaupteten Uner-
kennbarkeit einer Zuordnung von Erkenntnis und Gegenstand wider-
spricht die Behauptung des Bestehens einer Zuordnung; und die
Unerkennbarkeit einer Zuordnung schließt die Behauptung dieser
Unerkennbarkeit aus. Und dieser Einwand ist nur ein Spezialfall
des fundamentalen Gegenargumentes, mit dem sich Nelson wider
die Möglichkeit jeder Erkenntnistheorie gewandt hat.
Aber Windelband ist von solchen Bedenken weit entfernt.
Ihm genügt der Einwand, den wir als irrig erwiesen : daß hinter aller
erkenntnistheoretischen Semiotik eine erkenntnistheoretische Kausal-
theorie stehen müsse. Mit einer solchen jedoch, darin stimmen wir
ihm gerne bei, kann der Gegenstand von der Erkenntnis aus auch
nicht weiter »bestimmt« werden; sie verfehlt also ihren Zweck.
Windelband folgert hieraus, »wie unhaltbar der Versuch des ab-
1) Windelband hat natürlich absolut recht mit diesem Satze, wenngleich
aus anderen Gründen, als er anführt. Die Behauptung, Helmholtz' physiolo-
gische Optik sei »kantisch«, kann nur jemand aufstellen, der entweder Helm-
holtz oderKant nicht kennt. Helmholtz ist vielmehr, in der Optik wie überall,
der große empiristische Gegenschöpfer Kants. Vielleicht hat aber Windelband
gar nicht auf Helmholtz, sondern auf Johannes Müller exemplifizieren wollen
und versehentlich die Namen verwechselt. Müller selber und viele Beurteiler
hielten in der Tat sein Werk für »kantisch gedacht«. Diese Meinung ist irrig,
aber auf sie paßt Windelbands Darstellung, soweit sie auf Helmholtz ge-
münzt sein soll; denn Müller trennte seine erkenntnistheoretische nicht von seiner
psychophysischen Zuordnung.
Windelbandü Krilik d. Phiinomonalisniua u. d. Aufgab« d. rHyoboIogie a*w. 77
soluttii riiünoraenaÜHinuH ist, die Goeamtheit dt»« im BcwuOt»ein
Bestimmten zur Erecheinung eines prinzipiell unt>cMtimmbaren
WescnH zu machen.« Wir glaulx'n nicht rocht zu hören. Da« Cha-
rakteri.stikum des »ab.soluton« PhänomenaÜMmuH (nicht de» in
irgendeiner Art » partielli-n •, auch nicht des Hemiot i.schen, der nf>ch
erkenntni«theorctischc IJc.standieile einHchlieüt) schien unn ja tx;reitfl
am Beginn unserer Darlegungen zu sein, duü er einen solchen Versuch
nicht macht, sondern a limine ablehnt. Und das Scheitern dieses
Versuches, wie es auch Windelband aufwies, beweist gerade, daQ
der »absolute« Pi»äiion\enalismus (für uns der Phänomenalismus)
recht iuitto, wenn er ihn nicht macht. Mehr noch: Es ist ein er-
noutes Beweisstück für die Unentrinnbarkeit der Geltung dieses
Phänomenalismus selbst. Unhaltbar ist hier also nicht der »ab-
solute« Piiänomenalismus, sondern Windelbands Folgerung.
Windelband indes vermeint, den absoluten Phänomenalismus
widerlegt zu halwii; und er geht im positiven Teil .seiner Abhandlung
dazu über, ihn zu überwinden und künftiges Pnilosophieren auf die
rechte Bahn zu weisen. Noch einmal faßt er zusammen, daß das
unerkennbare Ding an sich »nicht das geringste zur Erklärung der
Erscheinungen lx.'itragen « kann — was es ja schließlich auch ex de-
finitione nicht soll — und daß es dalicr in der phänomcnalistischen
Erkenntnislehre »nur ein rudimentäres, funktionslos gewordenes
Organ bildet« — was wir dahin verstärken möchten, daß das Ding
an sich überhaupt weder Organ noch Funktion und nicht einmal
Gegenstand in einer phänomcnalistischen Erkennt nislohro sein kann.
Und noch einmal vollziclit Wintlelband den iSchluß: »daiier ist der
al>sol»Jte Phänomenalismus eine erkennt nistlieoretisch unhaltbare
Position«. Unhaltbar ist, wie wir hier ständig nachgewiesen haben,
jede erkenntnistheoretischo Position; aber der absolute Piiänomena-
lismus ist ja gerade kein Erkenntnistheorem, er ist eine erkenntnis-
theoretischo Resignation! Ergreift das Problem aller Erkenntnis-
theorie: die Frage nach der objektiv-gegenständlichen Gültigkeits-
grundlage von Erkennt ni.sson — gar nicht an; er hält sie für unlösbar;
er bleibt daher ganz bei der Subjektivität des Piiänomenalen stehen
und suclit die Gründe der Geltung von Erkenntnissen als subjek-
tive Notwendigkeiten cpidoiktisch-» anthropologisch« (wie sein
großer Vorkämpfer Fries es nannte) auf.
Aber Windel band verschließt sich vor dem allem. Er macht
den »absoluten« I*hänomenalismus zu einem Schreckbild; und so
hat er alsbald die Pflicht, Kants Kritizismus »mit aller Entschieden-
heit« von dem Verdacht zu befreien, solch ein absoluter Phänomena-
lismus zu sein. Er setzt diesen dabei mit Hamiltons Agnostizis-
mus gleich und hierdurch verwischt er wiederum die Grenzen l>eider
Bogriffe. Ein Agnostizismus ist Kants Lehre natürlich nicht; und
dennoch ist sie — schaltet man die erkenntnistheoretischen Stollen
der transzendentalen Logik aus — alMolut phänomenalist isch. Die»or
Phänomcnalismus Kants schließt die Möglichkeit allgemeingültiger
78 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
und notwendiger Erkenntnis nicht aus — wie das der Agnostizismus
tut — sondern auf! Kants Lehre bedarf keiner Rettung vor sich
selber.
Selbst Windelband kann nicht umhin, die phänomenalistische
Position von Kants theoretischer Philosophie zuzugestehen; und so
muß denn jene »Rettung« von der Seite der praktischen Lehre
Kants erfolgen. Der Gedankengang wäre etwa: diese praktische
Lehre ist nicht phänomenalistisch, sondern auf Erkenntnis der Dinge
an sich gerichtet. Und sie hat den Primat. Also war Kant kein
Phänomenalist. Folgen wir den Ausführungen Windelbands im
einzelnen. Die Einsichten der praktischen Vernunft gelten für Kant
»nicht bloß als Ahnungen des Gefühls«, »wie sie von den Bieder-
meierphilosophen, den Jacobi, Pries oder Hamilton gedeutet
wurden «, noch weniger natürlich als pragmatische Fiktionen im Sinne
neuer Konventionalismen, »sondern durchweg als rationale Denk-
notwendigkeiten des Vernunftslebens in seiner einheitlichen Tota-
lität«, »Und das ist das Entscheidende« ... »es darf nie vergessen
werden « . . . » man soll diese Auffassung nicht ignorieren « . . . » man
darf sie nicht vergessen« . . . Ist die Gefahr so groß? Oder dürfen
wir Windelband versichern, nicht einmal ein Anfänger im kanti-
schen Denken werde ignorieren oder vergessen, daß Kants kate-
gorischer Imperativ mit apodiktischer Gewißheit gilt, und daß den
Einsichten der praktischen Vernunft Notwendigkeit und Ailgemein-
gültigkeit zukommen. Auch der »Biedermeierphilosoph« Fries hat
das nicht vergessen; wohl aber hat der Historiker Windelband
vergessen, was dieser Biedermeierphilosoph nicht vergessen hat und
unter » Ahndimg « verstanden wissen will. Der Biedermeierphilosoph
— welch humorvolle Charakteristik eines der größten deutschen
Geister! — also Fries trennt nämlich die Notwendigkeit und Apo-
diktizität der Geltung praktischer Normen von der Art, wie ihr
Inhalt ins Bewußtsein gelangt. Dies letztere, erkenntnispsycho-
logische Problem führt ihn zu der Lösung, daß ein Teil jener Normen,
z. B. die ästhetischen, gar nicht diskursiv und bestimmt, sondern
als Inhalte einer eigenartig strukturierten Gefühlsfunktion bewußt
werden, die er, ohne sie phänomenologisch zu erörtern, Ahndung
nennt. Würde sich Windelband mit seiner Autorität dieser recht
exakten Trennung anschließen, so würde sich manches neuere Miß-
gebilde kulturphilosophischen »Denkens «, wie es sich zum Beispiel
im »Logos« findet, erledigen; als ein mißglückter Versuch, für be-
grifflich Unfaßbares wenigstens Worte zu finden. Man kann natür-
lich auf das ahndend Erfühlte wie auf die Ahndung selber auch reflek-
tieren ; doch ist dann die Gefahr » psychologischen Verdorrens « nicht
ferne. Alles in allem: Der Einwand der Gefühlsphilosophie wider
Fries ist sachlich irrig; und die daher geleitete Bezeichnung »Bieder-
meierphilosoph« paßt wirklich nur auf den Fries, der das Geschöpf,
nicht auf den, der das Opfer dieses historischen Irrtums ist.
Einig aber sind alle Kantianer mit Windelband in der Auf-
Windolbanda Kritik (L PbanomonAliamtu u. d. Aufgabe d. rsychologi« turw. 79
faAsung der Mudalitüt aller praktüichon Normen, die hü sclbHtver-
Btändlich iHt, daß ihre atarke Betonung durch Windel band merk-
würdig anmutet.
Wa.s nun Hchlielit er daraus?
Kants PhänomenaÜHmuH »ei doch nur ein • p.irliellfr «. Kr
komme auf eine Zweiweltentheorie hinauH, in der daa Sinnliche, die
»Welt als Ki-scheinung«, auf die »sekundäre Wirklichkeit« angewiesen
sei. Nolx-n dieser »erscheinenden Wirklichkeit« stehe die »wahre
Wirklichkeit «, daa Übersinnliche, da« Wesen, der Gegenstand der
in praktischen Normen gesetzten »Welt Vorstellung«. In der theo-
reti.schcn Philosophie nun ist das Übersinnliche das Unerfahrbare.
Und doil» muÜ es, da es im Ik'wuülsein ist, »erlebt, im inneren Sinne
erfahren« werden. Ks gibt also eine Möglichkeit direkter Erkenntnis
von Dingen an sich; und sie liegt in dem »Verständnis der Welt der
Werte«. Wie die Naturwi.ssenschaft die Sinnenwelt, so ergreift die
Kulturwissenschaft, d. h. »die historischen Disziplinen«, diese »höhere
I^-alität«. Hier steht Hegel.
In die.>*er Darstellung Windelbands liegt, scheint uns, eine
unzulässige Vereinfachung der vernunftkritischen Problcmlage. Man
kann sie sich durch folgende argumcntatio ad hominem verdeut-
lichen. Ist die Wirklichkeit der Sinnenwelt eine zwar sekundäre,
»alHT darum nicht minder wirkliche Wirklichkeit« als die »wahre
Wirklichkeit « des Wesens der Dinge, — und ist ferner die Sinnen-
welt die zugeordnete Erechcinung des Wesens der Dinge — , so folgt,
daü die P^rkenntnis der einen (»wirklichen«) wie der anderen (»wah-
ren«) »Wirklidikeit «, die beide auf den gleichen Gegenstand, daa
»Wesen«, zurückgehen, inhaltlich identisch sein muß. Denn beides
sind ja wahre Erkenntnisse üU'r den gleichen Gegenstand. Daraus
folgt die Clxrflü.ssigkeit einer der beiden Erkenntnisarten, und zwar
natürlich derjenigen, die den Umweg über die »sekundäre Wirklich-
keit « nimmt: aller Naturwissenschaft. Das könnte den jungen
Mystagogen der Kulturphilosophie so passen ... Es leuchtet aber
ein, daU Erkeimtnis von Naturgesetzen nicht identisch ist und sein
kann mit der Aufstellung praktischer Normen. Mithin muß in den
Iniden Prämi.ssen ein Kehler stecken. Man muß also entweder an-
nehmen, die »wirkliche Wirklichkeit «sei nicht »wahr«, oder »wahre
Wirklichkeit« sei nicht »wirklich«. Etwas Ähnliches trafen wir in
der Tat Ihm Windel band l)ereits an, als er an (Joethes Farbenlehre
demonstrierte, daß das Wahrheitskriterium einer Erkenntnis n)it
dem Interesse der Verfahrensweise und Erlebensart wechseln darf.
Uns erscheint das sinnwidrig. Wir erblicken den Fehler jener beiden
Voraus.set Zungen in der ihnen gemeinsam zugrunde liegenden Be-
hauptung, theoretische und praktische Prinzipien seien Arten der
gleichen »Welt Vorstellung«. Wir können — was, wie wir glauben,
auch im Sinne Kants ist — Wintlelband nicht zugeben, daß
die Dinge an sich in der theoretiichen Philosophie iden-
tiHcli «i|iii1 mit il(>M P r 1 II 7 ( p ! •• »1 iii>r II r •! L f 1 •< : h «' n P1»IM>-
80 Vorbereitende Einfühlung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
Sophie. Kants praktische Philosophie ist überhaupt keine Art
von »Weltvorstellung « im Sinne einer auf einen Gegenstand gerichte-
ten, erkennenden Rezeptivität; ihr Inhalt ist die Erkenntnis von
Art, Form, Inhalt und Verbindlichkeit der Normen unseres Handelns.
Und wenn Kant weiterhin zu Postulaten im »Übersinnlichen« ge-
langt, so hat die hierauf gerichtete Dialektik mit der eigentlichen
Normen bildung und der Untersuchung ihres Verbindlichkeits-
gründes nur eine höchst indirekte Beziehung; sie könnte ganz fehlen:
am Begriff der Norm, an der Geltung der Norm, am Grund ihrer
Verbindlichkeit änderte sich nichts. Nun ist die praktische Dialektik
bei Kant freilich da; auch sind ihre Postulate (Gott, Freiheit, Un-
sterblichkeit) gerade diejenigen Prinzipien, von denen Kant sehr
explizit nachgewiesen hatte, daß ihre theoretisch bestimmte Er-
kenntnis nicht möglich ist; sie sind also zweifellos »Dinge an sich«.
Aber sie sind nicht die Dinge an sich. Vor allem nicht diejenigen,
denen das bestimmte Einzelne an der Erscheinungswelt und der ge-
setzmäßig unendlich vielfach bestimmte Zusammenhang des Ein-
zelnen jeweils entspricht. Auch über diese können wir gar nichts
weiter aussagen, als daß sie gefordert sind, weil die Erscheinung und
der Zusammenhang, in dem sie steht, erkannt wird. Diese Un-
endlichkeit hinter der phänomenalen ist die »wahre « Welt der Dinge
an sichi) in einem ganz anderen Sinne als die drei aus dem Prinzip
des höchsten Gutes üsw. bei Kant nicht erkenntnismäßig,
sondern normativ hergeleiteten praktischen Postulate. Die
erstere ist der Stempel des Phänomenalismus; die letzteren können
angenommen oder abgelehnt werden, ohne an der phänomenalisti-
schen Struktur der Erkenntnis etwas zu ändern.
Denn Windelbands Einwand, daß auch sie im Bewußtsein er-
lebt werden, ohne doch zur Erscheinung zu werden, besagt nur etwas
wider den Erkenntnischarakter dieses Erlebens. Ich habe das
Bewußtsein der Existenz dieser Dinge an sich genau so, wie ich das
Bewußtsein der Existenz jener anderen Dinge an sich haben kann.
Der Grund dieses Bewußtseins ist beide Male ein verschiedener; in
einem Falle ein praktischer, im anderen ein theoretischer. Das Be-
wußtsein der Existenz aber ist die einzige Art von Erkenntnis,
die ich von diesen »Dingen an sich « ex def initione haben kann. Was
ich sonst noch vom Wesen der Dinge » im Bewußtsein erlebe «, ist,
sofern es irgendeine Art von Bestimmtheit gewinnt, gemäß der
Struktur Kantschen Gedankenbaus — dialektischer Schein.
Will man über die Meinung Kants wirklich und ernstlich hinaus-
kommen, so sollte man sich durch Windelbands Verdikte nicht
abschrecken lassen, die neue Begründung der Ideenlehre bei Fries
und seine Untersuchung der Art, wie wir das Wesen der Dinge
1) Cohens wesentlich andere Auffassung und Verwertung des »Ding-an-
sich «-Begriff s, so sehr diese Leistung eines reichen Geistes Bewunderung ver-
dient, wird hier nicht diskutiert: weil sie uns trotz seiner Behauptungen nicht
In Wort und Sinn von Kants Werk enthalten zu sein scheint.
Windelbands Kritik d. Ptianompnaliamiia u. d. Aufgabe d. pKjcbologie luw. 81
uiimittolhui im Ik'WuUtiH'in crlelK'ii, recht gründlich keitnrn zu
lernen.
Kurz: vh gibt nicht eine lx5«tinuute, direkte, unmittelbar ira Bc-
wußtsiiii erlebte Erkenntni» der wahren, ülx?i-Minnlichen Wirklichkeit
neben der »wirklichen Wirklichkeit « der Sinnenwelt, (AüthetiHches
und religiöses Erlebnis hat zwar dicwo Merkmale, nl>er keinen Er-
kenntniHcluirakter.) Kants thcorotiHchcr PhünomenaliHmus wirrt
nicht dadurch »partiell«. daU er praktische Postulatc aufstellt.
Aus allem Bisherigen, das Einzclarljeit war, in deren Kcsultaton
man sich Windelband odrr unseren Einwänden ausschlieUen mag —
tritt Windelbands (Jedankenführung plötzlich heraus und über-
8cha\it ihr«' l'roblemhige von höchster Warte. Zwei Anerkennt niaae
nimmt sie voraus: die Anerkenntnis eines Dualismus, in dem weeen-
haftcs Clx>rsinnlichos, und erscheinendes Sinnliches einander gegen-
über treten. Und als Zweites, als AnstoQ zu aller idealistbch-philo-
Bophischer Arbeit : die Anerkenntnis einer 15<'ziehung zwischen diesen
beiden Polen der Totalität. Jeder Phänomenalismus, sagt Windel -
band, iiat ein ')dop|X'ltC8 Gesicht«. Auf der einen Seite sind We«en
und Erscheinung etwas voneinander Geschiedenes. Auf der anderen
Seite ist es das Wesen, da.s in den Erscheinungen sich selber mani-
festiert. Ein Antagonismus zweier Tendenzen ist daher in der idea-
listischen Erkenntnistheorie zu Ix'merken : die eine betont die Vvr-
schiedenheit von Phänomen und Wesen, die andere (die »positive«,
sagt Windelbantl) die Feinheit in Ixüdem, den »Grundgedanken«
der »Verwirkliciiung des Übersinnlichen in der Sinnenwelt«. Kant
mag im Theoretischen noch Dualist. i. e. Phänomenalist, gewesen
sein: die Nachkantianer seit Maimon und Fichte gingen tur
»positiven«, unifizierenden Tendenz iilx'r; und zwar, wie der Histo-
riker bemerkt, »durch die Aufnahme des Leibnizschen Prinzips
der Kontinuität«. »Und das kam zum vollen Austrag in Schel-
lings »transzendentalem Idealismus«, in welchem mit ausgiebiger
Benutzung und durchgängiger Verarl>eitung der Leibnizschen
Bei^riffe die Reste des Kan tischen Phänomenalismus von der idea-
listischen Metaphysik abgestreift wurden«.
Ist dies die historische Linie, in der Windelbaml den Aufstieg
zur Wahrlieit sieht, so bleibt ihre Rechtfertigung noch zu erweisen.
Windelband bleibt sie keineswegs schuldig. Sie setzt in dem Mo-
mente ein, wo Kants Wertscheidung von theoretischer und prak-
tischer Philosophie als Unzulänglidikeit , als Halbheit erkannt wini.
Wodurch kommt diese Sp:iltung in Kants Philosophie hinein f Da-
durch, meint Windelband, »dali nach Kant das theoretische
Wissen auf spezifisch menschlichen Vorstellungsweisen, da» prak-
tische BewuOts(>in dagegen auf Vernunftnotwendigkoitcn beruh«-,
die für alle vernünftigen Wesen in gleicher Weise gt»lten«. Di©?*«
Position Kants ist »nicht haltbar«. Und hier muU die Parteinahme
einsetzen. »Entweder muß auch unser praktisches Wert«»n ab« ein
in den Bedingungen des menschlichen Wesens begründetes und dv^-
Kronfeld, rvychUtrtache Erkeonlato. 0
82 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
halb darauf beschränktes Verhalten betrachtet werden, — oder es
müssen auch in unserem theoretischen Leben Momente anerkannt
werden, die eine über diese Bedingungen des menschlichen Wesens
hinausgehende Wahrheit besitzen.« Und Windelband fährt fort:
»Damit sind die beiden Wege bezeichnet, auf denen die weitere Ent-
wicklung über Kants Dualismus hinausgehen kami. Erweitert
sich die anthropologische Auffassung von dem theoretischen Gebiet
aus über die Gesamtheit der Weltanschauung, so geht dieser Anthro-
pologismus unaufhaltsam in Relativismus und Pragmatismus aus.
Und andererseits: erobert das universelle Prinzip von Kants prak-
tischer Philosophie auch das Reich der theoretischen Vernunft, in-
dem auch deren Prinzipien als über den Menschen hinaus für das
Wesen der Wirklichkeit selbst gültig angesehen werden, so eröffnet
sich der Weg zu einer Metaphysik des Geistes.«
Hier also der Kreuzweg. Und obwohl die Wahl der einen von
den beiden Richtungen uns durch Windelbands Perspektive ver-
lockend gemacht wird, schwanken wir dennoch und fragen: welches
Argument unseres Führers appelliert denn nun nicht an unser Hoffen
und Wünschen, sondern an unser überlegendes Besinnen? Welches
ist denn nun die objektive Rechtfertigung des Wegs zur Identitäts-
philosophie ?
Folgendes finden wir: Das Schreckgespenst des Relativismus
und Pragmatismus, das schon am Eingang der Abhandlung dem
Psychologen entgegendi'ohte. Davon nachher. Ferner die Be-
hauptung, daß auch Kant selbst dem letzteren Wege mehr zugeneigt
hätte als dem ersteren. Also ein historisches Argument von — wie
nach unseren früheren Einwendungen klar sein wird — sehr be-
streitbarer Richtigkeit. Ferner finden wir den Satz: »Die Begriffe,
mit denen der Phänomenalismus arbeitet, reichen niemals weiter
als bis zu einer lediglich problematischen Stellungnahme hinsichtlich
der metaphysischen Grundfrage der Erkenntnistheorie« — einen
Ausspruch, den wir völlig unterschreiben, ohne indes einzusehen,
inwiefern er einen Einwand darstellt. — Ferner eine prinzipiell nicht
wichtige Hinweisung darauf, daß die Phänomenalität von Raum
und Zeit noch einige unentschiedene Probleme einschließe. — Ferner
den Satz: »An Stelle der quantitativen Grenzen menschlichen Wissens
und Begreifens . . . möchte der absolute Phänomenalismus die quali-
tative Behauptung setzen, die Erscheinung, die wir denken und er-
kennen, sei etwas ganz anderes als die Realität, auf die wir sie be-
ziehen. Aber die Ungleichheit ist gerade so wenig beweisbar wie die
Gleichheit «. Ganz gewiß ! aber der Phänomenalismus denkt gar nicht
daran, sich durch derartige positive Behauptungen über die Be-
ziehung zwischen Realität und Erscheinung selbst das Grab zu
schaufeln! Wer diese Beziehung für ein objektiv unauflösbares
Problem hält, wird seinen Standpunkt doch nicht durch eine so naive
Lösung negieren! Windelbands Einwand ist ganz ausgezeichnet,
— aber gegen wen er sich richtet — das wollen wir nachher doch noch
WiutlelbaDda Kritik d. \_^ ^ ^io u»w. 83
fc«t8tellen! — Endlich zum Schluß da« Bekenntnis : *li;ui Vurhältni«
von BewulitHüin und Sein niuU durch andere Kategorien i/<'dirht
werden« als Clleichhcit und Ungleichheit, . . . »die von da t de
Kntwicklung wird prinzipiell Hchwerlich andere Hahnen ci ^t:n
können, aln sie durch die große Bewegung der Identitätaphilcwuphie
in der Richtung vorgereichnet sind, daß für das kategoriHche Grund-
verhältni« zwischen Sein und Bewußtsein »tatt der Gleichheit die
Identität eingesetzt wird«. Also eine Prognotje ohne weitere Be-
gründung.
Da« ist Windel bands objektives Recht fertigungsniaterial seiner
Foeition. hls ist wenig — so wenig, daß wir una erneut fragen:
damit soll die Beiseiteschiebung der Naturtheorie, iiiäbesondere der
l'sychologie (oder mit dem Wort der Alteren: Anthrojxjlogie) für die
Beantwortung von Krkenntnisgrundf ragen fundiert werden dürfen?
Andererseits: vergessen wir niciit, daß. auf dem Boden der Win-
delbundschen Alternative, die Zurückweisung seüier Argumente
noch gar nichts positives ausmacht über die Richtung de.s einzu-
schlagenden Weges. Auch wenn alle seine Rechtfertigungen hin-
fällig sein sollten, kann sein Weg richtig sein. Vielleicht iüt aber auch
die Alternative selber schon falsch gestellt, und beide Wege sind
J rrwego ?
Dieses wichtigste Problem zu untersuchen — ein Problem, an
dem der Erkennt ni.sanspruch unserer Einzeldi.sziplinen, an dem die
Mügliciikcit wahrer Erkenntnis selber und ilirer Kriterien verankert
ist — , kehren wir zu Windeibands fundamentalen beiden Voraus-
setzungen zurück.
Da wird zunächst wohl klar, daß Windel bands eigener Satz:
»die Gleichheit (von Wesen und Erscheinung) ist gerade so wenig
beweisbar wie die Ungleichheit « — jede seiner beiden Prämissen zu
einem Dogma stemjx'lt. Ist die Gleichlieit nicht beweisbar, so ist
auch die Identität nicht Ix'weisbar; also Ix'haupte man sie auch
nicht! Und wenn Windelband sehr treffend sagt, die Begriffe
des Phänomenalismus reichten nur bis zu einer problematischen
Stellungnahme zu dieser erkenntnistheoretischen (Jrundfrage: so
scheint uns, es gibt ülx«rhaupt keine bessere Rechtfertigung dieoer
prol>lematischen Stellungnahme, als hier Windel band sell)er ge-
gel)en hat. Gleichheit und Nicht -CJleichheit ist eine vollständige Dis-
junktion; tertium non datur. Keines von Beiden ist »beweisbar«.
Konsequenz: »problematische Stellungnahme«. Die Inkonsequenz
liegt offenbar bei IXMnjenigen, der die Voraussetzungen der UnU»-
weisbarkeit macht \uui die Konsetpienz daraus wie einen Vorwurf
aus.spricht. Warum alx>r keine Aussage ülx«r das erkenntnistheo-
retische Problem gemacht werden kann, das wurde bereits oben
erörtert. Kants Phänomonalismus war also wohl bedacht, und dio
idontitätslehre seiner »überwmder« überwindet tatsächlich die Kritik
lurch das Dogma; sie raubt uns die große Errungenschaft Kant»;
aber mit unzulänglicher Kraft.
84 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntnif^kritiscben Grundlagen.
Erwas ganz anderes als dieses erkenntnistheoretischc Problem
enthält aber Windelbands Frage, ob nicht Kants »Wertschei-
dung« von theoretischer nnd praktischer Vernunft eine »Halbheit«
sei. Diese Frage ist sehr diskutabel — wenn wir nur zunächst wüßten,
was mit »Wertscheidung « gemeint sei. Offenbar umschreibt Windel -
band, was er meint, wenn er davon spricht, daß das theoretische
Wissen auf spezifisch menschlichen Vorstellungsweisen, das prak-
tische Bewußtsein aber auf Vernunftnotwendigkeiten »beruht ((,
Was bedeutet dieses »beruhen«? Offenbar den Grund der Gültig-
keit des theoretischen Wissens und des praktischen Bewußtseins.
Windelband will also »spezifisch-menschliche Vorstellungsweisen«
als Gri;nd der theoretischen Erkenntnisse und Vernunftnotwendig-
keiten « als Grund des praktischen Verhaltens bezeichnen, will sagen,
daß diese beiden Gründe etwas voneinander toto genere Verschiedenes
sind, und will weiter sagen, dies sei Kants Meinung. Es bleibt doch
merkwürdig, daß Kant sein theoretisches Hauptwerk nicht als
»Kritik der spezifisch menschlichen Vorstellungsweisen«, sondern
als »Kritik der reinen Vernunft« bezeichnet hat. Auch schließt
doch das eine Glied dieser Disjunktion logisch wenigstens das andere
keineswegs aus. Vielleicht gehören die spezifisch menschlichen Vor-
stellungsweisen irgendwie zu den Notwendigkeiten der Vernunft
hinzu oder umgekehrt. Windelband hat also ganz gewiß recht;
hier steckt ein Problem, das Parteinahme erfordert ; an ihm ist wieder
einmal das Grundproblem des Erkennens überhaupt irgendwie ver-
ankert: freilich, wie wir sehen werden, diesmal nicht mit seiner ob-
jektiv gegenständlichen, sondern mit seiner subjektiven Seite.
Wenn Windelband hier einen Gegensatz aufstellt zwischen psychi-
scher Funktion einerseits und Vernunftnotwendigkeit andererseits,
so kann und soll es nur den Sinn haben, daß die letztere insofern
über alle psychischen Funktionen hinausragt, als ihre Inhalte nicht
bloß subjektiv notwendigen, sondern objektiven Geltungscharakter
haben, und als dieser Geltungsanspruch für die menschlichen »Vor-
stellungsweisen« natürlich nicht einsteht.
Hierzu ist nun folgendes zu bemerken: wie kann ich entscheiden,
ob das so ist? Welche Mittel habe ich, um den objektiven
Geltungscharakter der Vernunft zu begründen; welche,
um ihn zu bestreiten?
Verifizieren kann ich ihn nicht. Denn dazu müßte ich das trans-
zendente Objekt selber neben die Vernunft halten können, um ihre
Adäquatheit an ihm als Kriterium zu prüfen. Das aber kann ich
nicht ; denn der Gegenstand ist mir nur in der Erkenntnis gegeben —
und um deren Grundlage, die Vernunft, handelt es sich ja.
Bezweifeln kann ich den objektiven Geltungscharakter der Ver-
nunft ebensowenig. Denn die Möglichkeit des Zweifels setzt bereits
die Geltung der Vernunft voraus. Und ferner: Das einzige Kri-
terium der Berechtigung des Zweifels ist wiederum der transzendente
Gegenstand.
Windelband« Kritik d. Ph&iiuinvoiilijiiiiuii u. d. Aufgabe d. Ptj<
AImu auächiMMciid uiich hier cino •probleiimtiHche Stellun^iiiiiiu.«- i
Wo steckt denn alxT der (irund der Clültigkcit von Kr kennt niiMcn,
wo duH Kriterium ilirer Walirlieit?
Sehen wir unn dun andere Glied der WindclbandHchen Dij*-
junkfion an. Sie lautete: entweder Psyc-hologiHniuB — oder tranj*-
zendentalisliöche IdentitätHnietaphyHik. über die letztere wurde
gesagt, wa« kritisch zu sagen war. Bleibt nun nur der andere Weg
als Ausweg ?
Windelband hat bereits gezeigt, wohin er führt. Ruht wirklich
der CJrund der Geltung von Erkenntnissen in Details un.serer empi-
rischen seelischen Organisation, so ist die Gefahr des liclativismu»
und Konvent ionalisinus .sehr nahe, so fällt Ge*M^tz und Norm, wahr
und falsch in sich zusammen.
Andererseits ist kein Zweifel, daU unsere Erkenntnisse wirklich
zu »spezifisch menschlichen Vorstellungswei-sen * gehören — es ist
überaus wertvoll, daü Windelband auch in Kants Kritik der
reinen Vernunft diesen Gedanken findet und ihre Leistung somit
als eine psychologische lx;t rächtet.
Der Ausweg liegt, wie mir scheint, in folgendem. Die Vernunft
und ihre Notwendigkeiten sind auch in Kants Kritik der reinen
Vernunft der letzte Grund aller )>spezifisch menschlichen Vorstel-
lungsweisen«, sofern sie auf Erkenntnis, auf Wahrheit Anspruch
erheben. Ihre Derivation aus der Vernunft — aus der transzenden-
talen Apperzeption — wie sie die Kritik aufweist, verleiht allererst
den Inhalten dieser »Vorstellungsweisen« Geltung, Notwendigkeit,
Wahrheit.
Diese Vernunft aber, so wenig ich mit meinen Erkenntnismitteln
ihre Transzendenz ins Objektive zu erweisen vermag, kaini ich eben-
sowenig ihrer Absijlutheit entkleiden. Ich kann sie nicht anzweifeln
darauf wurde schon hingewiesen. Ich kann nicht — wie Nelson
« mmal an Kants iM'kanntem IJeispiel ausführte, sagen, »ich sei nur
so eingerichtet denken zu müssen« A gilt. Denn auch der Gültig-
keitsgrund dieses Urteils — ich sei nur so eingerichtet — läge dann
<larin. daß ich nur so eingereichtet bin denken zu müssen, ich sei nur
so eingerichtet denken zu müssen . . . usw. Und von diesem Urleil
gilt das Gleiche, und so ergäln.» ein unendlicher Kegreli die Unmög-
lichkeit einer derartigen Au.ssage. Bin ich niir so eingerichtet denken
/.u müs.sen, A gilt, so sage ich eben: A gilt, ein anderes ist unmöglich.
Das Selbstvertrauen der Vernunft in ihre eigene Wahr-
Iteit ist also die Voraussetzung allen Erkennens, sowohl
faktisch als auch seiner Möglichkeit nach. Und nun mag
ich in der Tat anthropologisch untersuchen, inwiefern meine Vor-
stellungswei.sen in ihr wurzeln, inwiefern sie deren Inhalt und Form
durchdringt — die Gefahr des Psychologismus ist vermieden. Denn
Erkenntnis gilt dann, weil Vernunft ist, nicht als »spezifi-sch
menschliche Vorstellungsweise« und auch nicht als ihr Gegenteil —
sondern schlechthin: weil sie ist als letzte und oberste Vor-
86 Vorbereitende Einführung in die allgem. erkenntniskritischen Grundlagen.
aussetzung aller Erkenntnismöglichkeit überhaupt, als
solche weder bezweifelbar noch begreiflich.
Damit sind beide Seiten der Windel band sehen Alternative ab-
gewehrt : der Transzendentalismus, insofern wir mit unseren kritischen
Aussagen niemals den Boden dessen verlassen, was unserer Erkenntnis
wirklich zugänglich ist; und der Psychologismus, insofern der Grund
und die Wahrheit von Erkenntnissen nicht in den spezifisch mensch-
lichen Vorstellungs weisen, die uns Vernunftnotwendigkeiten ins
Bewußtsein bringen, gesucht werden, und ebensowenig in den psycho-
logischen Untersuchungen, welche diese Vorstellungsweisen an der
Vernunft verankern oder von ihr ablösen. Der Psychologie aber
fällt hier die wichtigste aller Positionen zu, welche die
kritische Philosophie zu vergeben hat: das Verfahren der
kritischen Begründung von Erkenntnissen, die Vernunft-
kritik selber. Sie ist nicht mehr das Aschenbrödel des Transzenden-
talismus, sie wird nicht von den historischen Disziplinen ausgeschaltet,
sondern sie bildet ihre wichtigste Grundlegung. Meinong hat un-
längst ersti) für ^ie Werttheorien einen schönen Beweis ihrer Fähig-
keiten dazu erbracht. Sie steht, was mehr ist als dieses Einzelne, als
Wächter am Eingang zur Wahrheit selber.
Es war Jakob Friedrich Fries, der diese Form der Erkenntnis-
kritik geschaffen und ausgebaut hat, die einen befreienden Ausweg
bedeutet aus der Enge zwischen der Scylla des transzendentalistischen
und der Charybdis des psychologistischen Vorurteils. Sein Werk
ist in den letzten Jahren durch seine Schüler wieder aufgelebt, aber
noch vor wenigen Jahren hat Windelband den Sieg Hegels über
Fries proklamiert.
Auch wir glauben, daß der Kampf um die philosophischen Wahr-
heitskriterien sich zu einen Ringen zwischen diesen beiden Lehren
zuspitzen wird: zwischen ihnen wird die endgültige Entscheidung
fallen müssen. Aber wir sehen Fries noch nicht geschlagen. Auch
durch dieses neue Werkchen Windelbands nicht. Und darin liegt
die Rechtfertigung, oder doch die Entschuldigung dafür, daß wir
Windelbands Arbeit nicht einfach referierten, sondern auch kriti-
sierten. Denn vor dem wichtigsten Problem des erkennenden Men-
schen ist jede Scheinobjektivität eine innere Un Wahrhaftigkeit.
1) Logos III, 1.
Hauptteil.
Ein Kuihlblick über (i('«r«'n\viirtsströiiiiiii;::«'ii
der (ItMitsrIh'ii psycliiafrisclM'n iiinl psycliolotrisclicn
1. Der Siep (1< r lutcrolo^ischen ForsrliungsteiHieiiz»*!! in der
rsycliiatri«'.
In der deutschen Psychiatrie luit das Lebenswerk Kraepclins
eine bis an ilire wissenschaftlichen Wurzehi reichende Umformung
bewirkt. Bis zu seinem Auftreten in der Forschung kann man zwei
große Perioden derscUxMi voneinander abgrenzen. Ihre älteste war
die der s{x>kulativen psychologischen Theorie. Diese sah im Wesen
der Kranklieiten psychiscli kranker Menschen einen toto genero
anderen Prozeß als in dem körperlicher Krankheit. Sie übertrug
den Krankheitsbegriff von der letzten Kategorie nur in metapho-
rischem .Sinne auf die psychischen und psychotischen Abwegigkeiten.
Eine völlige Unvcrgleichbarkcit schien ihr hier zu herrschen. Indem
sie die genetischen Fundamente seelischer Erkrankung restlos eben-
falls iT»s Seelische verlegte, welches sie durch die Iranszendentalisti-
Hche Identitätsphilosophic noch als substantialisiert zu denken ge-
wtihnt war, mußte die spekulative Theorie aus Unzulänglichkeiten
dieses Seelenwesena die einzelnen seelischen Krankheitstypen kon-
struktiv herleiten und aufbauen. Solche Unzulänglichkeiten konnten
moralischer Art sein, Schuld oder Sünde (Reil, Heinroth); sie
konnten im »Widerspruch zum Xaturzweck« (Hoffbauer) geboren
werden; sie konnten aus »gewucherten Leidenschaften t (Esquirol,
Dissertation) sich bilden. Die Einzelheiten waren ab«urd; die an
sie geknüpfte vermeintliche Willcnsheilpädagogik eine üble Mischung
von liicdirmeiermoralismus, Pedanterie und Brutalität. Mit ge-
nialem Wt)llcn befreite Griesinger die Forschung aus dieser speku-
lativen Sackgas.se durch die klare Erkenntnis, daß der an jxsychischen
Merkmalen zu bildende Krankheitsbegriff grundsätzlich nur ein
symptomatologischcr sein könne, dem als ideale Forderung ein
patliogenetischer gegenülx»r zu treten habe. Damit war die zweite
•) ZumromciifaatH'odc Bearbeitung rweier Abhanillungen, welche - für
einen I^^^wrlcrei« von Nnturfonnhem b<"nfhnet -- in der »Scienti«« en«chicnen.
Sie wiirdm hier nufgrnommen um eini^'-r (Je-nichtupunkte willen, welche mir
prinzipiell wiihtig sind. Die wahrend des Kriege« erschienenen Arbeiten wurden
nicht a.ehr beruikätchtigt.
90 Ein Rundblick über Gegenwartsströmungen usw.
Epoche psychiatrischer Forschung eingeleitet. Schon Griesinger
erkannte die somatische Basis dieses zu fordernden pathogenetischen
Krankheitsbegriffes und führte daher die Psychiatrie aus der Reihe
philosophischer Scheinwissenschaften zu ihrer natürlichen Mutter,
der Medizin, zurück. War aber für ihn die Identifizierung der psycho-
logisch beobachtbaren psychotischen Typen mit den pathogeneti-
schen Fundamenten in einer Krankheitseinheit noch eine ideale
Forderung, welche höchstens zufällig einmal sich realisieren mochte,
aber weder durch das Wesen somatologischer Forschung, noch durch
das symptomatologischer Psychologie grundsätzlich gewährleistet
werden konnte, so verloren seine Schüler und die auf ihn folgende
Forschergeneration die weise Selbstbeschränkung des Meisters nur
zu bald. Der Aufstieg der ganzen somatischen Medizin riß sie mit
fort; vorschnell und kritiklos wurden deren Gesichtspunkte auch
zu uneingeschränkten Kriterien psychiatrischer Forschung. Patho-
genetische Basis seelischer Veränderungen war nach dem Erkenntnis-
stande jener Zeit ausschließlich die Pathologie des Zentralnerven-
systems, und mußte es sein. Und psychiatrische Forschung der
zweiten Epoche bestand nunmehr ausschließlich darin, die beobacht-
baren psychischen Veränderungstypen den Formeln der — äußerst
rudimentär entwickelten — Hirnpathologie in Hypothesen, Kon-
jekturen, Konstruktionen und Konventionen anzupassen. Hierzu
mußten psychophysiologische, hirndynamische und eine Zeitlang
auch »molekülarmechanische « Theorien gebildet werden, welche sich
in gleicher Weise auf Hirntätigkeit und seelisches Geschehen be-
zogen, und welche im Grunde in bezug auf Beides nichts waren als
leere Phrasen. Das Psychische wurde in dieser ganzen Forschungs-
richtung zum bloßen Epiphänomen. Die großen und bleibenden
Verdienste, welche die Führer dieser Richtung: ein Exner, Meynert,
Westphal, Schule, und vor allem Wernicke, sich um die For-
schung erworben haben, und die noch in den Arbeiten der jetzigen
Forschergeneration befruchtend fortwirken, betreffen durchweg nicht
die eigentliche Psychiatrie im strengen Sinn, sondern ein Grenz-
gebiet psychischer Sekundärfunktionen rezeptiver und expressiver
Art, deren epiphänomenales Wesen man zugeben könnte, ohne damit
das Wesen des Seelischen selber zu berühren. Vor allem aber be-
treffen sie die von allem psychologischen Beiwerk befreite Gehirn-
forschung, als neue deskriptive somatologische Wissenschaft. Kli-
nisches Forschen bewegte sich im Kreise der hirnpathologisch vor-
gegebenen Dogmatik; und wo es sich von ihr befreite, wie in dem
Werke Ziehens, kam es nicht über symptomatologische Klassi-
fikation hinaus. Es war Kraepelin, welcher, anknüpfend an Vor-
gänger wie Kahlbaum, Hecker und wenige andere, die Forschung
in ihre dritte Periode die hinüberleitete, welche wir als die klini-
sche charakterisieren können. Will man aus seinem gewaltigen
Lebenswerke diejenige Forschungsmaxime heraussondern, welche uns
hier als weiterleitender Gesichtspunkt fruchtbar ist, so kann man
Der Sieg dor bi-t«rologiachen Foraobuogateodflnaen in 6rr Pi^cbutrie. ^1
sagen: er hat nolx'n den Hvmptoinatohigischon und dc*n pathogene-
twchen Kranklu-itHlK'Kriff den noHologischen in der Kon»chung
durchgt'setzt. Kr hat IMatz gfHt'haffcn für dio i>syili<jlo;^'isch-kliiiijich«
Bfschreibung, welche in wahrhaft vorurtciLsltmer Weihe an einem
einzigen unmittelbaren Zweck orientiert war, und dieser Zweck ist
praktischer und prognoHtincher Art. Keine theoretische Stellung-
naliine verdunkelt ihn und .schränkt ihn ein. 80 sind durch ihn neu©
Krjinkheitseinheiten nosologischer und klinincher Art geschaffen
worden, nicht auH den Abetraktionen spekulativer Psychologie heraus
und ebensowenig aus Lokalisationshypothescn der Hirnpathologie;
sondern aus vorurteilsloser sj-ntematischer Beobachtung heraus,
welche sich nicht bloß an einwlne ZustancLsbilder klammerte, sondern
ülxT das ganze LelnMi der Kranken erstreckte, und die V^erlaufstypen
der Krankheit sell)er zum Ausgangwptinkt nahm. Für diese Beob-
achtung stellten alle Materien eine gleiche Bedeutsamkeit dar, alle
waren gleicher Beachtung würdig, von der Struktur der Erinnerungs-
fälschungen bis zur Altersstatistik, vom Muskeltonus bis zur Rinden-
veränderung, vom Stammbaum bis zum Strafregistcrauszug. Die
Ordnungsgesichtspunkto für die ungeheure Materialienfülle, welche
sich auf diese Weise ergab, waren vorwiegend äußerliche. Wenn
sich auch zeitweise bei Kraepelin da.s Bestreben regt, z. B. bei der
Erfassung und Einteilung der symptomatischen Psj'chosen toxischer
Art, aus psychischen Verschiedenheiten Gesichtspunkte ihrer gegen-
seitigen Abgrenzung zu gewinnen, so hielt er sich doch im allgemeinen
völlig und lK.>wuüt im Bereiche reiner Heuristik, ohne das Bestreben,
in einer psychologischen oder anders gearteten Synthese zu gründen.
Als eine Ganzheit, eine Krankheitseinheit galt ihm alles, was
auf Cirund seiner Beobachtungen Analogien aufwies in den Sympto-
men, der Verlaufsform, der Ätiologie und dem zerebralen Bilde. Das
grundsätzliche und methodologische l*roblem der Tragweite und des
Geltungsl)ereiches dieser »Analogion« Ijesonders im psychischen Ge-
schehen beachtete er nicht. Er zog sie beliebig weit, und sein Ge-
sichtspunkt blieb der gleiche, auch wenn in dem reichen Gesamtbilde
individueller Krankheitserscheinungen bei psychischen LÄngsschnitten
und Querschnitten solche Analogien in gewissen Symptomgriippen
bestanden, in anderen fehlten. Wa.s uns heute eine der wichtigsten
Fragen zu sein scheint: der Grund der Existenz derartiger »Ana-
logien« — bildete für ihn größtenteils ülierhaupt kein der Forschung
zugängliches Problem. Seine Krankheitsoinheiten betrachtete er
selber nicht als endgültig feststehende Realitäten; sie wan'H nichts
anderes, als Ordnungsgesichtspunkte der klinischen Praxis; und mit
weiser Vorsicht war er .sell)er der erste, sie gegebenen fallt* bei fort-
schreitender Erfahrung zu modifizieren. So ist das Kriterium der
Theorienfreiheit zum Signum seiner Arbeitsweise g;eworden.
Unsere Forschung ist inzwischen zweifellos in mancher Hinsicht
nicht mehr reines Epigonentum Kraepelinscher Gedanken, simdern
über ihn hinausgclangt. Aber dir ablehnende Haltung im Hinblick
92 Eiii Rundblick über Gegenwartsströmungoa usw.
auf alles Theoretische ist geblieben. Die neue Aufgabe, welche die
Forschung über ihn hinausführte, war zunächst die einer noch vor-
sichtigeren Selbstbescheidung, als sie Kraepelin selber bereits
geübt hatte, und blieb im wesentlichen kritischer Art. Sie bestand
darin, unabhängig von den momentanen Bedürfnissen klinischer
Praxis alle die neuen Materialien hinsichtlich der Einteilungen und
Ordnungen, welche Kraepelin sehe Erfahrung in ihnen vollzogen
hatte, auf ihre Bewährung zu prüfen. Wenn sich damit auch die
Forschung äußerlich zunächst innerhalb der Grenzen des durch ihn
Geschaffenen weiterzubewegen scheint, so schlummert dahinter doch
bereits ein Umschlag seiner Maximen in ihr Gegenteil, Beispielsweise
darf sich für sie die Zusammenordnung der Phänomene am lebenden
Kranken und an der Leiche nicht mehr nach Gesichtspunkten voll-
ziehen, welche den zufälligen und äußerlichen Gesichtspunkten der
Klinik entsprechen. Jede der beiden Beobachtungsreihen hat viel-
mehr, unabhängig voneinander, ihrem eigenen Gesetz zu folgen.
Das innere Band, welches notwendig sowohl die einzelnen psycho-
tischen Symptome und Zustandsbilder als auch die einzelnen Ver-
laufsformen als auch endlich die histopathologischen Typen zu einer
Einheit verbindet, muß gleichwohl für jede einzelne dieser drei
Sondersphären besonders entdeckt werden. Der Einheitsgesichtspunkt
punkt ihres Verbundenseins tritt zurück hinter der methodischen
Sonderart ihrer einzelnen Durchforschung. So ist die gegenwärtige
Epoche der Psychiatrie zu einer solchen methodologischer Be-
sinnung geworden, welche jedes Sondergebiet unabhängig von allen,
anderen zu durchforschen unternimmt mit Hilfe von Methoden, die
einem jeden in besonderer Weise angepaßt sind. Ihr letztes Ziel ist,
alle diese Sondergebiete im systematischen Rahmen wissenschaft-
licher Synthese zusammenzufassen. Anstatt also den nosologisch-
klinischen Charakter der Forschung festzuhalten, geht die Synthese
letzten Endes auf ein pathogenetisches Ziel — ganz im Sinne von
Griesingers vorausschauendem Genie, aber in der Hoffnung, das-
jenige, was ihm nur eine ideale Forderung bedeuten konnte, durch
methodische Arbeit fallweise zu realisieren.
Freilich hat die Aufteilung der Psychiatrie in Sonderzweige der
Forschung dazu geführt, daß ihre methodische Trennung diese Syn-
these noch nicht einmal von ferne erkennen, geschweige denn in die
Erscheinung treten läßt. Die Methoden verfeinern und spezialisieren
sich immer mehr und werden daher von immer engerer und be-
grenzterer gegenständlicher Anwendung. Daher sind auch die
Fortschritte, die in den einzelnen Forschungszweigen gemacht werden,
keineswegs überall auch nur annähernd die gleichen. Die beträcht-
lichsten hat zweifellos die Histopathologie der Großhirnrinde
mit sich gebracht. Unter der Führung von Nissl, Alzheimer und
ihren Schülern ist dieses Gebiet, das noch vor wenigen Jahren fast
unzugänglich schien, so durchforscht worden, daß wir, für eine große
Reihe von Psychosen, Untersuchungen besitzen, welche die klinisch-
ÜtT !>icg clor hct<rologinch«^n KorBcbuiig»U-Dd«»zfn in der Paychiatri«-. i*S
diagnoHtiwclicn Bt-dürfnissp dor KraepcIiiiHrheii Ära an Cicnaiiigkeii
und VertiffuiiR weit ülHTtffffii. K» sei hier nur priiiiu-rl an Spiel-
meyors Untersuthungen ül)or den fleekweisen MiirkHclieidenauMfall
büi Paralyse, dem ein klinischei* Äquivalent bis jetzt nicht entMpricht,
an die Untersuchungen zur tuberöeen Sklero«e, an Alzheimers
nach ihm genannte Krankheit, die dann klinisch erst Kokundär auf
(Irimd seiner histopiithologischen Befunde ahgrenzhar wurde, an
iSträuülers Studien zur juvenilen Paralyse und ihrer Beziehungen
zu Entwicklungshemmungen, an die (iliastudien verschiedener Kor-
scher, inslxjaondere Heltls und Alzheimers, an die Abgrenzung
der familiären amaurotischen Idiotie, welche der Arbeit verschiedener
Forscher uruibhängig voneinander zu verdanken ist. an das Studium
fötaler Bildungsliemmungen. dem Ranke wertvolle Arlx-iten wid-
mete, und an die neuesten Arbeiten Jahneis und Hauptmanns
über da« Verhalten der Spirochäten bei der Paralyse und ihre Be-
ziehungen zum rindenpathologiachen Prozeß, welche sich würdig
den besten Forschungen des Auslandes anreihen. Auch die feinere
anatomische F]inzclfor8ch\ing im Rindengebiet, welche an die Arbeiten
von Bielschowsky, Economo, V\jgt u. a. m. anknüpft, hat
Fortschritte gezeitigt, welche indes die grundlegenden Probleme der
Fibrillcnstruktur, des nervösen Graus, des Zidlenbaus und der Neu-
ronenlehrc nicht wesentlich über die älteren Arbeiten Bethes hinaus-
zufördern vermochten. Hingegen ist ein bemerkenswerter Fort-
schritt den unermüdlichen Forschungen Brodmanns gelungen,
welcher die Lokalisat ionslehre durch seine grolien Arbeiten den
psychophysiologischen Dogmen zu entrücken vermocht hat, die
die Lehren von Flechsig, Munk usw. in den Vordergrund gestellt
hatten. Seine vergleichend-aiuitomischen Studien am Zellbild der
Rinde haben es ermöglicht, morphologisch identische Strukturtyf)en
verschiedener Rindenregionen landkartennrtig nel>eneinander zu
stellen. Neuerdinga hat Nissl wenigstens für das Kaninchengehirn
auf neuen experimentell-anatomischen Wegen, unter Benutzung der
Ouddenschen Degenerationsmethode, zwischen diesen deskriptiven
Abgrenzungen Brodmanns und den entsprechenden Gegenden der
großen Stammganglien, insln-sondere dem Thalamus und seinen
Kernen, Ix'stimmte gesetzmäßige Bi'ziehungen fc.><t gestellt. Es gelang
ihm festzustellen, welche Rindenschichten und Rindenregionen mit
diesen Kernen und so auch mit der Peripherie des Nervensystems in
einer anatomisch-demonstrierbaren Beziehung stehen. So kann man
im allgemeinen sagen, daß neue, vollkommenere Methixien und kri-
tischere Fragestellungen hier zu neuen lU-sultaten geführt halxMi
und damit ein (Jebiot verselbständigt hal)en. welches zur Durch-
forschung bis dahin auf konstruktive I>ikalisationstheorien an der
Hand des groben und unzuverlässigen Markfaserbildes und physio-
logischer Exj>erimento mit vieldeutiger Interpretation angewiesen war.
Damit ist nicht gesagt, daß jede Lokalisat ionstheorie an sich
schon von uns als verwerflich betrachtet würde. In dem Maße viel-
94 Ein Rundblick über Gegenwaxtsströmungen usw.
mehr, wie die Lokalisation selbst seelischer Funktionen in umschrie-
benen Hirnregionen ohne Behelf konstruktiver Dogmen, durch reine
Erfahrung und eine Analyse, die notwendig psychologischer Art
sein muß, sich vollziehen ließ, hat auch die Hirnpathologie Fort-
schritte zu verzeichnen. Die Forschungen Liepmanns sind be-
kannt, in denen er die großen Entdeckungen Wernickes fort-
setzend, ohne aber in dessen konstruktive Dogmen zu verfallen, die
Theorie der Aphasie einer kritischen Durcharbeitung unterzogen
hat, und oft im Gegensatz zu den großen französischen Forschern
auf diesem Gebiet, aber mit sicherer Hand auf eine psychologische
Analyse der Materie zusteuert. Auch glückte es ihm zuerst, die Stö-
rungen des spontanen Handehis und der Bewegungsintentionen einer
vertieften psychologischen Analyse und hirnpathologischen Lokali-
sation und Darstellung zu unterziehen: seine Lehre von der Apraxie
ist heute völlig anerkannt. Auch hier waren es neue Methoden, die
der Forschung zu neuen Ergebnissen verholfen haben. Und wenn
bei seinem Versuche, diese Forschungsmethoden auch auf alle jene
Bewegungsstörungen zu übertragen, die man sonst noch bei Geistes-
störungen findet, Kleist sich nicht völlig den Konstruktionen Wer-
nickes hat entziehen können, so beweist dies nur die Kühnheit
dieser Methoden, welche auf lokalisatorischem Gebiet so erfolg-
gekrönt waren.
Von methodisch geringerer Sicherheit und daher auch weniger
schlüssig sind die Forschungen über die Elemente einfacher
Bewegungen und Muskelzustände, vor allem hinsichtlich der
verschiedenen Starresymptome bei Geisteskrankheiten, welche zu-
erst Rieger, sodann Sommer und neuerdings Isserlin mit Hilfe
neuer, experimenteller Verfahren angestellt haben. Auch ihnen ist
die Theorienfeindschaft gemeinsam. Auch die anderen körper-
lichen Begleitsymptome geistiger Störungen wurden einer
methodischen Forschung unterzogen, die auf neuen und exakteren
Verfahrensweisen beruht. So haben unter anderen Bach und
Bumke die Pupillensymptome systematisch bearbeitet. Gregor
und andere Forscher haben das sogenannte psychogalvanische Re-
flexphänomen zur Bestimmung affektiver Schwankungen verwandt;
und ein weites Tätigkeitsfeld eröffnet sich den Methoden, welche
Sommer und seine Schüler, besonders Pfahl, vor allem aber Ernst
Weber in einem ausgezeichnetem Werke hierüber ausgearbeitet
haben.
Die Verfeinerung der Methoden, welche uns bisher das Kenn-
zeichen gegenwärtigen Geistes in der psychiatrischen Forschung war,
erstreckt sich auch auf die pathogenetische Arbeit und verbürgt
hier ein Weiterkommen. Freilich sind die chemischen Untersuchun-
gen über den Stoffwechsel der Geistesstörungen ziemlich resultatlos
verlaufen, trotz gewissenhafter Forschungen von Kauffmann,
Knauer, Gräfe u. a.; und dasselbe gilt auch von der Chemie des
Gehirns (Allers u. a. m.). Hingegen hat die physikalische Unter-
Der Sieg der hcU-rologischcn Forsch ongslcndenzon iri w i i n\ uiAtiie. 95
suchung (Icft Cifliinis /.u neuen Ergcbnis-sen geführt. Keichanlt
konnte /.eigen, dali d»T Quotient, der die Beziehung zwinchen Hirn-
gewicht und iSchüdelkapazitttt auedrückt, einen Index liefert, der —
itn NornialzuHtande konstant — bei akuten oder Hubakuten Ver-
laufen bestiinnito Veränderungen aufzuweisen vermag. Freilich
bind die Akten ül)er die »HirnHchwellung« noch nicht geHchloBBen.
Hierher gehören auch die serologiflchen und biologisch -
themischen Forschungen, welche eine besondere reiche tarnte von
Ergebnissen geliefert haben. Ohne schon eine eindeutige Bewertung
zu ermöglichen, haben sie doch zu wichtigen Schlüssen über die
Ätiologie und Pathogenese einer Anzahl Krankheiten Anlaß gegeben.
Die Cerebrospinalflüssigkeit wurde hinsichtlich ihres Gehaltes an
Zellen und Eiweiß, hinsichtlich der durch Ammoniumsulfat fäll-
haren Substanzen (Nonne), hin-sichtlich ihrer Fähigkeit, kolloide
Ivösungen auszufällen (Lange, Eraanuel) und hinsichtlich der
Wassermannschcn Reaktion geprüft, und zwar sowohl theoretisch
als im Zusammenhang mit klinischen Krankheitstypen. Kafka
durchforschte den Fermentgehalt des Liquors und das Problem der
Durchlässigkeit der Hirnhäute. Alle diese Untersuchungen hatten
zum praktischen Ergebnis, selbst bei Abwesenheit jedes anderen
körperlichen Symptomcs, die Formen organischer Geistesstörung
intra vitam diagnostizieren und mit ziemlicher Sicherheit voneinander
abgrenzen zu können. Die Wassermannsciie Reaktion im Blutserum
ermöglichte, die Ätiologie einer gewissen Gruppe angeborener Idiotien
und anderer Schwachsinnsformen sicherzustellen. Forster und
Tomaszewski konnten durch Hirnpunktion lelxjnder Paralytiker
die Spirochäten in fast der Hälfte der Fälle nachweisen.
Das allgemeine Wiederaufleben humoralpathologischcr Anschau-
ungen endliih ist ebenfalls nicht ohne Einfluß auf die pathogenetische
Forschung in der Psychiatrie geblieben. Aber bezeichnenderweise
waren es auch hier neue Metiiodon, deren Anwendung auf die Psy-
chiatrie aus anderen Gebieten üljornommen wurde. An das Abder-
haldensche Verfahren des Nachweises von Abwehrfermenten gegen
die Abbauprodukte einzelner Organe knüpften sich zunächst große
Hoffnungen, direkte Ik'ziehungen zwischen Organfunktionen und be-
stimmten Formen funktioneller Geistesstörung auffinden zu köimen.
Freilich hat dieses Verfahren sich als noch nicht zuverlässig genug
erwiesen, um jene Hoffnungen zu rechtfertigen. Sein leitender Ge-
suhtspunkt aber hat auf zwei Forschungseinstellungen Einfluß aus-
geübt : er hat den Blick l)efreit von der aus^schließlichen Einstellung
auf die anatomisch nachweisbaren Veränderungen im Zentrahierven-
system, er hat ihn hingelenkt auf die Wechselwirkung, in welcher
dieses mit dem Gesamtorganismus steht ; und zweitens hat er ihn in
ganz besonderem Maße hingelenkt auf die endokrinen Drüsen,
die ihrerseits als Bremsen und als Aktivatoren einzelner Anteile
von ihm im (icsamtorganismus einen eigenen Kreis von Weihsel-
wirkungen darstellen. Es ist aber charakteristisch, daß e» trotz der
96 Ein Rundbück über Gegenwartsströmimgen usw.
ungeheuren Wichtigkeit dieses neuen Gesichtspunktes, der vom
Gehirn zurück auf die biologische Struktur des Gesamtorganisnius
geführt hat, nicht gelungen ist, bisher greifbare Einzelergebnisse
zu zeitigen. Wo er sich an einzelnen Materien hat realisieren lassen,
wie bei der Durchforschung der beiden Hypophysenanteile in ihrem
Einfluß auf den Diabetes insipidus, bei der vertieften Erkenntnis
der Basedowschen Krankheit und bestimmter Wachstumsanomalien,
da haben diese Ergebnisse immer nur dazu gedient, die betreffenden
Gebiete ausserhalb der Nervenlehre zu stellen und ihre Wurzeln
innerhalb der rein somatischen Organpathologie aufzuweisen. Die
Neurosen und Psychosen spotten noch jeder realen und genau be-
stimmbaren Anwendung dieses Gesichtspunktes. Was hier vor-
gebracht wird, ist mehr oder weniger geistreiche Konjektur. Und
es ist interessant, daß dies nur an dem Mangel geeigneter spe-
zifischer Methoden liegt, den dieses Gebiet aufweist. Die Psy-
chiatrie muß hier warten, bis ihr die Sonderforschung der Lehre von
der Inneren Sekretion neue methodische Waffen schmiedet. Erst
dann kann sich zeigen, ob nicht der Zeitgeist den Einfluß der Ano-
malien dieses Organsystems auf das Zustandekommen von Geistes-
störung am Ende stark überschätzt.
Neben diesen der eigentlichen Medizin sehr angeglichenen Me-
thoden pathogenetischer Forschung kennt die Psychiatrie eine solche,
welche ihrem Wesen nach anders orientiert ist. Sie betrifft die Zu-
sammenhänge zwischen den Formen von Geistesstörung und so-
zialen Faktoren. Hier haben neuere Arbeiten über die Psychosen
des Strafvollzuges und der Untersuchungshaft zur Aufstellung neuer
Krankheitsbilder geführt. Der Begnadigungswahn der lebensläng-
lichen Strafgefangenen von Rüdin gehört hierher. Rüdin, Siefert,
Birnbaum, Wilmans und Homburger haben wertvolle Einzel-
beiträge zu diesen Fragen geliefert. Die Umgekehrte Fragestellung,
der Einfluß psychotischer Elemente auf die soziale Lage des Indi-
viduums, hat, abgesehen von einer sehr umfangreichen kriminologi-
schen Literatur, in der Psychiatrie vor allem die Arbeiten von Bon-
höffer, Joerger und Wilmans über die Landstreicher und von
Gregor über jugendliche Verwahrloste gebracht. Die Studien zur
Heredität der Geisteskranken sind — abgesehen von grundsätzlichen
Klärungen des Konstitutionsbegriffes durch Martins und Birn-
baum — mit den Methoden der Lorenz sehen Ahnentafel vor-
wiegend von Rüdin weitergeführt worden. Im allgemeinen hatten
sie, wie ein kritischer Überblick, den Moeli gab, beweist, eine Klärung
der äußerst schwierigen Problemlage nicht zur Folge. Der Mendelis -
mus läßt sich eben, nach Martins' geistvollen Darlegungen, nicht
auf den Menschen übertragen; und damit fehlt wiederum der metho-
dische Hebel, um die Forschung zu bewegen.
Da» ttutolojiiHthü Lbiioh in clor gi»gfnwartij;<n l^ycLiatrif, und der Autweg. 97
2. Das autolo^lsilic Clia«» in «Irr ^c;::»!!^ iiiii^cn l*>y( liiatrie,
iiiiii «Irr Ausw«'^.
Wir sahen hislur in m'(lrüiigte«tcr Form di-n Kort8chritt der
Wis.sensthafl m'iiuu nnm-palit an die .Möglich keil , die einzelnen Ma-
terien nach strenger Metliodik adui^uat zu klären. Wir .sahen, daß
der Fortschritt um »o größer war, je Ix-'stimniter, alxjr auch gegen-
ständlich in ihrer Anwenduni; lx«grenzter die lx«l reffende BearlxMtungs-
incthodc war. und dali es auf den Zusanunenhang der einzelnen Ma-
terien in der Kinlu'it des wi.s.senschaft liehen Ganzen und «eine Be-
achtung auch nicht entfernt so ankam, wie auf die Sjxjzialisierung
der Methode. Ein paradoxer Zustand: die Psychiatrie muU, um
praktisch im einzelnen ülx'r die Kraepelin.Hche Ära vorlxjreitender
Sammlung hinauszukommen, auf ihre »autologische« Einheit aU
(Jcsamt Wissenschaft verzichten. Sie muß il»re einzelnen Materien
gewissermaßen aufteiK-n und aiuh-ren Disziplinen mit gesicherteren
Methoden jeweils zur Hparl)eitung zuweisen. So resultieren die ihren
Fortschritt verbürgenden Methoden, ganz heterogen untereinander,
aus einer lieiho von »Hilfswissenschaften« verechiedenster Prove-
nienz, während die Psychiatrie selber in einer gewissen Sterilität und
Tatenlosigkeit auf den Zeitpunkt zu warten scheint, wo weitere der-
artige Methoden aus anderen Gebieten auch auf weitere Einzel-
nuiterien anwendbar werden. Man kann die heutige Ära Xarh-
krae|H'linscher Psychiatrie nicht bloß die metho<lischc, man kann sie
auch die heterologischo nennen, wenn man damit zum Ausdruck
bringen will, wie wenig sie 8ell)er Herrin im eigenen Wi.sscnschafts-
hau.se ist, wie sehr sie mit erl)orgten Kapitalien arlwitet. Kehren
wir auf ihr eigenstes Gebiet zurück, so finden wir die UntersuchuiK'i-n
über die Verlauf »formon der verschiedenen Arten von G»
Störungen gegenwärtig ii\ einem ziendich chaotischen Stande, l ao
auch hier ist eines iK'Zcichnend : soweit es möglich war. die viTschio-
<lciu'n Enlwicklungswciscn psychischer S' auf di>- o
l-^igeiuirt und auf liesiuulcrheiten der i' . iien K»>: -u
richtiger wohl der Cliaraktcrologie) des befallenen Typ.."» zurück-
/.ubeziehen und gleichsam die erstcren aus den letzteren zu dedu-
zieren, ergalH'ii sich alsbald wertvolle Gesichtspunkte Wissenschaft-
li<licr Syiit licsc, wclclu- nidit rein äußerlich bli«'b, sondern ihr Problem-
gchici wirklich klarte. Hier dürfen wir die Arl)eit Birnbaums
üUt die Psychosen mit degenerativer Wahnbildung bei Psycho-
pathen und die ArIxMt von Roiss ülxr da« manischdepressive Irr-
sein nennen. Natürlich waren die Mittel dieser Ableituncen solche
angewandter Psychohigie. Andere Arl»eiten i ' " " >. l>ei
allem ihren Uubniteiulen Wert, im .XußtMlichen . \ izung
stecken, elx-n weil sie ihre psycluilogischen .Mökjbchkeiten nicht voll
ausnützten. Hierher gehören unter anderem Bonhöffers und auch
Schröders Studien über exogene und «ymptomatiacho Psychogen.
Krönte Id. PtychUtrUcbo KrkenntoU. 7
98 Ein Rundblick über Gegenwartsströmungen usw.
Kraepelin, der auf diesem Gebiet psychologische Forderungen
wenigstens stellt, wenn er sie auch nicht realisiert, ist grundsätzlich
moderner als diese Späteren. Aber Kraepelin hat gegenüber einer
anderen Gruppe von Psychosen psychologisch resigniert, die klinisch
sein eigenstes Geisteskind ist: den von ihm als Gruppe der De-
mentia praecox zusammengefaßten Verlaufsgruppen. Hier liegt
recht eigentlich die wahre Forschungsdomäne für eine
autologisch gerichtete Psychiatrie. Aber Kraepelin selber,
welcher seine Stellung zur Abgrenzung dieser Gruppe nach außen
bin und innerhalb ihrer Einzeltypen mit jeder Auflage seines großen
Werkes aufs neue modifizierte, betrachtet die psychologische Analyse
der ungeheuren individuellen Mannigfaltigkeit von Zustandsbildern,
die hier bestehen, als vergebliches Beginnen. Der Verlauf dieser
Formen allein ergibt ihm ein sicheres Kriterium ihrer Ordnung und
Abgrenzung. Er studiert ihn an den Endzuständen. Als ob dies
nicht auch »Zustände« wären, und als ob diese Zustände vor irgend-
welchen früheren grundsätzlich in irgendeiner Hinsicht ausgezeichnet
wären! Urstein hat versucht, gestützt auf ein großes Beobachtungs-
material, nachzuweisen, daß auch die Mehrzahl der Fälle von manisch-
depressivem Irrsinn zu Zuständen führt, welche diesen Endzuständen
der Dementia praecox-Gruppe gleichen. Er schließt daraus, daß das
manisch-depressive Irrsein nur eine Sonderentwicklung dieser Gruppe
darstellt, daß es also psychologisch nicht aus dem Charakter der be-
fallenen Persönlichkeit herleitbar ist, sondern eine progrediente
Persönlichkeitsveränderung involviert. . . Wir würden nur den
Schluß für berechtigt halten, daß die Endzustände kein aus-
reichendes Kriterium für den Ordnungstypus einer Psychose,
für eine Krankheitseinheit, darstellen. Die bloße klinische
Analogisierung von Verlaufsformen, ohne ein inneres Kriterium ihrer
Analogisierbarkeit — etwa nach gleichen seelischen Strukturen
präponderanter Art oder gleichen Entwicklungsbedingungen —
würde letzten Endes zur Einheitspsychose von Neu mann und Arndt
zurückführen, deren verschiedene Sonderformen nur bedeutungslose
individuelle Variationen darstellen. Gebieterisch erhebt sich hier
die Forderung vertieften psychologischen Eindringens in
Symptome und Symptomzusammenhänge, Um hieraus das innere
Kriterium, von dem wir sprachen, zu gewinnen.
Und so war es ein großer Fortschritt, als Bleuler es versuchte,
für diese Gruppe von Psychosen ein generelles psychologisches Funda-
ment zu suchen, welches sich auf ihnen gemeinsame seelische Struk-
turen und Dynamien zurückführen ließ. Wir werden in dem folgenden
Bande noch auf diese Schöpfung Bleulers, die im autologischen
Gebiete der Psychiatrie den größten Fortschritt seit Kraepelin
darstellt, oftmals zurückzugreifen haben. Es ist dies seine Lehre
von der schizophrenen Störung der Persönlichkeit. Wir
verzichten daher an dieser Stelle auf ihre ausführliche Darstellung.
Bleuler hat sie vom psychologisch-theoretischen Gesichtspunkte
Das ftutologischo Chao3 in der gegenwärtigen Psychiatrie, und der AuBwog. 99
aus unzulänglich begründet, und sie weist viele Lücken auf; vor allem
aber dient sie uns weniger dazu, eine klinische Ordnung von Krank-
heitseinheiten aufzustellen, als vielmehr dazu, bestimmte CJruppen
psychopathologischcr Beziehungen in ihrer Sonderstruktur zu
begreifen. Es ist aber noch ein weiter Weg von der psychopatholo-
gischen Symptomatik bis zu den Kriterien nosologischer Entität.
Und diese hat Bleuler methodisch nicht über Kraepelin hinaus
entwickeln künnen. Immerhin ist ein gewaltiger Fortschritt darin
erzielt, daß man nicht mehr, wie noch Kraepelin, gleichsam an der
äußeren Oberfläche symptomatischer Bilder dieser Kranken zu
bleiben braucht, sondern an Bleulers Hand in die Tiefen ihres Seelen-
lebens eingeführt wird.
Mit Bleulers Forschung auf diesem Gebiet ist grundsätzlich ein
entscheidender Schritt geschehen: die Autologie klinischer Ordnungs-
bestrebungen ist von ihrem vagen Krankheitsbegriff zu den strengeren
Kriterien psychologisch faßbarer Symptomatik zurückgekehrt. Auch
darin hat sich Griesingers Forderung erfüllt. Hier, im Gebiete
der Symptomatologie, werden wir den Schlüssel suchen müssen,
der uns zukünftig den Aufschluß des Problems der Krankheits-
einheiten und ihres inneren Gesetzes ermöglicht. Dazu muß man sich
von dem Dogma befreien, welches heute fast gänzlich verschwunden
ist, wonach seelische Phänomene nur zufällige und bedeutungslose
Epiphänomene sind, aus denen eine Belehrung über die zugrunde-
liegenden Gehirnstörungen nicht zu erwarten ist. Als Arbeitsmaxime
für die gesamte Somatologie mag dieses Dogma seinen vollen Wert
behalten. In einer autologischen Psychiatrie aber wird
die exakte psychologische Symptomanalyse allein im-
stande sein, zum Kriterium des jeweiligen Krankheits-
typus hinzuführen. Auch dieser Gedanke liegt im Keim bereits
in manchen Zügen Kraepelin sehen Forschens. Aber der Weg,
den es einzuschlagen gilt, muß mit weit größerer methodischer Strenge
besciiritten werden, als sie das Kraepelinsche Durcheinander von
Vulgärpsychologie, äußerlichen Begriffsbildungen, plastischer Be-
schreibung und experimenteller Trivialität gewährleistete. Es gilt
sich Rechenschaft darüber zu geben, ob und wie die einzelnen psychi-
schen Phänomene sich psychischen Funktionen einfacher und kom-
plexer Art und ihren Anomalien entbinden. Und die gleiche psycho-
logische Forschungsmaxime gilt für die inneren Zusammenhänge
psychischer und psychotischer Phänomene. Das Problem, welches
sich hier auftut, ist, nach bestimmter psychologischer Methode alle
psychotischen Einzelerscheinungen auf ihre letzten, typischen und
psychologisch nicht weiter reduzierbaren Wurzeln zurückzuführen.
Hat man auf diese Weise die einzelnen seelischen Sonderstrukturen
hinsichtlich der bei ihnen beteiligten Funktionen aufgelöst, hat man
ferner die möglichen dynamischen Beziehungen ihrer Inhalte geklärt,
hat man endlich aus diesen Materialien den entsprechenden closkrip-
tiven Typ seelischer Synthese hergeleitet, so kann bei jeder Gcistes-
7*
100 Ein Rundblick über Gegenwartsströmungen usw.
Störung der Anteil des seelischen Geschehens, welches auf dem Boden
der befallenen Persönlichkeit erwächst, gesondert werden von dem
strukturell und genetisch nicht aus ihr Herleitbaren. Und letzteres
wird seinerseits wieder funktional und dynamisch aufgespalten werden
müssen. Die hierin erkennbaren Sonderzüge aber werden
sein symptomatologisches Gesetz ausmachen, als ein Kri-
terium autologischer Art neben den vielen und unentbehrlichen
heterologischen, welches zur Synthese der Krankheitseinheit bei-
trägt. So werden in künftiger Zusammenarbeit zu diesem autologi-
schen Ziel der Psychiatrie doch wieder alle ihre Einzelzweige sich
zusammenfügen müssen. Freilich wird dies alles ohne eine exaktere
logische Zergliederung des Krankheitsbegriffes, welcher speziell für
die Psychiatrie gilt, und der Beziehungen von Symptom und Krank-
heit in ihr nicht möglich sein.
Die symptomatologische Forschung vermag nicht sich experi-
menteller Methoden zu bedienen — oder doch nur in geringem
Umfang. Denn der Träger geistiger Störungen ist im allgemeinen
nicht fähig, den Forderungen zu genügen, welche an eine Versuchs-
person zu stellen sind. Immerhin haben die experimentellen Me-
thoden und insbesondere die Testverfahren der normalen Psycho-
logie in zweckmäßiger Umformung sich bei Intelligenzprüfungen,
aber auch vereinzelt bei anderen seelischen Leistungsprüfungen
Geisteskranker, in gewissen Grenzen bewährt. Jedoch ergibt die
seelische Einzelanalyse der Symptome weit wichtigere Resultate, so-
bald es sich nicht um seelische Leistungsstörungen handelt, sondern
um krankhafte seelische Erlebnisse. Hinsichtlich der Erforschung
dieser letzteren gab es zwei Wege, denen gefolgt wurde: der eine
ging zur genetischen Reduktion der Inhalte krankhaften Erlebens
auf die pathogene Wirkung seelischer Ereignisse des Vorlebens. Der
zweite führte zur phänomenologischen Zergliederung der Formen,
Seins weisen und Strukturen pathologischen Erlebens. Den ersten
dieser Wege beschritt die dynamische Psychologie unter der
genialen Führung ihres Vorkämpfers Freud. Von ihm und seinem
Werke wird in den folgenden Studien noch so oft und so ausführlich
die Rede sein, daß wir uns hier mit der Zuweisung der Stelle be-
gnügen können, an welcher seine Lebensleistung im Ganzen der
wissenschaftlichen Psychiatrie steht. Es ist auch bekannt, daß um
sein Werk sich noch gegenwärtig ein ungeklärter Meinungskampf
auswirkt, der zwar einen Teil seiner früheren Regner, darunter auch
mich, in erheblichem Umfang zu Auffassungen geführt hat, die
wenigstens in mancher Hinsicht den seinigen nicht fern stehen (wie
man in den folgenden Studien begründet finden wird), andererseits
aber seine eigenen Schüler ihm teilweise entfremdet hat. Jung hat
neuerdings eine Lehre von der Libido aufgestellt, welche als dyna-
misches Prinzip seelischen Geschehens eigentlich bloß noch einen
Begriff von seelischer Vitalität im allgemeinen übrig läßt und zu
einem philosoj)hischen Voluntarismus eigenartiger Bildung geführt
Das autologisoho Chaos in der gegenwärtigen Psycliiatrie, und d<r Ausweg. 101
hat. Adler — woiil der giünzciuLste Verl reter der dynamisch-
psychologischen Richtung, sieiit die aeeli.sclie Triebkraft in dem
Geltungs- und Bestätigungsbedürfnis, welches im Gegensatz zur
Übermacht der Umwelt die kindliche Seele mit Notwendigkeit in
einen Konflikt bringt, dessen Überwindungsformen eine lieihe sym-
bolischer Protest reuktioiien und Schutzmaßnahmen darstellt, als
deren eine Gruppe er die Neurosen zu verstellen gelehrt hat. Alle
diese Lehren sind noch nicht frei von Mängeln im einzelnen und im
prinzipiellen, Sie zeigen noch eine gewisse dogmatische Unnach-
giebigkeit gegen die Individualität des seelischen Geschehens. Das
hindert nicht anzuerkennen, daß sie zum Verständnis der gesunden
und kranken Persönlichkeit und der Dynamik ihrer seelischen Einzel-
phänomene gewaltig beigetragen haben.
Der zweite Weg moderner Symptomatologie ist der der phäno-
menologischen und pathopsychologischen Forschung. Sie
führt zur Piüfung der Seinsweisen und Strukturen psychotischer
Phänomene. Angesichts der wechselnden und individuellen zu-
fälligen Inhalte psychotischen Erlebens können die generischen
Elemente, die diesem Erleben gemeinsam sind und eine gegebene
Störung seelischer Funktionen charakterisieren, nur in der formalen
Struktur dieses Erlebens gesucht werden; in der Weise, gemäß welcher
die Inhalte vom Kranken erlebt werden und sich auseinander her-
leiten. Diese neue Art der Untersuchungen unterscheidet sich sehr
beträchtlich von früheren sj'mptomatologischen Arbeiten, und zwar
dadurch, daß sie wirklich in die Tiefe seelischen Ablaufens hincin-
dringt, so, wie sich dieses Ablaufen vor dem subjektiven Be-
wußtsein des Erlebenden vollzieht. Es bestehen hier recht
enge Verbindungen zur Psychologie der Einfühlung und zur Aus-
druekspsyciiologie. Diese Forsciiungswcise ist vor allem ermöglicht
worden durch die logische und phänomenologische Vorarbeit von
Husserl und seiner Schule, obwohl sie sich in Met hodenfragen zum
Teil von diesem Vorbild entfernt, Specht, Österreich, Hirt,
Schilder, Kretschmer und vor allem Jaspers sind die Ver-
treter dieser Arbeitsweise. Insbesondere die Beiträge, die letzterer
zur Theorie der Trugwahrnehmungen, zum Begriff und zum Wesen
des schizophrenen Prozesses als psychologischer Einheit geliefert
hat, bilden eine Grundlage für den Weiterbau dieser vertieften Sym-
l)tomatologie. Was die Forschung hier braucht, um eines Tages
zu einer vollendeten Synthese psychologischer Krankheitsbilder zu
gelangen, ist die exakte, eindeutige und strenge Methode,
logisch orientiert an einem klaren Begriff von systematisch-psycho-
logischer Theorie. Wir wollen sehen, ob die gegenwärtige Psycho-
logie ihr diese Waffen bereits zu liefern vermag.
102 Ein Rundblick über Gegenwartsströmungen usw.
3. Die Problematik in den Fundamenten der gegenwärtigen
Psychologie.
Man spricht zurzeit i) viel von einer Krise der gegenwärtigen
deutschen Psychologie. Und mit Recht, wenn man damit meint,
daß gegenwärtig zwischen ihren einzelnen Sonderzweigen unüber-
brückte Gegensätze bestehen; mit Unrecht aber, wenn man den
Schluß daraus zuläßt, als ob der Wert der Psychologie selber und
ihrer großen Entdeckungen auch nur im mindesten angetastet
werde.
Die bisher von einer kleinen Zahl von Forschern vertretene Über-
zeugung, daß sich die experimentellen Methoden, die introspektive
Einzelanalyse und die logische Zergliederung zu einem Zusammen-
wirken in der Einheit eines Systems sollten verbinden lassen, welches
der Zukunft der Wissenschaft die gleiche Ertragsfülle sichert, wie sie
die Vergangenheit aufwies, diese Überzeugung ist berufen, von Tag
zu Tag an Tragweite zu gewinnen. Freilich stehen sich gegenwärtig
noch die verschiedenen Forschungsrichtungen isoliert und fast gegen-
sätzlich gegenüber: die experimentelle Psychologie, die Assoziations-
psychologie, die Funktionspsychologie, die Phänomenologie und die
historisch orientierte, beschreibende Individualpsychologie. Und
dieses Auseinanderfallen war nach der ganzen Entwicklung der Dinge
unvermeidlich. Wir brauchen hier nur dieser Entwicklung in größter
Kürze zu folgen; und da die Entwicklung einer Wissenschaft in der
Umbildung ihrer Leitideen, Prinzipien und Methoden besteht , so
sind es diese letzteren, die Leitideen, Prinzipien und Methoden,
welche uns den Ariadnefaden liefern, um uns in dem Labyrinth der
gewaltigen Literatur zurechtzufinden. Freilich besteht dabei das
Bedenken, daß wir bei der Zeichnung unserer Skizze die Bearbeitung
wichtiger Einzelfragen Und Tatsachen zugunsten des Gesamtbildes
zu vernachlässigen gezwungen sind.
Vor wenigen Jahren noch war Psychologie synonym mit Experi-
mentalpsychologie. Die außerordentliche Wirksamkeit Wundts
und der von ihm eingeführten Methoden beherrschte das Feld. Im
Laufe der Jahre aber schien es allmählich, als ob die Ernte an neuen,
wahrhaft psychologischen Tatsachen nicht mehr recht dem Aufwand
an Mitteln und Apparaten zu entsprechen vermochte. So lagen die
Dinge vor allem hinsichtlich der psychischen Tatbestände höherer
Ordnung, welche der Bearbeitung nach experimenteller Methodik
zu trotzen schienen. Und zugleich mit dem Zweifel daran, diese
Phänomene experimenteller Forschung zu unterziehen, mußte not-
wendig der weitere Zweifel sich regen, ob es gelingen könne, sie nach
den von Wundt übernommenen und weitergebildeten Lehren der
Assoziation und Apperzeption erschöpfend zu erklären. Im Jahre 1895
1) 1913!
Die Problematik in den Fundamenten der gcgr'nwärtigen Ptychologie. 103
fonnulicrle ziiiu ersten .Nfule Lipps in klarer Weise dicson Zweifel
gegenüber Wundt im Hinblick auf gewisse Gruppen ästhetischer
Gefühle. Und dieser Denker, der als Anhänger der experimentellen
Richtung begoiuien hatte, hat sich in der Folge melir und mehr nicht
nur von der exj)eriincntellen Methodik, sondern auih von den inlialt-
lichen (Jrundlagen der Wundt sehen Lehre abgewandt. Zwar Ixj-
hielt er eine Reihe von Annahmen aus der Assoziationstheorie bei,
jedoch bemühte er sich, sie zu einem Zusammenstimmen mit der
älteren idealistischen Psychologie der Seelen vermögen zu bringen.
Aber er übernaiim diese letzteren nicht etwa in ihrer primitiven
früiieren Formulierung; an ihrer Stelle bildete er die Konzeption der
psychischen Kraft als des Mittels seelischer Bildungen durch. Es
lassen sicli von hier aus gewisse Analogien zu der Her bar tschon
und von Dro bisch übernommenen Lehre vom Ablauf und der gegen-
seitigen, dem exakten Kalkül unterworfenen Hemmung der Vor-
stellungen vor dem Bewußtsein ziehen i).
In ähnlicher Weise standen auch die methodologischen
Neuerungen Lipps', die wir noch für bedeutsamer halten als die
theoretischen, in bestimmtem Gegensatz zu dem Erbe Wundts.
Zunächst vom ästhetischen Eindruck ausgehend, analysierte er so-
dann generell \ind nach allen Riclitungen die Erkenntnis durch
Einfühlung, deren Begriff schon zur Zeit der Romantiker gebildet
und von R. Vischer und Lotze einer gewissen Durcharbeitung
unterzogen worden war. Er wird in den folgenden Blättern noch
in besonderer Weise nachgeprüft werden. Lipps als erster benützte
ihn in methodischer Weise zur Durchforschung komplexerer seeli-
sclier Tatbestände und Zusammenhänge. Naturgemäß mußte eine
Untersuchung des Problems der Gegebenheit von Psychischem
und des Wesens seelischen Zusammenhängens vorangehen. Lipps
blieb sie nicht schuldig, und auch diese Lösung wird uns noch zu be-
schäftigen haben. Daß sie nicht restlos befriedigte, geht daraus
hervor, daß seine Schule, der wir vortreffliche Analysen der ein-
fühlenden Vollzüge und des ästhetischen Eindrucks verdanken
(Worringer, Prandtl), gegenwärtig in ihren hervorragendsten
Vertretern, Pfänder, Geiger und Scheler, zum Lager der Phäno-
menologen") abgeschwenkt ist. Dort werden wir ihnen wieder
begegnen.
Lipps' Beispiel der Trennung von der Lehre Wundts hatte
anfänglicli keine nierkliehen Folgewirkungen. Noch trug die Be-
arl)eitung der Probleme der Sinnespsychologie und Raumpsychologie
reiche Früchte. Und Meinungsverschiedenheiten, wie die zwischen
*) Auch Benoke und Fortlagc haben unter den älteren Psychologen bereits
einen dem Lippsschen sehr nfthostohcnd«'n Begriff von psychischer Kraft.
2) Inwiefern Lipps .selber ein Mitschöjifer der Phänonienologie als psycho-
logischer Sonderdisziphn ist, allerdings in einem g.inz anderen Begriffe als di«
moderne Phiinoinenologie, davon wird in spateren l'ntcrsuehungen noch die Rtxle
sein (vgl. 8. :U8ff.).
104 Ein Rundblick über Gegenwar tsstrümuugen usw.
Wundt und Stumpf hinsichtlich mancher Fragen der Tonpsycho-
logie, hatten nicht prinzipiellen Charakter, welcher die Art psycho-
logischer Theorie und Erkenntnis im allgemeinen betroffen hätte.
Als Dilthey 1894 neben die erklärende Psychologie nach natur-
wissenschaftlicher Methode eine beschreibende und zei^gliedernde
Individualpsychologie gestellt wissen wollte, welche an den Me-
thoden der Geisteswissenschaften sich orientieren müsse, fand er
im Lager der Psychologen keinerlei Beachtung. Die Forschungs-
methoden Wundts wurden immer weiter verfeinert; Wirths experi-
mentelle Analyse der Bev/ußtseinserscheinungen, Schumanns Ar-
beiten, Untersuchungen von Ebbinghaus und G. E. Müller sind
an Präzision in methodischer Hinsicht nicht zu überbieten. Zweifellos
schuldet man diesen Gelehrten auch beträchtliche materiale Ergeb-
nisse des Forschens; so wird die grundlegende Arbeit von Müller
und Pilzecker über das Gedächtnis oder das Werk von Erdmann
und Dodge über das Lesen von bleibender Bedeutsamkeit sein und
für den Wert experimenteller Forschungsweisen in der Psychologie
zeugen. Und hierher gehören noch eine größere Zahl ausgezeichneter
Einzeluntersuchüngen verschiedener jüngerer Forscher. Aber in
bezug auf all das, was die prinzipielle Stellungnahme zum Wesen
und der Methode der psychologischen Forschung, ihren theoretischen
Grundlagen und ihren Zielen ausmacht, blieben diese Forscher in
organischem Anschluß an die Wirkensspur Wundts, ohne sie je
zu überschreiten und sich in Gegensatz zu ihm zu stellen. Gab es
zeitweise einen derartigen Gegensatz bei führenden Forschern, so
bestand dieser niemals im Sinne der gegenwärtig herrschenden Ten-
denzen, sondern höchstens, wie bei Mach oder Ziehen, in einem
noch radikaleren erkenntnistheoretischen Empirismus; und dieser
prinzipielle Standpunkt veränderte die Forschungsweise hinsichtlich
ihrer methodischen Beschaffenheit in keiner Weise. Im Gegenteil,
er begünstigte den Versuch, die experimentellen Methoden der Psycho-
logie dazu zu benutzen, um diese Wissenschaft der Physiologie
gleichsam als ein Anhängsel oder Zwischengebiet mindestens metho-
disch weitmöglichst anzugleichen.
Die Spaltung, v/elche in der Psychologie heute den Meinungs-
kampf beherrscht, entstand vielmehr in ihrer grundlegenden Be-
deutung mitten in dem Schülerkreise Wundts selber. Sie knüpft
sich an die Arbeiten von Külpe, der mit seinen Schülern der ex-
perimentellen Analyse der Urteilsvollzüge und des Denkens
neue Wege wies. Die grundlegenden Arbeiten Külpes, Messers,
Bühlers, Marbes und anderer können hier ebensowenig geschildert
werden wie die glänzende Methodik Achs. Wir müssen uns damit
bescheiden, hier die Aufmerksamkeit auf zwei grundsätzlich bedeut-
same Neuerungen zu lenken, welche diese Arbeiten mit sich brachten.
Die erste dieser Neuerungen ist methodologischer Art. Alle
diese Forscher nämlich gehen zwar von experimentellen Versuchen
aus: aber die Versuchsperson hat bei ihnen nicht mehr lediglich die
Dio Problematik in den Fundamonton der gegenwärtigen PBychoIogie, 105
duicli dio Versuchsanordnung gegebene Aufgabe zu erfüllen; «ie muß
vielmehr vor allem zugleich systematische {Selbstbeobachtung
üben, dio sich a\if alle inneren Phänomene und Veränderungen er-
streckt, die die Aufgalx) bis zu ihrem vollendeten Vollzuge mit sich
bringt. Diese systematischen Selbstbeobachtungen überwiegen an
Wichtigkeit die Leistung selber im Versuch; ihre Auswertung er-
möglichte erst die Resultate der genannten Arbeiten. Man kaini sich
leicht Rechenschaft davon geben, wie sehr mit dieser Neuerung die
Stellung des Experiments sich geändert hat. Früher diente
es zum Mittel, die innere Selbstbeobachtung möglichst auszu-
schalten, als eine (Quelle von Irrtümern und Subjektivitäten. Zu
diesem Zweck war das Experiment ja eingeführt worden, als objek-
tives, willkürlicii reproduzierbares und extensiv meßbares Geschehen.
Hier aber wird das Experiment gänzlich dieser Bedeutung beraubt;
es dient nicht mehr zur Ausschaltung und Vcrtretiing der inneren
Wahrnehmung, sondern ganz im Gegenteil zu ihrer Auslösung
und Anregung. Es wird zur bloßen Gelegenheit, introspektive
Analyse zu ermöglichen unter möglichst gleichförmig variier-
baren und begrenzbaren Bedingungen. Damif war zum ersten Male
zugegeben, daß die frühere Stellung des Experimentes in der psycho-
logischen Methode auf einem grundsätzlichen Irrtum beruhte. Es
ist ein Trugschluß, daß die matcriale psychologische Lage beim Ex-
perimentieren es ermöglichen könne, um die innere Selbstbeobachtung
jemals völlig herumzukommen. In gewissem Grade wird sie immer
unvermeidbar sein. Gewiß ist es leicht, während des einzelnen Ver-
suchs, besonders wenn er so angeordnet ist, die Aufmerksamkeit von
jeder Ablenkung introspektiver Art frei zu halten. Nach Conxtes
berühmten Ausführungen ist sogar ein psychologisches Selbstbeob-
achten während irgendeines seelischen Leistens eine unmögliche
Absurdität. Aber schon Mill und später Lipps haben darauf hin-
gewiesen, daß die Selbstbeobachtung in unmittelbarem Anschluß an
den gerade beobachteten Bewußtseinsvorgang recht wohl möglich
sei. Sei dem wie ihm wolle: ganz sicher ist vorher, um ül)erhaupt
die experimentelle Aufgabe jeweils stellen und ft)rmulieren zu
können, Selbstbeobachtung unumgänglich notwendig. Man muß
doch wissen, welche Bewußtseinsvorgänge oder welche Kompo-
nenten derselben man experimentell untersuchen will; und dazu
bedarf es einer Kenntnis dieser Bewußtseinsvorgänge durch Selbst-
beobachtung, mag diese aiich noch vorläufig, inigeklärt und »sub-
jektiv« sein.
Im Hinblick auf diese Erwägungen schloß also der Umbau des
experimentellen Verfahrens bei Külpe mul den genannten Forschern
keine Inkonseciuenz in sich. In der Praxis ergab sich \uiter anderem,
dank der Aibeiten von Watt und Westphal, welch erheblichen
EinfluL) die Determination der Aufgabe auf die seelischen Funktionen
inid ihre aktive Anteilnahme an der Leistung ausübt. Vor allem
aber begünstigte dies neue methodische Prinzip die Ausbildung jener
106 Ein Rundblick über Gegenwartsströmungen usw.
Forschungsrichtung, welche sich nicht mehr damit begnügt, psychi-
sche Vorgänge wie ein objektives Geschehen, einen abge-
schlossenen Vollzug aufzufassen und zu erklären, sondern
welche sie ihren Seinsweisen nach, als ein lebendiges Sich-
vollziehen und Werden, als ein Erlebtwerden erfaßt und
zergliedert.
So hat die experimentelle Forschung in der Psychologie zwar
ihre unum.schränkte Herrschaft eingebüßt und ist ein Mittel neben
anderen geworden, um zur Erkenntnis zu gelangen; als ein solches
Mittel aber ist sie nicht des Wertes gänzlich beraubt. Liegt in Rich-
tung dieses methodologischen Gedankenganges die eine Neue-
rung, von der wir sprachen, so ist die zweite durch die Denkpsycho-
logie gebrachte Neuerung theoretischer Natur. Um die objek-
tiven psychischen Abläufe darzustellen und theoretisch zu erklären,
hatte die Assoziationstheorie in Verbindung mit hirnphysiologischen
Hypothesen ausgereicht. Zwar hatte W und t in seiner Apperzeptions-
lehre noch jenseits ihrer Grenzen eine theoretische Basis für die Phä-
nomene seelischer Aktivität aufgestellt, welche ihm assoziativ nicht
auflösbar erschienen. Er hatte hierbei an Begriffsbildungen der
älteren spekulativen Psychologie angeknüpft, diese aber wesentlich
vereinfacht und schematisiert. Jedoch eine Anzahl hervorragender
Forscher, besonders Ziehen, hatte sich dem »Rückfall ins Meta-
physische«, der ihnen hierin zu liegen schien, scharf widersetzt.
Und es ist tatsächlich nicht aufrecht zu halten, daß die Apperzeptions-
lehre Wundts theoretisch genügend fundiert sei, und daß sie allein
ausreiche, um die psychischen Phänomene besser als eine beliebige
Assoziationstheorie zu erklären. Beides sind gedankliche Verein-
fachungen, welche auf willkürlichen Abstraktionen beruhen und
das Wesen psychischer Abläufe, wie jede Vereinfachung, auf schema-
tische und dogmatische Art zur Darstellung bringen. Mit den neubn
Methoden und Fragestellungen der Psychologie des Denkens griff
plötzlich, vor allem dank der Erziehung zur inneren Selbstbeobach-
tung, ein Wissen um die reiche Mannigfaltigkeit seelischer
Zustände um sich. Die alten Formeln erschienen diesem neuen
Wissen gegenüber ärmlich und ungenügend. Es fand sich, daß neue
Formeln für neuentdeckte seelische Tatbestände umschriebener Art
notwendig wurden, welche dem einfachen Spiel der Assoziation und
Konstellation nicht überlassen werden konnten. So erklärt sich die
Einführung und Konzeption des Aktbegriffs, des Begriffs der
»Bewußtseinslage«, der weder sensuell noch reflexiv erfüllten
»Bewußtheiten«, der »determinierenden Tendenzen« und
anderer, ähnlicher Begriffe. Diese zerstörten zunächst die bisherige
Systematik in ihrem Schematismus. All diese Konzeptionen be-
zeichnen auf mehr oder weniger exakte Weise Bewußtseinszustände,
welche als Wirkung assoziativer Bildungen nicht auflöslich waren,
welche funktionaler Art sind, oder sie bezeichnen den Bildungs-
prozeß dieser Seelenzustände selber oder Sonderteile an ihm. Dem
Die ProbKinatik in den rundamonteii der gegtiiw Artigen Puj'chologie. 107
sei hier nicht gefolgt ; es wird notwendig sein im folgenden noch auf
sie ziirückzukoimm'i» ^).
Um die waclisendo Wichtigkeit dieser Forschungsrichtung ab-
schätzen zu können, müssen wir auf das Bestellen einer psycho-
logischen Schule zurückgreifen, welche anfänglich neben der VVundt-
Bchon ein wenig im Schatten geblieben war, dann aber mehr und
mehr eine wichtige Rolle zu spielen Ijegann und beispielsweise einen
Schüler Wundts, Messer, gänzlich in ihr Lager zog. Es ist dies
die Schule Franz Brentanos. In seiner Psychologie, die unter
dem Einfluß der Gedanken Aristotelischer und Tho mistischer
Prägung stand, aber echte empirische Forschung war, war stets das
zentrale Problem gewesen: Wie bildet sich das Bewußtsein seine
Gegenstände mit Hilfe psychischer Vollzüge? Der in dieser Frage-
stellung liegende Begriff des objektivierenden Aktes realisiert
sich psychologisch in drei generisch verschiedenen Vollzugsweisen,
welchen alles psychische Geschehen eingeordnet werden kann: dem
Vorstellen, dem Urteilen und dem »Lieben und Hassen«. Er umfaßt
also vor allem immer auch das Urteil mit. Hierin bot sich ein naher
Berührungspunkt zu den neuen Errungenschaften der experimen-
tellen Denkpsychologie. Das Urteil ist in der Tat nicht eine rein
assoziative Verknüpfung von Vorstellungen, sondern ein Akt, durch
dessen Vollzug ein Sachverhalt vor dem Bewußtsein gesetzt und als
gültig anerkannt oder verworfen wird, und zwar so, daß diese Gültig-
keit nach Meinung dieser Schule entweder evident ist oder auf Evi-
denzen zurückgeführt zu werden vermag 2). Es handelte sich nun
darum, alles seelische Geschehen auf seine es fundierenden Funktions-
klassen analytisch zurückzuführen; und diese spezifischen Klassen
*) Die außcrordcnthch schwerwiegende Kritik, welche G. E. Müller an den
experimentellen Arbeiten dieser »Würzburger Schule« geübt hat, wird hier nicht
in ihrer vollen Bedeutung gewürdigt, weil sie unseres Erachtens gerade diejenigen
Momente, die wir hier als prinzipiellen Gewinn dieser Forschungsrichtung
betrachtet haben, nicht berührt. Müller übt experimcntale Kritik; und er be-
hauptet ( — oder weist vielleicht auch nach): erstens, daß die psychologischen
Deutungen durch determinierende Tendenzen und Bewußt seinslagen dem eigent-
lichen experimentalen Ergebnis nicht gemäß seien — und zweitens: daß die asso-
ziative Deutung für dieses ausreiche. Nun mag man beides für die in Frage stehen-
den Experimente zugestehen: so folgte daraus doch weder: daß die nicht -asuozia-
tivo Deutung prinzii)ieli unmöglich, noch, daß sie für eindeutigere Versuchs-
anordnungen nicht einwandfrei durchführbar sei; noch endlich folgte aus dem
Wesen der Fragestellungen selber die grundsätzliche Notwendigkeit der asso-
ziativen Deutung. Mehr also erreicht Müllers Kritik selbst im besten Falle nicht.
Sie zeigt höch.stens, daß die vorliegenden Ergebnisse dieser Forschungsrichtung
auch — und vielleicht sogar besser — assoziationstheoretisch deutbar sind.
Nicht aber ist davon der grundlegende neue Gesichtspunkt dieser ganzen For-
schungseinstelhmg .selber berührt, selbst wenn man an seiner zulänglichen ReaU-
Bierung nach dem bisherigen Verfahren zweifelt: die Einstellung auf den Akt-
charakter, und die Wandlung in der Holle des Experiments. Die»<'>8
prinzipiell Neue bleibt unangetastet bestehen: wo nicht als Gewinn, so doch ala
Hoffnung und .Maxime der Forschung.
*) l ber die Psychologie des L'rteila und der Urteilscvidenz handelt kritisch
u. a. meine .\rbeit .Vrchiv f. d. ges. PaychoL, Bd. 29, Lit.-Ber. S. i — 20-
108 Ein Rundblick über Gegenwartsströmungen usw.
standen wieder im Rahmen der generisclien Hauptklassen und konnten
in ihrer Einheitlichkeit jeweils abgeleitet werden an der Hand des
Gesichtspunktes, es müsse so viele Klassen seelischer Funktionen
geben, als es Weisen gibt, in denen sich Objekte vor dem Bewußt-
sein konstituieren. Unter Brentanos bedeutendsten Schülern seien
hier genannt: Meinong, der die grundlegenden Gedanken Bren-
tanos in seinen Untersuchungen zur Gegenstandstheorie in bestimm-
ter Weise umformte, in seinem Werke über Annahmen eine neue
Grundklasse derartiger objektivierender Akte zur Darstellung brachte
und auch methodologisch die Lehre vielfach bereicherte ; fernerMarty ,
der in seiner Sprachphilosophie als strengster Anhänger Brentanos
mit Meinong in vielfachen Gegensatz geriet; Witasek, der die
Psychologie durch scharfsinnige materiale Einzelforschung förderte;
Höfler u. a. Jedoch wäre diese Schule kaum zu so allgemeiner Gel-
tung gelangt, wenn ihr nicht der Weg durch zwei hervorragende
Forscher gebahnt worden v/äre: durch Stumpf in seiner Abhand-
lung über psychische Erscheinungen und Funktionen, und durch
Husserl in seinem großen Werke: Logische Untersuchungen. Hier-
mit fand die durch die Denkpsychologie eingeführte funktionale
Betrachtung psychischer Vollzüge ihr logisches luid theoretisches
Fundament.
Stumpf in seiner Arbeit stellt allerdings nur die Wesensver-
schiedenheit der Phänomene und Funktionen im Psychischen fest
als etwas prinzipiell Hinzunehmendes; er präzisiert diese Differenz
begrifflich, ohne sie zu erklären. Husserl, dessen Werk in den
folgenden Blättern noch eine besondere Rolle zu spielen berufen
ist, gibt mit einer unvergleichlichen Eindringlichkeit und Begriffs-
schärfe eine Psychologie der objektivierenden und aktbildenden
Vollzüge, der ihnen zugrunde liegenden Funktionen und insbesondere
des Urteils. Er macht sich vom Schematismus Brentanos in er-
heblichem Umfang frei, indem er der Mannigfaltigkeit funktionaler
Bewußt Seinsbeziehungen auf potentielle Gegenstände in weit ad-
äquaterer Weise gerecht wird. Er zeigt, wie einem jeden dieser Akte,
durch deren Vollzug sich auf irgendeine Weise ein Gegenstand für
das Bewußtsein konstituiert, eine Intention dieses Bewußtseins zu-
grunde liegt, welche sich in dem gegenstandsbildenden Akte realisiert.
Die Möglichkeit weiterer sachlicher Deskriptionen ergibt sich ihm
aus einer Zergliederung des »intentionalen Wesens « dieser Funk-
tionen i). Wir werden das später noch zu verfolgen haben. Seine
gesamte Arbeit ist tatsächlich der Versuch einer Psychologie der
Logik, und zwar der erste, welcher seit zwei Generationen unter-
nommen wurde. Hier ist es unmöglich, auch nur ihre wesentlichsten
Züge zu berühren.
Dies Werk Husserls war von mächtigem Einfluß. Von ihm an
1) Vgl. S. 337 ff., wo diese vorläufige Darstellung noch gewisse Korrekturen
erfährt.
Die Problematik in den Fundamenten der gegen wart igen Psyc bologie. 109
(laliert der Ausl)aii der Funktioiispsychologie in Deutseliland.
Es übertraf alle früheren Werke an »Scharfsinn und Gründlichkeit;
aber es entfernte die Funkt ionspsychologie mehr als je zuvor von
den experimentellen Methoden zugunsten analytischer Spekulation.
Zugleich aber geriet mit diesem an Anregungen so reichem Werk die
neue psychologische Lehre in eine andere grundsätzliche Gefahr.
Diese lag in einem Irrtum Husscrls, welchen wir an früherer »Stelle')
bereits gestreift halben, hinsichtlich der .Methode seiner Untersuchun-
gen. Er betrachtet diese Methode nicht als einen Bestandteil der
Psychologie, sondern er konstruiert aus ihr eine grundsätzlich anders-
artige und neue Forschung: der Phänomenologie. Und obwohl
Külpe, Cornelius, Ziehen, Messer und Nelson, letzterer mit
besonders triftigen Argumenten, den psychologischen Charakter
seiner Untersucliungen betont und seine eigenen Ausführungen ül>er
das Wesen dieser Phänomenologie angefochten haben, hat er seinen
Gesichtspunkt festgehalten und in einer neuen großen Arbeit noch
strenger systematisiert: den Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Pliilosophie. Die Phänomenologie ist
nach ihm nicht empirische Beschreibung, insofern sie auch vom Sein
ihrer Objekte absieiit, sie ist reine Wesensschau, ein unmittelbares,
apriorisches Erfassen des reinen Wesens in einer Art von intellek-
tueller Intuition. Ihre Abstraktionen sind sodann etwas Sekundäres,
für die Darstellung Erzwungenes, welches vom Boden dieses »eide-
tischen Wissens« aus formuliert wird. Es handelt sich also niciit um
eine Art von innerer Wahrnehmung, sondern um eine vom empi-
rischen Boden gänzlich sich loslösende Erkenntnisweise, welche sich
auf der Basis einer kategorialen Anschauung systematisiert, genau
ebenso, wie sich die alte Metapliysik auf der Basis der Kategorien
des reinen Denkens erhob, nur daß diese nicht anschaulich gegeben
waren.
Husserl wollte offenbar mit dieser Annahme sich der Gefahr
des Psychologismus entziehen; einer Gefahr, in der seine Lehre tat-
sächlich schwebte, weil sie die gesamte objektive Erkenntnis und
die Gründe ihrer Geltung aus empirisch-psychologischen Bedingungen
ableitet. Deswegen leugnet er die empirische und psychologische
Natur der letzteren. Dieser methodologisch-theoretische Irrweg ist
aber nicht untreimbar und organisch mit der Natur deiner großen
Entdeckungen selber verwachsen 2). Jedoch sieht man sogleich,
welche Bande diese methodologischen Annahmen mit den plato-
nischen Abstraktionen und allen intuitiven Piülosophien verl)inden.
Und weiter sieht man, wie gefahrvoll diese Verbindung für den Ciia-
rakler der Psychologie als Naturwissenschaft ist, weloho
durch sie das Wagnis läuft, von neuem durch die geisteswissenschaft-
liche Spekulation beschlagnahmt zu werden. Und tatsächlich scheinen
1) Vgl. S. 29.
«) Genaueros hierzu vgl. S. 360 ff.
110 Ein Rundblick über Gegenwartsströmungen usw.
die so sorgsamen Abgrenzungen Husserl heute bei einigen seiner
Schüler zu einer völlig entgegengesetzten Forschungsweise umge-
schlagen: eine intuitive Individualpsychologie, welche sich fast aller
empirischen Kontrolle begeben hat, scheint sich ausgestalten zu
wollen. Wenn diese Tendenzen von einzelnen Schülern Husserls
bis jetzt noch zu verwertbaren und teilweise interessanten Ergeb-
nissen geführt haben, so sind diese Ergebnisse nicht etwa der an-
geblichen Methode einer von allem Empirischen losgelösten Intuition,
sondern im Gegenteil der wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit der
Forscher, die sich in der Lippsschen Schule gebildet hat, zuzuschrei-
ben. Dies gilt von den Arbeiten Oesterreichs über die Phäno-
menologie des Ich, von denen Geigers über das Bewußtsein von
Gefühlen und die Phänomenologie des ästhetischen Genusses, und
ebenso von den Arbeiten Schelers über Ressentiment und mora-
lisches Werturteil Und über Sympathiegefühle und Liebe. Freilich
streift die Apodiktizität manches Schelerschen Urteils die Grenze
des wissenschaftlich Diskutierbaren, und der wertvollste Teil findet
sich in einem Anhang seiner letztgenannten Arbeit über den Grund
unserer Kenntnis von fremden Ichen. Auch diese Untersuchung
ist übrigens nur in ihrem negativen und kritischen Teile fehlerfrei.
Dasjenige, was diese psychologische Strömung charakterisiert und
was bei einem Meister des Experimentes wie Wundt auf völliges
Unverständnis stoßen muß, ist ihre Tendenz zur Individualpsycho-
logie. Andererseits verschließt sich heute wohl auch ein Anhänger
der experimentellen Methodik kaum mehr vor der durch die letzt-
genannte Forschungsrichtung lebendig gewordenen Erkenntnis, daß
hier erst die wahrhaft wichtigen Aufgaben psychologischer Wissen-
schaft anfangen, und daß alles Bisherige mit seinen experimentellen
Trivialitäten nur unumgängliche Vorarbeit war. So haben auch
die Versuche experimenteller Art, eine Psychologie der individuellen
Differenzen zu ermöglichen, in letzter Zeit sich stark bereichert.
Aber so wertvoll auch Arbeiten wie die differentielle Psychologie
von Stern, wie die mannigfachen Eignungs- und Begabungsprüfungen
genereller oder auf einzelne Berufe zugeschnittener Art, wie die Ar-
beiten von Krüger und Spearman, Betz u. a. über psychische
Korrelationen oder die Aufstellung psychologischer Profile in der
So m mer sehen Schule sein mögen, so liegt es andererseits in der Natur
der Sache, daß sie die individuellen Differenzen immer nur an ein-
zelnen Leistungen zu erfassen und zu bezeichnen vermögen, und
daß dies unwesentlich ist angesichts des Problems der Individualität
selber. Keine dieser Arbeiten vermag das eigentliche Wesen des
Individuums und seines Erlebens in seiner jeweiligen spezifischen
Bestimmtheit zu erfassen. Hierfür sind experimentelle Methoden
als Leistungsmessungen ihrer eigensten Art nach unbrauchbar. Und
es kostet nur einen Schritt, von dieser Erkenntnis aus die grundsätz-
liche Unzulänglichkeit aller naturwissenschaftlichen Methoden hin-
sichtlich einer Begründung der Individualpsychologie zu behaupten.
Die rroblciuatik in deu Fundamentou der gtgc-nw Artigen l'Hychologie. Hl
Die phünomenologi.scho Lehre Huasorls dient hier wider Willen
zur Stütze einer bedenklichen Sache. Der InipulM zur Individuali-
sierung psychologischer Materien wird auch durch die neuen Ten-
denzen begünstigt, welche wir in der dynamischen Psychopathologie
an die Namen Freuds und Adlers geknüpft fanden. Diese breiten
sich auch über das normale Seelenleben aus. Nimmt man hierzu
eine Theorie wie die Husserls, propagiert durch einen der scharf-
sinnigsten Denker, welche laut die unfehlbare Sicherheit reiner In-
tuitionen verkündet : darf man sich da wundern, wenn gegenwärtige
Strömungen der Geisteswissenschaften freudig diese Abkehr von
den Methoden der naturwissenschaftlichen Psychologie l>egrüßen,
um die letztere als gleichsam technische Disziplin, als Psycho -
teehnik im Sinne Münsterbergs, in ihren praktisciien Anwen-
dungen der Pliysiologie anzugliedern, selber aber auf die Prinzipien
und Grundlegungen psychologischen Forschens den früheren philo-
sophischen Einfluß zurückzugewinnen?
Die Geisteswissenschaften sind in der Tat an der Arbeit, sich
dieser Tendenzen in der Individualpsychologie zu ihren Gunsten zu
bemächtigen. Ebenso wie sie früher mit dem Sciireckgespenst des
Psychologismus die Psychologen daran zu hindern suchten, empi-
rische Deduktionen an Stelle der apsychologischen fiktiven Kon-
struktionen zu setzen, welche damals im Gebiet der Geschichte und
der Werttheorien herrschten (Meinong hat in einer interessanten
Arbeit für die Psychologie und gegen den Psychologismus in der
Theorie der Werte erst kürzlich darauf hingewiesen), ebenso schieben
sie heute Husserl, den geistvollen, aber unzuverlässigen Simmel
und den so außerordentlich überschätzten Bergson vor, um die
speziellen, methodisch exakten und sachlich begrenzten psychologi-
schen Einzelarbeiten zugunsten ihrer allgemeinen erfassenden In-
tuition zu diskreditieren. Schelling ist der Philosopli des Tages.
Selbst bewährte Psychologen sind durch diese philosophische Wand-
lung so desorientiert worden, daß beispielsweise Münsterberg in
einer neueren Arbeit über die Werttheorie, aus Furcht für einen
Psychologisten gehalten zu werden, in das Lager der Ricker t und
Windelband abgeschwenkt ist und als seine frülieren Assoziations-
studien gleichsam stillschweigend übergelit. Kickerts glänzend
geschriebene Werke über den Gegenstand der Erkenntnis und über
die Grenzen naturwissenschaftlicher Begriffsbildung haben eine
geisteswis.senschaft liehe, den historischen Forschungsweisen ange-
paßte Methodik mit dem Schein einer Berechtigung grundsätzlicher
Art zu umgeben gewußt, welcher sie gerade auch für das Erfassen
der Individualität weit über alle Naturwissenschaft stellt. Wir
werden, da es sich hier um eigenstes Gut der Psychologie handelt,
darauf noch näher einzugehen haben. Hier sei nur gesagt, daß
Rickerts Aufstellungen im psychologischen Lager selber bereits
hervorragende Anhänger Ix'sitzen: Jonas Cohn, der Ästhetiker
und Pädagoge, und Max Wober seien hier genannt, welch letzterer
112 Ein Rundblick über Gegenwartsströmungen usw.
bereits seine vermeintliche »idealtypische Begriffsbildung«, von der
noch zu sprechen sein wird, in die Sozialpsychologie hineingetragen
hat. Hier und in der Kriminalpsychologie lassen sich schon jetzt die
Spuren geisteswissenschaftlicher Arbeitsweisen erkennen.
So läßt sich in dem krisenhaften Zustande der gegenwärtigen
Psychologie klar ein inneres Entwicklungsprinzip erfassen, und
dieses stellt uns nun selber wieder vor ein Problem. Wir sahen, als
wir die Aussichten einer Fortbildung der Psychiatrie besprachen, daß
diese fürs nächste, soweit es sich um ihren autologischen Stand handelt,
geknüpft sein müßte an eine methodisch und systematisch vertiefte
Durchbildung der pathopsychologischen Bestände ihrer Sympto-
matik. Die Waffen und Mittel dieser Durchbildung müßten der
Psychologie entnommen werden. Unser Rundblick über die letztere
hat uns nun gezeigt, daß diese Erkenntnis- und Forschungsmittel
dort in fast allzureicher Weise vorhanden sind: experimentelle Me-
thoden, assoziationspsychologische und dynamische Vorarbeiten,
funktionspsychologische Klärung komplexerer Strukturen und selbst
Methoden individualpsychologischer Analyse bietet sie uns in reicher
Fülle dar, und wir müssen sie nur zu gebrauchen lernen. Aber trotz
alledem ist die Psychologie selber in einer Gährung und Ungeklärtheit,
welche eine systematische Vereinheitlichung alles dieses wissen-
schaftlichen Werkzeuges dauernd an fundamentalen Widersprüchen
über die Prinzipien des Forschens überhaupt auf diesem Gebiete
scheitern läßt. Die Anwendung jeder einzelnen methodischen Klasse
bringt es mit sich, das gesamte Arbeitsgebiet gleichsam in einen be-
stimmten philosophischen und einseitigen Gesichtswinkel hineinzu-
stellen, nämlich den, unter welchem diese Methodenklasse selber
begründet wurde. Dadurch entsteht ein Widerspruch und Gegen-
satz zu andersartigen psychologischen Methoden, welcher wider den
Willen des Einzelforschers grundsätzlicher und philosophischer Art
ist. Der inneren Vielgestaltigkeit, welche der Psychiatrie ohnehin
anhaftet, scheint auf diese Weise nicht abgeholfen werden zu können.
Was bleibt uns zu tun übrig? Wir müssen versuchen, die Trag-
weite der einzelnen psychologischen Methoden im Rahmen eines
systematischen Ganzen gegeneinander abzugrenzen. Auf diese
Weise werden wir sie zu gemeinsamer und einheitlicher
Arbeit vereinigen können. Dies wird die notwendige Vor-
arbeit sein, welche der Übertragung des so gewonnenen ein-
heitlichen psychologischen Gesamtsystems auf diePatho-
psychologie vorangehen muß. Wie aber diese Arbeit zu voll-
ziehen ist, unter welchen Sicherungen und unter welcher Gewähr
gegen Einseitigkeit, Dogmatik und unfruchtbare theoretische Spe-
kulation, dies wird in den folgenden Untersuchungen die Grund-
frage sein.
über die wisscnscliaftsthciUM'tisolHMi Gruiidlao^eii
der Psycliolo«;!«'. inshrsoinh'n' die Probleme der
psycbiscben Kausalität.
1. Einführung in die psycliiatriscli-praktische Notwendigkeit
psychologischer Theorie.
Die klinische Praxis der Psyclnutrie ist psychologisch
fundiert.
An der Psychiatrie, wie sie historisch geworden vorliegt, lassen
sich zwei Gebiete psychologischer Arbeit sondern. Das eine Gebiet
ist das der Klinik, das zweite das der symptomatologischen Analyse.
Die Klinik wird ihren psychologischen Charakter nur ungern ein-
gestelien; und doch ist er ihr wesentlich. Hier werden Einzelfälle
in beziig auf ihre wechselnden Zustand-sbilder und die Verlaufsart
ihrer geistigen Störung beobachtet, mit ähnlichen bereits lx>kannten
Fällen zusammengestellt, unter ein typisches Artschema gebracht
und somit den für dieses Schema bekannten prognostischen und
therapeutischen Erwägungen unterstellt. Prognose und Therapie,
also praktische Zwecke, sind es, nach denen die Arbeit der Klinik
orientiert ist; ihre psychologische Leistung, die Stellung der Dia-
gnose, dient nur der Erreichung dieser Zwecke, Die Diagnose der
Psychiatrie ist also nichts anderes als ein Schema des Praktikers;
und die Diagnostik besteht aus zwei Akten, der Auffindung der Sym-
ptome und ihrer Verbindung.
Bereits hier stoßen wir nun auf eine Reihe außerordentlich schwie-
riger Fragen. Die nächstliegende ist diejenige, welche sich aus der
vorwiegend seelischen Natur dieser »Symptome« und der Tatsache,
daß sie eben Symptome sind, d. h. auf eine Krankheit hindeuten,
ers^ibt. Noch vor Griesinger hat der scharfsiiuiige Spiel mann*)
hierfür den Ixjfriedigenden nietiiodologischen Standpunkt gefunden:
»Der Geistoskranke ist ein Kranker, wie jeder andere Kranke. Er
ist hirnkrank, aber nicht die Symptome gestörter Sensibilität oder
Motilität charakterisieren ihn, sondern er fällt durch die Störung
seiner psychischen Leistungen in die Klasse der Kranken. Wir
haben es also, doch nicht allein, mit psychischen Störungen zu tun . . .
Die zeitgemäße und eigentliche Aufgabe einer Diagnostik der peychi-
1) Diagnostik der Gcistoskrankhciton. Wien 1855. Vff.
Kronfcld, rsychlAtritcho KrkcDDtak.
114 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
sehen Störungen wäre die Beantwortung der Frage: welche Hirn-
veränderungen bedingen die Erscheinungen am Geisteskranken? . . .
Aber so schwer sich die stoffliche Diagnose entbehren läßt, das Ver-
ständnis des Irren hinge doch von der sichersten noch lange nicht
ab. Besäßen wir eine solche, wir würden aus der Hirnstörung allein
doch nicht folgern und erklären können, warum der Kranke eben diese
Wahnvorstellungen hatte oder jene blutige Tat verübte, Und warum
der andere nicht mit dem gleichen Hirnbefund? Alle Fragen,
welche die Verfassung der psychischen Vorgänge angehen,
finden ihre Lösung nur in der Erkenntnis der inneren
Gesetzmäßigkeit derselben. . . Nur eine symptomatische
Diagnose als Phänomenologie der Störungen ist möglich.
Wir beobachten am Irren Erscheinungen; sie gehen von psychischen
Vorgängen aus, wir schließen von jenen auf diese, und finden sie
gestört. «
Ist die psychologische Diagnostik heuristisch oder theo-
retisch begründet?
Hiermit wäre bereits betont, daß schon zur praktischen Dia-
gnostik in der Psychiatrie psychologische Arbeit auf der Basis eines
psychologisch-theoretischen festen Besitztums (»Erkenntnis der
inneren Gesetzmäßigkeit «) unumgänglich ist, ja daß diese das Wesen
der Diagnostik ausmacht. Es ließe sich zwar — und das ist seit
Westphal die unausgesprochene Regel — die Meinung vertreten,
als wäre das der Diagnostik unterliegende psychische Material hin-
sichtlich dessen, was Spielmann sein »inneres Gesetz« nannte,
praktisch völlig bedeutungslos. Es käme dann, bei der epiphäno-
menalen Stellung des psychischen Materials, lediglich darauf an,
wie weit sich an ihm Merkmale heraussondern lassen, welche An-
zeichen für diese oder jene Prognose, diesen oder jenen ferneren
Krankheits verlauf sind, Anzeichen rein äußerlicher Art, bei denen
der Grund ihres Zeichenseins nicht einsichtig ist. Die Diagnose be-
stände dann in der Auswahl, Zusammenfassung und Ordnung der-
artiger Zeichen unter ein adäquates vorgegebenes Schema.
Indessen vermag der Grund der Geltung und Berechtigung eines
derartigen diagnostischen Schemas selber und seiner einzelnen Krank-
heitsabgrenzungen seinerseits wieder ein Problem zu bilden, welches
noch in einem anderen und tieferen Sinne besteht, als er durch die
äußerlich-zweckhafte und so wandelbare Heuristik der klinischen
Forschung beantwortet wird. Man kann nämlich fragen, ob die ein-
zelnen seelischen »Symptome « und »Symptomkomplexe « ihrer Seins-
weise, Struktur, Dynamik, kurz ihrem Wesen i) nach aus dem Cha-
rakter der betroffenen Persönlichkeit und deren individueller Sonder-
1) Wesen ist hier wie überall kantisch verstanden: als »das innere Prinzip
alles dessen, was zur Möglichkeit eines Dinges gehört« (Metaphys. Anfangsgr. d.
Naturwiss. 1786, Vorrede).
Einführung in die psychiatr.-praktiHcho Notwendigkeit pHychol. Theorie. 115
aitung als Erlebcn.sfonnen, Entwirkhmgeii ocIlt Ilciiktioii-sweiBcn
sich restlos psycjiologisch herleiten lassen, oder ob sie ihrem psycho-
logischen Wesen nach einen Ausdruck für das Vorliegen eines die
Persönlichkeit zerstörenden, destruktiven Prozesses seelisch -geistigen
Abbaus bilden. Liegt ein solcher Prozeß vor, so vermag auch auf
dessen Außorungsweisen und die Weisen ihres Erlebens der Ixjreits
veränderte Persönlichkeitsrest noch adäquat mit seinem eigenen
seelischen Besitzstande zu reagieren; und so kompliziert sich die
Frage: was an den psychischen Vorgängen in einem Kranken er-
wächst primär aus der Artung der Pereönlichkeit ? Was ist Prozeß-
symptom? Was ist sekundäre Reaktion der veränderten Persön-
lichkeit auf die subjektiven Auswirkungsweisendes Prozesses? Fragen
dieser Art zum ersten Male bewußt gestellt und zur Aufklärung des
inneren Gesetzes in einem Teilgebiet von Prozessen, welches er ald
Paranoia zusammenfaßt, gemacht zu haben ist eines der Verdienste
von Wernickci). Xeuerdings hat Jaspers«) diese Fragestellung
in modifizierter und allgemeinerer Form wieder aufgenommen.
Das Kriterium des Symptomatischen ist nicht zufällig.
Nimmt man nämlich an, daß ein Gesetz bestehe, wonach sich
der prozeßartige, destruierende Abbau der Persönlichkeit — mag
er nun somatisch bedingt sein oder nicht — an der Struktur der durch
ihn gesetzten seelischen Bildungen, und damit auch an der Weise
ihrer Bcwußtwerdung, ihres Erlebnischarakters, mit psychologischer
Notwendigkeit auswirken müsse, — so wird hiernach grundsätzlich
zum rein psychologischen Problem, was aus der individuellen Mannig-
faltigkeit psychotischer Bilder zum Symptom zu machen sei; und
Kriterium dafür wird eben der Charakter der Bedeutsamkeit und des
Hinweises irgendwelcher vorkommender psychischer Bildungen auf
ihre psychologisch notwendige Ableitung aus der prozeßhaften Natur
psychischen Abbaus. Dabei bleibt eine zunächst offene Frage, ob
sich das innere Gesetz, welches wir hier zwischen destruktivem Prozeß
und psychischem Symptom supponieren, erkennen und bestimmen
läßt, oder ob wir nur hinreichende Merkmale für sein Bestehen haben,
ohne es selbst zu kennen. Und ganz genau ebenso liegen die Dinge
1) Grundriß d. Psych. Leipzig 1896. S. 112ff., S. 140. Die — bei ihm assozia-
tionsthooretisch fundierte — Sojunktion in der akuten Ceistesstörung ist das
psychologische Wesen des Ausfalls, des »Zerfalls dtr Individualität«. Von ihr
hängen »nach innerem Gesetz« ab die gest«>rte »sekundäre Identifikation« und
die als »Reizersoheinungen« aufzufassenden Halluzinationen, »autochthonen« und
beziehungswahnhaften Ideen. Der »Erkläningswahn« ist hingegen »nur als die
Reaktion eines normal funktionierenden Cehirnmechanismus auf die einmal
f;egebene inhaltliche Veränderung« aufzufassen (S. 137), wogegen die Krinnerun^s-
älschungen und der »retrospektive Beziehuncfmahn« zwar an sich normale
reaktive Korrektur%-orgänge, aber auf der Basis der bereits krankhaft veränderten
Persönlichkeit (S. 141) sind. Alle Einzelheit<?n hieran sind irrig; da« Prinzip ist
richtig.
«) Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych, 1910. S. 602—615.
116 Über die ■wissenschaftstheoretißchen Grundlagen der Psychologie usw.
für diejenigen Symptome, welche aus dem inneren Gesetz der sie
produzierenden Persönlichkeit notwendig ableitbar sind. Daher
wir umgekehrt aus der wirren Mannigfaltigkeit eines psychotischen
Bildes dasjenige herausheben und zum Symptom machen werden,
was uns ein Hinweis auf die Sonderartung der Persönlichkeit ist,
aus welcher es gesetzmäßig erwuchs.
Es ist nur aus psychologischer Theorie zu entwickeln.
Diese Probleme setzen zu ihrer Lösung die Möglichkeit der Fest-
stellung des Vorliegens derartiger innerer Gesetze voraus. Damit
fordern sie psychologische Theorie. Um deren Notwendigkeit
zu erweisen, wurden diese Fragen gestreift. Der reine Kliniker steht,
wenn er wirklich einmal das Verhältnis von Symptom und Krankheit
im Psychischen so durchdenkt, wie dies vor 60 Jahren Spielmann
tat, vor einer ihm paradox erscheinenden Umkehrung lieb geworde-
ner Gedankengänge: nicht mehr irgendein unbewiesener und dog-
matisch aus oberflächlicher heuristischer Sammelarbeit abgeleiteter
klinischer Begriff von Krankheiten i) bestimmt, was am seelischen
Bilde Symptom zu sein hat, ohne daß diese Bestimmung einsichtig
wäre. Sondern umgekehrt: das psychotische Gesamtbild tritt in
das Zentrum der Beobachtung; und psychologische Arbeit holt
aus ihm heraus, was mit psychologischer Notwendigkeit
zum Hinweis auf das Zerstörtwerden oder das Erhalten-
bleiben der geistigen Persönlichkeit zu dienen vermag.
Und danach teilen sich dann symplomatologische Zusammenfassungen
einsichtiger Art ab. So gelangen wir in denkerisch undurchbrochener
Folge bis zu echten, wenn auch nur symptomatischen, Krankheits-
bildern, welche wir dann ihrerseits an pathogenetischen und anders-
artigen nosologischen Erfahrungen zu verankern die Aufgabe haben,
um so zu realen Krankheitseinheiten zu streben.
Das Problem des Wissens von fremdem Psychischen.
Aber nehmen wir diese hier gestreiften Fragen nach den Kriterien
des Symptomcharakters und den Rechtsgründen symptomatischer
Bedeutsamkeit für die einzelnen Klassen psychopathologischer Struk-
turen hier einmal als gelöst an. Damit sind die Probleme der Dia-
gnostik noch keineswegs aus der Welt geschafft. Gegeben sind uns
doch nur Äußerungen und Handlungen unserer Kranken. Allein
jene Äußerungen und Handlungen sind der Ausdruck eines vom
1) »Paranoia«, »Dementia praecox«; oder mit völlig gleicher Berechtigung
auch frühere: »die Verwirrtheit oder allgemeine Verrücktheit (Dem?nce)«, »die
Tobsucht«, »der Wahnsi in« — Griesinger, »d^'uteropatliisch? Encephalopathie «
— Flemming, »dämonomane Form d-s attonischjn Wahnsinns«, »degenera-
tiver hysterischer B ö Isinn « — Schule, »Diirium acutum« der Franzosen —
und viule andere, gleich »wortvolle« Erfindungen wohl gemerkt unserer hervor-
ragendsten Forscher — was ist von ihaen übrig geblieben?
Einfübrong in dio fsychiatr-praktiBcbe Notwendigkeit psychoL Theorie. 117
unseren abweiclienden Seelenlebens; und es ist eine grundsätzliche
Frage, inwiefern wir ihnen seelisches Gesclielien zugrunde legen dürfen,
das wir nach Anah)gio unseres eigenen strukturieren. Andererseits
haben wir kein .Mittel zum psychologischen Verständnis unserer
Kranken als unsere eigene innere Erfahrung, obwohl wir wissen,
daß ilir Gegenstand, das eigene Ich, grundsätzlich anders geartet
ist als das fremde Ich, dessen kranke Äußerungen es auf ein adäquates
Gescheiicii zurückzufüiiren gilt. Es liegt also schon in der tatsäch-
lichen Feststellung des seelischen Geschehens in jedem einzelnen
Fall — der von unwicderholbarer Individualität ist, eine Schwierig-
keit, deren Überwindung die Lösung zweier Fragen voraussetzt:
Was kann ich von fremden Ichen wissen? und wo liegt der Rechts-
grund dieses Wissens? und ferner inwieweit ist dio Krankheit oder
das was wir so nennen, eine einschränkende Bedingung für dieses
Wisscnkömien ? Welche seelischen Ablaufgesetze sind allgemein
gültig und übertragbar? Welches sind die Kriterien dieser Über-
tragbarkeit ?
Wir halten diese beiden Fragen für lösbar, geben aber ihre syste-
matische Lösung nicht hier, sondern an späterer Stelle'). Auch ihre
Beantwortung ist Sache einer psychologisch -theoretischen
Untersuchung.
Psychologisches Gesetz und symptomatische Analyse.
Das zweite Problem, welches den Weg bis zur Diagnostik ver-
sperrt, liegt in folgendem: haben wir uns der individuellen Vorgänge
in einem Kranken versichert, so muß die Aufklärung ihres Mecha-
nismus, ihrer inneren Gesetzmäßigkeit, oder doch mindestens dessen,
was an ihr bedeutsam und symptomatisch ist, folgen. Hierbei ist
völlig verschieden, was im Erleben für die Individualität des
Kranken wichtig ist, und was im Hinblick auf die oben als
gültig vorausgesetzten Kriterien des Symptomatischen wichtig
ist. Es trennt sich also hier die gleichsam menschliche Seite psycho-
logischer Analyse von der diagnostischen Symptomanalyse. Beides
sind aber ärztliche Aufgaben und beide sind ärztlich notwendig;
beides sind zugleich wissenschaftliche Aufgaben. Beide setzen
ebenfalls psychologische Theorie voraus; die erste Aufgabe
erfordert eine Dynamik psychischer Inhalte und Zusammenhänge,
die zweite eine Typik und Analytik phänomenologischer Strukturen.
Wir sehen also, daß die einfachste Arbeit klinisch-diagnostischer
Praxis und ärztlich miterlebender und beeinflussender Einstellung
bei den Geistesstörungen eine psychologisch theoretische Bestimmung
der psyihischen und pathopsychischen Phänomene erwünscht und
notwendig erscheinen läßt. Und die gesamte Lage der gegenwärtigen
Psychiatrie zeigt deutlich, daß eine solche theoretische Grundlegung
») Vgl. S. 396 ff.
118 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
für sie höchst wertvoll sein könnte. Die Unsicherheit im heutigen
Betriebe unserer Wissenschaft entspricht zum nicht geringen Teil
der Unsicherheit der logischen und theoretischen Grundlagen der
symptomatologischen Psychologie. Mag der einzelne Psychiater
der Kenntnis dieser Grundlagen entraten können: er benützt doch
die auf ihr beruhenden, durch sie erst sichergestellten Begriffe fort-
während, wenn sie ihm gleich nicht deutlich und in ihrem theoretischen
Zusammenhange gegenwärtig zu sein brauchen. Es ist daher ge-
boten, im folgenden diese theoretische Fundamentierung einmal
gedanklich vorzubereiten i ) .
Praktische Grenzen der Tragweite theoretischer Psycho-
logie.
Von einer solchen vorbereitenden Grundlegung der psychologi-
schen Theorie dürfen wir andererseits auch nicht zu viel erwarten.
Vergessen wir nie, daß es sich in unserem Wissensgebiet um eine
Er fahrungs Wissenschaft handelt; jeder Erkenntnisfortschritt wird
hier, soweit er materialer Art ist, immer nur von der Einzelforschung
kommen. Aber es wird nicht gleichgültig für die Bewährung ihrer
Leistungen als wirklicher Fortschritte und Wissensbereicherungen
sein, einen Maßstab dafür zu besitzen, an welchen Grundsätzen das
wissenschaftliche Erfahren, dem die angeblichen Einzelfortschritte
zu verdanken sind, orientiert und mit welchen Methoden und unter
welchen Kaute len es errungen wurde. Von den vorbereitenden
Grundlegungen einer psychologischen Theorie dürfen wir die ab-
strakte Aufstellung der im psychologischen Erfahrungsgebiet gültigen
Grundsätze erwarten, sowie eine prinzipielle und formale Klärung
der Rechtsgründe und Tragweite der einzehien in ihm anwendbaren
Methoden. Wir dürfen ferner allgemeine Kriterien einschränkender
Art von ihr erwarten, welche sich auf die Richtigkeit irgendwelcher
niaterialer H3rpothesen erstrecken und diese sowohl hinsichtlich
ihrer formalen und logischen Zulässigkeit als auch ihrer inhaltlichen
Vereinbarkeit mit dem wissenschaftlichen Ganzen unseres Erfahrungs-
gebietes prüfen.
Die Zersplitterung der psychologischen Theoretik ist kein
Argument gegen deren Notwendigkeit.
Die Grundlegung psychologischer Theorie, welche es aufzustellen
gilt, kann nur entwickelt werden als folgerichtiger Ausbau einer
philosophischen Gesamtanschauung. Die Zersplitterung der gegen-
wärtigen Psychologie, welche wir in der vorigen Abhandlung skizziert
1) Wir setzen uns für die Psychiatrie also die gleiche Aiifgabe, welche sich
etwa Natorp (Allgemeine Psychologie. Tübingen 1912) für die Psychologie ge-
stellt hat; die einer »Revision der Fundamente« »nach kritischer Methode«, einer
»Philosophie der Psychologie« (1. c. S. IV).
Einführung in die psychiatr.-praktiuche Notwendigkeit p«ychol. Theorie. 119
haben, entspringt großentoilä aus dein Widerstreit der auf sie an-
gewandten allgemeinen philosophischen Grundsätze einzelner Schulen.
Der idealistische Transzendent alisnuis bildet andere psychologische
Theorien (Natorp, Rickert) als die Aristotelisch-Thoniistischen
Piiilosophenschulen, die aiich wieder untereinander abweichen
(Husserl, »Stumpf, Brentano); die Spielarten des verschleierten
einpiristischen Realismus (VVundt, Külpe) bilden andere Theorien
als der empiristische Panpsychismus (Mach, Ziehen)*). Und
innerhalb der einzelnen philusopiiischen Grundansciiauungen gibt es
dann noch individuelle Variationen in den Formulierungen und Be-
gründungen der einzelnen Forscher. Das wäre nun belanglos, wenn
es nicht in schwerwiegendster Weise auch auf die Gesichtspunkte
und Methoden des Forschcns überstrahlte. Die methodologischen
Rechtsgründe Husserlscher Behauptungen aus »eidetischer In-
tuition« sind natürlich vqjlig andere als die angeblich apriorischen
Befunde reinen Denkens in der Lehre voni Ich und Bewußtsein eines
Natorp; die Ableitungen etwa des Ziehenschen empiristischen
Positivismus über »^-Bestandteile« und »r-Komplexe« der »v und
t'- Komponenten«, die zur Leugnung von Ich, Wille, Akt, Bewußtsein
und zur Leugnung des Unterschiedes von Materiellem und Psychi-
schem führen und bei aller ihrer positivistischen Vorsicht und Exakt-
heit in ihren Ergebnissen nichts anderes sind als ein verklausulierter
Nominalismus, sind etwas völlig anderes als die Ergebnisse der me-
thodischen Prinzipien Wundts oder Brentanos. Und selbst im Ge-
biete experimenteller Einzelforschung, wo es anscheinend gar keine
Uneinigkeiten geben dürfte, beginnt der Streit der Grundsätze, sobald
es sich um die Voraussetzungen und die Deutung der Befunde handelt.
Eine psychologische Theorie aber muß die richtige sein. In der
wissenschaftlichen Erkenntnis eines Gegenstandsgebietes kann es
nur eine Wahrheit gel)en; eine aber muß es geben.
So scheint es denn, als ob wir die Aufführung einer psj'chologischen
Tlieorie dadurch vorbereiten müßten, daß wir alle übrigen bestehenden
und möglichen Theorien dieser Art zunächst zu widerlegen hätten.
Die materiale Einzelforschung, welche diese Zersplitterung sieht,
kommt zu der Konsequenz, alles »theoretische Gerede« überhaupt
zu verwerfen als unfruchtbare und nie zu Ende führende Streiterei.
Die Notwendigkeit einer psychologisclien Tlieorie ist al>er von der-
artigen vulgären Meinungen völlig unabhängig. Wer sie nicht ein-
sieht, wer sich nicht bemüht, seine Einzelarbeit in den Rahmen
des Ganzen an die ihr zukommende Stelle einzuordnen und sich den
Rieht massen dieses Ganzen zu unterwerfen, der leistet unersprießliche
Arbeit. Die Notwendigkeit der Theorie lehren \ins zwei Worte Kants :
»Wo die Schranken unserer möglichen Erkenntnis sehr enge, der
Anreiz zum Urteilen groß, der Schein, der sich darbietet, sehr be-
>) Für dio Psychiatrie denke man hier übcrdioa noch an die Unzahl krauser
► psychophysiologischer«, »hirndynamischcr«, >iuolckuluriuechanischcr4 Theo-
rien des Psychischen.
120 Über die wissenschaftstheoretisclien Grundlagen der Psychologie usw.
trüglich, und der Nachteil aus dem Irrtum erheblich ist, da hat das
Negative der Unterweisung, welche bloß dazu dient, um
uns vor Irrtümern zu verwahren, noch mehr Wichtigkeit
als manche positive Belehrung «i). Und ferner: »Es ist schon
ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht zu wissen,
was man vernünftigerweise fragen solle . . . denn sonst . . .
hat die Frage bisweilen noch den Nachteil . . . den belachenswerten
Anblick zu geben, daß einer, wie die Alten sagen, den Bock melkt,
der andere ein Sieb unterhält «2). Nur eine kritische Unter-
suchung über die Möglichkeit und Kriterien dessen, was
man »fragen dürfe«, was in einer Wissenschaft gewußt zu werden
vermag und zur Erlangung des Wissens notwendige Voraussetzung
zu sein hat, also die kritische Klärung der Grundsätze und Methoden,
der Geltung und der Forschungsmaximen enthebt die Wissenschaft
der Gefahr dieses »belachenswerten Anblicks «...
Philosophischer Ausgangspunkt der psychologischen
Theorie.
Wir denken nun gar nicht daran, das Geschäft einer Widerlegung
sämtlicher anderen allgemein-philosophischen Anschauungen hier
auch nur zu versuchen. In den Abhandlungen des ersten Teiles
haben wir die verschiedenen prinzipiell möglichen allgemeinphilo-
sophischen Stellungnahmen zum Erkenntnisproblem überhaupt
systematisch durchgeprüft. Wir sind zu dem Schlüsse gekommen,
daß nach unserer Überzeugung das Fundament des kritischen
Idealismus, welches Kant und über ihn hinaus Fries gelegt und
ausgebaut hat, die allein mögliche Basis sein kann, auf welcher jedes
wissenschaftliche und systematische Erkennen zu stehen hat. Und
wir berufen Uns auf das dort Gesagte, wenn wir unsere theoretischen
Erwägungen auf diesem Fundamente aufzurichten Unternehmen.
Ein Versuch dazu ist bereits einmal von Meyerhof gemacht worden^).
Gegen seine ausgezeichnete Arbeit, der wir vieles verdanken, läßt
sich vielleicht nur das Eine einwenden, daß sie sich allzu enge an die
psychologischen Meinungen unserer philosophischen Führer anschließt,
auch da, wo wir dies im folgenden nicht tun, und daß infolgedessen
materiale und auch grundsätzliche Errungenschaften der modernen
Forschung, wie die Phänomenologie und die Funktionspsychologie,
nicht voll zu ihrem Recht, nämlich zu einer Einbeziehung unter die
theoretischen Obersätze Kant -Friesscher Lehre, gelangen.
Wir unsererseits glauben, durch eine Reihe genau begründeter
theoretischer Erwägungen und Feststellungen wirklich zum ersten
Male eine Synthese vollziehen zu können zwischen den Errungen-
schaften der modernen Forschung und den alten Kantischen Grund-
1) Kritik d. r. V. 1781. S. 737.
2) Kritik d. r. V. 1781. S. 82.
^) Beiträge zur psychologischen Theorie der Geistesstörungen. Göttingen 1910.
Allgemeine Crundlegxuig der WiBaenBchaftotheorie dea pHychiflchen usw. 121
lagen. Erslere verlieren dabei ihre tlieoretisehcn Feiiler, letztere
ihren unp.4ychologi.sehen Intellektualiamus und ihre leero logiHche
Schematik. An »Stelle der früiieren Kluft zwi.schen kla.s.si«eher und
moderner pHyehologie wird eine Kinheit angestrebt, in weleher beide
ihre 8tütze und Verankerung finden. Damit glauben wir in der Tat
Neues zu geben, welehes nocii jenseits alles »unfruclitbaren .Scharf-
sinns« für den Fortgang der praktischen Forschung von Gewinn
zu werden vermag. Besonders hoffen wir dies von un.seren neuen
Erörteiungen des Problems der psychischen Kausalität.
2. AllgeiiR'iiie (iiuiHllcgiiiig der Wissenschaftstheorie des Psy-
chiseheii. Beginn der Kategorienlehre für die Psyehologie.
Wisaeuschaftstheorie und Kritik der Erkenntnis von
Psychischem.
Theoretisch nennen wir alle Bestimmungen, welche sich in einem
Erkenntnisgebiet nicht auf die in ihn erkannte gegenständliche
Materie erstrecken, sondern auf die Art und Weise des Er-
kenn ens dieser Materie. Wir unterscheiden hierbei die Untersuchun-
gen über die zum Zweck der Erkenntnis angewandten Metlioden
der Beobachtung und die Untersuchungen der gedanklichen
Bearbeitung des Beobachteten auf ihre Richtigkeit und Trag-
weite. Diese muß in einer nicht bloß durch den Gegenstand, sondern
auch durch die Natur des Denkens selber und ihre Gesetze
gegebenen Grundlage wurzeln, und aus ihr begründet werden. Die
Gesetze, welche aus der Form des Denkens selber notwendig ent-
springen, sind die der Logik; und insofern sich die Denkvollzüge
ihrer Form nach an die Natur der jeweils bearbeiteten Materie an-
zupassen haben, gehört die Untersuchung der angewandten Logik
oder der Methodologie in einem weiteren iSinne, als es der oben
gegebene Begriff von Methodenlehre war. Ihre Voraussetzung ist
aber eine Untersuchung über die allgemeinen Grundlagen
und die Gültigkeit des Erkenn ens in dem betreffenden Gegen-
standsgebiete überhaupt.
Die Psychologie nun ist eine Erfahrungswissenschaft und unter-
liegt, im Hinblick auf die zuletzt genannte Untersuchung ihrer Er-
kenntnisgrundlagen überhaupt, den Bestimmungen, welche für alle
Erfahrungswissenschaft zu gelten haben. Den Gegenstand der Er-
fahrung — und zwar jeder möglichen Erfahrung — nennen wir mit
Kant Natur, und verstehen darunter den Zusammenhang der
Erscheinung ihrem Dasein nach unter notwendigen Gesetzen.
Nun haben wir bereits in der ersten Abhandlung dieses Buches
darauf hingewiesen, daß eine metaphysikfreie Naturwissenschaft un-
möglich ist. Nach unserer Definition der Psychologie ist diese eine
Naturwissenschaft: Sie sucht das Dasein der ihren Gegenstand
122 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
bildenden Erscheinungen unter notwendigen Gesetzen zu begreifen.
Mithin muß zur theoretischen Bestimmung der Grundlage und der
Geltung ihrer Erkenntnisse eine Metaphysik für sie vorausgesetzt
werden.
Wir verstehen unter dieser Metaphysik nicht irgendwelche
mystischen oder transzendentalen Bestimmungen etwa über das
Wesen der Seele als übernatürliches Dasein, als »Absolutes« oder
als »reines Sein« o. dgl. Indem wir eine theoretische Bestimmung
der Psychologie als Wissenschaft versuchen, wollen wir vielmehr
gerade derartigen phantastischen Träumereien, die aller gesunden
Naturforschung Hohn sprechen würden, den wissenschaftlichen
Boden völlig entziehen. Wir gehen von der bereits in der genannten
ersten Abhandlung festgestellten Tatsache aus, daß die Notwendig-
keit und Gültigkeit der allgemeinen Gesetze und Bestimmungen
nicht in der Beobachtung wurzeln kann, denn diese zeigt immer nur
einzelnes und dem Dasein nach Zufälliges. Sie ist aber auch nicht
bloß formal-logischer Art. Sie enthält vielmehr auch materiale
Bestimmungen allgemeiner Art, welche den Charakter der Not-
wendigkeit und allgemeinen Gültigkeit erst an die Materie herantragen.
Diese stammen aus rationalen Grundsätzen, welche den aufgestellten
Gesetzen zugrunde liegen und durch ein regressives Abstraktions-
verfahren faktisch aus ihnen nachgewiesen werden können. Kant
hat dieses Verfahren in seinei transzendentalen Analytik zuerst in
heute noch unwiderlegter Weise für alle mögliche Erfahrungserkennt-
nis durchgeführt. Er nennt diese Grundsätze synthetische Urteile
a priori aus Begriffen, und ihre Darstellung Metaphysik.
Nun ist mit dem Terminus Metaphysik bei den bekanntesten
Nachfolgern Kants, insbesondere bei Fichte, Schelling und
Hegel ein derartiger spekulativer Mißbrauch getrieben worden, daß
der eigentlich kantische Begriff der Metaphysik von diesen »Kan-
tianern « in unerhörter Weise entstellt uns überkommen wird. Hinzu-
kommt, daß auch der vorkantische Rationalismus jenen spekula-
tiven Begriff von Metaphysik hat, welcher ihm an sich methodisch
nicht anzuhaften brauchte. Dies hat auf das Bewußtsein der gegen-
wärtigen Forschung einen solchen Einfluß gehabt, daß der Begriff
Metaphysik bei der exakten Forschung, mit welcher allein wir uns
bei unserem Unternehmen verbunden fühlen, in Mißkredit gekommen
ist. Um unseren Begriff des hier gemeinten Problemgebiets in
dem Sinne, den wir ausschließlich damit verbinden würden, von
allen jenen spekulativen Belastungen zu befreien, werden wir im
folgenden den entwerteten Terminus Metaphysik vermeiden i). Das-
jenige, was wir oben als besonderes Problemgebiet aufgezeigt haben,
werden wir durch den Terminus »Wissenschafts theorie« zusam-
^) Wir machen damit nur eine sprachliche, keinerlei theoretische
Konzession an einen positivistisch verbogenen Zeitgeist, wie wir ausdrücklich
betonen. Wir tun das aus didaktischen Gründen, um nicht durch ein (freilich
zu unrecht) verpöntes Wort der Sache zu schaden.
AUgcmeine Grundlegung der Wissenflchaftatheorio de« PsychiBcbcD usw. 123
nienfasson. Mit diesem meinen wir al«ü in ganz exakter und ein-
deutiger Weise das Gebiet synthetiHcher Urteile a priori aus Begriffen.
Aus der Zergliederung des Begriffes der Natur ergeben sich also
zweierlei Elemente der Nat urerkeiuitnis : empirische und raticjnale.
Diese worden in der Theorie verbunden. Theorie ist Erklärung
von Tatsachen aus allgemeinen Gesetzen. JSio setzt also zweierlei
voraus: die Tatsachen und die allgemeinen Gesetze. Die Verbindung
beider hat in der Theorie stattzufinden. Die Tatsachen, und alles,
was in bezug auf ihre theoretische Bestimmung ihnen immanent ist,
aus ihnen hergeleitet wird, ergeben den CJehalt der Psychologie ala
Wissenschaft. Alles andere gehört der Form der Wissenschaft au.
Diese Form, oder richtiger diese Formen, lassen sich auf jene Grund-
sätze allgemeinster rationaler Art zurückführen, welche aus einer
Wissenschaftstheorie des Psychischen entnommen werden müssen.
])ie l^arstellung dieser Grundsätze für die Erkenntnis des Psychi-
Hchen ist die besondere Aufgabe einer Wissenschaftstheorie des Psy-
chischen, welche nicht eigentlich mehr zur Psychologie als Erfahrungs-
wissenschaft gehört, aber von dieser zu ihrer eigenen Möglichkeit
vorausgesetzt wird. Die Auffindung und Begründung dieser Grund-
sätze in ihrem Grundsatzcharakter ist das Geschäft der Vernunft-
kritik, eines Teilgebietes der Kritik psychologischer P]rkenntnis über-
haupt. Die Erkenntniskritik aber ist eine Erfahrungswissenschaft:
ihr (iegenstand ist das Erkennen, so wie es wirklich ist und in der
Erfalirung vorliegt. In dieser Feststellung sehen wir die wichtigste
methodologische Leistung von Fries. Und wir wiesen im ersten
Teile dieses Buches schon nach, wie die rationale Geltung mancher
Erkenntnisse mit der Tatsache, daß diese Erkenntnisse zu Gegen-
ständen eines Erfahrens zu werden vermögen, nicht in Widerspruch
gerät ^).
Theorie und Phänomenologie. Arten der Theorie.
Wir müssen hier noch etwas genauer werden, um ganz klar zu
maciien, was wir uns für Aufgalx;n setzen, wenn wir von theore-
tischen Bestimmungen in der Psychologie handeln und die
Grundlegung dieser theoretischen Bestimmungen hier in Angriff
nehmen wollen.
Das Material einer Wissenschaft vom Psychischen, »die Tat-
sachen«, von welchen vorher die Rede war, stellt sich uns als ein
Geschehen und Sichoreignen in der Zeit dar. Ob, wie und wodurch
wir dies Geschehen in seiner Vereinzelung und Mannigfaltigkeit so,
wie es sich wirklich ereignet, zu erfassen vermögen — diese
Frage berührt ein Gebiet von Problemen, welches einer besonderen
Behandlung und Durcharbeitung bedarf. Fassen wir den Inbegriff
*) Vpl. hicr/.u und zum folRcndon außer Mi-yorhof 1. c. iusbosondorc Fries,
System d«T M(>taphysik. 1824. S. :W2ff.. Neut- Kritik dor Vernunft. Bd. 2. ferner
Heinrich Scliinid, V<rsurh einer Metaphysik der inneren Natur. )S:M.
124 Über die wissenschaftstheoretisclien Grundlagen der Psychologie usw.
dieses Geschehens in der Weise, wie es für dies Erfassen gegeben ist^
dessen Art und Geltung jenes Problemgebiet in sich schließt, unter
dem landläufigen Begriff der psychischen Phänomene zu-
sammen, so gehört jenes Problemgebiet zur Lehre von den psychi-
schen Phänomenen oder zur psychischen Phänomenologie.
Unter dieser wird also zunächst nur die Untersuchung darüber ver-
standen werden dürfen, wie und wodurch uns psychische Tatsachen
gegeben werden. Diese Untersuchung ist ein Teilgebiet der Unter-
suchung psychologischer Erkenntnis überhaupt. Sie wird zwar vor-
wiegend mit den Mitteln der Selbstbeobachtung in Angriff zu nehmen
sein, läuft aber ihrem eigentlichen Ziele nach auf allgemeine Sta-
tuierungen darüber hinaus, ob und inwieweit unseren Erfassen psy-
chischer Tatsachen als solcher, welches ja ihre eigentliche Frage-
stellung ausmacht, Erkenntnischarakter zuzuschreiben ist. Hierzu
kommt nun noch ein zweites Problem: das Problem der Beschreib-
barkeit dieser psychischen Tatsachen, das Problem unserer Fähig-
keiten und Möglichkeiten, Weisen und Gültigkeiten einer Beschreibung
dieser psychischen Tatsachen, das Problem der Angemessenheit dieser
Beschreibung an die Tatsächlichkeit dieser Tatsachen, sowie der
Kriterien für diese Angemessenheit.
Dieses ganze Problemgebiet handelt also nicht von den psychi-
schen Tatsachen selber, nicht sie sind seine Gegenstände, sondern
es handelt von unserer »Erkenntnis«, von den in uns gegebenen
Möglichkeiten und Weisen, psychische Tatsachen zu haben, zu er-
fahren und zu beschreiben. Wir klären die Termini Erfahren und
Beschreiben an dieser Stelle nicht weiter begrifflich : daß das genannte
Problemgebiet tatsächlich besteht, dies aufzuweisen ist der einzige
Zweck dieser Ausführungen.
Wir sagten vorhin : die Tatsachen werden von der Theorie voraus-
gesetzt. Dies Problemgebiet, welches wir eben umschrieben haben,
wird also für eine Theorie des Psychischen als gelöst vorweggenommen.
Es fällt außerhalb der eigentlichen Theorie des Psychischen, deren
Grundlegung wir hier allein intendieren.
Wir schoben die Bearbeitung dieses Problemgebiets der psycho-
logischen Phänomenologie zu. Wir sagen über deren Beschaffenheit,
Methode und Geltungsfundament vorerst nichts aus, was präjudi-
zierend wirken könnte. Wir halten uns an den oben angegebenen
Zweck, den wir für die Phänomenologie bezeichnet haben; und wenn
wir daher im folgenden von Phänomenologie reden oder auf die von
uns gemeinte Disziplin Phänomenologie verweisen, so meinen wir
immer eine »an das immanent Wesentliche sich bindende Deskription
psychischer Phänomene «i).
Wir sagen damit nicht, daß diese vorausgesetzte Phänomeno-
logie, welche wir in einem späteren Hauptabschnitt dieses Buches
1) Also nur das, was Husserl »empirisch gerichtete«, »psychologische«
Phänomenologie nennt, Ideen usw. Jahrbuch f. Philos. u. phänomenolog. For-
schung. Bd. I. 1913. S. 171.
Allgemeine Grundlegung der Wiascnflcbaf tat h^ i Psycbiüchcn usw. 125
behandeln werden, von der Theorie, deren Grundlegung wir hier
unternelinien wollen, völlig übt rennbar ist. Es liegt Hchon im Wesen
der Beschreibung, daß die zu beschreibenden Tatbestände in ge-
wisser Weise modifiziert werden müssen, um Ixjschrieben werden
zu können. Diese Modifikationen bestehen in der »Heraushebung«
des »Wesentlichen«, im »Absehen « vom »Unwesentlichen«. Letzten
Endes führt der Vollzug dieser Modifikationen zur Reduktion der
Phänomene auf »Begriffe«. Die modifizierenden Maßnahmen, welche
wir hier als Herausheben und Absehen bezeichnet halx?n, sind be-
sondere psychische V^ollzüge, sie bedürfen besonderer Klärung; man
faßt sie unter den landläufigen Namen der Abstraktion zusammen.
Wenn wir im folgenden diesen Ausdruck Abstraktion gebrauchen
werden, so meinen wir die genannten modifizierenden Vollzüge, ohne
uns hinsichtlich ihrer umstrittenen Art und Natur festzulegen. Es
ist klar, daß diese Vollzüge, um zu Erkenntnissen zu führen, um den
Phänomenen, in bezug auf die sie vollzogen werden, hinsichtlich ihrer
»Wesentlichkeit « zu entsprechen, nach besonderen Kriterien zu er-
folgen haben. Diese Kriterien und Gesichtspunkte müssen erst
aufgefunden werden. Wir werden später sehen, daß sie von den
wissenschaftstheoretisch dargestellten Grundsätzen des betreffenden
Erkenntnisgebiets als regulative Maximen geliefert werden. Es ist
jedenfalls soviel einleuchtend, daß hier an die phänomenologische
Disziplin sich eine zweite Disziplin anzuschließen hat. Diese hat
die beschreibende Ordnung der erfaßten psychischen Tatbestände
zum Gegenstand. »Sie beschäftigt sich mit den Weisen der Abstraktion,
ihren Kriterien und den Geltungsgrundlagen dieser Kriterien. Wir
erhalten durch ihren Ausbau eine systematische und klassifikatorische
ontologische Theorie der psychischen Phänomene. Wir bezeichnen
diese Disziplin als abstraktive oder analytische oder deskrip-
tive oder ontologische Theorie des Psychischen.
Auch hierbei ist zu betonen, daß man sorgfällig zu unterscheiden
hat zwischen der Untersuchung unserer Erkenntnismittel in
bezug auf die in dieser Richtung liegende Bearbeitung psychischer
Phänomene, und andererseits der Bearbeitung der psychischen
Phänomene zur ontologischen Theorie selber. Gegenstand der erst-
genannten Fragestellung sind nicht die psychischen Pliänomene,
sondern unsere Erkenntnis von ihnen. Im kantischen Sinne wäre
dies eine kritische Wissenschaft, und erst nach ihrer Bearbeitung ist
die analytische Theorie der Phänomene selber möglich. Nun ist
allerdings in der Praxis, worunter wir hier die Sicherung von Er-
kenntnis des Psychischen verstellen, sehr schwierig, diese beiden
versoliifdenen Fragestellungen völlig getrennt abzuiumdeln. Die
Verwirklichung der Erkenntnis selber, also der Theorie, ist ja die
eigentliche Aufgabe. Wenn wir also auch die kritische Einstellung
stets in den Vordergrund unserer Untersuchungen zu stellen haben,
so werden wir doch, um »praktisch« nicht völlig steril zu bU-ibon,
in der Darstellung nicht umhin können, die grundsätzlich geforderten
126 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
scharfen Grenzlinien zwischen kritischer und theoretischer Frage-
stellung an vielen Orten zu verwischen. Unser Hauptziel bleibt
immer, die Ergebnisse der deskriptiven Theorie des Psychischen in
ihrem Erkenntnischarakter zu sichern und zu begründen. Wir
können dabei nicht nur von Sicherung und Begründung reden, ohne
auch einen Blick auf die Ergebnisse selber fallen zu lassen.
Die deskriptive Theorie ist aber nicht Selbstzweck, sondern nur
vorbereitende Stufe der eigentlichen Erklärung, d.h. der voll-
ständigen Bestimmung der Bedingungen, welche zur
Wirklichkeit der zu erklärenden psychischen Materie voraus-
gesetzt werden. Soweit diese Bestimmungen allgemeiner
Natur sind, soweit sie mit Notwendigkeit gelten, bezeichnet man
sie als Gesetze. Das System der Gesetze wird durch die eigent-
liche Theorie im engeren Sinne gegeben. Die rationalen Grund-
lagen der gesetzlichen Formen entwickelt die Wissenschafts-
theorie in dem früher genannten Sinne als eine der eigentlichen
Theorie vorausgesetzte Disziplin. Die Erkenntnismittel, welche
zur Aufstellung von Gesetzen hinreichend und notwendig sind, ent-
wickelt die Kritik der theoretischen Erkenntnis.
Die Gesetze eines materialen Geschehensgebietes bestimmen dessen
Wirklichkeit als eine notwendige; sie sind insofern die Gründe der
Möglichkeit dieses Geschehens, welches sie durchherrschen. Eine
besondere Untergruppe dieser Gesetze erstreckt sich auf die Be-
dingungen des Eintritts, der Verwirklichung eines durch sie
bestimmten Geschehens; sie bestimmt die Bedingungen der »Aus-
lösung« und »Veranlassung« dieses Geschehens; sie wird unter dem
Begriff der genetischen Theorie zusammengefaßt. Wir lassen
uns hier auf die nähere Bestimmung dessen, was mit Veranlassung
und Auslösung gemeint ist, ebenfalls noch nicht ein. Diese Begriffe
werden ebenso wie alle anderen theoretischen Begriffe sich aus dem
Aufbau der Theorie selber entwickeln lassen müssen. Wir zeigen
hier nur die Stellung der genetischen Theorie im Rahmen theoretischer
Bestrebungen überhaupt auf, schon um das naturwissenschaftliche
Vorurteil zu bekämpfen, als sei alle Theorie immer nur genetische.
Deskriptive und genetische Theorie müssen sich unter den all-
gemeinen Grundsätzen der Wissenschaftstheorie zur Systemform
der allgemeinen Theorie überhaupt vereinigen lassen, so daß
die deskriptive Theorie die geordneten Formen des Seins, die
genetische Theorie die geordneten Bedingungen des Werdens,
die Wissenschaftstheorie die notwendigen Geltungsgrund-
lagen der Wirklichkeit für die bearbeitete psychische Materie in
gedanklicher Allgemeinheit bestimmt.
Die bearbeitete Materie selber ist ihrerseits phänomenologisch
adäquat gegeben.
Dieses allgemeinste Schema der Theorie, welches sich noch völlig
frei hält von allen präjudizierenden logischen und methodischen,
materialen und formalen Bedingungen, sollte nur vorausgeschickt
AUgemeino Grundlegung der WLisenschaftsthcoric de« Psychiachen wrw. 1U7
werden, um den verscliiedencii Richtungen, in welchen «ich unworo
theoretischen Untersuchungen bewegen werden, eine erste Walir-
scheinlichkeit immanenter Berechtigung für diejenigen zu verleihen,
welche noch immer glauben, Naturforwchung oder Psychologie treiben
zu können, ohne sich um theoretische Bemühungen kümmern zu
brauchen. Außerdem sollte unser Sprachgebrauch für die folgenden
Untersuchungen durch die obigen Ausführungen eine vorläufige
Festlegung erfahren. Ik'zeichnungen wie »Phänomenologie«, »Ab-
straktion«, »Deskription«, »Erklärung«, »Genese« usw. sind durch
die ungeheure Literatur derartig mit der Möglichkeit von Mißdeu-
tungen behaftet, daß es uns notwendig schien, wenigstens vorläufig
festzustellen, in welchem Sinne sie in diesen Blättern allein zur Ver-
wendung gelangen sollen.
Die Kategorienlehre als Inhalt der Wissenschaftatheorie.
Nach diesen Vorausschickungen wenden wir uns nunmehr den
Fragestellungen der psychologischen Wissenschaftstheorie
zu, welche den eigentlichen Gegenstand dieser Abhandlung darstellt.
Mit ihr hat die Darstellung der Psychologie als Wissenschaft
notwendigerweise zu beginnen, obwohl dies seit 50 Jahren tatsäch-
lich fast niemals geschieht. Wir müssen es auf uns nehmen, un-
aktuell und sogar antiquiert zu erscheinen; wesentlich ist ausschließ-
lich die sachliche Richtigkeit.
Es kann nun aber nicht unsere Aufgabe sein, an dieser Stelle die
riesenhafte Geistesarbeit von Kants transzendentaler Analytik zu
wiederholen. Dort findet man, wenn man sich die Mühe eindringenden
Studiums und nicht oberflächlicher Lektüre macht, den tatsäch-
lichen Nachweis der Grundsätze und der aus den Formen des
Urteils vermittels des »transzendentalen Leitfadens« hergeleiteten
Grundformen denkender Erkenntnis, der Kategorien des Ver-
standes. Ebensowenig beabsichtigen wir eine derartige Wieder-
holung für den Rechtsnachweis der Geltung dieser Kategorien.
Ihn hat zum ersten Male in unangreifbarer und eindeutiger Weise,
mit psychologischen Mitteln, Fries ^) in seiner Deduktion derselben
aus der Grundform der reinen Vernunft selber geliefert. Wir setzen
diese gewaltigste Leistung aller Erkenntniskritik hier als gegeben
und gültig voraus und berufen uns auf unseren Standpunkt an der
Seite joner großen deutschen Denker. Wir betonen hier nur noch-
mals aufs Entschiedenste die im ersten Teile dieses Buches nach-
gewiesene logische und psychologisch -e mpirischo Geltung
dieser und niler folgenden Deduktionen. In dieser Hinsicht sind wir
völlig einig mit dem psychologischen Empirismus. Es besteht hier
sogar eine enge Verständigungsmöglichkeit; die grundsätzlichen
Gegensätze werden praktisch recht wesenlos: so nahe können «ich
») Neue Kritik der Vernunft. Bd. II.
128 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
methodisch und sachlich die Forschungsrichtungen kommen. Marty
z. B. stellt (Unters, z. allg. Grammat. u. Sprachphilosophie, Halle
1908, S. 434ff.) die in der Brentanoschule gültigen Lehren über
Begriffsbildung auf, und da finden sich auch die »reflexiven« Be-
griffe, die ihrer theoretischen Stellung nach den Kategorien der
kantischen Lehre überaus nahe kommen. Sie entstehen durch Re-
flexion auf den »Urteilsinhalt« Martys; ihre »Leitbegriffe« sind
Begriffe einer Klasse von Formen der Beziehung auf Gegenstände,
die reflexioneil bewußt werden; sie erwachsen aus Abstraktionsakten
von diesen reflexionellen Beziehungen. Wo Marty nun von der
Geltung und Evidenz von Urteilen handelt, führt er aus: welche
Formen des Urteils diese Evidenz enthalten, müßte durch Unter-
suchung der auf den Urteilsinhalt reflexen Leitbegriffe festgestellt
werden. Es müsse soviel Modi evidenter Urteile geben, wie leitende
Reflexionsbegriffe. Und die Analyse dieser Begriffe erfolgt denn
auch tatsächlich an der Hand der Urteilsformen.
Also ein dem kantischen transzendentalen Leitfaden und der
Kategorienlehre ganz entsprechend durchgebildetes Verfahren, und
zwar auf rein empirischem und logischem Boden! Es zeigt eben,
daß der Charakter der kantischen Kritik tatsächlich ein empi-
rischer ist. Die Kategorienlehre läßt sich also nicht von vornherein
als überempirische Doktrin aus der Forschung ausschalten.
Ähnliche Gedankengänge finden sich auch bei Hugo Bergmann
(Logos V, S. 79ff.), der im Wege bloßer Empirie zu den kategorialen
Formen und zu dem völlig kantischen Schlüsse gelangt: »es muß
eine Reflexion auf unsere psychische Tätigkeit, auf die nicht
direkt durch das vorstellungsmäßig Gegebene bedingte Stellung-
nahme eintreten, wir müssen gewissermaßen unsere Seele belauschen,
wie sie zwischen sich und der Objektivität der Gegenstände Ver-
bindungen herstellt, um die sogenannten kategorischen Begriffe zu
gewinnen. «
Die Anwendung der Kategorien in der Psychologie.
Aber weder Kant noch Fries, welche die Anwendung der Kate-
gorien auf das raumzeitliche Geschehen zwecks Grundlegung der
mathematisch-physischen Naturwissenschaft systematisch durch-
geführt haben 1), haben einen vollständigen Gebrauch von diesen
Kategorien in der Psychologie entwickelt. Diese von uns nach-
zuholende Entwicklung muß sich im Geiste ihrer Lehre in völlig
analoger Weise dazu vollziehen lassen, wie dies für die äußere Natur
durchgeführt worden ist. Wir wollen diese Entwicklung im An-
schluß an ihren Schüler Schmid^) hier kurz andeuten. Die Kate-
1) Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. 1786.
Fries, Mathematische Naturphilosophie nach philosophischer Methode. Heidel-
berg 1822.
2) a. a. 0., besonders zum Folgenden S. llOff.
AUgomclnc Clrundlcgiing der WiBBcnachaftsthcorir de» IVyehiuchen luni-. 129
goricn, als »Stamm begriffe des reinen \'erstandes «, werden dadurch
zu Gesetzen der Natur, daß sie auf anschauliche Gegenstände an-
gewendet werden. Denn für sich sind sie leere Formen; Gesetze
können sie erst werden, wenn sie auf Gegenstände angewendet werden,
die den Gesetzen unterworfen werden sollen, wenn also anschauliche
Bestimmungen der Gegenstände als »Subjekte zugrunde gelegt werden,
zu denen sie als Prädikate hinzutreten. Denn in bloßen Begriffen
wird nichts erkannt, Erkenntnis entsteht erst, wenn der Begriff durch
Verbindung mit einem Subjekt in ein Urteil als Prädikat hinein-
tritt. Dies muß auch iUckcrt entgegengehalten werden, welcher
das Ziel der Naturerkenntnis in ilelationslwgriffen sucht'). Es läßt
sich nun tatsächlich konstatieren, daß bei jedem physikalischen oder
naturwissenschaftlichen Urteil eine Kategorie zur Anwendung auf
anschauliches Material gelangt, wenn auch nur in sehr entfernter
Ableitung. Nun suchen wir hier die allgemeinen und notwendigen
Gesetze für alle Naturerkenntnis überhaupt. Die anschaulichen Be-
stimmungen, welche als Subjekte dieser Urteile mit den Kategorien
verbunden werden, müssen daher selbst für alle Naturerkenntnis
allgemein und notwendig gelten. Nun gibt es aber, wie Kants
transzendentale Ästhetik nachgewiesen hat, für unsere anschauliche
Erkenntnis keine anderen allgemeinen und notwendigen Bestim-
mungen als die der reinen Anschauung. Alle empirischen Bestim-
mungen der Anschauung müssen ausfallen; sie sind nicht allgemein
und nur zufällig. Prädikate zu allgemeinen und notwendigen Ge-
setzen der Natur können also die Kategorien nur werden, wenn sie
mit den Bestimmungen der Dinge durch die rein anschaulichen
Formen von Raum und Zeit zu Urteilen verbunden werden. Die
80 gebildeten Naturgesetze sind ganz aus apriorischen Bestimnningen
dieser Erkenntnis zusammengesetzt; sie gelten folglich selbst a
priori und sind synthetische Urteile aus Begriffen; sie sind also die
rein wissenscliaftstheoretischen Grundlagen aller Naturwissenschaft.
Kant hat dieses transzendentale Schema der Anwendung der Kate-
gorien klar entwickelt 2).
*) Grenzen iiatiirwisscnscliaftlichcr Begriffsbildung. 1902. S. GTff., 75 ff.
Vgl. hierzu dies IJueh S. 198.
*) Einstein hat an allen herrschenden Bestimmunpen de.s Raum- und Zeit-
bejjriffes eine bis an die prinzipiellen Kundainente hinabgehende außerordentliche
und revolutionierende Kritik geübt (Über «lie si)e7.ielle und die allpenieine Reln-
tivitätatheorie. ßraunschweig. .'{. Aufl. 1918. Vgl. auch Freundlich. Die Grund-
lagen der Einsteinschen Gravitationstheorie. Berlin 1917. und Schlick, Raum
und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Berlin 1917). Dieses .'scharfsinnigste Gedan-
kenwerk der letzten .Jahrzehnte läßt sieh nicht in Anmerkungen »diskutieren«
oder »erledigen«. Auch steht mir ein geniigendis Urteil über die behandelte Frage
nicht zu. Hiermit ist denn Kants transzendentale Ästhetik und die durch sie
verbürgte Xewtonsche Physik hinsichtlich ihrer (Geltung zu einer bloßen B«.>-
kcnntnis- oder (<laulx<ns8ache geworden. Wenn sich für das physikalische G«»-
Bchehen die Verluiltnis.se der räumlichen Anoninung und zeitlichen .Abfolge nicht
eindeutig bestimmen las-st'n, so können diese keine unmittelbaren Ik-stinnnungon
des Naturgeschchens sein. Raum- und ZcitbestimmungcD crbUten dann den
Krunft'ld, rüyrhUtrUcho Erkcnntnli. 9
130 Über die wissenschaftstheoretiechen Grundlagen der Psychologie usw.
Die Temporalität als kategoriales Schema.
Hiermit sind wir zu dem Punkte gelangt, von wo aus sich die
verschiedenen Gebiete der Natur ihrer wissenschaftstheoretischen
Grundlage nach unterscheiden lassen müssen. Rein anschauliche
Bestimmungen aller möglichen Gegenstände der Erfahrung sind
nämlich nur die der Zeit. Der Raum gilt nur als anschauliche Be-
stimmung für die äußere Wahrnehmung; der Bestimmung der Zeit
hingegen ist jede Anschauung ohne Ausnahme unterworfen, Gesetze
für die Natur überhaupt lassen sich also nur aus der Verbindung
der Kategorien mit den reinen Zeitbestimmungen bilden. Neben
den allgemeinen Zeitbestimmungen können wissenschaftstheoretisch
bedeutsam nur noch die räumlichen Bestimmungen für alles äußere
Naturerkennen sein. So trennt sich also ein System wissenschafts-
theoretischer Grundgesetze für die äußere Natur, die Körperwelt,
von denen des seelischen Lebens, welches keinen anderen anschau-
lichen Bestimmungen unterworfen ist, als denen der Zeit. Und da-
mit ist uns die Stelle angewiesen, von der aus wir eine Wissenschafts-
lehre der inneren Natur zu entwickeln haben. Das raumzeitliche
Greschehen ist anderen anschaulichen Bedingungen unterworfen als
das nichträumliche Geschehen, welches wir psychisch nennen. Wir
nennen die Funktion des Erfahrenkönnens auf diesem Gebiet im
Charakter von bloßen Hilfsgrößen zur Darstellung von physikalischen Zusammen-
hängen. Der Unterscheidung des Kinematischen vom Dynamischen wird die
prinzipielle Bedeutung genommen, und das Kausalgesetz verliert seinen ursprürg-
lichen Sinn, wenngleich es formal seine Bedeutung behält. Der Erkenntniskritiker
wird sich fragen, welche neue Erkenntnis denn vorliegt, auf Grund deren eine
derartige prinzipielle Umwälzung sich mit Recht statuieren dürfe. Der Nachweis,
daß das Zeitverhältnis nicht ohne weiteres physikalisch bestimmbar sei, und daß
daher die Feststellung zeitlicher Beziehungen als gleichzeitig, früher und später
ihren Sinn verliere, scheint einen derartigen Umsturz nicht zu involvieren. Bernays
(Über die Bedenklichkeiten der neueren Relativitätstheorie. Göttingen 1914.
S. 18 ff.) weist darauf hin, daß aus der Unmöglichkeit einer Bestimmung zeitlicher
Beziehungen nicht auf die Unmöglichkeit dieser zeitlichen Beziehungen selber
geschlossen werden dürfte. Dieser Schluß, den das Relativitätstheorem zieht, ent-
springt aus einer irrtümlichen Gleichsetzung eines Kriteriums für die Anwendbar-
keit eines Begriffes mit seiner Definition. Der Begriff der Gleichzeitigkeit erhält
seinen Inhalt nicht erst durch die Möglichkeit der Bestimmung seines Vorliegens
in der Erfahrung. Das Problem dieser Bestimmung hätte gar nicht entstehen
können, wenn der Begriff nicht bereits vorher vorhanden gewesen wäre. Ähnlich
liegen nach Bernays die Dinge auch hinsichtlich der Unmöglichkeit absoluter
Lagebestimmungen im Raum und des daraus gezogenen Schlusses, es habe keinen
Sinn, von zwei zu verschiedenen Zeiten stattfindenden Ereignissen zu sagen, daß
sie an demselben Orte oder daß sie an verschiedenen Orten geschehen. Der hier
vorliegende Analogieschluß zwischen Zeitlichem und Räumlichem ist nach Bernays
logisch unerlaubt. »Während der zeitlichen Aufeinanderfolge der Zustände dy-
namisch deren kausaler Zusammenhang entspricht, gibt es für die räumliche Neben-
ordnung der Ereignisreihen keine zugehörige physikalisch reale Verknüpfung.
Denn dasjenige, was einer räumlichen Nebenordnung physikalisch korrespondiert,
nämHch die Gesamtheit der Wechselwirkungskräfte, durch welche in einem Augen-
bhck die Art der materiellen Erfüllung des Raumes gekennzeichnet ist, entspricht
nicht der Nebenordnung der Ereignisreihen, sondern der Nebenordnung der
Allgemeine Grundlegung der WisuenuchaftBtheone den Puythiüchen u«w. 131
Anschluß IUI Kant innere Anschauung oder inneren Sinn,
und überlassen die Ilechlfertigung dieses Erfahrenkörwiens als be-
sonderer psychischer Funktion gegen die zahlreichen Angriffe hier-
wider späteren besonderen Untersuchungen, die zur Phänomeno-
logie des Psychischen gehören»). Hier genügt es uns, aus den
besonderen Bedingungen des so umschriebenen Gebiets möglicher Er-
fuhrung in reiner Temporalitüt lx*sondere wissjenschaflstheoretisehe
Gesetze als apriorische Bestimmungen der Möglichkeit dieser Er-
fahrung abzuleiten.
Hieraus ableitbare Kriterien des Psychischen.
Wir haben, um dies hier einzuschalten, mit diesen Feststellungen
bereits einige Merknuile des Psychischen überhaupt als konstitutiv
und notwendig entwickelt. Diese Merkmale sind bereits für eine»
Definition des Psychischen hinreichend. Es sind dies die reina
Temporalität seines Geschehens und die — noch näher zu beschrei-
bende und zu begründende — besondere Weise des Erfahrenkönnens,
dies«, innere Anschauung. Die Notwendigkeit beider Merkmale haben
wir durch die Aufzeigung des Ortes nachgewiesen, in dem sie erkennt-f
niskritisch ihren Ursprung haben. Brentano benutzt zur Definition.
Massenpunkte. Demnach bildet von den beiden Darstellungen der physikalischeni
Wirklichkeit, einerseits durch eine kontinuierliche Aufeinanderfolge von momen-
tanen Zuständen, andererseits durch ein Kontinuum von räumlich ausgedehnten
Kreignisroihcn, nur die erste den Ausdruck für eine der physikalischen Natur ob-
jektiv zukommende Beschaffenheit; und es ist einfach der mathematische Aus-
druck für diese Tatsache, daß nur die erste der beiden Darstellungsweisen unab-
hängig i^t von der Wahl eines Bezugsystems; daß also zwar das Verhältnis der
Qleichzeitigkeit, nicht aber das der ürtsgleichheit zweier Ereignisse invariant ist
gegenüber den Transformationen, welche die Beziehung zwischen physikalisch
gleichberechtit;ten Koordinatensystemen vermitteln. «
Diese einfachen Erwägungen werden wiedergegeben, nicht etwa in dem
Glauben, daß damit in der Erörterung des Relativitätstheorems irgend etwas
Definitives gesagt sei, sondern zur Rechtfertigung des Standpunktes, daß der
philosophische Erkenntniskritiker keinen tJnind habe, sich durch die glänzenden
physikalischen und astronomischen Erklänmgsmögliehkeiten der Relativitäts-
theorie in seinem grundsätzlichen Standpunkt vorschnell beirren zu lassen. So weit
wir es von uns weisen, der mathematischen l'hysik in ihr Geschäft hineinzureden,
so geboten erscheint es, sich auch durch ihre bestechendsten Argumente, sofern
sie nicht der gleichen modalischen Quelle entstammen wie die eigenen prinzipiellen
Feststellungen, nicht widerstandslos zur Mitwirkung an der Zertrümmerung ihrer
Errungenschjiften fortreißen zu lassen und eine sj-stenuitische und immanente
Widerlegung in Ruhe zu erwarten. So rechtffrticen wir subjektiv unser Festhaltfn
an der transzendentalen Ästhetik und Analj'tik Kants auch wider diesen 8tärkst*'n
Ansturm, di-m sie sich ausgesetzt sah. Gegen alle übrigen möglichen Einwendunp-n
aber hat diese Lehre Kants es nicht schwer gehabt, sieh siegreich zu behaupten.
Hierüber vgl. »Bemerkungen über die Nicht- Euklidische Geometrie und den
Urspmng der mathematischen Gewißheit« von Nelson, Abhandl. d. Friesschen
Schule. Bd. I. \9(M\. S. 37;Uf., 39;Hf. Ferner, von einem keineswegs Friesschen
Standpunkte aus, Victor Henry, »Das erkenntnistheoretische Raumproblem in
seinem gegenwärtigen Stande«. Kantstudien, Erg.-Heft 34. Berlin 1915.
») Vgl. dieses Buch S. 369 ff.
9*
132 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
des Psychischen ebenfalls diese beiden Merkmale, fügt ihnen aber
noch andere hinzu. Von diesen anderen werden wir später zu handeln
haben, i)
Das reine Selbstbewußtsein als kategoriales Schema.
Damit aber, daß wir etwas nur in der Zeit erkennen, erhält es
noch nicht positive Merkmale des Psychischen. Es tritt zur Tem-
poralität noch eine andere Form hinzu, durch welche die nichträum-
lichen Abläufe erst positiv als psychische bestimmt werden: Diese
Form besteht nicht in der Anschauung, sondern im Denken und
läßt sich umschreiben als die reine Form der Ichvorstellung.
In der Tat liegt formal das »Ich bin«, ohne zu bestimmen was ich
bin, allem inneren Wahrnehmen zugrunde, in völlig analoger Weise
wie die Form des Raumes, ohne zu bestimmen was der Raum ent-
hält, den äußeren Wahrnehmungen zugrunde liegt^). Durch diese
Form des »Ich bin« wird ein Gegenstand als psychisch erkannt.
Psychisch ist, was dem Ich gehört. Diese aller inneren Selbster-
kenntnis zugrundeliegende Ich-Form nennen wir mit Kant das
reine Selbstbewußtsein, und trennen davon ihre inhaltlichen
Modifikationen, welche den Gegenstand innerer Wahrnehmung
bilden, als empirisches Selbstbewußtsein ab. Also : allem empirischen
Selbstbewußtsein liegt ein reines Selbstbewußtsein zugrunde, worin
wir uns selbst als identisches Subjekt aller inneren Wahrnehmung
vorstellen. Abstrahieren wir von allem empirischen Gehalt seelischer
Vorgänge, so bleibt uns als reine Form dieses Gehalts die Vorstellung
von einem Ich, welches als identisches Subjekt von ihnen allen exi-
stiert. Die Form für alle psychologischen Erkenntnisse ist hiermit
gefunden; diese Form des reinen Selbstbewußtseins ist ursprünglich,
sie ist die Bedingung der Möglichkeit psychologischer Erfahrung;
sie gilt a priori.
Allein wenn wir nun durch Verbindung dieser apriorischen Form
des reinen Selbstbewußtseins mit den Kategorien die Wissenschafts-
lehre des Psychischen bilden wollen, so tritt uns die Schwierigkeit
entgegen, daß wir in ihr keine anschauliche Form haben, sondern
daß wir das reine Ich nur hinzu denken. Als eine bloß gedachte
Form aber gibt sie uns eigentlich nicht Gegenstände der Erfahrung,
1) Brentano (Psychologie vom empirischen Standpunkte. 1874. S. 101 ff.,
126 ff.) nennt außer den beiden hier deduzierten Merkmalen noch das ihrer realen
Existenz im Gegensatz zum Phänomenalismus räumlicher Erfahrung. Ferner
definiert er Psychisches dadurch, daß es entweder auf Vorstellungen beruhe oder
Vorstellung sei. Hierzu ausführlich im 2. Bande, Endlich macht er den Ein-
heitscharakter und damit die intentionale Inexistenz zum Definitionsmerkmal.
Hierüber S. 139, 148 dieses Buches.
2) Man wird uns hoffentlich nicht im Verdachte haben, als glaubten wir mit
dieser allgemein gehaltenen Bestimmung eine Psychologie des Ich zu geben oder
auch nur etwas darüber zu prä judizieren. Davon wird an späterer Stelle (Bd. 2)
noch die Rede sein.
Allgemeine Grundlegung der WioseniJchuflhtljeorif di*« PHychi»chen uhw. 133
worauf die Kategorien anwendbar wären. Wir halxjn darin immer
nur ein (Jedachlcs, nicht ein Wirkliclie.s und CJegenwärliges. Wir
müssen also die Mangelliaftigkeit der bloßen Zeitbestimmungen, die
ihrerseits zum Ansatz der Kategorien allein auch nicht voll aus-
reichen, durch die Form des reinen Selbstbewußtseins reflexionell
ergänzen. »So können wir mittelbar durch üenkakte eine voll-
ständige Entwicklung der Kategorien zustande bringen. Sie werden
dann niciit mehr unmittelbar und konstitutiv anwendbar .sein, wohl
aber als regulative Prinzipien ihren Wert behalten. Denn wenn auch
das bloße Denken für sich gar nichts wirkliches enthält, so ist es doch
andererseits dieselbe Realität, welche in der Zeit als Wirkliches
ersclieint, und welche in die gedachte Form des reinen Selbstbewußt-
seins fällt. Mithin wird auch durch diese gedachte Form ein Gegen-
stand der Natur bestimmt; und sie reicht daher zur mittelbaren
Bildung von Gesetzen über diese Gegenstände zu.
Ableitungen aus dem Moment der Qualität.
Aus dem Kantischen Moment der Qualität ergeben sich für
das Psychische folgende kategorialen Anwendungen: Qualitäten
werden anschaulich erkannt. Mit Allgemeingültigkeit und Not-
wendigkeit können nach Kant nur die Begriffe ausgesagt werden,
durcli wclclie jede Qualität a priori bestimmt wird. Denken wir uns
aus einer jeden Qualität allen empirischen anschaulichen Gehalt fort,
abstraliiercn wir ganz davon, wie wir die Objekte anschauen, so
bleibt uns außer der Vorstellung der Qualität selber nur der Begriff
von Realität. Ich muß notwendig von, jeder wahrgenommenen
Qualität denken, daß sie existiert, Realität hat. Das bloße Wie einer
Existenz, die bloßen Eigenschaften lassen sich, für die Erkenntnis
(nicht etwa für problematische Vorstellungen), gar nicht denken,
ohne auch die Existenz selbst der Objekte, denen die Qualitäten zu-
kommen, zu denken.
Mit dieser Feststellung bestätigt sich ein weiteres Kriterium
des Psychischen, wie es Brentano aufgestellt hat. Zugleich ist sie
eine grundsätzliche Widerlegung der reinen eidetischen Wesens-
schau Husserls, welche versucht, bei ihrem Geschäft von der Exi-
stenz zu abstrahieren. Hierüber werden wir noch in der Phäno-
menologie handeln.
Nun enthält jede wahrgenommene Qualität den Begriff der Rea-
lität in besonderer empirischer Bestimmung. A priori ist die Realität
nur rein-anscha\ilich bestimmbar. Als solche liest imnumg des Psy-
chischen hatten wir bereits die Zeitlichkeit. Ferner bestimmt sich
die Realität des Psychischen a priori noch durch die gedachte Form
des reinen Selbst In'wußtseins. Jede psychische Erscheinung erfüllt
diese Form des »Ich bin« durch eine Qualität, durch ein Wie des
Daseins. Aber die Qualitäten existieren real nur dadurch, daß sie
diese Form des Ich erfüllen, daß sie als seine Eigenschaften oder
134 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Tätigkeiten gedacht werden. Nun erkennen wir das reine Ich un-
mittelbar, als Naturrealität, nur in seinem wechselnden zeitlichen
Erscheinungen, zu denen es erst als ihr Subjekt hinzugedacht wird.
In ihm selber erkenne ich unmittelbar gar keine Naturwirklichkeit,
weil es keine anschauliche Form ist, in welcher etwas Wirkliches er-
scheinen könnte. In der Psychologie also erkenne ich gar nicht das
Ich an sich, sondern nur seine Tätigkeiten oder Funktionen, weil nur
diese anschaulich bestimmt sind. Diese Qualitäten des Ich sind nun
aber nicht, wie die physikalischen Qualitäten, auflöslich, d. h. objektiv
auf quantitative Verhältnisse reduzierbar. Sie werden unmittelbar
vom Ich ausgesagt, ohne daß sich etwas weiteres über ihre objektive
Bedeutung bestimmen ließe. D. h. für die Psychologie besteht die
Forderung, in der Beschreibung alles Zuständlichen auf diese unauf-
löslichen Qualitäten abstraktiv zurückzugehen. Diese werden als-
dann auf das Ich als ihr Subjekt als Eigenschaften und Funktionen
bezogen, so daß das Ich als ihr inneres Prinzip erkannt wird. Hier-
mit liegen zwei Aufgaben als wissenschaftstheoretisch (in unserem
Sinne) gefordert fest: die Phänomenologie — welche den ersten
Teil, die Reduktion psychischer Phänomene auf ihre unauflöslichen
Qualitäten zum Gegenstande hat, und die Funktionspsychologie
oder Aktpsychologie, welche der zweiten Aufgabe genügt, diese
Qualitäten ihrer Realität nach aus dem Ich als ihrem inneren Prinzip
als dessen Tätigkeiten und Äußerungs weisen zu bestimmen. Beide
Teilgebiete der Psychologie haben also hier ihren grundlegenden Ort
in der Systematik des Wissenschaftsganzen. Dies sei hier nur an-
gedeutet.
Ableitungen aus dem Moment der Quantität.
Aus dem Kantischen Moment der Quantität folgt folgendes.
Eine Vielheit gleichartiger Dinge wird durch das Moment der Quan-
tität zu einer Einheit bestimmt. Für das Psychische findet die Viel-
fältigkeit der Phänomene ihre Gleichartigkeit durch die gleichen
apriorischen Bedingungen ihrer Erkenntnis, also durch die reinen
Formen der Zeit und des Ichbewußtseins. Abstrahieren wir nämlich
von allen verschiedenen Qualitäten, so bleibt für alle das gleich-
artige Erleben einer Qualität überhaupt zurück. Indem wir für dies
Erleben einen gewissen Grad des Bewußtseins i) einer jeden solchen
Qualität erteilt denken können, ist damit die Möglichkeit einer
quantitativen Bestimmung des Psychischen gegeben. Freilich
ist diese quantitative Bestimmung eine völlig andere als die in der
materiellen Natur. Die Möglichkeit zeitlicher Größenbestimmungen
ist für beide Erfahrungsgebiete a priori in analoger Weise gegeben.
Während aber das materielle Geschehen durch die Form seiner Räum-
1) Natürlich ist dieser Gedanke streng durchführbar erst auf Grund einer
entsprechenden theoretischen Bestimmung des Bewußtseinsbegriffes. Diese er-
folgt in der Phänomenologie und im 2. Bande.
Allgemeine Grundlegung der Wisaenflchaftstheorie den Psychischen usw. 135
lichkcit und das Nebonoinander .seiner Teile eine extensive Größon-
beatiminung und damit mathematische konstruierbare Formulierung
dieser Bestimmung ermöglicht, also eine mathematische Naturwissen-
schaft notwendig macht, trifft die Extensität der Größenbestimmung
im Psychis(;hen nur für die Zeitlichkeit des Ablaufen« zu. Im Psy-
chischen tritt jedoch an die iStello der Raumform die Form des reinen
.Selbstbewußtseins. In ihm sind die Qualitäten intensiv verbunden:
«Mn extensives Nebeneinander fällt fort. »Ich kann nicht sagen,
eine Tätigkeit erfüllt einen Teil des Ich, wie der Körper einen Teil
des Raumes erfüllt; ebensowenig kaim ich sagen, daß das Ich aus
seinen Tätigkeiten oder aus den Zeitteilen seiner Tätigkeiten zu-
sammengesetzt sei« (letzteres muß auch Bergson hinsichtlich seiner
Konstruktionen in »Zeit und Freiheit« entgegengehalten werden),
»wie der Körper aus seinen Teilen zusammengesetzt ist; sondern zu
jeder Tätigkeit wird das ganze Ich als Subjekt hinzugedacht, und das
Ich ist dieses Subjekt auf gleiche Weise in jedem Zeitpunkt der Tätig-
keit.«*) Das Psychische und seine unauflöslichen Qualitäten kann also
nicht mathematisch quantifiziert werden. Das Moment der Größen-
bestimmung kann sich lediglich auf die Qualitäten selber beziehen.
Diese sind von intensiver Größenordnung und nach Graden meßbar.
Die Bestimmung des Psychischen als bloß intensiver Größe
schließt zunächst die Teilbarkeit aus. Das Ich ist also mit Not-
wendigkeit unteilbar eine Einheit und Einzelheit, eine Individualität;
es wird nicht erst durch Zusammensetzung aus seinen Funktionen
gebildet, sondern ist deren Subjektseinheit. Auch dies: den Indivi-
dualitätscharakter des Ich mit wissenschaftlicher Notwendigkeit
einsichtig zu machen, ist ein Gewinn der Theoretik. Durch die Be-
schränkung der inneren Natur auf intensive Größe entzieht sie sich
ferner größtenteils der mathematischen Behandlung. Lediglich das
Gesetz der Stetigkeit, welches besagt, daß Qualitäten hinsichtlich
ihrer Intensität stetig abstufbar sind, ist auch im Psychischen an-
wendbar. Aber aus ihm folgt noch keineswegs ein Gesetz, wonach
die Größe irgendeines psychischen Gegebenen an sich bestimmbar
wäre. Intensive Größen können nur vergleichsweise an extensiven
Maßstäben gemessen werden. Für die psychischen Intensitäten
bieten sich zu dieser Messung Zeitbestimmungen und physische
Maßstäbe räumliclier Art an. Was den Zeitmaßstab anlangt, so
beruht auf seiner Anwendung ein großer Teil aller experimentellen
Verfahren. Was den räumlichen, physischen Maßstab anlangt, so ist
eine notwendige, gesetzmäßige Verbindung physischer Veränderungen
mit psychischen Intensitätsveränderungen, so daß die erstere zum Maß
der letzteren werden können, die Voraussetzung seiner Anwendbarkeit.
Hierzu wäre also eine Klärung des psychophysischen Verhält nLsse.s
in seinen Grundlagen erforderlich, ein Problem, dessen Umfang den
Rahmen der eigentlichen psychologischen Theorie überschreitet.
») Schmid. a. a. O. S. 126.
136 Über die wissenschaftstheoretisclien Grundlagen der Psychologie usw.
3. Das Problem der Substantialität des Seelischen.
Sonderstellung der Relationskategorien.
Kants Kategorien aus dem Moment der Relation, Substanz,
Kausalität und Wechselwirkung, sind die für die Ausbildung der
Naturwissenschaft weitaus bedeutsamsten. Über die Realität und
die mathematische Zusammensetzung derselben hinausgehend, be-
stimmen die aus ihnen gewonnenen Grundsätze die Formen der
notwendigen Verknüpfung der Existenz der Dinge, und in dieser
Bestimmung liegen die eigentlichen Gesetze der Naturnotwendigkeit
beschlossen. Kant trennte daher die aus diesen Relationskategorien
sich ergebenden Grundsätze als dynamische von den übrigen ab.
Indem sie zeigen, wie die Existenz der Eigenschaften notwendig
verknüpft ist mit der des Wesens (des inneren Prinzips der Möglich-
keit des Objekts), die der Wirkungen mit ihren Ursachen und die
der Realitäten untereinander durch Wechselwirkung,
stellen sie Natur als ein unter notwendige Gesetze gestelltes System
dar. Es wird also auch für eine Wissenschaftslehre des Psychischen
entscheidend sein, inwieweit die Relationskategorien eine Anwendung
hier zulassen.
Voraussetzung dieser Anwendung ist, daß die durch die Relations-
kategorien zu bestimmenden Gegenstände ihrer Existenz nach bereits
anschaulich bestimmt sind. Für das Psychische ist die Anschauung
die zeitliche Ordnung. Durch die Relationskategorien soll also die
zeitliche Ordnung des Psychischen gemäß der inneren Verknüpfung
des in ihm Existierenden und Geschehenden bestimmt werden. Die
drei möglichen zeitlichen Ordnungsverhältnisse sind: Beharrlichkeit
in der Zeit, Veränderung in der Zeit, Zugleichsein. Diese Verhält-
nisse bilden die reinen Schemata für die Relationskategorien.
Die Kategorie der Substanz und der Begriff Seele.
Die Beharrlichkeit in der Zeit ist das Schema für die Kategorie
derSubstanz: Substantiell ist, was in der Zeit dauert. Veränderung
ist die reine Zeitbestimmung für die Kausalkategorie: Ursache ist
der Grund einer Veränderung in der Zeit. Zugleichsein ist das Schema
für die Wechselwirkung. Nun ist das Beharrende in der Zeit im
Psychischen lediglich das reine Selbstbewußtsein; und dieses finden
wir nicht etwa anschaulich in der psychischen Materie vor, wir müssen
es nur mit Notwendigkeit als das identische Subjekt zu dem steten
Wechsel seelischer Abläufe hinzudenken. Anschaulich in der Zeit
erscheint uns nur dieser stetige Wechsel. Der allgemeine Sprach-
gebrauch bezeichnet dieses notwendig hinzuzudenkende Beharrliche,
dem aller anschauliche Wechsel des Psychischen als Eigenschaften
oder Äußerungen zugeschrieben wird, mit dem Worte Seele; Seele
ist das Ich, insofern es zur Erscheinung wird, insofern es
Daa Problem der Substantialit&t de« fcjcolisehen- 137
durch seine Zuständo Gegenstand der Erfahrung und somit der Natur
wird. Diese iSeclu nun erscheint uns gar nicht selbst anschaulich;
wir erkennen sie also gar niciit unter der Kategorie der »Substanz;
nur ihre Tätigkeiten haben unmittelbar ansciiauliche Realität; die
Seele denken wir nur, durch den Begriff der Substanz genötigt, ab
Subjekt hinzu. Der Begriff der Substanz im Psychi.schen gilt alao
niclit unmittelbar für die Natur, da es keinen unmittelbaren Gegen-
Btund in der Anschauung für ihn gibt. Er entsteht nur denkend und
kann seine (Jültigkcit nur für eine übernatürliche, ideale Weltansicht
beanspruchen. In der Naturwissenaciiaft hat er keine Stelle. Des-
halb ist aller Spiritualismus, welcher seelische Äußerungen aus einem
substantiellen Seelenbegriff abzuleiten unternimmt, dem Wesen
naturwissensciiaft lieber Forschung widerstreitend.
Dies iiindcrt jedoch nicht, den Substanzbegriff im Psychischen
als ein regulatives Prinzip, um mit Kant zu sprechen, anzuwenden»).
Das Bleibende, Beharrliche, welches hinter den wechselnden Tätig-
keiten des Psychischen hiernach anzusetzen ist, ist eine dauernde
Form, ein dauerndes Gesetz dieser Tätigkeit, und dieses Gesetz ist
das Wesen der Seele, wie es in der Natur erscheint. Naturwissen-
scliaftlich läßt sich dieser Scelenbcgriff als der einer gesetzmäßigen
Form und Einheit von Tätigkeiten nicht treffender vergleiciien, als
mit dem Begriff eines Organismus in der äußeren Natur. Jeder
Organismus ist, wie auch Schmid^) schon durchführt, eine solche
Form von Veränderungen, in deren materialem Wechsel sie selber ab
Form und Einheit die gleiche bleibt. So ist es auch im Psychischen;
und nur dadurch behalten wir in allem materialen Wechsel des Psy-
chischen den einen Gegenstand für die Naturerkenntnis, daß wir die
eine Form und das eine Gesetz dieses Wechseins als sein identisches
Subjekt festhalten und seelisch nennen. Diese Seele ist jedoch keines-
wegs ein selbständiges Wesen für die Naturerkenntnis: Form ist
immer nur etwas an einer Realität; niemals selbst Wesen. Für die
1) Man hat es sich neuerdings ■ — und Wundt ist daran besonders schuld —
leicht gemacht, derartige Unternehmungen in der naturwissenschaftlichen, d. i. em-
piristischen Seelcnatoniistik, die sich für Psychologie ausgibt, mit dem Schlag-
wortc »dogmatischer« Deduktionen abzutun. Alle Welt weiß es besser als Kant !
Und man vergißt, daß von diesem angebUch iibenvundenen »Dogmatiker« das
Wort stammt: »Wer einmal Kritik gekostet, den ekelt auf ewig alles dogmatische
Gewäsche an. « Den Naturforscher bitten wir gerade an dieser Stelle um vorurteils-
lo.ses Mitdenken. Dogmatisch sind nicht derartige Deduktionen; dogmatisch ist
vielmelir das Verfahren der herrschenden psychologischen Theoretiker von Wundt
an bis auf Xatorp und Münsterberg, den Seelenbegriff als ein »primitivea
D«>gma« aus der Psychologie auszuschalten — und dann das P!*ychische irgendwie,
sei i-s direkt oder indirekt, durch das Bewußtsein zu definieren, d. h. alst), anstatt
in ihm n)ir einen reeUen phänomenalen Krlebnisbestandt«il zu sehen, das Wesen
des l'syehischen in ihm zu gründen. So wird das Bewußtsein unmerklich zu einem
neuen Terminus für den verjagten Seelenbegriff, mit dem einzigen Unterschied,
daß daihmh schwere Fehler gegen tlie Thet)rie wie gegen die Tatsachen — z. B. die
Tatsachen des unbewiißten Sei-lischen — gezeitigt w<rden. zu denen der alte Seelen-
begriff, den wir hier wieder aufnehmen, keinen Anlaß bietet,
2) a. a. 0. S. 143.
138 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Naturwissenschaft besteht daher auch kein Unsterblichkeitsproblem
für diesen Begriff von Seele: vielmehr ist ihre Existenz, definiert
als beharrliche Form aller psychischen Äußerungsweisen, durchaus
nur an ihre zeitliche Erscheinung geknüpft und eben durch diese
an ihre Existenz in einem körperlichen Organismus. Aufgabe wissen-
schaftlicher Psychologie ist es, alle psychischen Tätigkeiten aus der
Form oder dem Gesetz derselben zu erklären, denn diese ist der Be-
griff von Seele als einem Objekt der Naturwissenschaft.
Tätigkeit als Wesensmerkmal des Seelischen.
Läßt sich nun diese Form und dieses Gesetz mit theoretischer
Notwendigkeit auch noch positiv bestimmen? Die positive Be-
stimmung von Substantiellem erfolgt nicht bloß durch die Existenz,
sondern auch durch die Art der Existenz. Denn Substanz ist nicht
bloß Realität, sondern eine durch Eigenschaften, Akzidenzen be-
stimmte Realität; Wesen und Eigenschaft sind notwendige Korrelate.
Also ist auch jene notwendige Formeinheit, jenes Gesetz alles Psy-
chischen durch die Qualitäten bestimmt, durch welche sie das reine
Selbstbewußtsein erfüllt. Diese erscheinen mit Notwendigkeit als
ein Nacheinander in der Zeit. Was aber als zeitliches Nacheinander
von einem identischen Subjekt prädiziert wird, sofern von der Modi-
fikation dieses Subjekts durch das einzelne zeitlich Erscheinende
abstrahiert wird, nennen wir Tätigkeit, Wirken^). Sehe ich in
einem Kausalverhältnis allein auf den Zustand des Wirkens in dem
wirkenden Gegenstande und berücksichtige nicht den veränderten
Zustand, der an dem Gegenstande, worauf eingewirkt wird, ent-
steht, so schreibe ich dem wirkenden Gegenstand Tätigkeit zu. Tätig-
keit also ist das reine Verhältnis der Ursächlichkeit, ist deren reine
Form unter Abstraktion von dem Gehalt derselben in der Wirkung
oder dem bewirkten Zustande. Dieser Kausalbegriff erhält, wie
später ausgeführt werden wird, Anwendung auf das zeitliche Nach-
einander. Es müssen also mit Notwendigkeit die inneren Erschei-
nungen, insofern sie in der Zeit als Nacheinander erscheinen, denkend
unter dem Ursachenbegriff erfaßt werden; somit erscheinen sie als
Tätigkeiten und Wirken. Ich kann aber zu diesem Wirken nicht
auch das Bewirkte hinzubringen, weil ich kein extensives Neben-
einander habe, in welchem das Bewirkte zu der Wirkung hinzuträte.
Folglich besteht die Nötigung, durch die Natur des psychischen
Gegebenseins, alle inneren Erscheinungen als Tätigkeiten
aufzufassen, und es ist unmöglich, bloß passive Zustände,
Zustände des Verändertwerdens in den Erscheinungen
des Seelenlebens zu finden. Hier ist der wissenschaftstheoreti-
sche Ort, welcher die Notwendigkeit der Geltung der gesamten Akt-
1) Natorp (Allgem. Psychol. 1912. S. 40 — 45) macht Einwendungen gegen
die Annahme psychischer Fähigkeiten geltend, welche indes schon von Husserl
(Log. Unters. IL S. 380ff.) widerlegt wurden.
Da« I'roblom der Rubstantialitat des S''«!!»«}!'*!!. 139
Psychologie rechtfertigt und l)ogründet ; hier liegt auch der theoretische
(Jrundfür die CJeltungdes BrentanoHchen Definitionsinerkniales alles
Paychischen: die intentionalo Inexistenz. Von diesen Dingen wird
noch ausführlich die Rede sein. Vielleicht al>er ist es doch inter-
essant, schon hier festzustellen, wie die alte Kan tische Psychologie
in ihrer Friosschcn 8ysteniform es ermöglicht, die modernen Hypo-
tliesen, soweit sie wirklichen Wert halx?n, mit Notwendigkeit an
ihrem systematischen Aufbau zu verankern, während sie sonst gleich-
sam zufällige Inventionen blieben. Es gibt hiernach — und das
muß sowohl gegen die Assoziationspsychologie als auch gegen so
aufgeklärte Aklionspsychologen wie Berze betont werden — keine
psychischen Pliänomene, welche nicht Akte sind oder involvieren.
Die assoziative Verknüpfung »impressionaler « Daten oder »hyle-
tischer« Materien (Husserl) hat nur innerhalb der einzelnen Akte
und Phänomene ihre psychologische Stelle. Auch hiervon später
Genaueres.
In der Tat läßt sich, und das wird noch weiter unten erfolgen,
auch rein deskriptiv zeigen, daß das psj'chische Geschehen niemals
ein bloß passives Erleiden oder Affiziertwerden ist. Damit entfallen
alle sog. elementar-analytischen Theorien vom Bausteincharakter
seit Locke; es entfällt die Mehrzahl der zu Unrecht verallgemeinerten
Assoziationshypothesen. Wir kommen noch darauf zurück; hier
ist wichtig, den Ort aufgezeigt zu haben, der sie mit Notwendigkeit
grundsätzlich in ihrem Gcltungsanspruch zugunsten der Aktions-
psychologie einschränkt.
Hiernach erfüllt also die Seele als Naturbegriff das reine Selbst-
bewußtsein mit ihren Tätigkeiten; und sie ist deren Subjekt. Jede
Tätigkeit erfordert ein Subjekt des Tuns, was auch gegen Fichte
eingewandt werden muß, der die Seele, das Ich als reines Tun defi-
niert i). Faßt man jede Tätigkeit als besondere Realität auf, so ist
die Identität ihrer Subjekte für die verschiedenen psychischen Tätig-
keiten noch nicht gegeben. Diese folgt aber aus der hinzugedachten
Form des reinen Selbstbewußtseins.
Spontaneität und Rezeptivität des Seelischen.
Nach diesen Feststellungen wäre noch die Behauptung möglich,
daß, wenn auch die Seele das tätige Subjekt psychischen Geschehens
wäre, doch der Grund dieser Tätigkeit letztlich außer ihr selber läge,
etwa in irgendeinem Kausalne.xus zu außerpsychischen Kräften,
welche jene einheitliche Form der psychischen Tätigkeiten zur Wir-
kung hätten. Die Diskussion dieser Möglichkeit gehört dem psycho-
physischen Problemkroise an und kann daher nicht in dieser Unter-
suchung erfolgen. Sei dem wie immer, so müssen wir für die Psycho-
logie als unabhängige Wissenschaft daran festhalten, daß mit wissen-
») Vgl. S. 39 ff. dioHoa Buche«. Auch Schmid. a. a. O. S. 137.
140 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
schaftstheoretischer Notwendigkeit die Seele sich in Tätigkeit und
nur in Tätigkeit äußert, daß sie das Subjekt aller psychischen Tätig-
keit ist; und ferner, daß es in diesen Tätigkeiten keine bloß passive
Affektion, kein bloßes Bewirkt werden, geben kann. Diese Feststellung
gilt nicht nur für die einzelnen Tätigkeiten, sondern auch für ihr Sub-
jekt. Mithin läßt sich mit logischer Stringenz kein Grund der Tätig-
keit über dieses Subjekt hinaus denken ; dieses ist damit tätig schlecht-
hin; es ist selbsttätig. Die Spontaneität als inneres Gesetz
alles Psychischen ist damit gegeben.
Die Spontaneität besteht nun aber nicht unbedingt. Sie ist an
zeitliche Bestimmungen gebunden. Diese zeitliche Bedingtheit:
daß Psychisches gerade jetzt und so sich vollzieht, und dann nicht
oder in anderer Weise, kann nicht aus dieser Spontaneität allein
abgeleitet werden. Es setzt dies vielmehr wiederum ein Verhältnis
zu etwas außer ihr voraus. Nach der Definition der Spontaneität kann
dieses vorausgesetzte Verhältnis kein kausales sein. Es kann mithin
nur in der Auslösung der Wirksamkeit dieser Spontaneität durch
veranlassende Reize, also in einer rezeptiven Erregbarkeit der
Seele bestehen. Diese beiden funktionalen Grundformen alles Psy-
chischen: Rezeptivität und Spontaneität, sind die konstitutiven
Merkmale dessen, was hier Seele genannt wurde; sie müssen sich in
jedem einzelnen möglichen psychischen Phänomen und Vollzug als
gemeinschaftliche letzte Fundamente notwendig vorfinden.
Parallele Merkmale des Organismenbegriffs.
Die Abhängigkeit seelischen Funktionierens von zeitlichen, außer
ihm bestehenden Bestimmungen, welche zur Fassung der Rezeptivität
führte, war ein Punkt, in welchem sich Psychisches an Physisches
anknüpfte. Dieses Verhältnis läßt sich in Analogie denken der Er-
regbarkeit organischer Funktionen durch Reize, etwa der ontogene-
tischen Keimesentwicklung, dem Wachstum o. dgl. (Wie denn
überhaupt die Theoretik der allgemeinen Biologie außerordentlich
viele Analogien zur Theoretik des Psychischen aufweist — man
denke an die Bestimmung des Organismenbegriffes und ihre Struktur-
ähnlichkeit mit dem Seelenbegriff i) ; auch in der gleich zu entwickeln-
den Dynamik bestehen solche prinzipiellen Ähnlichkeiten.) Tendenz
und Vollzug derartiger organischer Funktionen steht ihrer spezi-
fischen Art nach schon durch ihr eigenes Gegebensein potentiell fest ;
1 ) Sie ist von den biologischen Theoretikern oftmals, mindestens implizit, aner-
kannt worden, wenngleich die Definition des Lebens, des Organismus durch Psychi-
sches seit den Tagen des klassischen Idealismus nicht mehr aufgenommen wurde.
Statt dessen gerade in der neovitalistischen Literatur — unter stillschweigender
Hinnahme der theoretischen Strukturgleichheit — oftmals herbeigezogene Hilfs-
begriffe: so der EntelechiebegrLff. Bei Driesch einmal »das Psychoid« als Prinzip
des Organismus ( »Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre«. 1906. S. 220ff.),
Klarere theoretische Darstellung der Beziehungen in »Philosophie des Organischen«
(Gifford lectures IL S. 293 ff.). Dagegen schlägt er in »Die Seele als elementarer
Da« Problem der Substantialität cIoh Set-ÜHchen. 141
ob sie sich aber aktualisiert oder nicht, hängt von d<*ni jeweiligen
Vorhandensein oder Felilen dos äußeren forniativen Keizes o. dgl.
ab. Der Unterschied zum Psychischen ist liier nur der, daß Ijcim
Organismus Reiz und irritable Funktion der gleichen Sphäre raum-
zeitlichen Ablaufens und materieller Subsistenz angehören; Ijeim Ver-
hältnis psychischer Rezcptivität zu auslösenden Heizen aber gehören
beide Komponenten unter Umständen verschiedenen Natursphären
an; erstere der psychischen, letztere der körperlichen. Ein Kausal-
vcrhältnis Vieider zueinander ist dann unbestimmbar und unein-
sichtig für unsere theoretische Erkenntnis. Wenn also der Begriff
einer Erregung oder eines Reizes unvermeidlich zu dem Begriff
einer Abhängigkeit des Psychischen vom Physischen führt, so sind
wir doch genötigt, bei diesem Begriff der Abhängigkeit als einer nicht
weiter gesetzlich bestimmbaren Tatsache stehen zu bleiben. Die
Erregung iK'zcichnet nur den zeitlichen Anfangspunkt der psychischen
Tätigkeit und weist uns damit auf eine Schranke der Psychologie hin,
über die wir, der Natur un.seres Erkenntnisvermögens nach, nicht
hinaus können. Wir müssen diese Schranke in unseren naturwissen-
schaftlichen Seelenbegriff selbst aufnehmen und die Tatsache psy-
chischer Erregung von außen auf diese Weise negativ Ix'stimmen.
Daß die Seele zur Tätigkeit von außen bestimmt wird, ist eine psy-
chologische Tatsache. Bleiben wir unserem Vorsatz gemäß bei
ihr stehen, so können wir gemäß dem Gesagten den Zustand der Er-
regung nicht rein passiv denken, sondern als psychisches Geschehen
ist auch er eine Tätigkeit und als solche innerlich wahrnehmbar.
Hiernach ist die Eigenschaft der Rezcptivität psychologisch zu be-
stimmen als eine Fähigkeit zur Tätigkeit; sie ist Bestimmbarkeit
der Seele zur Tätigkeit durch etwas außer ihr; dies aber ist eine
psychische Eigenschaft, denn zu dieser Bestimmbarkeit gehört mög-
liche Tätigkeit, die Bestimmung zur Tätigkeit ist unmöglich ohne
eigene Tätigkeit. Hiermit ist ein Problem geklärt, welches für die
Tlieorie der Wahrnehmung besonders große Bedeutung haben wird.
Das Verhältnis von Rezcptivität und Spontaneität in der Psyche
bedarf ebenfalls noch näherer Bestimmung, hinsichtlich der Art und
Wei.se, ob sich in innerer Erfahrung feststellen läßt, was an den ein-
zelnen psychischen Funktionen dem einen und dem anderen angehört.
Unabhängig von der Rezcptivität besteht bloß die Möglichkeit psy-
chischer Spontaneität, und zwar sowohl üljerhaupt als auch bereits
in l)estimn»ter Art und Weise. Abhängig von der Rezcptivität ist
jedoch die Wirklichkeit aller psychischen Tätigkeit und der Grad
Naturfaktor« 1903 methodisch den umpekehrton Weg ein: nämlich den, wis.'^on-
ßchaftstheoretischo Be.stimiminpen über da.s Psyehisehe auf der heterolopen Basia
des Orpaiiismenbegriffes anzustreben, unter Ziirüekstellunp psycholopi.selier Sta-
tuierunpen. Über derartige, in der Biolopie nicht seltene Tendenzen sehr fein
Karl (\ Schneider. Tierpsycholopisches Praktikum. 1912. S. Ul.r.^Off. rnsor
Standpunkt dtvkt sich mit den .Ausfühmnpen von ('laßen (Jahrbuch d. Hamburp.
wisscnsch. .Vnstaltcn. XVllI. 1901) und vor allem den trefflichen Darlegungen
von K. -Mbrecht, Vorfragen der Biologie. 1899.
142 Über die wissensohaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
der Stärke derselben. Wir müssen daher in jeder psychischen Funk-
tion beide Fundamentalfunktionen real vorfinden, und zwar zu dieser
Funktion vereinigt. Dies hindert keineswegs, an jeder psychischen
Funktion ihren Anteil gesondert zu betrachten. Es ist das die Aufgabe
der Abstraktion, und es muß nur der Irrtum vermieden werden, diese
abstraktive Trennung als etwas real mögliches zu denken.
4. Einführung in die Probleme der psychischen Kansalität.
Der Begriff der psychischen Funktion.
Präzisierung des Standpunktes zum Kausalproblem.
Das Kausalproblem im Psychischen ist von Kants Zeiten
an das schwierigste und umstrittenste einer jeden theoretischen Psycho-
logie gewesen. Soll die Sachlage nicht noch mehr verfahren werden,
als sie es bei der unabsehbaren Vielfältigkeit der Standpunkte, von
denen dieses Problem schon betrachtet wurde, allmählich geworden
ist, so tut eine möglichst präzise und eindeutige Gedankenführung
not. Dabei muß aber auf die Begründung jedes einzelnen ihrer In-
halte genau geachtet werden.
Wir lehnen hier von vornherein alle Ableitungen ab, welche zum
Problem der psychischen Kausalität von irgendeinem empiristischen
Standpunkt gemacht worden sind und gemacht werden könnten.
Das Ergebnis solcher Ableitungen könnte an sich zwar richtig sein,
jedoch die Ableitungen selber wären durch ihre empiristischen Vor-
aussetzungen, die wir für fehlerhaft halten, nicht verbürgt. Damit
entfällt für uns jede im weitesten Sinne konventionalistische Auf-
lösung der Kausalität, von Hu me an bis auf Mill und die Modernen i).
Ferner entfällt der neuerdings gemachte Versuch, den Kausalbegriff
durch den Energiebegriff zu definieren, denn letzterer ist der spe-
ziellere und nicht der allgemeinere Begriffe). Endlich entfällt die
neueste Schöpfung logischer Unreife und theoretischen Dilettantis-
mus, welche gerade in der Medizin Anklang gefunden hat, der Kon-
ditionalismus 3).
1) Hierüber hat Bergmann, Der Begriff der Verursachung und das Problem
der individuellen Kausalität (Logos. Bd. 5. S. 83 ff.) ganz in unserm Sinne triftige
Argumente beigebracht.
2) So von psychiatrischer Seite Fankhauser, Ztschr. f. d. ges. Neurol. und
Psych. Bd. 29. S. 201 ff.
3) Es ist sehr bedauerlich, daß diese »strahlend helle« »Weltanschauung« ' —
als die sie ihr Autor ausgibt — einem so hervorragenden Fachforscher wie Verworn
ihre Entstehung zu verdanken hat (Die Erforschung des Lebens. Jena 1911.
Kausale und konditionale Weltanschauung. Jena 1912). Noch bedauerlicher ist
die Anmaßung, mit der dieser gewiß hochverdiente Physiologe bei der Schöpfung
seines Geisteskindes über alle Leistungen der philosophischen Analyse mit hoch-
fahrenden Redensarten hinwegzugehen sich vermißt, gleich als hätte diese Wissen-
schaft, in den »mystischen« Ursachen Vorstellungen aus der Zeit »am Ausgang
des Paläolithikums und Neolithikums« befangen, über Aristoteles, Hume,
Kant und die andern kleinen Geister hinweg erst auf ihn gewartet, um endlich
Einführung in diu Problome der psychiiichen KausaliUit tuiw. 14.'^
Wenn wir nun auch von einem theoretischen Standpunkt »u«-
gehen, der dem Kanti.schen überau« nahe kommt, ho mÜHHcn wir
andererseits uns gerade hinsichtlich der Kausalität und Wechsel-
wirkung — beides geliort eng zusammen — wie sie seine rationa-
listischen Schüler vielfach für die Psychologie entwickelt haben,
tunlichst unabhängig halten. Den allgemeinpiiilosophischen End-
absichten dieser Denker genügte es in der Kegel, grundsätzlich »die
mit dem Lichte dfr Wahrheit beglückt zu werden. Em ist nach allzuvielen trüben
Erfahrungen begreiflich, wenn der Naturforscher — wenigstens der der älteren
Generation - auf die Philosophie gleichsam mitleidig herabsieht. Aber wenn er
schon nicht zu der Einsicht fähig ist, daß dies seiner eigenen Forschung zum
Schaden gereicht (wenngleich vielleicht nicht sofort und unmittelbar): so sollte
er doch dem Argument zugänglich sein, daß viel größer als die Blamage des (imagi-
nären !) Philosophen, der spekulativ die Natur korrigieren will, die Blamage des
tüchtigen Naturforschers ist, wenn er auf das philosophische Eis tanzen geht und
sich vor den verachteten Philosophen dabei belachenswerte Blößen gibt. Gerade
für Männer vom lYpus Verworn sind die Worte Lotzes geschrieben, die wir
in der Einleitung dieses Buches zitierten: »Der Genialität unserer Forscher mag
das schöne Verdienst beschieden sein, den Grundsätzen durch individuellen .Scharf-
sinn eine Reihe wichtiger Anwendungen abzugewinnen; in bezug auf die Grund-
sätze selbst dagegen müssen sie mit Aufgebung subjektiver Neigungen sich zu der
aufrichtigen Stellung eines Lernenden verstehen. «
Ich schreibe dies nicht um Verworns willen, von dem die Einnahme dieser
Stellung gewiß nicht in Aussicht stünde, auch wenn man mit Engelszungen spräche.
Er ist mir nur der hervorragendste Repräsentant eines Forschertypus, gerade
auch hinsichtlich seiner Tendenz, in philosophicis Stellung zu nehmen. Unter den
Vertretern dieses Forschungstypus aber gibt es solche, die ihr fachUcher Ruf noch
nicht mit dem Aberglauben »weltanschaulicher« Unfehlbarkeit erfüllt hat; und
unter ihnen sind, wie ich hoffe, viele medizinische und psychiatrische Fachgenossen.
An sie ergeht Lotzes Mahnung, zu deren Sprachrohr diese Zeilen sich machen,
und die am Beispiel Verworns ihre warnende Bestätigung findet.
Sachlich ist zur Argumentation Verworns etwas zu bemerken kaum der
Mühe wort. Er behauptet, wenn ich ihn recht verstehe, der philosophische Ur-
sachenbegriff schließe die Singularität der L^rsächlichkeit im Realfalle als konsti-
tutives Merkmal ein ■ — was keinem Philosophen eingefallen ist zu behaupten.
Daher ■ — infolge der realen Pluralität von Ursachen — substituiert er dem Ur-
sachenbegriff zwar nicht den Begriff, wohl aber das Wort »Bedingung«- Denn
um diese Substitution zu ermöglichen, muß er den Bedingungsbegriff seiner wesent-
lichen Charaktere entkleiden — wie schon der als Forscher und Denker gleich
geniale W. Roux ihm nachwies (Über kausale und konditionale Weltanschauung
und deren Stellung zur Entwicklungsmechanik. Leipzig 1913). Er verwendet
also das Wort »Bedingung« dann für denjenigen Begriff, den man bisher mit dem
Worte »Ursache« bezeichnet. Aber auch diese terminologische Leistung verwischt
er wieder durch seine Erfindung von der Äquivalenz aller Bedingungen eines Vor-
ganges: ein Vorgang ist gleich der Summe seiner Bedingungen. Er verwechselt
also die Gleichheit der Notwendigkeit mit der Gleichheit des bewirkenden Ein-
flusses. Roux hat mit der nötigen herzerfrischenden Schärfe sowohl diese Kon-
fusion aufgedeckt als auch gezeigt, daß die Forschung bei dieser Annahme der
Äquivalenz ins »absolute Dunkel« steuert, »in dem nichts erkennbar ist«. Er
bedauert »die Gemeinde der Getäuschten, durch die unrichtigen Angaben und
Argumentationen des Autors Irregeführten«.
Vgl. hierzu auch die ausgezeichneten Ausführungen des Mediziner» Martin»
in »Konstitution und Vererbung in ihren Beziehungen zur Pathologie«, Berlin 1914,
S-21ff., die den Konditionalismus gerade in Biologie und Medizin tu erledigen
berufen sind.
144 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Ursache« zu allem Psychischen als auszeichnende Eigenschaft des
Wesens der Seele zu deduzieren. Damit ist für sie das Kausalproblem
im Psychischen erledigt, und sie wenden sich dann den »höchsten«
Wirkensweisen desselben, den »vernünftigen«, zu. Dieser unpsycho-
logische Intellektualismus hat die moderne Forschving aber mehr,
als billig war, abgehalten, sich mit den scharfsinnigen und präzisen
Studien zur Grundlegung psychologischer Theoretik überhaupt zu
befassen, welche jenen Denkern zu verdanken ist.
Ursache und Kraft.
Zustandsänderungen werden kausal erklärt. Zustandsänderungen
werden durch Vergleichung der zuständlichen Beschaffenheiten zweier
Zeitpunkte erkannt. Das Schema des Ansatzes der Kausalkategorie
ist die Veränderung in der Zeit. Da alles psychische Geschehen eben
ein Geschehen ist, d. h. Vergleichung der zuständlichen Beschaffen-
heiten verschiedener Zeitpunkte im Psychischen immer Verände-
rungen ergibt, so folgt, daß zur theoretischen Erkenntnis dieses Ge-
schehens die Kausalkategorie (und die der Wechselwirkung) an-
gesetzt werden muß. Ob es psychische Kausalität gibt, ist also
überhaupt kein Problem; dies beginnt erst mit ihrer näheren Be-
stimmung. Die Bestimmung ist nun eine mehrfache und muß vom
allgemeinen zum besonderen sukzessive entwickelt werden. All-
gemein sahen wir schon vorher, daß die fundamentale Formeinheit
alles Psychischen, die wir als identisches Subjekt aller erscheinenden
veränderlichen Abläufe erkennen und mit dem Terminus Seele be-
legen, als Subjekt von Tätigkeiten und mithin als Wirkendes, als
Ursache bestimmt werden muß. Diese Ursache läßt sich in über-
tragenem Sinne dem Kraft begriff einreihen. Die schematisierte
Ursache nämlich, also ein wirkliches Dasein, insofern es der Grund
einer Veränderung ist, bildet den Definitionsinhalt des Begriffes der
Kraft im wissenschaftstheoretischen Sinne. Der so definierte Kraft-
begriff wäre nun auch von dem inneren Formprinzip alles Psychischen
aussagbar. Jedoch nur in einem in mehrfacher Hinsicht übertrage-
nen Sinne.
Modifikationen des Kraftbegriffs im Psychischen.
Einmal nämlich ist im Psychischen die mathematische Bestimm-
barkeit kausaler Beziehungen, Vergleich und Messung von Kräften,
quantitative Gesetze zwischen Kräften und Wirkungen, und Trans-
formation der Kraftformen — also alles, was dem Kraftbegriff der
physikalischen Natur seine zentrale Bedeutung verleiht — unmöglich.
Vom Energiegesetz bis zu Newtons einfachen Formeln und vielleicht
sogar dem causa aequat effectum sind Aussagen über mathematisch
konstruierbare quantifizierende Bestimmungen wider die Natur der
Erkenntnis vom Psychischen zuwiderlaufend — , weil es, wie schon
Kinfubrun^ in die Probleme der paychischen Kausalität tuiw. 145
mehrfach betont, kein exlenHives XebeiieinautlLr aLs Sclicnia dti
Anwendung des Kraft Ixjgriffes im Psychischen gibt»).
Ferner werden wir für den Ursachenlxjgriff im strengen Sinne,
wie wir sehon salien, auf den der Selbsttätigkeit zurückgeführt. Wir
bezeichneten diese ja Ix-reits als Ursache des ersclieinenden Psychi-
Hchen; und von ihr stellten wir ex definitionc fest, daÜ sie psycho-
logisch nicht weiter »verursacht «, aber in ihrem Ursächlichwerden
an die Bedingung von erregenden Reizen gebunden ist. Diese Bin-
dung gibt ihrerseits weitere Fragen auf, die sich für eine Dynamik
des Psychischen als entscheidend herausstellen werden, aber von
der Kant ischen und Xaclikunt ischen Psychologie in ihrer Bedeutsam-
keit nicht gesehen worden sind. Wir kommen darauf noch in dieser
Abhandlung ausführlich zurück; zunächst verbleiben wir noch bei
dem Ursächlichkeitscharaktcr der Spontaneitätsweisen selber stehen.
Vom physikalischen Kraftbegriff gilt, daß er der für sich zureichende
(Jruiid einer Veränderung ist; wo Kraft ist, muß die Veränderung
folgen, wenn der Gegenstand der Einwirkung gegeben ist; wird da.>-
Dasein der Kraft angenommen, so ist auch das Dasein der durch sie
erwirkten Veränderung hinreichend und mit Notwendigkeit erklärt.
Im Psychischen aber ist diese Ursache eine bedingte — nämlich
tlurch ihre Anregung erst zur Aktualität gelangende. Mithin wäre
ein hiernach anzuwendender Kraft begriff duroli das Merkmal dieser
Bedingtheit und Abhängigkeit eingeschränkt. Endlich ist — als
dritter Unterschied zum Physischen eine Wirkung dieser Kraft im
Psychischen über die inimittelbar erwirkte seelische Tätigkeit, näm-
lich über das Funktionieren der psychischen Funktion, der wir diese
Kraft zuschreiben, hinausgehend psychologiscii nicht vorhanden.
(Aber freilich kann der Vollzug der einen Funktion auslö-sende An-
regung zum Vollzuge weiterer Funktionen sein.)
Der Funktionsbegriff im Psychischen.
Diese grundlegenden Unterschiede im Kraftbegriff der physischen
und psychisclien Natur legen es uns nahe, von der Anwendung des
Terminus Kraft auf psychisches Geschehen sensu stricto keinen
Gebrauch zu machen^). Allerdings liegen diese Unterschiede
nicht in dem wissenschaftstheoretischen Merkmalen des Kraft l:)egriff es,
sondern nur in den Bedingungen seiner psycltologischen Schematis-
men. Das Korrelat des Kraft begriffes der Physik wies im Psychischen
bei den Kantischen Psychologen bereits diese drei Unterschiede auf
») Bleuler (Psj'chischo Kausalität und Willensakt. Ztschr. f. P.\vchol. 1914.
8.42) behauptet ilie (Jeltung des Knerui' pe.sctzcs im Ps^ychischen und hält dieeo
Frage fiir »ine solehe von einpiristber Kntsrheidbarkelt. Das ist irrig.
*) .Mit dieser Kinschränkung stt-llcn wir uns nicht etwa auf den Boden der
Nator])scluii uTundsätzIichen Ablehnung tles Begriffs psychischer Kräfte, die
auf haltlosen Dekreten ohne (Iründliebkeit beruht (Allgem. Psychologie. 1. 1912.
S. 266).
KruQfeld, FaychUtrUcbe ErkenDtnla. 10
146 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
lind wurde von ihnen als Vermögen der Seele bezeichnet. Hier-
unter wurde verstanden: die bedingte Ursächlichkeit psychischen
Ablaufens, ferner eine Tätigkeit, die den Grund ihres Vollzuges in
sich selber trug, ferner auch die selbsttätige Veränderung ihrerseits
in der Weise ihres sich Vollziehens. Schon diese Unklarheiten führten
zu heftigem Streit um den Begriff Vermögen; seine Bedeutungen
wurden in der Folge noch verwaschener. Um dem ganzen Streit
über den Vermögensbegriff und allen hierauf bezüglichen Mißver-
ständnissen aus dem Wege zu gehen, ersetzen wir. ihn durch den auch
bisher von uns schon in diesem Sinne verwendeten Begriff der psy-
chischen Funktion. Wir erklären dabei ausdrücklich, daß wir
jede andere Bedeutung des Funktionsbegriffes im Psychischen für
unsere ferneren Darlegungen ablehnen i). Wir bezeichnen also mit
dem Terminus Funktion das Ergebnis unserer bisherigen Deduk-
tionen: Funktion ist der Inbegriff der psychologischen Vorbedin-
gungen des Vollzuges seelischer Abläufe, welche ihrer Seinsweise
nach jeweils zu gleichen Klassen gehören. Also nicht das Ablaufen,
das Funktionieren selber, das was wir als Akt bezeichnen wollen,
sondern den Grund seiner Möglichkeit, abgesehen vom Anlaß seiner
Verwirklichung, nennen wir Funktion. Und wir bestimmen diesen
Grund der Möglichkeit seelischen Funktionierens wissenschafts-
1) Ganz und gar nichts zu schaffen hat also dieser Funktionsbegriff mit
irgendwelchen mathematischen, logischen und »gegenstandstheoretischen« Kon-
zeptionen in der Literatur, welche ebenfalls den Terminus s-Funktion« bean-
spruchen, in einzelnen Fällen sogar den der »intentionalen Funktion« (Russell).
Aber auch innerhalb der eigentlichen Sphäre der Psychologie und Phänomenologie
ist der Funktionsbegriff bereits mannigfach — und in divergierenden Richtungen —
durch theoretische und fiktive Konjekturen belastet. Er bedeutet etwas anderes
in der Brentanoschule, etwas anderes bei Stumpf, etwas anderes bei Husserl.
Wir lehnen es ab, unsere Fassung mit diesen Konzeptionen vermengt zu sehen.
Dabei verkennen wir die weitgehende Ähnlichkeit nicht, die Husserls Funktions-
begriff mit dem unsrigen aufweist — nur daß er ihn rein phänomenologisch ent-
wickelt und ständig in eine ungeklärte Relation zum »Bewußtsein « setzt, von der
wir hier nichts aussagen. Auch wir halten die Durchbildung des Funktionsbegriffes
für ein Zentralproblem der eigentlichen Phänomenologie. Hier geben wir nur den
Ursprung seiner Notwendigkeit im Rahmen rationaler Wissenschaftstheorie als
Grund der Möglichkeit psychologischer Theorie überhaupt an, entwickeln aber
noch nicht seine Strukturen und Qualitäten. Eine derartige zentrale, »transzen-
dentale « Ableitung und Notwendigmachung des Funktionsbegriffes für alle phäno-
menologische Deskription fehlt bei Husserl, zum Schaden der Systematik seiner
phänomenologischen Aufstellungen, die auf diese Weise den Anschein willkürlicher
Inventionen erwecken. Zu Unrecht freilich ! Er hat sachlich völlig unsern Beifall,
und schwebt doch theoretisch ganz in der Luft des Dekretierens, wenn er schreibt —
was wir nunmehr zu begründen vermögen — : »Der Gesichtspunkt der Funktion
ist der zentrale der Phänomenologie, die von ihm ausstrahlenden Untersuchungen
umspannen so ziemlich die ganze phänomenologische Sphäre . . . An die Stelle
der an den einzelnen Erlebnissen haftenden Analyse und Vergleichung, Deskription
und Klassifikation, tritt die Betrachtung der Einzelheiten unter dem »teleo-
logischen« Gesichtspunkte ihrer Funktion, »synthetische Einheit« möglich zu
machen« (Ideen usw. Jahrbuch, a. a. O. S. 176). Wir rechtfertigen Husserls
bloße Behauptung durch die Wissenschaftstheorie. — Im übrigen wird der Funk-
tionsbegriff noch in der Phänomenologie seine weitere Erörterung finden.
Einführung in die Probleme der pHychibclien Kuumilitut uhw. 147
theoretisch als Bereitschaft oder Tendenz oder »Fähigkeit« des P«y-
cliischen, den Grund zu ihrer Verwirklichung in einem durch nie
als Tätigkeit gewirkten seelischen Sichvollziehen in sich sellx;r zu
tragen, jedoch hei der Verwirklichung an auslösende Erregungen
gebunden zu sein. Der Clrinid der Verwirklichung des durch sie
bewirkten seelischen Sichvollziehens erstreckt sich nicht nur auf da«
Sein und Geschehen dieses Vollzuges, sondern auch auf seine Be-
schaffenheit, auf das Wie seines Seins. Schon hieraus folgt die Not-
wendigkeit einer Vielzahl hypostasierter Funktionen.
Das Prinzip der Unterscheidung von psychischen
Funktionen.
Sie zu unterscheiden und aufzufinden, ist im einzelnen Sache
des seelischen Erfahrens selber. Es gibt keine apriorischeSyste-
matik der möglichen oder der vorhandenen psychischen
Funktionen. In derartigen willkürlichen Statuierungen, die den
Charakter der materialen Psychologie als Erfahrungs Wissenschaft
übersehen, bestand ein Grundfehler nicht nur der vorkantischen
rationalen, sondern auch der nachkantischen systematischen und
intellcktualistischen Psychologie. Eine Funktion muß für jede in
der Erfahrung aufgefundene Klasse von psychischen Abläufen als
Grund ihrer psychologischen Möglichkeit substituiert werden. Die
Auffindung derartiger Klasseneinheiten psychischer Vollzüge ist eine
methodologische, später besonders zu behandelnde Frage, bei welcher
es das Verliältuis der Abstraktion zur Induktion und beider zu ihren
leitenden Maximen zu erörtern gilt. Da aber die einzelnen leitenden
Maximen ihrerseits aus regulativen Prinzipien herstammen müssen,
welche der Wissenschaftslehre des Psychischen und ihren Grund-
sätzen entnommen sind, so sind wir vor der Notwendigkeit, das
regulative Prinzip zur Auffindung von Funktionen schon hier, in der
Wissenschaftstheorie selber, zu entwickeln. Es folgt analytisch
aus dem Begriff von Tätigkeit, welcher dem Vollzuge der Funktionen
insgesamt als konstitutives Merkmal angehört, wie wir schon be-
gründet haben.
Tätigkeit nämlich erstreckt sich ihrem Wesen nach immer auf
Etwas, hat ein Ziel, bezieht sicli auf einen Gegenstand. Wenn wir
von ziellosem Tun reden, so drücken wir uns ungenau aus; in solchem
Falle ist uns Dasjenige, in bezug auf welches dieses Tun ein Tun ist,
nicht erkennbar oder bestimmbar. Der Begriff des Tuns aber ohne
das korrelative Objekt, in bezug auf welches das Subjekt des Tuns
in jenem Begriff als tätig ausgesagt wird, hat keinen Sinn. Von
diesem Objekt ist l>egrifflich weiter nichts zu fordern, als daß es durch
den Vollzug der Tätigkeit für das tätige Subjekt zu einer durch die
Tätigkeitsweise bestimmten Gegebenheit gelange. Der Tätigkeits-
begriff erfordert also analytisch den eines potentiellen Objektes, in
bezug auf welches die sich realisierende Tätigkeit ein Tun ist.
lü-
148 Über die wissenschaftstheoretisclien Grundlagen der Psychologie usw.
Ist dies eingesehen, so ergibt sich die Anwendung auf die psychi-
schen Funktionen leicht. Es liegt dann in ihrem Begriffe, daß die
Verwirklichung ihres Vollzuges dem Subjekt dieses Funktionierens,
dem »Ich«, die Beziehung auf ein Etwas vermittle^). Und dieses
Etwas wird zum Etwas durch den Vollzug der Funktion, je nach der
Weise, in welcher sie es für das »Ich« zum Etwas bestimmt. Die
potentielle Gegenstandsbestimmung ist also ein Wesens-
merkmal aller psychischen Funktionen, dessen wissenschaftstheore-
tischer Grund in dem Begriff der Spontaneität selber beruht. Wir
finden hier abermals Brentanos Definitionsmerkmal alles Psychi-
schen, den objektivierenden Charakter, die intentionale Inexistenz^),
als wissenschaftstheoretisch notwendig bestätigt. Damit haben wir
alle Kriterien Brentanos für das Wesen des Psychischen, welche
er nur empirisch gültig sah, der Zufälligkeit ihres empirischen Cha-
rakters entkleidet und am Wesen des Psychischen wissenschafts-
theoretisch verankert s).
Dann aber folgt weiter: es muß so viele psychische Funktionen
geben, als es Weisen gibt, durch welche dem psychologischen Sub-
jekt ein Objekt gegeben werden kann. Denn die Weisen des Ge-
gebenseins von Objekten für das Ich sind ja das Ergebnis des Voll-
zuges der jeweils realisierten Funktion. So viel Arten also in der
psychischen Beziehung des Ich auf Objekte auffindbar sind, so viel
verschiedene Funktionen sind als der Grund der Möglichkeit dieser
jeweiligen Beziehung anzusetzen. Auch dies Kriterium rührt in etwas
anderer Fassung von dem Genius Brentanos*) her; Husserl hat
es übernommen. Die Weisen der zu fundierenden Beziehungen aufs
psychologische Subjekt dürfen ihre Verschiedenheiten nicht den
Verschiedenheiten der Objekte verdanken, welche sie dem Subjekt
geben; sie müssen vielmehr vmabhängig von ihnen sein; nur dann
entspricht ihnen jeweils eine besondere Funktion. Damit ist nicht
1) Von »dem Ich« ist hier und im folgenden vorläufig bloß in dem Sinne
des Subjektes jeweiliger funktionaler Tätigkeit als einer bloßen Hypostasie -
rung ohne weitere psychologische und theoretische Bestimmung die Rede.
2) Vgl. oben S. 132 dieses Buches, Anm. 1. Über den Intentionsbegriff später
Genaueres (vgl. S. 339 ff.).
3) Mit Ausnahme seiner Behauptung vom Vorstellungscharakter des Psy-
chischen.
*)a. a. O. S. 248ff.,260ff. Von der Klassifikation der psychischen Phänomene.
1911. Kap. 1. Die Wichtigkeit des Brentanoschen Klassifikationsprinzips kann
gar nicht hoch genug angeschlagen werden.
Kant und nach ihm Hamilton und Lotze teilen die psychischen Phäno-
mene danach in Grundklassen ein, daß die einzelnen Klassen weder auseinander
ableitbar, noch auf eine dritte gemeinsame Klasse zurückführbar sein dürfen
(Kritik der Urteilskraft, Einleitung, III). Hiergegen wendet Mill ein, diese »Un-
ableitbarkeit« gelte von allen unmittelbaren Qualitäten. Man könne auch Rot-
Bchen nicht auf Blausehen zurückführen. Jede einzelne Farbe sei deshalb letzte
unabwendbare Tatsache (Deduktive und induktive Logik. Buch III. Kapitel 14.
§ 2). Brentano zeigt nun die Ungereimtheit, die darin liegt, für jede einzelne
Farbenquahtät eine besondere unmittelbare psychische Grundfunktion anzu-
nehmen. Der an sich richtige, aber viel zu vage Gedanke der Unableitbarkeit
Einfühning in die Probleme der psychischen Kausalität u»w. 149
ausgeschlossen, daß es nicht im Wesen bcstiniinter ()l)jekto oder
potentieller Objekte liegen könnte, dem Ich auch nur in Vjcstimraten
Weisen gegeben zu werden, also die Realisierung adäquater be-
stimmter Funktionen zu erfordern.
Alle diese Fragen sind Fragen von empirischer Entscheidung;
und wir werden sie später in der Phänomenologie, die wir für eine
empirische Disziplin halten und als solche rechtfertigen werden,
wieder antreffen. Hier genügt es, die allgemeine Regel zur Auf-
findung der Funktionen und das allgemeine hinreichende Kriterium
für die besondere funktionale Fundierung psychischer Ablaufsweiseu
wissenschaftstheoretisch sichergestellt zu haben. Wir haben damit
den einen Weg zur riclYtigen psychologischen Anwendung der Kausal-
kategorie gebahnt 1).
Erörterung von Einwanden:
Bevor wir aber weiter gehen, ist noch eine Klärung des bisher
Erreichten notwendig. Durch den Einfluß von Herbart und Wundt
ist bekanntlich die Wolf f -Kantische Vermögenstheorie von der
gesamten modernen Psychologie aufgegeben worden. Und wenn wir
uns auch für die Bestimmung und Entwicklung unseres Funktions-
begriffes frei gemacht haben von der Vieldeutigkeit des alten Ver-
mögensbegriffes, so treffen doch einige Einwände, welche in der
Literatur gegen diesen Vermögensbegriff erhoben worden sind, sach-
lich auch für unseren Funktionsbegriff zu. Solche Einwände können
sich richten erstens gegen die begriffliche Fassung selber, zweitens
gegen die Vielheit der Funktionen und drittens dagegen, daß das
unter diesen Begriffen erfaßte Psychische eine wirkliche Realität,
ein einheitliches psychisches Gebilde und nicht bloß eine willkürliche
Abstraktion darstellt.
muß mich ihm in bestimmter Weise ausgebaut und eingeschränkt werden; die
Einteihiiig muU aus dem Studium der psychischen Phänomene selbst
hervorgehen. Die Einteihing in primitive und abgeleitete Seelenerscheinungen
(Bain) ist deshalb unzweckmäßig, weil die primitiven Erscheinungen da, wo sie
selbständig und unabhängig von höheren auftreten, z. B. also bei Tieren, nicht
direkt zu beobachten sind. Nur die Klassifikation wird demnach möglich, welche
die verschiedenen Beziehungen zum immanenten Gegenstände der
psychischen Tätigkeit oder die verschiedem-n Weisen seiner intentio-
nalen Existenz zum Einteilungsgrund nimmt. Die innere Erfahrung i^t hierbei
Schiedsrichter, der im Streit über Gleichheit oder Verschiedenheit der intentionalen
Beziehung allein zum Urteil berechtigt.
*) Ähnliche gnindi^ätzliche Erwägungen bei Lotze, Medizin. Psychologie.
I8ö2. S. 151 ff. Wenn Hellpach (Ztschr. f. Psychologie. Bd. 18. S. 338ff.), der
mit Recht die Übertragbarkeit der Kausalgleichung aufs Psychische venieint,
daraus auf ein Problematischwerden der Kausalität selber für Psychisches schließt,
so verwechselt er Kraftbegriff und Kausalbegriff. Die »Erfahningstatwche des
Zusaminenhängens« seelischer Erlebnisse fordert doch irgendeine notwendige Er-
kenntnisform, die in dir Konstatiening dieses »Zusammenhängens« schon impliziert
ist. Welche - außer der kausalen - kennt denn Hellpach noch und kann ihren
Rechtsgnuid nachweisen?
150 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
1. Gegen die Konzeption des Begriffes der Funktion.
Hinsichtlich des ersten Einwandes gegen die Konzeption des
Begriffes der Funktion wiederholen wir nochmals unseren Ge-
dankengang: Der Kausalbegriff ist zur Erklärung der psychischen
Abläufe eine unvermeidliche Notwendigkeit. Seine Abweisung würde
den Anforderungen aller Naturwissenschaft Hohn sprechen. An-
dererseits fanden wir, daß der Kraftbegriff aufs Psychische nicht in
seiner wissenschaftstheoretischen Bestimmung anwendbar ist. Er
muß vielmehr gemäß dem Wesen psychischen Ablaufens umgeformt
werden. Für das Psychische wurde der Begriff einer Kraft erfordert,
welche unter den Bedingungen der Selbsttätigkeit und Anregbarkeit
steht. Ist unsere frühere Deduktion der Sell^sttätigkeit und Anreg-
barkeit richtig, so ist es auch der aus ihr abfolgende Begriff der Funk-
tion, welcher den einzig möglichen Kausalbegriff für seelische Tätig-
keiten darstellt, für die kein äußeres Kausalverhältnis möglich ist.
Unter der Substanzkategorie fanden wir das Formgesetz des Psy-
chischen als anregbare Spontaneität, unter der Kategorie der Ursache
bestimmt es sich näher durch den Begriff von Funktionen. So läßt
sich Schritt für Schritt die Gültigkeit des Funktionsbegriffes für die
Kausalerklärung der seelischen Erscheinungen aus den notwendigen
Grundgesetzen des Psychischen wissenschaftstheoretisch entwickeln.
Mithin ist dieser Begriff keine Fiktion, sondern geht auf wohl sub-
stantierte Realitäten.
Wie sich aber dieser Funktions begriff, der als wissenschafts-
theoretische Forderung entwickelt wurde, zu denjenigen Begriffen
von Funktion und Akt verhält, deren psychologische Struktur am
sorgsamsten von Brentano, Meinong, Marty, Husserl, Messer
und V. d. Pfordten und ihren Schülern durchgebildet wurde —
wenngleich es zu einer widerspruchsfreien Klärung nicht kam — dies
jniiß späteren Untersuchungen dieses Buches vorbehalten bleiben,
welche sich auf die eigentliche Funktionspsychologie erstrecken.
2. Gegen die Vielzahl psychischer Funktionen.
Der zweite Einwand richtet sich gegen die behauptete Vielzahl
von Funktionen. Allerdings muß letzten Endes der Funktions -
begriff auf die Einheit alles Psychischen zurückbezogen werden.
Denn diese muß, durch den Schematismus des reinen Selbstbewußt-
seins, als das Eine Subjekt aller inneren Tätigkeit gedacht werden.
Somit ist dieses Formgesetz alles Psychischen letzten Endes in der
Tat die Eine Grundquelle aller einzelnen Funktionen. Damit ist
aber noch nicht entschieden, daß dieses eine Formgesetz sich nicht
wieder in verschiedenen vielfältigen Funktionen auswirken könne,
die ihrer jeweiligen Qualität nach nicht ineinander überführbar sind.
Mit ihrer Annahme braucht andererseits die Einheitlichkeit des Psy-
chischen durchaus nicht aufgehoben zu sein. Wir gehen aus von der
Verschiedenheit der psychisch gegebenen Tätigkeiten mid Vollzüge.
Einführung in die Probloine der psychischen Kauiialität u.-w. I.'il
Für diese suchen wir Krklürungsgründe. Die einzelneii gefundenen
Krklärungsgründe werden von dem genieinsurnen identisclien Subjekt
alles seelischen (Jescheliens als dessen Auüerungsweisen ausgesagt.
In diesem ganzen Gedankengange liegt nirgends eine logische Un-
zulässigkeit, welche einen Zweifel an der logischen und wissenschafta-
theoretischeii Bereclitigunj^ einer Vielzahl von Funktionen stützte.
Es liilit sieh aber auch direkt nachweisen, daß es eine Vielzahl solcher
Funktionen geben muU. liest ünde nämlich das psychische Geschehen
nur aus einer einzigen Funktion, so könnten auch deren Wirkens-
weisen immer nur von einer einzigen Art sein. Es könnte keine
(jualitativ verschiedenen inneren Tätigkeiten geben, sondern nur
Verschiedenheiten der II^tensität. Ferner könnte es gar keinen
Wechsel seelisclier Tätigkeiten in der Zeit geben: wäre die angebliche
alleinige Funktion alles Psychischen einmal zur Tätigkeit angeregt,
so könnte sie diesen Tätigkeitszustand nicht aufgellen oder wechseln,
solange nicht eine andere Ursache einwirkt. Diese Ursache könnte
aber nach der Definition der »Spontaneität nur wieder eine psychische
sein. Nun besteht aber ein derartiger Wechsel psychischen Ge-
schehens, Woher sollte dessen psychische Ursache kommen, wenn
nicht aus einer anderen Funktion, die ja als Ursache psychischer
Veränderung definiert ist? Die vorausgesetzte einzige Funktion
würde psychologisch nur ganz allgemein bezeichnet werden können :
als die allgemeine Möglichkeit, in verschiedenen und immer anderen
Richtungen zu psj'chischer Tätigkeit bestimmt zu werden. Dies
wäre aber keine wirkliche psychologische Beschreibung, sondern
nur eine leere logische Abstraktion, aus welcher eine reale Erklärung
der verschiedenen Arten von seelischer Tätigkeit nicht möglich wäre.
Die angebliche Eine Funktion bestände nur in dem Begriff der Möglich-
keit von j)sychischer Selbsttätigkeit überhaupt, denn nur dieser bleibt
nach Abstraktion von allen versciiiedenen Qualitäten der Tätigkeiten
übrig. Aber gerade diese verschiedenen Qualitäten sind es, die durch
die Funktionen erklärt werden sollen; und nur durch die besondere
Qualität seiner Tätigkeit kann der Funktionsbegriff jeweils Realität
erlialten. Somit nuiii eine Vielheit von Funktionen bestehen.
Welche und wieviele Funktionen in Frage kommen, dies freilich
bestimmt sich nur empirisch nach der von uns angegebenen Regel.
Soweit eine Erklärung psychischer Tätigkeiten aus fundierenden
anderen Tätigkeiten möglich ist, soweit ist auch die Annahme berech-
tigt, eine V^ielzahl von Tätigkeiten unter der Einheit einer funk-
tionalen Erklärung zusammenzufassen. Und nur wo Qualitäten aL<
unauflöslich und nicht weiter zurüekführbar feststehen, muß eine
Besonderheit der sie fundierenden Funktion als ursprünglich ge-
geben angenommen werden. Die Funktionen also sind die Real-
gründe und Erklärungsgründe für die inneren Tätigkeiten: diese
letzteren aber sind die einzigen Erkennt nisgründo der Funktionen.
Die Frage, auf welche Weise nun die einzelnen Funktionen in
ihrer Realität erkannt werden, und welches die Rechtsgründe dieses
152 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Erkennens sind, gehört nicht mehr hierher; sie ist eine Teilfrage der
psychologischen Analyse und ihres Verhältnisses zur Phänomeno-
logie. Hier genügt der Nachweis, daß wissenschaftstheoretisch nur
eine Vielzahl von Funktionen der psychischen Realität zu genügen
vermag.
Über die Annahme einer einzigen »psychischen Kraft«,
Unter denjenigen, welche den Kraftbegriff im Psychischen auf
eine einzige funktionale Einheit zugespitzt haben, übergehen wir
die Rationalisten, welche dies mit der Besorgnis um die Einheit-
lichkeit ihres Seelenwesens zu rechtfertigen suchten; aber eigen-
artigerweise finden wir auch einen wirklichen Psychologen unter
ihnen: Lipps hat, im Anschluß an Herbartsche Gedankengänge,
folgende Formulierungen entwickelt i): »Die psychische Kraft ist
eine einzige, das Eigentum der einheitlichen Seele, und steht jedem
einzelnen psychischen Vorgang in gleicher Weise zur Verfügung.
Diese Aneignung aber geschieht jederzeit auf Kosten der anderen
gleichzeitigen psychischen Vorgänge. Es gilt die Regel: jeder psy-
chische Vorgang hat die Tendenz der Aneignung der psychischen Kraft
auf Kosten aller übrigen.« Zu dieser Auffassung kommt Lipps
von einem dem unseren nahe verwandten Ausgangspunkt. Auch
er 2) sieht in dem Kraftbegriff das theoretische Mittel, die Gesetz-
mäßigkeit seelischen Geschehens zu bestimmen. Auch er stellt fest,
daß der in der Seele zurunde liegende Begriff von Tätigkeit über den
KJreis bloßer Beobachtung hinausgehe, und daß man berechtigt
und genötigt sei, darüber hinauszugehen. Aber das führt ihn weiter
zu dem Schlüsse, daß wir überhaupt über unsere Akte — unsere
psychischen Vollzüge — nichts aus unmittelbarer Beobachtung,
sondern nur etwas aus ihren Gegenständen erfahren. Mithin sollen
alle Unterschiede im Psychischen nur solche der Gegenstände sein;
mid damit kommt er naturgemäß nur zu einer einzigen psychischen
Kraft. Er übersieht aber dabei, daß, wenn wirklich alle Unterschiede
an psychischen Vollzügen nur solche der Gegenstände dieser Voll-
züge sind, die Psychologie als besondere Wissenschaft, aller Inhalte
beraubt, aufhört zu bestehen. Und dabei ist diese Behauptung vom
Grunde des Unterschieds psychischer Vollzüge weder von Lipps
praktisch befolgt, wie Meyerhof 3) ihm nachweist, noch an sich selber
richtig. Beim Denken und beim Wahrnehmen eines und desselben
Gegenstandes kann doch wohl von einem bloß intensivem Unter-
schiede des Bewußtseins nicht die Rede sein; und da der Gegenstand
1) Leitfaden der Psychologie. 3. Aufl. 1909. S. 81.
2) Grundtatsachen des Seelenleben?. 1883. S. 16. 25. 156ff.
3) Er schreibt (a. a. O. S. 40): »Lipps sagt: ,Unserer Denkakte sind wir uns
nicht bewußt . . . Aber woher weiß Lipps etwas von den Denkakten? Er könnte
doch nur von ihren Gegenständen etwas wissen, wenn er außer diesen nichts
wahrnähme. «
Einführung in die Probleme der psychischen Kausalität usw. I,j3
der gleicho ist, mü.ssen dio phäuoinenalon Untorschiedo in psychi-
schen Qualitäten beruhen. Hiermit fällt aber das einzige Argu-
ment für dio Einzigkeit der psychischen Kraft in sich zusammen;
alles übrige ist Begriffsmythologio konstruktiver Art.
Das Wundt-Herbartsche Argument: den Funktionsklassen
entspricht keine konkrete Wirklichkeit.
Damit kommen wir zum dritten der möglichen Einwände gegen
den hier geforderten Funkt ionsbcgriff: Daß nämlich das unter diesem
Begriff jeweils zusanunengcfaßle psychische Geschehen nicht ein
reales psychisches Einheitsgebilde sei, sondern bloß eine willkürliche
Abstraktion. Wundt hat diesen Einwand dahin formuliert, daß
man sich bei Bildung derartiger Begriffe »begnügt, Erscheinungen
auf Grund gewisser übereinstimmender Merkmale in ein Wort zu-
sammenzufassen «i). Sie seien nichts anderes als »eine abstrakte
Generalbezeichnung für eine Menge von einzelnen Tatsachen, die
überall nur als konkrete Einzelinhaltc des Bewußtseins vorkommen «*),
und somit nur »Uberlebnisse des Nominalismus«'). Dieser Einwand
Wundts stammt bereits von Herbart^). Herbart führt aus,
daß die psychischen Zustände und ihr kontinuierliches Fließen gar
nicht in festen Abstraktionen aufgefaßt werden könnten, ohne eine
Entstellung ihrer eigentlichen Natur. Indem wir abstrahieren, müssen
wir eine Menge Bestandteile des psychischen Geschehens aufgeben,
eben um einen festen Begriff zu fassen. Und wenn wir nun aus
solchen abstrakten Begriffen die Zustände des Seelenlebens erklären
wollen, treffen wir damit die Wirklichkeit gar nicht mehr.
a) Die Unvermeidlichkeit der Abstraktion in der
Wissen8ch.aft.
Bei diesem Einwände von Wundt und Herbart gehen zwei
Tendenzen durcheinander. Erstens nämlich betont er die Schwierig-
keiten des Abstrahierens überhaupt angesichts der Kontinuität des
Psychischen. Diese Schwierigkeit besteht nun ganz gewiß. Wa-s
vom Verhältnis der Abstraktion zur Wirklichkeit darin behauptet
wird, gilt aber nicht allein von der psychischen Wirkliclikeit und dt'V
psychologischen Abstraktion, sondern genau so auch von der phy-
ischen Natur. Es besagt nicht mehr und nicht weniger als die alte
Wahrheit, daß das Abstrakte niemals eine getreue Wiedergabe der
vollen Wirklichkeit des Konkreten sein kann. Das hat die Wissen-
schaft nicht gehindert, auch in der physischen Natur von der Ab-
») Physiol. Psyehol. 5. Aufl. III. Bd. S. 296.
2) a. a. O. y. 24!.
3) a. a. (). S. 219.
*) Handbuch d. empir. Psychol. S. 3, 7 ff. Psychologie als WiaaenaolufC.
S. 22 ff.
154 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
straktion stets den notwendigen und umfassenden Gebrauch zu
machen — eben um Wissenschaft zu sein und Wissen zu verbürgen.
Denn unsere Erkenntnis ist nun einmal so beschaffen, daß dies ein
unvermeidliches Verfahren ist. Alle Naturwissenschaft verfährt
notwendig so : ihr Weg ist, zur Erklärung der konkreten Anschauung
der Wirklichkeit diese in das wissenschaftliche Bewußtsein zu heben,
für die Reflexion zu formen. Und dazu bedürfen wir der Urteile
und Begriffe. Letztere aber erhalten wir durch Abstraktion. Lehnen
Wundt und Herbart für die Psychologie um der konkreten Wirklich-
keit willen alle Abstraktionen ab — so müssen sie der wissenschaft-
lichen Form und Bearbeitung überhaupt entsagen. Aber das tun
sie natürlich nichts). Her bar t z. B. in seiner mathematisch be-
handelten Lehre von der Hemmungssumme der Vorstellungen setzt
als Gegenstände seiner Berechnungen doch Kräfte von verschiedener
Stärke voraus; und was sind Kräfte anders als »Abstraktionen« in
seinem Sinne ? Sie werden doch auch erst zu den Beobachtungen der
konkreten Wirklichkeit hinzugedacht.
Die erste Interpretation des Her bar t -Wundt sehen Einwandes
gegen den Abstraktionscharakter psychologischer Begriffe trifft also
nicht nur den Eunktionsbegriff, sondern jeden psychologischen Be-
griff überhaupt, also auch ihre eigenen. Und ganz besonders sollte
sich der Neuerfinder des psychologischen Apperzeptionsbegriffes,
dieses Musterbeispiels ungenügender und unzulänglicher Abstraktion,
davor hüten, aus dem Glashause mit Steinen zu werfen. Ferner aber
trifft diese Tendenz nicht nur die Psychologie, sondern alle Empirie •
überhaupt. Und endlich erschwert oder behindert der Charakter
der Abstraktion zwar die Wissenschaft, macht sie aber andererseits
allererst möglich. Der Einwand, soweit als er die eben angedeutete
Tendenz zum Ausdruck bringen soll, ist also nur von komparativer
Gültigkeit; er fordert methodische Besonnenheit in der Anwendung
der Abstraktion und einwandfreie Maximen für dieselbe; mehr be-
sagt er nicht.
Freilich ist die Sache damit noch nicht ganz erledigt. Der Wirk-
lichkeits- und Konkretheitscharakter psychischen Geschehens ist
doch, gegenüber dem der körperlichen Natur, noch von besonderer
Art. Dies liegt an dem bloßen Zeitkontinuum und der Gegebenheits-
weise der psychischen Wirklichkeit. »Wir können uns einem Menschen
vergleichen, der von einem dunklen Zimmer aus durch ein kleines
Fenster die sonnenbeschienene Welt betrachtet: draußen ist alles
leicht unterscheidbar, kehrt er sich aber um, so findet er sich schwer
in seiner dunklen Behausung zurecht. Im Inneren finden wir einen
1) Ebensowenig tut dies etwa Heinroth, der noch viel schärfere Worte gegen
»die Vergötterung der sogenannten Wissenschaft« in der Psychologie findet
(Psychologie als Selbsterkenntnislehre. 1827. S. 4); oder Moebius, der ähnlich
argumentiert; und am krassesten, fast wie ein Witz der Geistesgeschichte, wirkt
dieser Widerspruch zwischen dem antiwissenschaftlichen Programm und der
Methode bei Bergaon.
Einführung in die Probleme der psychischen Kausalität usw. 155
Strom nur zeitlich geordneter Erlebnitjse, die nicht nur des Maßes
spotten, sondern auch wie ziehende Wolken zerfließen, wenn wir wie
festhalten wollen. Während sich das Ereignis vollzielit, können wir
es nicht betrachten, und ist es vorüber, so verändert es sich sofort
in der Erinnerung *).« Es liegt daher im Wesen der Sache, daß die
Schwierigkeiten der Abstraktion und der Analyse psychischer Tat-
bestände — ja auch schon der Begriff eines psychisclien Tatbestandes
selber — besonderer metliodologischer Klärung bedürfen. Wir geben
diese in einem späteren Zusammenhang dieses Buches ausführlich *),
und verweisen zum Pioblem der Analyse auf Cornelius 3) und vor
allem auf Meinongs-») grundlegende Arbeit. Als Ergebnis genügt
hier, daß diese Schwierigkeiten nicht unauflöslich und prinzipiell
sind, — wären sie das, so gäbe es Psychologie als Wissenschaft nicht.
Sie ändern daher am grundsätzlichen Gebrauche der Abstraktion
nichts.
b) Verwechslung von Abstraktion und Induktion beim
Wundt-Herbartschen Einwand.
Die zweite Tendenz des Her bar t-W und t sehen Einwandes
geht dahin, daß den abstrakt iv gewonnenen Begriffseiniieiten in der
Wirklichkeit keine realen psychischen Einheiten entsprächen, sondern
nur künstliche Gebilde von bloß logischer und nominaler Geltung.
Auch hierin geht richtiges und falsches durcheinander. Zunächst
beruhen die Funktionen gar nicht, wie diese beiden Forscher meinen,
auf Abstraktionen allein; sondern sie sind das Ergebnis von In-
duktionen. Sie stellen Gesetze für den Ablauf von bestimmten
psychischen Erscheinungsreihen dar, und zwar kausale Gesetze. Diese
werden niemals durch Abstraktion erreicht, welclie immer nur eine
einfache logische Klassenbildung hervorbringt und Begriffe erzeugt,
aber keine Gesetze, d. h. Urteile. Solche Gesetze für psychisches
Gesciiehen beanspruchen aber die Funktionen zu sein. Sie sind das
Ergebnis induktiver Schlußweisen aus einem — durch Abstraktion
freilich begrifflich und generalisiert gestalteten — empirischen Ma-
terial. Diese Induktionen haben natürlich niemals bloß logische,
sondern reale Geltung; und ebenso die aus ihnen gefällten Gesetze.
Es liegt also im Anspruch der Funktionen, real und nicht bloß logisch-
klassifikatorisch zu gelten. Und diese Geltung haben sie auch in
jedem einzelnen Falle, wenn sie richtig sind. Sind sie aber falsch,
') Mocbius, Die Hoffnungslosigkeit aller Psvchologie. 1907. S. 12.
2) Vgl. S. :}81 ff.
3) Vierteljahrsschrift f. Wissenschaft!. Philosophie. 1892. S. 4lUff. 1893.
S. 30ff. Ztsclir. f. Psychol. Bd. 24. !S. lITff.
•*) Htitrügc zur Theorie psychischer Analyse. Ztschr. f. Ps^xhol. 1894. S. 340
und 421 ff. Besonders sei betont, daß ich mich keineswegs mit allen Darlegungen
des ausgezeichneten Denkers in Übereinstimmung befinde. Dennoch gebrauche
ich den Ausdruck ».Vbstraktion* hier nur in\ synonymen Sinne mit Analyse, um
das psychologische Problem der Zerlegung gar nicht erst anzuschneiden.
156 Über die wissenschaftstheoretisclien Grundlagen der Psychologie ubw.
so haben sie gar keine Geltung: weder reale noch logische. Dieser
Teil des Einwandes beruht also auf einer Verwechslung von Klassi-
fikationen und Induktionen.
c) Das Kriterium der Realität von psychischen Klassen
liegt in der leitenden Maxime ihrer Bildung.
Nun ist jedoch etwas richtig Gemeintes an ihm, wenngleich in
der verfehlten Formulierung, die wir zurückwiesen. Nämlich ohne
zuvor erfolgende Analyse und ohne Abstraktion, ohne Klassenbildung
aus dem empirischen Material wären die induktiven Schlüsse auf
die Funktionen gar nicht möglich. Und diese Klassifikationen sind
willkürlich und entstellen die Wirklichkeit. Das letztere wurde schon
als unvermeidliche Voraussetzung aller wissenschaftlichen Arbeit
überhaupt dargetan. Es führte dazu, ein Kriterium methodischer
Art für die Abstraktion zu fordern: in welchem Falle ist das Ab-
straktionsergebnis sozusagen induktionsreif? In welchem hat es
nur seinen künstlichen klassifikatorischen Sinn, ohne Induktionen
auf reale Einheiten kausal fundierender Art zu gestatten? Der
Wundt-Herbartsche Einwand könnte zum Ausdruck bringen wollen,
ein solches Kriterium fehle in der psychologischen Theorie ; und daher
habe man keine Gewähr dafür, ob eine aus derartigen Abstraktionen
gewonnene induktiv erfaßte Funktion wirklich als natürliches Gesetz
zu gelten habe oder nicht, d. h. gar kein Gesetz sei, sondern ein Irrtum,
der sich als Gesetz für Psychisches nur fiktiv und künstlich ausgebe.
Hierzu ist zu bemerken, daß dieses Bedenken fraglos für die alte
Vermögenspsychologie in weitem Umfang zutraf. Es geht natürlich
nicht an und ist unpsychologisch im höchsten Grade, irgendwelche
komplexen psychischen Abläufe unter einem willkürlich heraus-
gegriffenen Abstraktionsgesichtspunkt zusammenzustellen, — ohne
Rücksicht auf ihre gesamte sonstige Struktur — und von diesem
Abstraktionsprodukt sodann ein funktionales Gesetz auszusagen.
So könnte man leicht zu beliebigen unmöglichen, ja direkt läppischen
psychischen »Funktionen« gelangen, die in der Tat nichts anderes
wären als ein leerer Nominalismus, dem keine reale psychische Ein-
heit entspräche. So könnte man beispielsweise auch eine psychische
Funktion des Rätselratens, des Violinspielens, des Wurzelziehens
aufstellen — womit denn psychisch einheitliche Gesetze des Rätsel-
ratenkönnens, des Violinspielenkönnens, des Wurzelziehenkönnens
oder ähnliche Gebilde als Realitäten behauptet würden.
Ein derartiger Unsinn wird aber für die hier entwickelte wissen-
schaftstheoretische Ableitung des Funktionsbegriffes im Psychischen
vermieden, wie wir schon früher ausführten. Einmal nämlich ist
uns die Art der phänomenologischen Analyse und Abstraktion selber,
so wie wir sie noch entwickeln werden, durch die Allseitigkeit ihrer
Deskriptionsgesichtspunkte eine Gewähr für eine größtmögliche
Adäquation der Bearbeitung an das Reale. Sodann aber haben wir
Einführung in die Problcmo d<r psychischen Kausalität usw. Iö7
ja das Kriterium für die Rcclitsgründe zur Annahme einer Funktion
als wahrhafter psycliologischer P^ntität an der Hand der Brentano -
sehen Formel bereits im Voraus entwickelt. Wir haben damit eine
leitende Maxime gewonnen sowohl für den Gesichtspunkt des Ab-
strahierens als für die Ausdehnung der abstraktiven Regression.
Wir wissen aus ihm, wie wir zu abstrahieren anfangen und wo wir
damit aufhören sollen. Seine Anwendung besagt, daß das psychische
8ich vollziehen als Tätigkeit aufgefaßt werden soll, und daß von allen
temporalen, quantitativen und gegenständlichen Differenzierungen
abgesehen werden soll, um die reine Weise der Tätigkeit, die rein
qualitative und in Relationscharakteren bestehende Komplexion
herauszuschälen. Was unter diesen Leitgesichtspunkten als unauf-
lösliche, psychologisch nicht weiter zurückführbare psychische Qua-
litätsklassen zurückbleiben, welche die Tätigkeit, die Objektbeziehung
des Subjekts in ihrer Sonderart auszeichnen, dies ist das Abstraktions-
material, aus welchem die Induktion auf besondere entsprechende
Funktionen sich notwendig ergibt. Diese sind dann die Realgründe
der reinen Qualitäten; und letztere sind notwendig selber real, gemäß
der Definition des Qualitätsbegriffes. W'ir verbleiben also bei diesem
ganzen Verfahren jeden Augenblick in innigster Berührung mit den
Sicherheiten anschaulicher Wirklichkeit.
d) Die Möglichkeit einer natürlichen Systematik von
Funktionen.
Den komplexeren Qualitätsstrukturen entsprechen die ihnen
adäquaten funktionalen Komplexionen, und jedes Merkmal eines
psychischen Vollzuges muß auch seinen Realgrund in einer Zusammen-
setzung und Komplizierung fundierender Funktionen haben. Diese
kann man natürlich nur durch abstraktive Analj'se der Merkmale
an den Vollzügen selber auffinden. So ergibt sich eine doppelte
Systematik, deren beide Seiten einander entsprechen: erstens eine
Systematik der Arten, auf die sich funktionale Strukturen kom-
plizieren können — welche Weisen des Verschmelzens, Sichverbindens,
Aufeinanderauf bauens vorkommen können; und zweitens dem-
entsprechend eine Systematik der so entstehenden funktionalen Ge-
bilde von den letzten fundierenden Grundfunktionen an bis zu den
verwickeltsten funktionalen Grundlagen seelischer Spezialleist ungcn
mid Vollzüge. Diese abstraktive Systematik ist immanent und ver-
hält sich zu den künstlichen Systemen der alten Vermögenspsycho-
logie, wie die natürlichen Systeme der Tiere und Pflanzen sich zu
den Linneschen Systemen verhalten. Das ganze System ist von
rein empirischer Geltung. Seine Aufstellung ist aber nur eine ideale
Forderung. Sic kann nur der Abschluß einer auszubildenden Phäno-
menologie und Funktionspsychologie sein. Bisher sind noch nicht
einmal die rohen Grundmauern dazu gelegt. Wissen wir doch noch
nicht einmal eindeutig, welche letzten fundierenden Grundfunktionen
158 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
es überhaupt mit Sicherheit gibt. Allein die Brentano sehe Schule
glaubt dies zu wissen. Brentano hat nur drei generisch verschiedene
Weisen der Bewußtseinsbeziehung auf Gegenstände anerkannt, denen
die Phänomene des Vorstellens, des Urteilens und des »Liebens und
Hassens« entsprächen. Bereits Meinong versuchte diesen Kreis
auszugestalten, wie seine Theorie der Annahmen beweist. Husserl
ließ noch eine Reihe weiterer Funktionen als möglich zu, ohne aber
bestimmte als Realitäten aufzustellen. Bei Brentano kommt noch
hinzu, daß er die letzten beiden Klassen seines funktionalen Systems
ihrerseits wieder auf die fundierende Klasse »Vorstellung« zurück-
bezog. Möbius hat sich mit sehr scharfen Worten gegen diesen
Primat der vorstellenden Funktionen gewandt i), und schon Fries
hat dargetan, daß das Vorstellen nur alsabge leitete Funktionsklasse in
Frage kommen kann, — wenn es überhaupt eine reale psychologische
Einheit ist. Wir werden den alten Streit, der nur in der Phänomeno-
logie und ontologischen Theorie schlichtbar sein wird, hier, wo es
sich nicht um materiales Einzelerfahren, sondern um dessen wissen-
schaftstheoretische Sicherung handelt, nicht erneuern 2). Es liegt
jedenfalls kein Grund vor, die Brentanosche Aufstellung schon als
abgeschlossene Systematik der fundierenden Funktionen und ihrer
Komplizierung zu allen möglichen seelischen Vollzügen zu betrachten.
Gibt sie selber sich doch als Produkt der Erfahrung — und wann wäre
diese je abgeschlossen?
Uns genügt es, an Brentanos Leitmaxime zur Auffindung von
Funktionen den Ariadnefaden für alle derartigen Untersuchungen
an der Hand zu haben. Vorläufig aber, solange wir noch am Anfang
aller funktionspsychologischer Arbeit stehen, bedürfen wir einer
Systematik noch gar nicht, welche erst das Ergebnis derselben sein
kann. Vorläufig begnügen wir uns damit, die gefundenen realen
Funktionen in Klassen zusammenzufassen, deren Bezeichnung wir
dem gewöhnlichen Sprachgebrauch^) entnehmen. Wir reden in
diesem Sinne vom Erkennen, der Wahrnehmung, dem Urteil, dem
Gefühl, den Trieben usw. und meinen damit die unter diesem ge-
wöhnlichen Sprachgebrauch zusammengefaßten, durch Analyse und
1) a. a. O. S. 28.
2) Hierüber handeln ausführlich der folgende Band dieser Untersuchung.
3) Auch wir schließen uns — wie Nelson es ohne Kenntnis desselben tat —
dem Bekenntnis Moebius' an, für die in der Umgangssprache niedergelegte
Psychologie »die innigste Verehrung zu fühlen« (a. a. O. S. 13). Andererseita
haben wir » als Psychologen zu sprechen «, und die Abnutzung und Verschwommen-
heit der vulgären Termini nötigt dann dazu, daß, wie Moebius sagt, »dann das
Populäre aufhören muß « ; »es müssen die Begriffe mit derselben Sorgfalt behandelt
werden, mit der der Physiker seine Begriffe behandelt; ja wegen der Schwierigkeit
der psychologischen Begriffe muß die Vorsicht verdreifacht werden «. Die Termini
der Umgangssprache, auf die wir zurückgreifen wollen, bedürfen also, um Klassen-
begriffe zu bezeichnen, der sorgsamsten definitorischen Abgrenzung. Aber es ist
törichter Hochmut, eine Psychologie nur deshalb als »Vulgärpsychologie« abzu-
lehnen, weil sie sich vulgärer Termini bedient und mit dem schönen Wort »Asso-
ziation« nicht fortwährenden Mißbrauch treibt.
Einführung in die Probleme der psychisehcn Kausalität usw. 159
Induktion aufgefuiuleiuMi und nach bestininiten Merkmalen loginch
vereinigten einzelnen Funktionen, welche wir als Realgrund hierunter
fallender Vollzüge erfaßt haben. Diese Klassenbildungen sind künst-
liche und gelten nur logisch; die Funktionen selber aber, welche wir
unter ihnen subsumieren, gelten real und sind real genau bestimmt
als echte Ergebnisse psychologischer Forschung. So machen wir
uns ein in der Tat künstliches System zurecht, auf welches wir an
sich keinen Wert legen. Wichtig ist allein, daß unter diesem System
nicht bloß die realen Vollzüge, sondern die sie fundierenden eigent-
lichen psychischen Kräfte, die Funktionen, als Wirklichkeiten er-
faßt und zusammengestellt werden können. Ob es uns gelingt, hinter
diesen logischen Klassen natürliche aufzufinden, ist Sache späterer
Untersuclnnig.
Vorläufiges Ergebnis.
Mit den bisherigen Ausführungen zum Problem der psychischen
Kausalität haben wir die eine Hälfte unserer Lösung abgeschlossen.
Diese bietet den Vorteil, daß die ewig lebendigen und wahren Grund-
lagen Kantischer Kritik und W^issenschaftstheorie nicht verschüttet
werden mit den künstlichen und Intellekt ualistischen Sj'stemen der
von ihm und seinen Nachfolgern darauf aufgerichteten Psychologie.
Wie diese durch eine hundertjährige Forschung in ihrer Überlebtheit
verdrängt worden sind und werden mußten, so ist leider in der Gegen-
wart auch die Basis der Kan tischen Lehre gerade hinsichtlich dieses
psychischen Kausalproblems in Verfall geraten. Der Erfolg war,
daß die größten Bereicherungen materialer und methodischer Einzel-
arbeit in der modernen Forschung grundsätzlich in der Luft hingen
und sich widersprachen. Ein System tat sich neben dem anderen
auf, jedes mit dem Stigma der Vergänglichkeit und des Irrtums be-
haftet; und direktionslos schwankte die psychologische Einzelfor-
schung als ungeformtes Gebilde zwischen ihnen hin und her. Hier
wird die Möglichkeit geboten, die Ergebnisse dieser Einzelforschung,
ohne sie in ihrem wesentlichen Wert zu modifizieren, in eindeutiger
und gerichteter Weise an das Bleibende des philosophischen Gerüstes
der Kant-Friesschen Lehre anzuknüpfen, ohne aber den weiteren
Fortgang der Arbeit dadurch systematisch oder methodisch, formal
oder materiell zu präjudizieren^).
*) Man wird bisher eine Erörterung der geisteswissenschaftlichen, kultur-
wissenschaft liehen und geschichtsphilosophischen Ansprüche an einen besonderen
Tjqnis von Begriffsbildung an psychischem Material und eine besondere psychische
Kausalität vermißt haben. Wir geben sie an späterer Stelle (S. 194ff.), um hier
erst einmal unsere positiven Entwicklungen durchzuführen — ohne jenem An-
spruch damit vorgreifen zu wollen.
160 Über die wissenschaftsfcheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
5. Weiteres über die Probleme der psychischen Kausalität.
Der seelische Zusammenhang und das Unbewußte.
Kausalität und seelischer Zusammenhang.
Aber mit der bisherigen Bearbeitung des Kausalproblems im
Psychischen haben wir erst die halbe Arbeit geleistet. Um dies zu
erkennen, müssen wir uns die psychologische Fragestellung deutlich
vor Augen halten, welche die Erörterung psychischer Kausalität
erst erzeugt. Wir wollen doch feststellen, ob und wie wir das Wesen
seelischen Zusammenhängens erkennen können. Wir wollen
begreifen, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht, und ob sich für
dieses Auseinanderhervorgehen Gesetze aufstellen und bestimmen
lassen. Was haben wir bisher dieser Fragestellung gegenüber für
eine Antwort geben können; und welche weitere Antwortmöglichkeit
haben wir noch?
Wir haben bisher den Ablauf, das SichvDllziehen der einzelnen
Arten seelischer Phänomene als jeweils durch ein funktionales Gesetz
bestimmbarer Art ursächlich determiniert erwiesen, dessen allgemeine
Form und dessen theoretisches Fundament wir darstellten. Dieses
funktionale Gesetz erklärt uns, warum der einzelne Vollzug seiner
formalen und qualitativen Struktur nach so erfolgt, wie er erfolgt. Es
erklärt uns nicht, warum er erfolgt. Es gibt — und auch dafür
haben wir eine allgemeine Begründung bezeichnet — den Grund der
Möglichkeit, nicht den der Wirklichkeit des in Frage kommenden
abhängigen phänomenalen Gebietes wieder.
Damit ist zur Reduktion psychischer Strukturen und Qualitäten
auf ihre psychologischen Fundamente und zu ihrer Erklärung aus
diesen als ihren Realgründen zwar schon einiges getan. Aber die
Wirklichkeit des Eintritts, des Hervorgerufenwerdens, der Auslösung
des einzelnen seelischen Phänomens ist mit diesen theoretischen
Grundlegungen noch nicht gegeben. Gerade sie aber ist es, auf welche
das Problem seelischen Zusammenhängens sich zuspitzt. Die For-
mulierung dieses Problems hat zwei Seiten. Gehen wir von einem
unmittelbar erlebten seelischen Gegebensein aus, so muß gefragt
werden : wodurch die Verbindung und Zusammensetzung der Funk-
tionen gerade zu dem gegebenen seelischen Gebilde in seinem kom-
plexen Sosein hervorgerufen wurde. Zweitens aber muß man nach
den Veranlassungen der jeweiligen inhaltlichen i) Erfüllung der funk-
tionalen Strukturen fragen, welche das gegebene seelische Gebilde
zum Bewußtseinsinhalt machen. Beide Seiten der Frage hängen
eng zusammen.
1 ) Wir gebrauchen in dieser ganzen Abhandlung die Begriffe »Inhalt «, »"Form *,
s>Struktur«, »Materie« noch »naiv«, ohne jene exakte Klärung, welche nur die
später behandelte Phänomenologie ihnen zu geben vermag. Wir verwenden an-
dererseits diese Termini nur dann, wenn über die Eindeutigkeit ihres »Sinnes«
jeweils ein Zweifel nicht möglich ist.
Weiteres über die Probk-me der psychischen Kuusalitat usw. IGl
Der Begriff des Reizes.
Nun fanden wir bereits in der Deduktion der Funktionen als
empfänglicher, anreg barer, auslösbarer seelischer Kräfte, in der Eigen-
Bchaft ihrer Bestimmbarkeit als Bedingung ihrer Aktualisierung einem
Fingerzeig. Diesem folgen wir weiter. Wir leiteten jene Merkmale
deduktiv aus dem Prinzip der rezeptiven »Spontaneität als dem Grunde
der Möglichkeit alles einzelnen iSeelischen überhaupt her. In späteren
Abhandlungen zur Phänomenologie werden wir den umgekehrten
Weg vom unmittelbar gegebenen seelischen Gebilde aus analytisch
zu gehen haben, und auf ganz gleiche Ergebnisse stoßen. Hier ge-
nügt die Deduktion, um uns an dieser Stelle den Begriff des Reizes
für die Aktualisierung seelischer Phänomene und damit die Gewähr-
leistung seelischen Zusammenhängens nahe zu bringen.
Die Bedeutung des Reizbegriffes für die psychische Kausalität
wird von den verschiedensten Standpunkten psychologischer Denker
in gleicher Weise anerkannt und determiniert. So spricht Lipps^)
vom Unterschiede der zuständlichen und der aktuellen psychischen
Gründe von Bewußtseinsgegebenheiten und meint mit den ersteren
dasjenige, welches er das Reale, Unbewußte neimt, mit den letzteren
ausdrücklich die es zum Gebilde bestimmenden Reize. Bei Schopen-
hauer^) tritt die Kausalität im Psychischen ebenfalls als Ursache
und daneben als Reiz auf; und ein derartigen Spekulationen völlig
abgeneigter Forscher wie Bleuler schreibt i^) .»Wir haben es in der
Psyche wie bei organischen Funktionen überhaupt meistens nicht
mit direkten, sondern mit auslösenden Ursachen zu tun. Der Unter-
schied zwischen den Fällen, wo wir Äquivalenz zwischen Ursache und
Wirkung haben, und den anderen ist also nicht entsprechend dem
zwischen Physisch und Psychisch, sondern er ist einer der Kompli-
kation oder wenn man will des Ursachenbegriffes «... Für das Psy-
chische hat er die Bedeutung »der Beeinflussung eines bestehenden
oder der Auslösung eines neuen Vorgangs «.
Potentielle Bereitschaft und auslösende Bedingung.
Wir haben hier abermals die Analogie der Psyche mit dem Orga-
nismus, dessen Lebensäußerungen als eine Spontaneität definiert
sind, welche sich gemäß veränderten äußeren Bedingungen in ver-
änderter Weise aktualisiert. Und wir können die Definitionen der
pliysiologischen Reizlehre ziemlich unverändert auf die psychische
Analogie ülxirnehmen*). Bevor wir dies aber tun können — wie es
*) Psychische Vorgänge und psychische Kausalität. Ztschr. f. Psvchol.
Bd. 25. S. 177. 197 ff. " ,
2) über die vierfache Wurzel usw. Kap. IV. §20. Die Motivation als dritter
Kausiilzusiimmenhang bei Schopenhaui-r (s. auch Renouvior, Los dilemmes
de la nietanhysique. 1901. S. 130ff.) kommt hier nicht in Frage. Bergmann
(I.e. S. 80fi.) hat hierzu ben-its das Notwendige gesagt.
3) Psych. KausaUtät und Willcnsakt. Zeitschr. f. PsychoL Bd. 69. S. 44££.
*) Verworn. Allgem. Physiologie 1909. S. 409 ff.
KruDfeld, PHyc'liiatrLsihc ErkcantnU. 11
162 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
weiter unten geschehen wird — , ist freilich notwendig, den Kraft-
begriff im Psychischen noch einmal in Vergleich zu dem der Physio-
logie und Physik zu stellen. Wir sagten, der Unterschied des physi-
schen Kraftbegriffes vom psychischen bestehe darin, daß ersterer
mathematisch konstruierbarer quantitativer Gesetzbildungen fähig
sei, letzterer nicht. In dieser Aussage liegt nicht, daß im Psychi-
schen derartige Gesetze nicht bestünden. Vielmehr wird nur gesagt,
ihre Erkenntnis sei durch die nichtextensive Art psychischen Ge-
gebenseins unmöglich. Die mathematische Bestimmbarkeit physi-
kalischer Kjräfte führte zum Energiegesetz. Aussagen über dessen
Geltung im Psychischen sind unmöglich. Diese Unmöglichkeit
besagt nicht, daß dieses Gesetz nicht gilt, sondern daß wir es empi-
risch nicht zu verifizieren vermögen. Nach der Kantischen Lehre
nun ist das Energiegesetz kein induktiv gefundenes empirisches
Gesetz, sondern ein wissenschaftstheoretisches Gesetz a priori für
die physikalische Natur. Dem steht nicht im Wege, daß es erst durch
Erfahrung entdeckt werden mußte. Es ließe sich denken, daß dies
Gesetz in der allgemeineren Form causa aequat effectum nicht bloß
für die äußere Natur, sondern für die Natur überhaupt a priori
gilt. Die Ableitung wird freilich immer nur für das Energiegesetz
im eigentlichen Sinne gemacht, wozu das Prinzip der Extensität
nicht zu umgehen ist. Bestimmung als gleich, größer und kleiner
ist aber auch jenseits der Extensität, jenseits der physikalischen
Natur für alles zeitliche Geschehen überhaupt möglich. Freilich
wäre eine Bestätigung an psychischen Intensitäten schon deshalb
nicht möglich, weil die Intensität der causa, nämlich der Funktion
selber, unabhängig von dem als Wirkung gedachten Funktionieren
gar nicht bestimmbar ist. Die Differenz beider Kraftbegriffe bliebe
also bestehen. Und doch ermöglicht uns diese Überlegung, den
Energiebegriff der Physik jenseits der mathematischen
Theorie auf Grund dieses Gesichtspunktes auch ins Psy-
chische zu übernehmen. Wir brauchen ihn hier, um die Begriffe
der potentiellen und der aktuellen Energie bilden zu können. Dann
können wir die Funktionen unabhängig von ihrem Vollzuge unter
dem Begriff der potentiellen Energie denken; und unter den Reizen
können wir diejenigen Bedingungen verstehen, welche sie aktuali-
sieren. Es wäre dann so, daß jedes seelische Geschehen eine
ihm adäquate Form seelischer Energie beansprucht, deren
Größe wir aber nicht exakt bestimmen können. Diese Ener-
gie ist — als Funktion — potentiell gegeben und wird durch aus-
lösende Bedingungen jeweils aktualisiert. Diese nennen wir Reize.
Die Kategorie der Wechselwirkung im Psychischen.
Es sind dann immer in jedem Augenblick eine große Anzahl vei"-
schiedener seelischer Energien in einem labilen Gleichgewichtszustand
in potentieller Bereitschaft; und es hängt ganz von den jeweiligen
Weiteres über die Probleme der paychieehen Kausalität usw. Iü3
Reizen ab, welche von ihnen aktualisiert wird. Diese Bereitschaften
bestimmen sich nach einer ganzen Reihe von Gesichtspunkten, deren
Einzelheiten hier nicht genauer erörtert werden können, in indivi-
duell und momentan besonderen Weisen: Erstens in den Dispo-
sitionen und Anlagen der Persönlichkeit zur Beanspruchung be-
stimmter bevorzugter Funktionen und Funktionsverbindungen;
zweitens in den Reproduktionsdispositionen der indivi-
duellen Vergangenheit; drittens in der Konstellation (worunter
etwas weiteres gemeint ist als der Ziehensche Begriff der Asso-
ziationskonstellation) der psychischen Individualität nach Maßgabe
der verschiedensten noch zu erörternden äußeren Bedingungen jedes
individuellen Momentes; viertens in dem gewohnheitsmäßig und
dispositionell vorgegebenen Schema zeitlichen Aufeinander-
folgens der einzelnen Funktionskategorien und ihrer Fundierungen
durch jeweils andere, von denen der Wahrnehmung an über die des
Vorstellens, Urteilens, Intcressehegens und Strebens bis zum Ent-
schluß, — wovon ebenfalls noch zu sprechen sein wird, also auch
wieder einer reproduktiven Tendenz, freilich einer ihrer Stellung
nach ganz besonderen i). Dies alles als Totalität individueller psy-
chischer Bereitschaften eines Augenblicks läßt sich unter der Kate-
gorie der Wechselwirkung vereinigt, als energetisches oder
dispositionelles Ganzes psychischer Spontaneität erklären.
Die Art der Wechselwirkung ist hierbei, weil ebenfalls ein anschauliches
Nebeneinander nicht besteht, nicht näher bestimmbar. Man kann
die Tatsache, daß immer nur ein Bereitschaftskomplex in einem
Zeitmoment aktualisiert wird, als gegenseitige Hemmung der
Bereitschaften in ihrer Aktualisierung deuten; und so ge-
schieht dies ja auch von Herbart bis Lipps. Man muß sich nur
darüber klar sein, daß der Ausdruck Hemmung hierbei nichts erklärt,
sondern nur diese denkbare Wechselwirkung allgemein in einem
Worte umschreibt; eine näliero Bestimmung oder gar ein mathe-
matisches Gesetz dieser Hemmung, wie etwa das Herbartsche, läßt
sich aus unseren wissenschaftstheoretischen Erwägungen heraus
nicht aufstellen. Macht man diese Annahme, so liegt es ganz bei den
jeweils auftretenden Reizbedingungen, welche Bereitschaft aus diesem
labilen Gleichgewicht heraus aktualisiert wird 2); und die Wirkung
*) Denn es bildet ein besonderes Problemgebiet, ob die Wirklichkeit und
Aktualität einer Funktionsklasse durch eine andere fundiert wnrd: das Streben
durch Funktionen des Interesses, diese durch vorstellende Funktionen usw. — und
wie dies »fundiert sein« verstanden werden muß.
2) Hierfür gibt es eine ganze Reihe wertvoller direkter experimenteller Hin-
weise. Unter den experimentell am besten durchgearbeiteten hier einschlägigen
Auffassungsprüfungen nenne ich nur folgende:
Ranschburg (Ztschr. f. Psychol. 30, 1): Über die Hemmung gleichzeitiger
Reizwirkungen. Aall (Ztschr. f. Psycho!. 47, 1): Zur Frage der Hemmung usw.
Schulz (Ztschr. f. Psychol. 52, Iff.): Unters, über die Wirkung gleicher Reize usw.
In einem mehr indirekten Sinne lassen auch die mannigfachen Konstellations-
versucho der verschiedenen Autoren die oben dargelegte Gesetzmäßigkeit als
gültig erkennen.
11"
164 Über die wiEsensibaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
dieser Aktualisierung muß derart beschaffen sein, daß durch sie
das labile Gleichgewicht dieser Bereitschaften selber
wieder hergestellt wird, sonst wäre ein Fortgang des psychi-
schen Geschehens nicht möglich.
Die weiteren theoretischen Probleme des seelischen
Zusammenhanges.
Hieran knüpft sich nun eine Reihe von Fragen. Wir wollen sie
zunächst kurz formulieren, um sie dann einzeln zu besprechen. Erstens
nämlich die Frage nach der Natur dieser aktualisierenden
Bedingungen, dieser Reize. Zweitens aber die fast noch wich-
tigere Frage nach der Natur des nichtaktuellen Psychischen,
nach der Natur dieser Bereitschaf ten funktionalerArt, und drittens
die Frage nach ihrem Verhältnis zum aktuellen psychischen
Gebilde und Geschehen. Es ist klar, daß eine Teilfrage dieser letzteren
das Bewußtseinsproblem bilden wird. Es ist ferner klar, daß die
erste und zweite Frage unter anderem auch auf das Problem der
psychophysischen Beziehung führen; es ist endlich auch dies
klar, daß die zweite Frage und auch die dritte den Begriff des
Unbewußten in die Erörterung hineinziehen.
Bewußtsein und seelischer Zusammenhang bei Lipps.
Um mit dem Bewußtseinsbegriff anzufangen, so ist mit aller
Entschiedenheit zu betonen, daß er für uns ein rein empirischer
Befund am Psychischen ist. Nirgends ist seine apriorische
Notwendigkeit wissenschaftstheoretisch verankert. Keine
kategoriale Schematisierung erzwingt ihn, und es ist ein Denk-
fehler, Psychisches durch ihn zu definieren. Ist dies fest-
gestellt, so gehört seine Erörterung in eine phänomenologische
Deskription. Dort und nur dort kann er als Wesensmerkmal des
phänomenalen Bestandes psychischer Phänomene erschöpfend ge-
klärt werden. Wir verweisen daher für diese Klärung auf spätere
Arbeiten dieses Buches. Hier genügt es, ihm seine theoretische
Stellung angewiesen zu haben. Das unmittelbar Gegebene,
sofern es als Meines, als mir zugehörig gegeben ist, defi-
nieren wir als erlebt oder bewußt. Bewußtsein ist mithin —
sofern die Analyse einen einheitlichen Grund dieses unmittelbaren
Gegebenseins als eines Mir-Gegebenseins aufzuweisen vermag — der
psychologische Grund dieser unmittelbaren Ichgegebenheit. Schon
Lipps 1) hat von diesem phänomenalen Psychischen, welches er
Bewußtseinsinhalt nannte, daß nur Hinzuzudenkende unterschieden.
Er analogisiert einmal psychologische und physikalische Erklärung
darin, daß der bloße Phänomenbestand in beiden Naturreichen als
1) a. a. 0.
Weiteres über die Probleme der psychischen Kausalität tuw. 165
Zeichen oder Symbol genommen wird für eine nur denkbare Wirk-
lichkeit eigentlicher Art, in der die notwendigen Verknüpfungen er-
folgen, deren symbolische Gebilde die Pliänomene sind. Dieser an
sich ja uralte Gedanke findet eine originale Auslegung bei ihm im
Hinblick auf das psychische Geschehen. Bewußtseinsinhalte im
obigen Sinne sind hiernach nur Epiphänomen und Symbol für eine
nur denkbare psychische Wirklichkeit, für das unbewußte psychische
Reale, in dem die eigentlichen notwendigen Verknüpfungen sich voll-
ziehen; es besteilt nicht irgendeine Art von Verknüpfung zwisclien
den Bewußtseinsinhalten; sie besteht vielmehr ausschließlich in jenem
psychisch realen Geschehen, welches jeden Phänomenalitätscharakter
und damit jedes Bewußtsein ausschließen muß, um Anspruch auf
Realität zu erheben.
Der reale psychische Zusammenhang im Unbewußten bei
Lipps.
In der psychologischen Erklärung, meint Lipps, werde dieses
zugrundeliegende Reale im Sinne des Unbewußten dreifach heran-
gezogen: die Psyche habe bestimmte Anlagen, sie trage ferner eine
individuelle Fülle von Gedächnisspuren, endlich stehe sie unter der
Wirkung physiologischer Reize. Unbewußt sind alle diese Faktoren
in dem Sinne, in welchem alles Reale unbewußt ist. Sie können zwar
gedacht und durch dieses Denken Gegenstände des Bewußtseins
werden, jedoch ist ihr Dasein unabhängig davon, ob ich von ihnen
ein Bewußtsein habe oder nicht. Das reale psychische Leben be-
dingt seinerseits die Bewußtseinsinhalte und stellt sich dem Erfassen
nur durch diese mittelbar dar. Der psychische Lebenszusammen-
hang ist aber eigentlich ein solcher dieser realen psychischen Vor-
gänge und nur mittelbar ein solcher der Bewußtseinsinhalte; er ist
ein Zusammenhang des Realen, ein Zusammenhang des Unbewußten.
Das folgt bei Lipps aus der Definition des psychisch Realen. Lipps
sagt dann: Wenn mich ein Gesicht an einen Bekannten erinnert,
so ist nicht der Inhalt der Wahrnehmung es, welcher den Inhalt der
Vorstellung kausal nach sich zieht, sondern der Vorgang des Wahr-
nehmens erzeugt die Vorstellung. Das Sich erinnern ist nicht
einfach das Dasein des Erinnerungsbildes, nach dem dasselbe
vorher nicht da war, sondern ist eine Tätigkeit, ein reales inneres
Geschehen. Diese Auffassung liegt ganz im Sinne der von uns ge-
gebenen psychologischen Wissenschaftstheorie, wenngleich auch die
Inhalte als Reize zur Aktualisierung produktiver Tätigkeiten ilire
bedeutsame noch zu erörternde Rolle spielen. Lipps verlegt nun
das reale innere Geschehen jenseits des Bewußtseins. Er bestreitet
also eine psychische Kausalität der Bewußtseinsinhalte, »die erst
von den Psychologen künstlich geschaffen ist«, und behauptet da-
gegen die Kausalität der realen psychischen Vorgänge. Er warnt
vor der Verraengung beider Begriffe. Bewußtseinsinhalte als Phäno-
166 Über die wissenschaftstheoretisohen Grundlagen der Psychologie usw.
mene haben kein Dasein als das Dasein in meinem Bewußtsein. Es
hat keinen Sinn, ihnen Prädikate zu geben, die nicht Merkmale meines
Bewußtseinsinhaltes sind, und damit nur von phänomenaler Geltung.
Der psychische Lebenszusammenhang ist aber ein realer. Es hat
also keinen Sinn, von ihm in bezug auf Phänomene zu sprechen.
Wir unterscheiden also nach Lipps den phänomenalen und den
kausalen Zusammenhang. Der phänomenale Zusammenhang be-
steht nur in der Beziehung aller gegenständlichen Bewußtseinsinhalte
auf mich, auf das unmittelbar erlebte phänomenale Ich. Es finden
sich auch hierbei mannigfache Bedingtheiten, Tätigkeiten und Weisen
des Hervorgehens; diese sind aber nur die besonderen Icherlebnisse
und die Weisen meines unmittelbaren seelischen Bezogenseins auf
gegenständliche Bewußtseinsinhalte. Im Gegensatz hierzu steht
nach Lipps der Kausalzusammenhang, die reale Gesetzmäßigkeit
des Psychischen. Zwischen beiden bestellt eine Beziehung, insofern
wir den phänomenalen Zusammenhang gedanklich an ein Reales,
speziell an die entsprechenden realen psychischen Vollzüge anknüpfen.
Dadurch wird der phänomenale Zusammenhang gewissermaßen real
zeitlich und kausal lokalisiert. Tatsächlich jedoch sind die psychi-
schen Vorgänge das seelisch Substantielle und Einheitliche, das an
sich Unbekannte, welches den positiven und aktuellen psychischen
Grund für das Dasein der Bewußtseinsinhalte in sich schließt. In-
dem Lipps diese realen psychischen Vorgänge den aktuellen Grund
des Daseins der Inhalte nennt, stellt er sie in Gegensatz zu den nicht-
aktuellen zuständlichen Bedingungen, den Beschaffenheiten der
Psyche, den in ihr ruhenden Gedächtnisspuren usw. Zu den ak-
tuellen psychischen Gründen treten bei Lipps die Reize. Die Pro-
zesse, die durch einen Reiz ausgelöst auf das Dasein seines Bewußt-
seinsinhaltes abzielen, passieren auf dem Wege zu diesem Ziele eine
Sphäre, in welcher sie untereinander und zugleich mit den gleich-
zeitigen Geschehnissen, die ohne Wirkung eines äußeren Reizes in
dieser Sphäre selbst ihren Ursprung nehmen, in Wechselbeziehung
treten. Diese Sphäre nun, dies ist die von der Sphäre des Bewußt-
seinslebens unterschiedene Sphäre des realen psychischen Geschehens.
Die Reize bedingen die gegenständliche Beschaffenheit der Inhalte,
die subjektive Seite der psychischen Organisation bedingt ihre
Struktur.
Kritik der Lippsschen Theorie.
An dieser Lippsschen Lehre ist ein großer Gesichtspunkt richtig
und zu einem bleibenden Gewinn aller psychologischen Forschung
geworden: nämlich der der akzidentellen Natur des Bewußtseins,
wie wir ihn auch vorhin betont haben. Fast alles übrige bei Lipps
ist freilich schief. Schief ist erstens sein Begriff des Unbewußten.
Zweitens die Vermengung eines erkenntnistheoretischeu Phäno-
menalismus mit der psychologischen Phänomenalität. Drittens
Weiteri-8 über die i'rüblume der paychiöchen Kausalität uhw. 1G7
seine Ansicht von den Gegenständen, auf wekho Naturgesetze sich
bezielien. Was seinen ersten Mangel anlxjtrifft, so sind in dem Bo-
griff des Unhewuüten, den er hat, mehrere Bedeutungen konfundiert.
Kinmal nämlicli das niclit bewußte, nicht unmittelbar erlebnismäßig
Gegebene. Sofern er dieses als psychisch bezeichnet, Ijehäh e3 aber
den Charakter der Ichzugehörigkeit, durch welchen bei ihm gerade
sein Bewußtseinsbegriff definiert war. Diese »Schwierigkeit läßt sich
freilich in einer wisscnschaftstheoretisch richtigen Psychologie be-
heben; sie besteht nur in der Lippsschen Konzeption. Sodann be-
zeichnet sein Begriff vom Unlxjwußten das eigentlich psychisch
Wirkliche, die psychisclie Realität; und diese wieder in einem doppel-
ten Sinne. Erstens nämlich als psychologische Realität — wobei
dann ein definitorischer Gegensatz besteht zwischen diesem psychisch
Realen und der Natur psychischer Erkenntnis. Denn über das
psychisch Reale vermag mit den Mitteln psychologischer Erkenntnis
ex definitione nichts ausgesagt zu werden, da es ja im Moment, wo
€3 ins Bewußtsein gehoben wird, also Gegenstand psychischer Wahr-
nehmung wird, seines Realitätscharakters entkleidet ist und nur noch
phänomenal gilt. Zweitens bezeichnet sein Unbewußtes das Reale im
Sinne des absolut Wirklichen, an sich Existierenden, des nur rein
denkend als Träger der gesetzlichen Notwendigkeit erkennbaren
wahren Seins. Damit ist der zweite Irrtum Lipps' gegeben: der
erkenntnistheoretische; der Gegensatz zwischen Bewußt und Un-
bewußt wird zu einem solchen zwischen Erscheinung und Wesen,
zwischen Schein und Sein. Und es ist eine fast komische Umkehrung
der platonisch-aristotelischen Terminologie, wenn Lipps von dem
E^hänomen als Ideellem, von dem Wesen als Reellem spricht. Eduard
V. Hart mann war in seiner Unbewußtseinsleiire metaphysisch und
erkenntniskritisch viel konsequenter. Wenn man den Begriff des
Unbewußten für die Psychologie fruchtbar machen will, muß man
sich dieser Vermengung erkenntnistheoretischer Gedankengänge mit
psychologischen gänzlich entschlagen. Drittens endlich ist Lipps
Behauptung über die Geltung von Naturgesetzen im Physischen
wie im Psychischen falsch. Die Gesetze gelten nicht jenseits der
Phänomene, sondern für die Phänomene, und wenn noch Phänomene
im Psychischen als Bewußtseinsinhalte bezeichnet werden, so gelten
notwendige Verknüpfungen für diese und zwischen diesen, aber nicht
jenseits derselben, so daß sie gänzlich von der Geltung dieser Ver-
knüpfungen losgelöst und ausgeschlossen werden. Denn das Bereich
der Phänomene ist das Gebiet möglicher Erfahrung überhaupt im
Sinne Kants, in bezug auf welches die Naturgesetze allein Geltung
beanspruchen. Lipps verwech.selt hier die .Modalität der Geltung
von CJesetzen, welche notwendig und apriorisch ist. mit der empi-
rischen Gegebenheit der Gegenstände, auf die sich die Gesetze be-
ziehen. Die Phänomene in ihrer unmittelbaren Gegelx?nheit haben
♦reale« Existenz; sie sind sogar das einzig Gegebene, dessen Realität un-
mittelbar und untrüglich gegeben ist. über die Evidenz der äußeren
168 Über die ■wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Wahrnehmung mag noch Streit zwischen philosophischen Schulen
sein, über die der inneren Wahrnehmung kann es keinen geben und
hat es nie einen gegeben. Es ist gänzlich unerfindlich, wie ein Denker
von Lipps' Range auf einen derartig abwegigen Gedankengang
kommen konnte. In allen übrigen Formulierungen steht Lipps
auf dem gleichen Boden wie unsere wissenschaftstheoretischen Fest-
setzungen; ganz besonders in bezug auf den Tätigkeitscharakter
psychischen Geschehens und die zentrale Stellung des Ich als der
tätigen Spontaneität. Die alte Kantische Wahrheit fundiert also
auch das Richtige in der psychologischen Lehre dieses modernen
Führers. Wir können hier hinzusetzen, daß, bei aller Irrtümlichkeit
der theoretischen Formulierung, der Gedanke Lipps', die phänome-
nalen Zusammenhänge des Seelischen von den angeblich eigentlich
kausalen des realen Unbewußten zu sondern, einen wertvollen Kern
enthalten. Natürlich sind auch die phänomenalen Zusammenhänge
nur kausal erfaßbar; Lipps selber spricht von Bedingtheiten, vom
Hervorgehen des einen aus dem anderen usw., was anders soll damit
umschrieben sein als eine Kausalbeziehung? Aber freilich werden
Bewußtseinserlebnisse gemäß den Weisen ihrer Erlebtheit kausal
aufeinander bezogen, und zwar vom erlebenden Ich, und zwar auch
solche, deren tatsächlicher Kausalzusammenhang durch Zwischen-
schaltung unbewußter Glieder ein ganz anderer ist, als er dem Er-
lebenden erscheint; dieser Kausalzusammenhang kann überhaupt
fehlen und irrig oder problematisch sein und dem Erlebenden nur als
solcher erscheinen. Man muß hier trennen: das Erlebnis des Zu-
sammenhängens für den Erlebenden — und das tatsächliche Zu-
sammenhängen. Wir werden noch Gelegenheit haben, diese Fragen
im Verlauf unserer Untersuchung genauer zu klären. Hier denke
man nur, um ein Beispiel zu bilden, an den Unterschied zwischen
einem Phänomen als Motiv zu einem anderen, und einen Vorgang
als Ursache eines seelischen Phänomens. Über die neuerdings auf-
gekommene Behauptung einer Sonderartung von »verständlichen
Zusammenhängen« von Jaspers im Gegensatz zu kausalen wird
an spätererstelle gehandelt werden i), ebenso über den Rickertschen
Begriff psychischer, individueller Kausalität 2).
Wenn wir also den Begriff des seelischen Zusammenhängens er-
klären wollen, und zwar kausal erklären, so ist dasjenige, was zu-
sammenhängt, im Gegensatz zu den Behauptungen von Lipps
natürlich das Phänomenale, so wie wir es immer dargestellt haben,
also dasjenige, was er Bewußtseinsinhalte nennt. Wir vermeiden
den Begriff des Bewußtseinsvorgangs noch wegen seines akziden-
tellen Charakters und wegen seiner phänomenologischen Schwierige
keiten. Wir meinen hier mit den Gegenständen des Zusammen^
hängens, mit dem was zusammenhängt, das aktuelle psychische
1) Vgl. S. 359 ff. dieses Buches.
2) Vgl. S. 191 ff. dieses Buches.
WeitereB über die Probleme der psychiachi-n Kausalität usw. 169
Geschehen. Wir sind uns freilicli darülxjr klar, daü der liewußt-
seinscharakter, das Erlebtwerden als Merkmal der Ichqualität vom
Psychischen diesen Voll/aij^ modifizieren kann, so daß es ein anderer
Gesichtspunkt ist, diesen V'oUzug als Vollzug, d. h. als Funktionieren
des fundierenden Funktionskomplexes zu analysieren, ein anderer
ihn als Erlebnis hinzunehmen. Der erste Gesichtspunkt gilt für allo
theoretische funktionspsychologische Bestimmung, der letztere für
allo phänomenologische.
Der Begriff des Unbewußten.
Kommen wir nunmehr auf unseren Gegensatz zwischen dem ak-
tuellen Psychischen und den fundierenden Bereitschaften zurück,
80 wird uns die große psychologische Errungenschaft, welche vor
allen anderen Lipps durcli seine Verwendung des Unbewußten in
der Psychologie geschaffen hat, von Gewinn. Aktuell psychisch,
d. h. phänomenal gegeben, mit Bewußtseinscharakter Ijohaftet ist
uns dann dasjenige Psychische, welches durch Wirkung irgend-
welcher noch zu erörternder Reize aus der Totalität potentieller
psychischer Energien, die sich wechselseitig hemmend beeinflussen,
ausgelöst wird. Der Auslösungs Vorgang selber ist funktionspsycho-
logisch zu erklären, ist phänomenologisch zu beschreiben. Aber die
theoretische Frage bleibt zu klären: Welcher Natur sind jene Bereit-
schaften?
Vergessen wir nicht : Wir haben Psychisches durch die Art .«meines
Gegebenseins definiert. Die Art dieses Gegebenseins schloß Bewußt-
sein logisch-analytisch nicht ein; andererseits ist uns alles unmittel-
bar gegebene Psychische bewußt. Würden wir Psychisches durch
sein unmittelbares Gegebensein definitorisch begrenzen, so wäre un-
bewußtes Psychisches nicht möglich. Wie andererseits ist uns Psy-
chisches gegeben, insoweit es nicht unmittelbar gegeben, nicht Phä-
nomen in diesem Sinne ist ? Welches sind dessen Realitätsansprüche?
Indem wir hier von unbewußtem Psychischem reden und die
Natur jener Bereitschaften in dessen Sphäre verlegen, vollziehen wir
zunächst nur eine Forderung, eine Hypothese, welche durch un-
mittelbare Beobachtung niemals bestätigt werden kann; denn das
unbewußte Psychische ist ja seinem Wesen nach gleich dem nicht
unmittelbar Gegebenen. Ferner aber verengern wir in einer Weise,
deren Zulä^sigkeit noch durchaus strittig ist, den Umfang der Mög-
lichkeiten, aus welchen die Natur jener Bereitschaften noch sonst
erklärt werden könnte (z. B. aus physiologischen Vorgängen o. dgl.).
Und endlich fassen wir mit unserer Formulierung den Begriff des
Unbewußten so, als wenn seine dem unmittelbar gegebenen Psychi-
schen wesensgleiche Artung — als eines Psychischen, so wie wir
eben Psychisches zu erfassen vermögen — schon feststünde, was aber
zunächst durchaus noch nicht der Fall ist.
Wir müssen also die Erörterung über den Bogriff des Unl>owußten
170 Über die wissenschaftstlieoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
ein wenig erweitern. Freilich beabsichtigen wir nicht, dies Problem
in seinem ganzen Umfang auch nur aufzurollen. Selbst seine psycho-
logische Seite wäre erschöpfend nur zu klären an Hand von Unter-
suchungen über die Art psychischer Wahrnehmung, psychischen
Erfahrens, psychischen Gegebenseins und psychischer Tatsächlichkeit.
Eine derartige Untersuchung kann aber hier noch nicht ihre Stelle
haben. Hier handelt es sich nur um diejenige theoretische und logi-
sche Abgrenzung, welche uns den Begriff des Unbewußten im Hinblick
auf unseren theoretischen Zweck zu bestimmen erlaubt.
Erste Abgrenzungen des Begriffs.
Hellpach hat einmal i) auf die Begriffsverwirrung hingewiesen,
welche dadurch entsteht, daß der Terminus Unbewußtes in der Psy-
chologie in allen möglichen Bedeutungen gebraucht wird. Ähnliche
Feststellungen über seinen Bedeutungswechsel und die dadurch an-
gerichteten Unklarheiten hat auch Berze gemacht 2). Beide Autoren
nehmen unabhängig voneinander entschiedene Stellung gegen die
neuerdings zutage tretende Überschätzung des Unbewußten, welches
auf diese Weise als bequemes Erklärungsprinzip für alle möglichen
psychologischen Vorgänge herhalten muß. Beide sind sich freilich
darüber klar, daß sie mit ihrem Verlangen nach möglichster Ein-
schränkung einer derartigen Verwendung des Unbewußten nur
einen Gesichtspunkt geben, welcher über die grundsätzliche Natur
des Unbewußten und seine Zulässigkeit nicht entscheidet. Hellpach
unterscheidet — ohne Anspruch auf Vollzähligkeit — acht ver-
schiedene Bedeutungen, in denen der Ausdruck Unbewußtes ver-
wandt wird. Zum Teil liegt in dieser Verwendung eine theoretische
Erklärung und Deutung, zum Teil aber auch bloß eine Benennung
von psychologischen Tatbeständen. Man nennt diese Tatbestände
unbewußt, ohne sich viel dabei zu denken, und bezeichnet sie damit
bloß als erklärungsbedürftig, ohne daß aber diese Erklärung nun
auch wirklich aus einer Theorie des Unbewußten erfolgen müßte.
So werden Phänomene der Hypnose, des Traumes, der Dämmer-
zustände als unbewußt bezeichnet, aber natürlich ohne jede grund-
sätzliche Berechtigung, lediglich auf Grund der deskriptiven Sonder-
art ihres aktuellen Gegebenseins. Ferner heißen manche »Instinkt«
Handlungen und Reaktionen bei Tieren, selbst dann, wenn sie als
kompliziert und zielgerichtet auffallen, wie der Nestbau mancher
Vögel, unbewußt — ebenfalls ohne jede zulängliche Begründung.
Unbewußt heißen ferner oft Triebhandlungen im allgemeinen. Ferner
wird das Unbemerkte oder Ununterschiedene auch als Unbewußtes
bezeichnet. Es handelt sich hierbei meist um unbemerkte Teilinhalte
eines komplexen Gesamteindrucks, welche selber nicht besonders
1) Unbewußtes oder Wechselwirkung? Ztschr. f. Psychol. Bd. 48. S. 238ff.
2) Die primäre Insuffizienz der psychischen Aktivität. Wien 1914. S. 342
biß 352.
Weitores über die Prublomc- der psychischen Kausalit&t usw. 171
iKJWußtHoinsrepräöentiort sind, besonders Äluskel- und Golenkenipfin-
dungen, aber auch Teiltöne eines Klanges; ebenso auch um die »Wahr-
nehmung, die da sein muß, weil sonst il»r Vielfältiges nicht da «ein
könnte« (Leibniz, zitiert nach Hellpach): Wenn wir das Rauschen
des Regens hören, hören wir nicht den Fall der einzelnen Tropfen,
und doch ist das Rauschen des Regens nur ein Vielfaches der einzelnen
Tropfengeräusche. Fechncr iiat für diese unljemerkten Empfin-
dungen den Ausdruck der negativen Empfindung: sie ist als Empfin-
dung nicht da, sondern nur als potentielle Möglichkeit für den Fall
einer intensiven Reizsteigorung. Berze fügt dieser Aufzählung noch
einige weitere Klassen von Phänomenen hinzu, welche der Sprach-
gebrauch ebenfalls zuweilen Unbewußt nennt. In allen diesen Fällen
ist aber die Deutung ganz unabhängig von dieser Benennung. iSie
ist auch aus einer Theorie des gradweises abstufbaren Bewußtseins,
der Aufmerksamkeit oder ähnlichen Annahmen möglich^). Ja es
kommt vor, daß diese als unbewußt bezeichneten Tatbestände von
denselben Forschern, die sie unbewußt nennen, durch ein Verhalten
des Bewußtseins erklärt werden. Jedenfalls liegt in ihnen keine
grundsätzliche Nötigung, ein besonderes Unbewußtes heranzuziehen,
wenngleich natürlich ihre Erklärung auch aus diesem stattfinden
könnte, falls ein solches Un))ewußtes aus anderen Gründen ab Er-
klärungsprinzip vorausgesetzt werden müßte.
Wenn aber derartige Konzeptionen eines Erklärungsprinzips auf-
gestellt werden, so muß es Tatbestände geben, welche eine andere
Erklärungsmöglichkeit nicht oder doch nur gezwungen zulassen.
Zu derartigen Tatbeständen gehören die bisher genannten, dem Be-
griff des Unbewußten unterstellten Tatbestände nicht. Gibt es nun-
mehr auch diese Tatbestände?
Das Problem der Reproduktion und ihrer theoretischen
Möglichkeit.
►Sogleich denkt man an den Tatsachenkomplex, welcher für die
ganze Psychologie von fundamentaler Bedcutinig ist und unter dem
Begriff der Reproduktion zusammengefaßt wird. Die Repro-
duktion mit iiirer Unwillkürliclikeit, Mechanität und dennoch ge-
staltenden und schöpferischen Wirkung hat denn auch die Konzeption
des Unbewußten zuerst entstehen lassen. Hierher gehört ferner alles,
was mit dem Problem der Reproduktion in näherem Zusammenhange
steht: vor allem dies, daß sich im gegenwärtigen Psychischen Wirkun-
1) \fi\. V. Hurt mann. Der Begriff des Unbewußten. »Deutschland«. 1903.
Heft 13. Das » minder Bewußte« oder nicht gerade auf die verlangte Weise Bewußte
»kann nur mit Unrecht als ein Unbewußtes bezeichnet werden«. Nach v. Hart-
mann hat das Bewußtsein keine tJrade, sondern was man so nennt, ist auf Unter-
schiede im Inhalt des Bewußtseins zurückzuführen ( Philos, des l'nbewußton.
Teil II. S. 51 — COff.). Jedenfalls erkennt er grundsätzlich zwischen dem Bewußt-
sein und Unbowußtscin keinen bloß intensiven Unterschied nn.
172 Über die wisseuschaftstheoretiechen Grundlagen der Psychologie usw.
gen zeigen, deren auslösende Ursache ihrerseits nicht im aktuellen
Psychischen gelegen war. Die Phänomene der Übung und Erlernung,
z. B. von »automatischen« komplizierten Bewegungen zweckvoller
Art unter Ausschluß »der vorgängigen Wahl« (Wähle) gehören hier-
her. Ebenso Phänomene des sogenannten Instinktes und der Auto-
matismen anderer Art. Ferner die vielfachen Anzeichen einer schöpfe-
rischen und produktiven Tätigkeit, die aber im Bewußtseinsleben
nicht auffindbar ist: zu diesen rechnen die sogenannten Freudschen
Phänomene. Eine Teilfrage endlich dieses Problems ist nun auch
unsere Frage nach dem Verhältnis der Erlebnisse zu den fundierenden
Funktionen.
Es dürfen aber hier keine Mißverständnisse aufkommen über
dasjenige, was wir denn nun eigentlich fragen und was uns zur Er-
örterung des Unbewußten zu zwingen scheint. Man kann fragen
nach dem Verhältnis eines phänomenalen Erlebnisses zu der Ge-
gebenheitsweise des funktionalen Vollzuges, welcher dies Erlebnis
konstituiert. Man kann zweitens fragen nach dem Verhältnis des
phänomenalen Psychischen zu den es fundierenden Bereitschaften.
Nur diese letztere Frage ist von prinzipieller Art und nötigt zur
Hereinziehung des Unbewußten in die Diskussion. Diese Frage
läßt sich auch so stellen: gibt es nichtaktuelles Psychisches? Die
erste Frage hingegen, welche das Verhältnis der Gegebenheit von
Erlebnissen und funktionalen Vollzügen behandelt, ist demgegenüber
gleichsam eine Detailfrage innerhalb des Bewußten. Sie ist mit der
allgemeinen Regel, daß Jemand, der Gegenständliches erlebt, nicht
zugleich auch das Erleben des Gegenstands erlebt, auf das Gleise
des Unbemerkten im Sinne eines auch aus dem Bewußtsein deutbaren
seelischen Tatbestandes geschoben.
Gleichviel welcher psychologischen Gesamtanschauung man hul-
digt, so ist unbestreitbar, daß es seelische Tatbestände gibt, die aus
dem eigentlich Bewußten nicht zureichend erklärt werden können.
Ihre Erklärung ist auf drei Wegen möglich : aus einer Konzeption
des Unbewußten, aus Nichtpsychischem (physiologischen Konzep-
tionen) und aus dem Bewußten unter Zuhilfenahme des Nichtpsychi-
schen. Dabei schließen sich diese Wege der Erklärung keineswegs
aus. Es ist sehr wohl möglich, zur Erklärung der Verursachung
eines Vollzuges eine unbewußte Bereitschaft, zu deren Aktualisierung
und Gehaltsbestimmung aber Nichtpsychisches und Bewußtes als
auslösende Bedingungen heranzuziehen i).
Für den oben unter Reproduktion im weitesten Sinne zusammen-
gefaßten großen Komplex ist man sich allerseits darüber einig, daß
ihr etwas objektives Überdauerndes zugrunde liegen muß. Der eine
1) Die scharfsinnigsten Bedenken gegen die Konzeption des Unbewußten
äußert Brentano (Psychologie usw. 1874. S. 133 ff.). Allein er geht von einem
Bewußtseinsbegriff aus, den wir nicht teilen und der mit Notwendigkeit xur Gleich-
setzung des Psychischen mit dem Bewußten führen muß. Wir behandeln Bren-
tanos Einwendungen daher erst in der Phänomenologie des Bewußtseins.
WoiteroB über dio Pfoblomc der psychischen Kausalität uüw. 173
Weg dies zu bestimmen, der am häufigsten Ix'gangene, verwei->i uns
auf dio pliy.siologisehen Hypostasierungen. In diesem Sinne ist die
ll^'do von .Spuren, Dispositionen usw. als unmittelbaren physischen
Korrelaten von aktuell Psychischem. Wir äußern uns liier nicht
gegen diese Erklärungsmöglichkeit, welche durch empirische Veri-
fizierung jederzeit eine Wirklichkeit werden kann. Andererseits ist
es weder Kantisch noch psychologisch, uns sofort und restlos zu ihr
zu flüchten. Psychologisch gewinnen wir gar nichts mit ihr. Ihre
Annahme ist geeignet, das Vorliegen von Kausalzusammenhängen
im Psychischen überhaupt in PVage zu stellen: sobald man nämlich
nichts anderes gelten läßt als die zerebralen Mechanismen und das
aktuell Psychische. Damit würde denn psychologische Erklärung
überhaupt unmöglich und bedeutungslos, und das Psychische würde
wieder zum bloßen Epiphänomen. Wir haben aber in unserer Wissen-
schaftslehre die Funktionen und Grundfunktionen des Psychischen
bereits aus dem Wesen des Psychischen abgeleitet, aus Qualitäten,
welche es vor dem Nichtpsychischen voraus hat. Wenn wir freilich
das Bewußtsein zum Definitionsmerkmal des Psychischen machen,
so nutzt uns das alles nichts. Wir müssen dann auch diese eigent-
lichen seelischen Triebkräfte aus dem Bereich des Psychischen eli-
minieren. Aber wir haben ja bereits gesehen, daß wir durchaus
keinen Grund dazu haben. Psychisches durch das Bewußtsein zu defi-
nieren. Und es wäre nahezu lächerlich, um dieser falschen und will-
kürlichen Definition willen unsere wissenschaftstheoretischen Grund-
legungen zugunsten eines materialistischen Theorems über Bord zu
werfen. Sind sie richtig, dann ist auch das Unbewußte an dieser Stelle
gefordert. Es ist dasjenige Psychische, welchem das zufällige Merkmal
nicht konstitutiver Art, welches wir Bewußtsein nennen, nicht zu-
kommt. Endlich spricht hierfür auch, daß das Reproduzible deutliche
Wirkungen im Bewußtsein ausüben kann, ohne selber reproduziert
zu werden.
Widerlegung von Bedenken gegen die Zulässigkeit der
Konzeption des Unbewußten.
Welche Schwierigkeiten bietet diese Konzeption des Unbewußten?
Hellpach, der diese Frage gründlich geprüft hat, und ein Gegner
des Unbewußten ist, wendet ein, seine Annahme stelle den Kausal-
zusammenhang innerhalb des Bewußten in Frage. Diese Folgerung
ist selbstverständlich richtig. Aber was schadet das? Das wäre doch
nur dann bedenklich, wenn Bewußtsein und Psychisches identisch
wären. Ein lückenloser Kausalzusammenhang innerhalb der Bowußt-
seinsphänomene Iwsteht doch ohnehin nicht. Und wir haben durch
die Konzeption des Unbewußten die Möglichkeit gewonnen, die Un-
abgesclilossenheit der Kausalreihcn in vielen Fällen zu vormcidea
oder doch zu verringern.
Zweitens wendet Hellpach ein, das Eingreifen des Unbewußten
174 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Reproduziblen ins Bewußte sei eine Deutung. Ganz gewiß: aber
die Annahme eines physischen Ursachenprinzips ist das nicht minder.
Drittens meint Hellpach, das Reproduzible sei in dieser Fassun«'
nicht bloß Material, sondern indem es zu den Bedingungen des Be-
wußtseins beitrage, eine mitbestimmende Tätigkeit. Auch dies ist
richtig. Aber es ist uns das kein Einwand, sondern eine neue Stütze
unserer wissenschaftstheoretischen Grundanschauung vom Cha-
rakter alles Psychischen als eines Tuns. Indem wir das Spontaneitäts-
prinzip auch auf die Reproduktion ausdehnen, erlösen wir sie aus
ihrer toten schematischen Gebundenheit an die Formeln einer miß-
brauchten Mechanität, in welche die bloße Assoziationspsychologie
sie allzulange geschlagen hat. Wir müssen dies auch Berzei) gegen-
über betonen, dessen sonst so kritische Ausführungen in diesem
Punkte den Bereich der intentionalen Psychologie verlassen und in
der Reproduktion durchaus keine geistige Tätigkeit, sondern nur
eine passive »Ekphorie von Engrammen « sehen wollen — gleich als
ob die überflüssige Semonsche Terminologie geeignet wäre, die alte
mechanische Lehre zu verjüngen. Bei Berze erklärt sich diese Ein-
schränkung aus einem Mißverstehen des Intentionalitätsbegriffes
überhaupt, den er in der Brentanoschen Schule vorgefunden hat
und viel zu äußerlich voluntaristisch nimmt, ohne ihn in seinen
richtigen theoretischen Fundierungen klar zu erfassen 2).
Hellpach sieht ferner in der Konzeption des Unbewußten noch
eine besondere Schwierigkeit und wirft Hirt, der diese Schwierigkeit
1) Die primäre Insuffizienz der psychischen Aktivität. S. 349. An anderen.
Stellen freilich stellt sich Berze auch zu dem Reproduktionsphänomene ganz so,
wie wir, im Sinne der Aktionspsychologie.
2) Über den Begriff Intention vgl. S. 339ff. dieses Buches. Was Berze an-
langt, so spricht er von »intentionaler« und »impressionaler« »Sphäre« als koor-
dinierten Geschehensgebieten; mit letzteren meint er nicht bloß die »hyletischen
Daten« Husserls als unselbständige Materialien psychischer, noetischer Phäno-
menalität, sondern das ganze Gebiet der Assoziationspsychologie, in welches er
die Aktivität gleichsam als eine andere Reihe von Elementen (er spricht auch
direkt von »intentionalen Elementen«) einschaltet. So liegen die Dinge aber nicht.
Wir werden später noch die möglichen Bedeutungen des Intentionalen dartun;
schon hier aber läßt sich, rückblickend auf unsere wissenschaftstheoretischen
Grundlegungen, sagen: Das intentionale oder noetische Moment, als das konstitu-
tive Wesensmerkmal des psychischen Geschehens als einer Tätigkeit, ist ganz
inkommensurabel mit irgendeiner anderen Sphäre, etwa von Impressionen oder
Elementen. Diese sind unselbständige Materien, an denen die Intentionen sich
realisieren. Die Intentionen zer ''allen nicht in intentionale »Elemente«; Elemente
sind nur die materialen, gleichsam stofflichen Bausteine, aus denen die Intentionen
Erlebnisse bilden. Nach Husserls schönen und klaren Ausführungen (Ideen zu
einer reinen Phänomenologie. S. 174 ff.) sind die Intentionen die eigentlich »psy-
chische Seite der Erlebnisse «. Elementaranalyse im assoziationstheoretischen Sinne
ist nur innerhalb der Erlebniseinheiten an den psychologisch unselbständigen
Materien derselben möglich. Und die »Assoziationen« bilden nur insofern einen
Gegensatz zur »Aktion«, als sie das Wesen des intentionalen Aktes selber nicht
aufzulösen vermögen. Im übrigen bleiben sie als Formen der Verknüpfung von
solchen Erlebnissen und Akten untereinander, soweit diese Verknüpfungen nicht
eelber urteilsartige oder sonst intentionale, noetische, »determinierte« sind, be-
stehen.
Weitorca über die Probleme der [Sychischon KauBaliUit usw. 175
nicht sieht, weil sie nicht besteht, in scliarfen Worten vor, er umgehe
das eigentliche Problem. Nicht darin liege diese Schwierigkeit, daß
das Bewußte ufxstiifbar sei, und daß nicht alles im momentanen Be-
wußtsein anwesend sei, was in ihm seine Wirkungen äußert. Viel-
mehr darin, daß iium vom Unbewußten im kSinno eines hypothetischen,
keinem Menschen als Tatbestand gegebenen Etwas jenseits des Kör-
perlichen und des Bewußten spreche; gerade deshalb sei es fraglich,
ob mau jene unbestreitbaren Tatbestände unbewußt nennen soll
und damit der Verwcchshing mit jenem Etwas preis geben dürfe.
Hier sclieint uns Hellpach selber die »Scliwierigkeiten künstlich zu
.schaffen. Auch wir reden nicht davon, daß das Bewußtsein nach
Graden abstuf bar ist; das ist selbstverständlich und hat mit dem
Unbewußten gar nichts zu tun. Ebensowenig reden wir von jenen
psychologischen Tatbeständen, welche fälschlich unbewußt genannt
werden, obwolil sie aus einem besonderen Verhalten des Bewußtseins
erklärbar sind. »Sondern wir reden von jenen psychologischen Tat-
Ijeständen, die aus einem solchen Verhalten des Bewußtseins eben
nicht erklärbar sind. Daß es solche Tatbestände gibt, hat ja Hell-
pach selber zugegeben, sonst brauchte er das Physisclie ja nicht zur
Erklärung heranzuziehen. Zur Erklärung dieser Tatbestände ziehen
wir nun das Unbewußte in der Tat hypothetisch iieran, und zwar
ganz im Sinne von Hellpachs Beschreibung. Und wenn wir diese
Tatbestände, welche wir durch das Unbewußte erklären, nun auch
als Unbewußt bezeichnen, so verhalten wir uns logisch völlig ein-
wandfrei. Richtig ist an Hellpachs Gedankengang, daß die Deutung
psychischen Geschehens aus dem Unbewußten den Tatbestand dieser
Deutung jeder möglichen Verifizierung durch die Wahrnehmung ent-
zieht. Denn das Unbewußte ist nicht wahrnehmbar. Hellpach
hat auch darin recht, daß er die Behauptung ablehnt, die Hj'pnose
bringe das Unbewußte zum Erleben. Tatsächlich erlebt man auch
in der Hypnose ein Bewußtes, welches uns aber vorher unbekannt
war. Bewußtseinscharakter ist das Wesen jedes Erlebnisses; wird
also, wie behauptet, unbewußfes in der Hypnose erlebt, so hat es
seine Wesensart damit eingebüßt, nämlich die, niemals im Erlebnis
gegeben sein zu können.
Aber in dieser grundsätzlichen Unwahrnehmbarkoit — nicht
Unerkennbarkeit, wie Hellpach will, — liegt doch keine grund-
sätzliche Schwierigkeit. Kräfte können wir, um ein Beispiel zu
nennen, ebenfalls nicht wahrnelimcn: welcher Mensch wird aber die
Aimahme von Kräften deshalb ablehnen?
über die Möglichkeit positiver Bestimmung des Unbe-
wußten.
Viel schwieriger als die Begründung der Existenz des Unbewußten
und seiner theoretischen Zulässigkeit, seines Gefordortseins ab psy-
chischer Sphäre ist es nun freilich, positive Bestimmungen an ihm
176 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
zu treffen. Hier gibt es zwei grundlegende Möglichkeiten. Die
erste, der wir uns anschließen, geht dahin, genau so, wie wir den
Bewußtseinscharakter am Psychischen für akzidentell halten, auch
den Unbewußtseinschai'akter für akzidentell zu halten. Soweit die
Sphäre der Bewußtseinsgegebenheit von Psychischem geht, be-
handeln wir sie beschreibend, d. h. gewinnen positive Merkmale und
Bestimmungsstücke aus der Wahrnehmung. Das übrige Gebiet des
Psychischen wird durch die Wahrnehmung nur negativ oder ein-
schränkend bestimmt; seine Bestimmungsstücke werden denkend
entwickelt, und zwar gemäß den regulativen Gesichtspunkten, welche
uns die Wissenschaftslehre für das Psychische überhaupt an die
Hand gibt.
Der zweite Weg, das Unbewußte positiv zu determinieren, ist der
einer konstruktiven theoretischen Konzeption über dasselbe, wobei
die Bestimmungsstücke entweder nach Analogie oder aus dem Gegen-
satz zu denen gebildet werden, welche dem phänomenalen Psychischen
der Bewußtseinssphäre konstitutiv sind. Hierbei wird das bewußt-
seinsgegebene Psychische zu einem gewissermaßen bloß zufälligem
Nebeneffekt des Unbewußten. Die Bestimmung dieses Unbewußten
überschreitet also die ihr gezogenen logischen und methodischen
Erkenntnisgrenzen im Sinne dieser konstruktiven Vereinheitlichung
des Psychischen überhaupt, und seiner Einbeziehung in das Un-
bewußte.
Nochmals Unbewußtes und psychische Realität.
So ist bei Lipps das Unbewußte zugleich das psychisch Reale.
Wir haben uns hierzu bereits weiter oben geäußert. Es ist gar keine
Frage, daß das Psychische in seiner Realität gänzlich unabhängig
ist vom Bewußtseinscharakter; somit ist auch das Unbewußte real.
Freilich ist seine Realität nicht in der unmittelbar evidenten Weise
gegeben wie die des bewußten Psychischen. Sie wird denkend er-
kannt. Der Gegensatz, den Lipps hier hineinträgt, ist also nicht
ein solcher des Gegenstandes, sondern ein solcher des Erkennens.
Im übrigen sehen wir in den Konzeptionen von Lipps einen frucht-
baren Gewinn auch für die Weiterentwicklung unseres Problems der
psychischen Kausalität. Seine Konzeption des Unbewußten er-
möglicht, wofern nicht andere Hindernisse noch auftauchen sollten,
in der Tat den lückenlosen Kausalzusammenhang alles
Psychischen. Dieser tritt gleichsam nur an einzelnen Punkten
in der Sphäre der bewußten Phänomenalität hervor, spannt sich
aber zwischen ihr und dem Unbewußten kontinuierlich
aus. Wir fragen natürlich nach- der Verursachung und nach dem
Zusammenhang von Phänomenen. In der Antwort aber
werden wir auf unbewußte Bereitschaften, auf die Mög-
lichkeit unbewußter auslösender Bedingungen und Reize,
auf die Möglichkeit unbewußter Wirkungen und Zwischen-
Wpitrres über dir- I'rohlrmf der paychinohcn KauHnlität urw. 177
gliedfr hingowicHcn. Dadurch liißt sich eine dynamische
Psychologie von der Phänomenologie aus, aber ihre Gren-
zen durchaus überschreitend, auf Grund unserer Wissen-
schaft ^theoretischen Obersätze auferbauen.
Freud.
Auf Lippssohcm Boden stellt auch Freud hinsichtlich seiner
Theorie des Unbewußten. Aber indem er die schöpferische Kraft
dieses Unbewußten zu erklären sucht, muß er ihm Bestimmungs-
stücke zufügen, welche bei Lipps noch fehlen. Er entnimmt sie,
wie Hcllpach richtig bemerkt, dem Bewußtseinsleben, indem er
dessen ziclgericiitetc Bclierrscliung durch Verstand und Willen auf
das Unbewußte analogisierend überträgt. An dieser Stelle, wo es
sich um reine Theorie handelt, kann dazu nur gesagt werden: als
heuristische Konzeption ist ein derartiger Gedanke durchaus möglich.
Nur muß Freud dann auch die seelischen Funktionen angeben,
welche durch ihren Vollzug diese der bewußten Reflexionsarbeit
analogen Ergebnisse im Unbewußten bewirken. An späterer Stelle
wird sich zeigen, wieweit er dieser Fordenmg zu genügen vermag.
Jedenfalls besteht zunächst kein Grund, mit Hellpach in dem
Verfahren Freuds eine Überschätzung der Analogieschlüsse zu er-
blicken. Derartige Hypothesen sind genau so berechtigt, wie alle
anderen.
Bedenklicher ist Lipps Definition des Bewußtseins, welche Freud
aufgenommen hat, als Organ zur Wahrnehmung von psychischen
Qualitäten. Aber hierüber kann erst in einer Phänomenologie des
Bewußtseins gehandelt werden.
Ergebnis der Untersuchungen über das Unbewußte.
Wir betonen also nochmals: eine derartige Konzeption des Un-
bewußten, auf welches alle von uns vorher entwickelten Definitions-
merkmalc des Psychischen überhaupt zutreffen und welches den Ober-
sätzen psychologischer Theorie genau so untersteht wie alles Psy-
chische, hat keinerlei theoretische Schwierigkeiten. Sie ist' nicht
nur heuristisch, sondern sogar theoretisch gefordert. Daß das Be-
wußtsein kein konstitutives Merkmal des Psychischen ist, ist nicht
ihre Folge, sondern eine völlig unabhängige Feststellung.
Es bliebe noch der Einwand: woher wir denn wüßten, daß dieses
Unbewußte etwas Seelisches sei, da doch die Merkmale des Unbe-
wußten auf jedes transzendierendo Sein paßten. Man sieht aus
dem Vorangegangenen leicht, daß dieser Einwand die hier ent-
wickelte Konzeption gar nicht zu berühren vermag. Er entsteht
daraus, daß es noch immer nicht richtig verstanden wird, wenn die
Definition des Psychischen nicht durch das Merkmal des Bewußt-
seins erfolgt.
Kronffld, PsychUlrUi-he ErkcnntnU |2
178 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Dennoch muß man zugestehen, daß auch die erkenntniskritischen
Schiefheiten von Lipps den genannten Einwand verständlich machen.
Wenn Lipps das Unbewußte als das eigentliche psychisch Reale, als
das wahre psychische Sein definiert, so muß man dem entgegenhalten,
daß ein so definiertes wahres Sein weder etwas Psychisches ist, noch
etwas Reales, Der Begriff des Psychischen und des Physischen um-
faßt bereits Phänomene. Ein Unbewußtes, das zur Erscheinungs-
welt in Gegensatz tritt, ist tatsächlich nicht mehr Psychisch.
Ebensowenig ist es Physisch. Es ist »wahres Sein «, also transzendent.
Es ist auch nicht real, denn Realität ist eine kategoriale Prädikation
von Phänomenen. Es ist ideal. Damit wären wir dann beim
Hartmannschen Unbewußten gleich dem Absoluten^).
1) Es ist natürlich nicht möglich, den Gedankenbau eines großen philo-
sophischen Denkers über sein Zentralproblem mit ein paar Worten zu umschreiben,
geschweige denn zu diskutieren. Eduard von Hartmann hat das Problem
des Unbewußten in verschiedenen Werken behandelt. Es seien zitiert: Philo-
sophie des Unbewußten, 10. Auflage, besonders Bd. 2, S. 153—200, 482 ff., Bd. 3,
S. 295—330; Archiv für systematische Philosophie, Bd. 6, S. 373 ff. und vor
allem die moderne Psychologie, S. 75ff. , 121 ff. , 274 ff. Hier sei nur gesagt:
Seine Lehre vom Unbewußten akzeptieren, heißt seine gesamte Philosophie an-
nehmen. Eine Herauslösung und psychologische Fruchtbarmachung seiner Un-
bewußtseinslehre aus ihrem philosophischen Gesamtrahmen ist unmöglich. Bei
Hart mann ist es dem Unbewußtsein wesentlich, daß es etwas Psychisches ist,
und zwar etwas individuell Psychisches. Und doch ist das Unbewußte kein Teil
oder Bereich der Erscheinungen. Die Phänomenalität des Psychischen wird durch
ihren Bewußtseinscharakter definiert. Alles was unter sie fällt, ist vom Begriff
des Unbewußten ausgeschlossen. Hart mann ist sich seines Widerspruches voll
bewußt, erklärt ihn aber für auflöslich. Er vollzieht diese Auflösung etwa folgender-
maßen: Das psychische Urphänomen ist das Gefühl. Aus Gefühl wird durch
kategoriale Funktionen die Empfindung, aus Empfindungen durch andere kate-
goriale Funktionen die Anschauung, aus Anschauungen wieder durch andere kate-
goriale Funktionen die Vorstellung. Aus dieser Begriffe usw. Alle diese Bildungen
sind psychische Phänomene und als solche notwendig auch Inhalte eines Bewußt-
seins. Sie sind psychische Phänomene nur insofern sie für irgendein Bewußtsein
bewußt sind, nicht aber insofern sie für ein anderes Bewußtsein unbewußt sind.
Er unterscheidet also verschiedene Bewußtseiue in demselben Individuum, ein
oberstes Bewußtsein und Bewußtseine niederer Individualitätsstufen. Mit Bezug
auf das oberste Zentralbewußtsein können die genannten Phänomene relativ un-
bewußt sein. Relativ unbewußte Bildungen sind aber psychische Phänomene
nur als relativ bewußte, nicht aber als unbewußte Phänomene. Das Paradoxe
an ihnen liegt darin, daß sie Phänomene der individualen Seele sind und doch
nicht im obersten Zentralbewußtsein, welches gewöhnlich für das einzig vor-
handene Bewußtsein schlechthin gehalten wird.
Wollen und Denken hingegen gehen über den Phänomenalitätscharakter des
Psychischen hinaus. Von beiden muß anerkannt werden, daß ihre phänomenale
Bewußtseinsrepräsentation nur Symbol ist für eine außerbewußte psychische
Tätigkeit. Und erst diese außerbewußte psychische Tätigkeit ist es, die mit dem
Worte Wollen eigentlich gemeint ist. Dasselbe gilt für das Denken. In dem Sinne,
in dem diese Tätigkeit selber gemeint ist, gehört sie dem absolut Unbewußten an.
Absolut unbewußt sind psychische Tätigkeiten, die als Tätigkeiten in kein Be-
wußtsein fallen, wenngleich ihre Produkte als psychische Phänomene bewußt sind.
Alle psychischen Tätigkeiten müssen als Tätigkeiten absolut unbewußt sein. Alle
Passivität ist irgendwie bewußt, alle Aktivität als solche unbewußt. Alles Bewußte
ist rein passiv, aktionsunfähig, alles Unbewußte ist aktiv und produktiv. Daß
Weiteres über die Probleme der psychischen Kausalität uhw. 179
Unsere Korrektur des UiibewulJteii befreit dasselbe von der Wir-
kung dieses Einwandes. Es umfaßt ein Bereich potentieller
Phänomene und phänomenal wirkender Kräfte. Und es
ist lediglicii akzidentell, daß die potentiellen Phänomene,
sobald sie aktuelle werden, nieht mehr dem Unbewußten
angehören. Ks liegt dies daian, daß die VVahrneh mung selber,
die ja nicht nur Erkenntnis, sondern zugleich auch immer ein psy-
chischer Vollzug ist, zu denjenigen Vollzügen gehört, welche
Bewußtseinscharakter involvieren. Daß dies so ist, ist aber
nicht theoretisch notwendig, sondern eine phänomeno-
logische Tatsache. Damit ist denn dies ganze Problem seines
grundsätzlichen Charakters entkleidet.
wuch das Bewiißtsein aktiv sein könne, diese Meinung entspricht einer Verwechslung
(lt'8 phänonu'nak'n Ich mit dem unbewußt tätipen Subjekt.
Die psyc'hischtn Phänomene dea obersten Zentralbewußtseins sind das End-
produkt einer langen Reihe aufeinander gebauter funktionaler Bildungen. Die
Inhalte dieser funktionalen Bildungen gehören den schichtenwei.se einander über-
lagernden niederen Bewußtseinen (Unterbewußtseinen) der Individualität an,
ileren CJnindlage die Tätigkeit des Zentralnervensystems bildet. Aus ihnen er-
wirken die Kategorialfunktionen immer höhere aber nur unterbewußte Produkte
und zuletzt die phänomenalen Gegebenheiten des oberston Zentralbe^-ußtseins.
Die Inhalte der Unterbewiißtseine (elementare Bestandteile der höheren Bildungen)
entziehen sich der direkten Analyse, weil sie relativ unbc^vußt sind. Die Kategorial-
funktionen entziehen sieh der Beobachtung, weil sie als Tätigkeiten dem absolut
L'nbewiißten angehören. Die relativ unbewußten Phänomene sind eine Vor-
bedingung für die Bewußtseinsinhalte.
Die Di.spositionen, welche Hart mann rein physisch faßt, und die Tätig-
keiten dea Zentralnervensystems sind mit relativ unbewußten psychischen Phäno-
menen dauernd verknüpft. Um dieser Verknüpfung willen bezeichnet er die.se
Tätigkeiten selber als einen Teil des relativ Unbewußten mit dem Begriff des
physiologischen Unbewußten. Bewußtseinsgegebenheiten bauen sich also auf
aus dem physiologischen Unbewußten und der absolut unbewußten psychischen
Tätigkeit. Das physiologische Unbewußte wäre an sich ein bloß Bewußtloses und
nicht Unbewußtes, wenn die Materie selber etwas durchaus Unpsychisches wäre.
Nach Hart mann jedoch ist die Materie ein bloßes Produkt aus dem Zu.sammcn-
wirken individueller Kräfte, denen sie als objektiv reale Erscheinung entspricht.
Diese Kräfte selber sind Individuen unterster Individualitätsstufe. Ihre Kraft-
äußerungen sind absolut unbewußte psychische Tätigkeiten. Ihnen entsprechen
jirimitivste psychische Pliänumcne, Lust- und Unlustgefühle, die noch nicht
qualitativ zusammengefaßt sind, aber die primitive Bau.steine zu der Synthese
von Individuen der nächst höheren Stufe abgeben. So entfalten die Atome sowohl
absohit unbewußte Tätigkeit als auch psychische Phänomene, welche dem Be-
wußtsein höherer Stufe unbewußt bleiben, also etwas relativ Unbewußtes sind.
Das physiologische Unbewußte besteht sonach .selber auch seinerseits wieder im
absolut Unbewußten und relativ Unbewußten.
Das absolut Unbewußt<'. welches einerseits das physiologisch Unbewußte als
einen Teil der Natur hervorbringt, welches f«'rner das relativ Unbewußte als einen
Teil der psyehi.schen Phänomene umfaßt, ist demnach der Grund und die über-
greifende Einheit der Natur und des (Geisteslebens überhaupt. Das absolut Un-
bewußte ist der metaphysi.sche Urgrund alles Seins hinter Materie und Bewiißt-
sein. Es ist weder material noch bewußt. Es ist das wahn» Sein der Identitäts-
philosophie, welche ebenso wie sie nur als Immateriulismus mOglich ist, auch nur
als Philosophie des l^nbe^\^^ßten möglich ist.
Wir geben tliese kurze Darstellung hier wieder, einmal weil wir dies dem
12»
180 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
6. Die Reize und die allgemeinen Bedingungen psychischer
Dynamik.
Der Reizbegriff und seine Merkmale.
Nach dieser notwendig gewordenen Einschaltung können wir zur
weiteren Auflösung des Kausalproblems im Psychischen zurück-
kehren. Die psychischen Vollzüge, welche sich phänomenal als Er-
lebnisse oder Teile von solchen im weitesten Sinne darstellen, sind,
wie wir sahen, die Wirkung von Funktionen und Funktionskomplexen,
welche als potentielle Bereitschaften im Unbewußten liegen, und zur
Aktualisierung der Auslösung durch Reize bedürfen. Die Reize,
die Erregungs- und Auslösungsbedingungen sind also die eigentlichen
Gründe der Wirklichkeit aller seelischen Vollzüge. Von ihnen gilt
im Psychischen das Gleiche, was Verworni) für die Reize der Phy-
siologie ausgesprochen hat: »Wir müssen es als Charakteristikum
des Reiz Vorgangs betrachten, daß zwischen Reiz und Reizwirkung
überhaupt kein bestimmtes Verhältnis bezüglich der Energiegrößen
besteht. « Dies würde auch für denjenigen Fall gelten, in welchem
sich für die psychische Kausalbeziehung der Satz causa aequat effec-
tum als zu Recht bestehend erweisen ließe. Denn die Reize sind nicht
die causa, sondern diejenige hinzukommende Bedingung, durch deren
Eintritt die causa zur causa wird. Alle weiteren Bestimmungen über
die Wirkungsintensität der Reize sind demgemäß heuristisch-empi-
rische. Ihnen entspricht kein theoretischer Ordnungsgesichtspunkt
als leitende Maxime. Wir wissen es von der empirischen Forschung,
daß die Reize im Psychischen einen Schwellenwert ihrer aktualisie-
renden Eignung haben, und daß dieser Schwellenwert nach der Reiz-
qualität und den subjektiven Bedingungen schwankt. Wir wissen
weiter, daß unterschwellige Reize sich zu summieren und aufzu-
speichern vermögen. Die große Mehrzahl der als Reize in Frage
kommenden Veränderungen — z. B. unserer Wahrnehmungswelt, —
großen deutschen Denker schuldig zu sein glauben, sodann aber, um zu verhüten,
daß seine Konzeptionen, soweit sie die Psychologie als empirische Forschung be-
treffen, aus dem philosophischen Gesamtgebäude, in dem sie stehen, herausgerissen
und auf die empirische Materie ohne weiteres übertragen werden. Hartmanns
Konzeptionen verlieren außerhalb seines Systems jeden Sinn und jede Berech-
tigung. Dies zeigt sich schon an seinen besonderen Begriffen von Phänomenalität
und seinem Herausheben der Begriffe des Psychischen und des Materialen aus
dem Bereich des Phänomenalen in unserem Sinne. Es zeigt sich ferner an seiner
Definition des Bewußtseins und ihrer konstitutiven Geltung für den Phänomenali-
tätscharakter des Psychischen. Wir, die wir uns nicht zu seinem System bekennen,
müssen die in diesen Definitionen liegenden Konsequenzen, die zu seiner psycho-
logischen Theorie der Bewußtseine und des relativ Unbewußten geführt haben,
für unsere Arbeit ablehnen.
1) Allgem. Psychologie. 1909. S. 419 ff. Ausgezeichnete Ausführungen zum
Reizbegrifif bietet auch der erste Teil von Semons »Mneme« (1904); freilich ist
vor den fehlerhaften Konzeptionen des Engrammbegriffs, des nqöyxoy tpeiSo^
seiner ganzen Lehre, zu warnen.
Die Reize und die allgcmeincu Bedingungen psychischer Dynamik. 181
bleibt unter der Schwelle auslösender Iiiton.sität und verHchwindet.
Eine Vielzahl von Reizen strömt ständig der Psyche zu oder ent-
steht in ihr, ohne aber deshalb wirklich alsbald zu Reizen zu werden,
wenigstens in ilircr unmittelbaren und isolierten Gegebenheit. Die
ReizHummation ist nur eine Teilerscheinung der gegenseitigen Be-
einflussung überliaupt, im fördernden summativen, wie im hemmen-
den, wie endlich auch in einem die Gesamtqualität der resultierenden
auslösenden Reizkomplcxion modifizierenden Sinne. Die Forschung
hat erstens die Bedingungen in der Psyche zu studieren, auf
welche die Reize in ihrer aktualisierenden Tendenz auf treffen, und
zweitens die Natur der Reize selber ordnend zu bestimmen.
Reiz und Disposition.
Die erste der beiden Fragen, nach der Natur der subjektiven Be-
dingungen für die Wirksamkeit von Reizen überhaupt, läßt sich als
eine Teilerscheinung der psychischen Individualität um-
schreiben. Sie umfaßt, wie schon einmal angedeutet, die Disposi-
tionen und Anlagen, worunter wir insbesondere solche zur Bean-
spruchung bestimmter bevorzugter Funktionen und Funktions-
komplexe verstehen, unter Zurückdrängung und Ausschaltung an-
derer. Ferner gehören hierhin alle Reproduktionsdispositionen und
Bereitschaften der individuellen Vergangenheit in der besonderen
Anhäufung und Ordnung, welche sie in der betreffenden Individualität
inne haben. Zu diesen beiden Momenten sei hier kurz bemerkt: wjr
fassen sie nicht als physische, sondern als psychische Daten auf.
Nicht daß wir ihre physische Repräsentanz leugnen oder für un-
wesentlich halten. Aber unsere Ausschaltung des psycho-phj'sisehen
Problems aus der eigentlichen Psychologie zwingt uns zu dieser
Stellungnahme. Nicht die psychologischen Forschungen und ihre
theoretischen Grundlegungen werden den alten Streit über die Natur
dieser Dispositionen und reproduktiven Spuren darzustellen und
auszutragen haben, dessen Ergebnis sie in dem eben genannten Sinne
vorwegnehmen müßten, um allererst möglich zu werden. Ferner
gehören hierher die im Zeitmoment der jeweiligen Reizwirkung ge-
gebene Konstellation der psychischen Bereitschaften des betreffenden
Subjekts. Dieser Begriff soll nur besagen, daß der labile Gleich-
gewichtszustand, in welchem sich die Bereitschaften und Funktionen
in jedem Augenblick psychischen Lebens befinden, das Ergebnis
einer Reihe unübersehbarer psychischer Vollzüge der Vergangenheit
ist, welche von Individuum zu Individuum anders sind und die Be-
vorzugung ganz bestimmter Materien und Strukturen für die Ak-
tualisierung zu dem in Frage kommenden Zeitpunkte erwirken. Zu
diesen Momenten der Konstellation gehört auch der Zeitpunkt, in
welchem die schematisch vorgegebene Abfolge der verschiedenen
Funktionsvollzüge aufeinander, so wie wir sie noch entwickeln werden,
von dem auftreffenden Reize jeweils geschnitten wird. Es ist, um
182 Über die wissenschaftstheoretischen Grandlagen der Psychologie usw.
ein Beispiel zu bilden, für den Fortgang psychischer Vollzüge ihrer
Qualität nach nicht gleichgültig, ob ein Wahrnehmungsreiz im Mo-
mente, in dem eine Wahrnehmung erwartet wird, oder im Momente
eines Entschlusses oder einer Handlung die Psyche berührt.
Schwierig wird die Übersicht nun durch folgendes : sowohl in den
Dispositionen zur Beanspruchung bevorzugter Funktionskomplexe,
als auch in den Dispositionen zu deren reproduktiver Erfüllung mit
bevorzugten Materien, als auch endlich in der Konstellation liegen
ihrerseits wiederum Reizmomente, welche auch ohne äußere Be-
dingungen auslösend auf bestimmte Funktionen zu wirken vermögen.
Und ferner sind alle diese Faktoren ihrer Natur nach geeignet, die
Reiznatur der auftreffenden Reize gleichsam elektiv zu beein-
flussen, und zwar in verschiedenen Richtungen. Diese Fähigkeit der
Erregbarkeit hängt ab von einer vorgegebenen und wiederum nur
individuell faßbaren Adäquationsbeziehung zwischen Reizen und
Bereitschaftszuständen des Ich, welche irrational und nur empirisch
heuristisch feststellbar ist. Wenn Bleuler^) zu ihrer Auflösung den
Schaltungsgedanken heranzieht, so ist das Bild der Schaltung zwar
ein ganz glückliches, aber viel zu einfaches Symbol. Monakows
Diaschisis ist eine Teilerscheinung dieser dispositionellen Indivi-
dualitätsdifferenzierung für Reizreaktionen; wenigstens ist ihre
Erklärung nur auf diesem sehr komplizierten Unterbau möglich.
Arten der Reize.
Was nun die Arten der Reize und ihre Natur anbelangt, so
muß auf Grund unserer gesamten theoretischen Auffassung betont
werden, daß wir sie insgesamt und restlos als psychische Reize
auffassen. Wir erkennen somit eine direkte und unmittelbare Wir-
kung physischer Reize oder physiologischer Reize auf die Bestim-
mung und Aktualisierung funktioneller Bereitschaften nicht an.
Diese Frage ist eine Teilfrage des psychophysischen Problems, dessen
Behandlung, wie gesagt, hier auszuscheiden hat. Zum Verständnis
hier nur soviel: es fällt uns natürlich nicht ein, die Tatsachen der
zerebralen Lokalisation, soweit dies Tatsachen und nicht Behaup-
tungen sind, zu leugnen. Ebensowenig wird die Rolle der Hirn-
tätigkeit und der Alteration derselben als Bedingung psychischen
Geschehens und psychotischer Prozesse auch nur im mindesten an-
getastet. Um diese Frage handelt es sich aber bei unserer jetzigen
Erörterung gar nicht. Vielmehr gehen wir von der psychologischen
Fragestellung aus, welche durch die Anregbarke it der psychischen
Kräfte zu spontaner Auswirkung gestellt ist. Diese Anregbarkeit
ist ein psychologisches Merkmal. An sich -würde diese Fest-
stellung nichts darüber besagen, daß nicht auch solche Bedingungen
zum Wirksamwerden seelischer Funktionen gehören, welche nicht
1) a. a. O. S. 50ff.
Die Reize und die allgemeinen Bedingungen psychischer Djmamik. 183
psychisch .sind; und wie gesagt, wir halten das Vorliegen solcher
physischer Bedingungen sowohl für die Möglichkeit des seolischen
Geschehens ül>erhaupt als auch für die Möglichkeit des hie et nunc
bestimmten seelischen (Jeschehens für eine selbstverständliche Tat-
sache. Alx;r diese physischen Bedingungen stehen zum psychischen
Geschehen in einem ganz anders orientierten theoretischen
Verhältnis, als diejenigen Bedingungen, welche durch den Begriff
der psychologischen Anrcgbarkeit gefordert werden. Jenes theo-
retische Verhältnis geht uns hier noch nichts an; dieses aus dem
Begriff der psychischen Anrcgbarkeit zu Ijestimmonde setzt die psy-
chische Natur des anregenden Reizes voraus, wenn anders ülxjrhaupt
psychische Kontinuität, psychische Kausalität, psychologische Wissen-
schaft von mehr als epiphänomenalen Gegenständen möglich sein
soll. Die psychische Natur der Reize folgt zwar nicht analytisch aus
der Definition der Anrcgbarkeit. wohl aber aus unserer Hypostasierung
vom We.sen des Psychischen überhaupt. Und diese Hypostasierung
hängt nicht in der Luft, sondern ist an wissenschaftstheoretischen
Notwendigkeiten verankert^).
Wenn also physiologische Vorgänge zerebraler Natur als psychi-
sche Reize imponieren, so beruht dies auf einer Aquivokation in der
Anwendung des Reizbegriffes. Nicht ihr Bedingungscharakter,
sondern ihr Reizcharakter in dem allein hier gemeinten psy-
chologischen 8inne für eine Dynamik des Psychischen wird grund-
sätzlich abgelehnt. Und was die Reize der Außenwelt anlangt, so
kommen sie zu psychischer Auslösungswirkung immer nur als Be-
standteile der Wahrnehmung oder Empfindung, also als Bestandteile
der Psyche selber. Im übrigen haben auch diejenigen physiologischen
Vorgänge innerhalb des Organismus, welche man sonst erst als Reize
in dem hier gemeinten Sinne verwerten wollte, immer eine psychische
Repräsentanz, welche jenen erwähnten andersartigen psychophysi-
schen Bedingungen unmittelbar entspricht. Und diese psychische
Itepräsentanz, Organgefühle, vitale Partial- oder Gesamtgefühle,
Körpersensationen, Empfindungen und unljemerkte oder unter-
öchwellige inhaltliche Gegebenheiten, sind es ihrerseits, welche als
auslösende Reize fungieren.
*) Ri'ize der »Außenwelt« sind natürlich auch psychische: nämlich durch
Empfindung und Wahrnehmung er.><t gegi-bone. Dies nur zur Abwehr von Miß-
verstundni.sscn. wie sie vor allem die Tierpsychologie vii-lfach durchsetzen. Die
Bedingungen des Zustandekommens die.siT Rtize bilden einmal ein psycho-
physisches Problem vom oben bezeichneten Onlnungstypus (Vt-rhältnis der Affek-
tion der Sinnesorgane und Zentren zum p.sychischen Vorgang); zweitens ein rein
physiologisches Problem (Wirkung der jjhysischen Reize auf dies»- Sinnesorgane
und Zentrrn); drittens i>in metaphysischts Problem (das Problem der Möglichkeit
und des Wesens der »Außenwelt •). welches in der Regel mit dem psychophysischea
Problem verwech.HcIt oder gar erkenntnistheoretisch umgel>ogen wirtl. Nur da«
psychophysisohe Problem hat für die Psychologie seine Erltnligung zu finden.
Wenn die Tierp.sychoIogie das begriffen haben wird, wird die in ihr hcrr«chendo
Konfusion vielleicht etwa« nachlassen.
184 Über die wissenschaftstheoretisclien Grundlagen der Psychologie usw.
Die dynamische Verknüpfung des psychischenGeschehens.
Die Natur der funktionsauslösenden Reize steht uns sonach als
psychische fest. Eine weitere Einteilung derselben wäre nun nach
dem Erfolge ihrer Auslösungswirkung denkbar. Wir würden dann
solche Reize unterscheiden, welche die Struktur bestimmter Voll-
züge determinieren, und solche, welche die inhaltliche oder mate-
riale Erfüllung dieser Struktur bestimmen. Indessen wäre diese
Einteilung an sich allein unpsychologisch. Denn ob ein Reiz größeren
Einfluß im Sinne der einen oder der anderen dieser beiden MöglicTi-
keiten gewinnt, hängt erst in letzter Linie von ihm selber ab. In
weit höherem Maße hängt dies vielmehr von der Gesamtheit der Be-
dingungen ab, unter denen er aktuell ist. Immerhin sind die In-
haltsbestimmung und die Strukturbestimmung psychischer
Vollzüge durch Reize wichtige Gesichtspunkte einer Klassen -
bildung.
Ganz besonders ist dies der Fall, wenn wir uns vergegenwärtigen,
was wir mit der Feststellung der psychischen Natur von Reizen eigent-
lich besagen. Unter Reiz verstehen wir eine Bedingungsvariation,
eine Veränderung; und hiernach hat jede psychische Veränderung
Anspruch darauf, als auslösender Reiz wirksam werden zu können.
Jede psychische Veränderung hat potentiellen Reiz-
charakter.
Diese Feststellung ist von ungeheurer Tragweite. Durch sie
ist allererst die Kontinuität des psychischen Geschehens
bestätigt. Sie ermöglicht es uns, in den vorüberflutenden Strom
seelischen Ablauf ens die Ordnung des Gesetzes hineinzutragen. Sie
ermöglicht uns allererst, auch Individualpsychologie nach
naturwissenschaftlicher Methode zu treiben. Denn sie
macht eine Determination des einzelnen psychischen Geschehens
nicht nur nach seiner allgemeinen Ursache, sondern auch hinsichtlich
der besonderen Bedingungen seines wirklichen Eintritts, hinsichtlich
seiner individuellen Genese, möglich, und verbleibt dabei doch
völlig im Rahmen des empirischen und induktiven wissenschaftlichen
Arbeitens.
Über den Anteil der im Unbewußten liegenden psychischen Fak-
toren an der Rolle von Reizen haben wir bereits weiter oben einiges
gesagt; und beschränken uns an dieser Stelle auf das dort Gesagte.
Wichtiger ist uns hier eine andere Folgerung, eine Folgerung aus dem
Reizwerte jeder psychischen Veränderung. Psychische Verände-
rungen entstehen nämlich durch den Vollzug von Funktionen und
Funktionskomplexen. Und da diese Vollzüge einander kontinuier-
lich folgen, so muß jeder Vollzug eine Reizbedingung für
den nächstfolgenden bzw. dessen Auslösung sein. Diese
Forderung ergibt im Zusammenhang mit unserer Feststellung von
dem labilen Gleichgewichtszustand der Totalität seelischer Bereit-
schaften, der in jedem Augenblick besteht und unter allen Umständen
Die Reize und die allgemeinen Bedingungen paychiticher Dynamik. 185
durch jeden sceliychen Vollzug «ich wiederherstellen muß, um 8celi-
Hches üoseliohen ülx?riiaupt zu ermöglichen, eine weitere regulative
Maxime für die Determination der Koihenfolgo in der Auwlöaung
pHychiöclier Funktionen.
Dies läßt wich nämlich so denken. Als auslöwender Ileiz wirkt der
einzelne Vollzug einmal, insofern er erlebt wird, als Erlebnis. Der
Bewußtseinsciuirakter von Erlebnissen haftet nun, wie die Phäno-
menologie lehrt, an ihrer materialen Bestimmtheit oder Er-
füllung. Diese wirkt, wie sicii heuristiscii dartun läßt — die ge-
samte Assoziationspsychologie ist nichts weiter als ein einziger Be-
weisversuch dafür, — auf die Inhaltsbestimmung der folgenden
Vollzüge. Freilich wirkt sie, da jede Materie auch auf die Qualität
iiirer funktionalen Gegebenheitsweise von Einfluß ist, mittelbar auch
strukturbestimmend und damit ablaufbestimmend und zielrichtend
auf das psychische Geschehen ein. Wenn der psychische Ablauf bei
einer Reihe von Denkvollzügeu stationär bleibt, statt zur Ent-
schließung fortzuschreiten, oder wenn er sich in erinnerungsmäßigen
Reproduktionen ausbreitet, so ist diese Modifikation der Struktur
und des Ablaufs fast immer, soweit sie nicht willkürlich ist,
einem Überwegen des Reizwertes der materialen Elemente, der
Inhalte, zuzuschreiben. — Ferner aber wirkt der Vollzug auch
als Vollzug auslösend auf weitere Funktionen. Und zwar ist seine
Wirkung ganz vorwiegend eine ablauf bcsti mracnde und damit
strukturbcstim mende.
Einfache heuristische Überlegungen zeigen dies an Beispielen
ohne weiteres. Wahrnehmungsakte ziehen reproduktive Akte nach
sich, und zwar mit Notwendigkeit. Wissen wir doch, daß in jeden
vollständigen Wahruehmungsakt auch reproduktive Akte mitein-
gehen. Wahrnehmungsakte sind nicht der Grund der Möglichkeit
von reproduktiven Akten, diese beruhen vielmehr auf entsprechenden
reproduktiven Funktionen. Diese letzteren sind also Ursache der
reproduktiven Akte. Aber der Vollzug des Wahrnehmungsaktes ist
der Grund des Eintritts der Realisierung reproduktiver Akte. Er
ist also das auslösende Moment, oder wie wir sagen, der Reiz, welcher
reproduktive Funktionen und Bereitschaften aktualisiert. Und
zwar tut er dies als bloßer Vollzug. Der Vollzug des Wahrneh-
mungsaktes aktualisiert den Vollzug reproduktiver Akte. Er ist
mithin strukturbestimmend und damit die Richtung des psychi-
schen Ablaufs bestimmend (nämlich auf die Reproduktion hin). Das
materiale W^ahrnehmuugscrlebnis aktualisiert als Reiz ent-
sprechende andere Materien. Diese Materien erfordern ihrerseits
gemäß ihrer materialen Natur, in Vorstcllungs(jualitäten aktualisiert
zu werden. Das materiale Wahrnehmungserlebnis ist also ein aktuali-
sierender Reiz für die weitere mateiialeoder inhaltliche Bestimmt-
heit oder Erfüllung der folgenden psychischen Vollzüge; ferner aber
ist es, da diese uuxterialo Bestimmung ihrerseits ganz bestimmte
funktionale Qualitäten erfordert, mittelbar auch strukturbestimmend
186 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
und damit ebenfalls ablauf bestimmend. Mithin werden diejenigen
reproduktiven Bereitschaften aktualisiert, welche erstens Vorstellungs-
qualitäten und zweitens die erforderte inhaltliche Bestimmtheit auf-
weisen. Es liegt also eine mehrfache Determination des psychischen
Ablaufs durch den vorangegangenen vor. Phänomenologisch äußert
sich das so, daß einer Wahrnehmung ein Erinnerungserlebnis, welches
»innerlich zu ihr gehört «, folgt ; oder wie man sagt, daß aus der Wahr-
nehmung ein Erinnerungserlebnis »hervorgeht«.
An Hand dieses Beispiels, welches sich für jeden einzelnen Teil
des psychischen Gesamtablaufs leicht wiederholen ließe, wird wohl
klar geworden sein, wie sich mit Hilfe unserer theoretischen Grund-
legungen die Abfolge eines psychischen Vollzuges auf den anderen als
eine psychologisch notwendige kausale Determination darstellt. Zu-
gleich ist deutlich, daß dieser Zusammenhang auch zwischen den
Erlebnissen besteht und hier nichts anderes ist, als eine Teilerschei-
nung der gesamten Determination i).
Hier sfi noch folgendes eingeschaltet: Der Reizcharakter kann
bei einem psychischen Vollzuge mit dem Erlebnisse des Vollzuges
zugleich miterlebt werden. Dies gehört eigentlich in die Phänomeno-
logie. Also nicht nur das Erlebnis hat tatsächlichen Reizwert, sondern
das Erlebnis dieses Reizwertes geht als Teil in das Erlebnis des Voll-
zuges selber mit ein. Dies ist insbesondere in der Phänomenologie
der Aufmerksamkeit, der Erwartung usw. der Fall. Ebenso kann
das Hervorgegangensein eines Erlebnisses aus einem anderen erlebt
werden. Freilich liegen die phänomenologischen Verhältnisse hier
viel schwieriger. Dem wird später gefolgt werden. Der Zusam-
menhang selber kann niemals unmittelbar erlebt werden.
Sofern er überhaupt eine Bewußtseinsrepräsentanz hat, ist es eine
den zusammenhängenden Erlebnissen folgende und in reflektionellen
Sonderakten vollzogene. Der Begriff des »verständlichen Zusammen-
hangs« im Sinne eines unmittelbar erlebten ist sinnlos. Im Begriff
des Zusammenhangs stecken weder anschauliche noch inhaltliche
Momente, die ein Erlebnis unmittelbar erfüllen könnten.
Hiernach kämen wir nun zu den näheren Bestimmungsstücken,
welche für die Regeln der Inhaltsbestimmung und der Struktur-
bestimmung (oder Ablaufbestimmung) psychischer Vollzüge gelten.
Mit großer Entschiedenheit muß nochmals betont werden, daß die
Heraussonderung von jeder dieser beiden Reihen von Regeln eine
durchaus künstliche ist und der wahren Determination des Psy-
chischen, so wie sie im Einzelfalle vorliegt, psychologisch nicht ent-
1) Natürlich ist dies nur ein Gesichtspunkt allgemeinster Art für die psychische
Dynamik. Daneben stehen die intentionalen Richtkräfte des Psychischen. Werden
sich die erstgenannten Faktoren zu den assoziativen und perseverierenden,
so werden sich die intentionalen zu den determinierenden Tendenzen aus-
gestalten lassen. Dies ist Sache der später zu gebenden psychologischen Dy-
namik als Teildisziplin genetischer Theorie des Psychischen, wovon noch ge-
handelt werden wird.
Dio Reize und die allgemeinen Bedingungen psychischer Dynamik. 187
Kpricht. Wir wiesen schon oben darauf liin; und unser Beispiel vom
Zusammenliang zwischen VValirnehmung und Erinnerung zeigte es
auch: der lebendige Zusammenhang erfordert immer ein Ineinander-
greifen und Verschmelzen der beiden künstlich gesonderten Be-
trachtungsweisen zu einer Einheit. Diese ist das wahre psycholo-
gische Konstituens psyciiischer Kausalität. Nur zu Darstellungs-
zwecken zerlegen wir uns diese determinierende Einheit unter unseren
beiden Gesichtspunkten.
Dio Rolle der Assoziation.
Die inhaltliche Determination der psychischen Vollzüge durch
einander ist der eigentliche Gegenstand der Assoziationstheorien
gewesen. Wir werden noch an sp<äterer Stelle Gelegenheit haben,
uns mit den Leinen von der Assoziation ausführlicher zu beschäf-
tigen^). Hier sei nur folgendes gesagt: Die Assoziationstheorie als
einzige Fundierung seelischen Zusammenhängens ist falsch. Sie
Übersicht den später zu erörternden Einfluß der Willkür; sie
übersieht, wenigstens in ihrer bisherigeia Fassung, ferner den Einfluß
der Struktur psychischer Vollzüge auf den psychischen Ablauf.
Wenn sie überhaupt etwas erklären kann, so kann es höchstens der
Einfluß der Inhalte aufeinander sein. (Auch die sogenannten
äußeren Assoziationen und Klangassoziationen sind solche der Ma-
terien oder Inhalte.) Ihr Erklärungsanspruch ging aber bisher viel
weiter. Er erstreckte sich auf das gesamte Psychische. Tut er aber
das, so besagt er nicht mehr, als daß alles Psychische unter sich zu-
sammenhängt. Das wissen wir aber auch so. Die Weise des Zu-
sammenhängens klärt der Assoziationsbegriff nicht; höchstens be-
zeichnet er den der Willkür entzogenen Charakter dieses Zusammen-
hängens, und für diesen, aber auch für ihn allein ist der Begriff der
Assoziation von Inhalten brauchbar. Die bisherige Ausbildung der
Assoziationsichre liat nun zwei allgemeine Gesichtspunkte geliefert,
nach welchen das Zusammenhängen von Inhalten beurteilbar wird:
die Kontiguität und die Ähnlichkeit. Beide sind aber weder er-
schöpfend noch in der Mehrzahl der Fälle eine wesentliche psycho-
logische Aussage, mit der sich im Einzelfalle etwas anfangen ließe.
Es kommt noch hinzu, daß die Assoziation neben den Weisen tem-
poriiler Al)folge auch die ganz andersartigen Btv.iehungen erklären
soll, die unter den Begriffen Verschmelzung, Verflechtung, Ver-
webung, Assimilation, Komplikation usw. zusammengefaßt werden.
Diese gehen nicht auf die temporale Abfolge von Inhalten; sie haben
damit nicht das geringste zu tun. Sie bezeichnen vielmehr die ver-
schiedenen Weisen, wie sich einfache Funktionsvollzüge nach Qualität
>) Vgl. S. 330 ff. Was hier in Kürze gesagt wird, ist nur prinzipieller und theo-
retischer N'atvir: alles das, was di-n Assoziationshegriff mit jMiychischem Ix'bon
erfüllt und in seinen Eigenarten von anderen Verknüpfungsweisen abhebt, kann
er-;t in der psychologischen Dynamik entwickelt werden.
188 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
und Materie zu komplexeren seelischen Gebilden simultan ver-
einigen können. Sie bezeichnen also die Simultaneität einer Mannig-
faltigkeit von seelischen Vollzügen in der Form einer Ganzheit. Es
ist bezeichnend fiir die Leere des Assoziationsbegriffes, daß er in
ganz gleicher Weise für die temporalen Beziehungen in der Form
des Zusammenhanges und für die simultanen Verbindungen zum
seelischen Gebilde einstehen muß. Eine solche leere Formel umfaßt
dann eben alles psychische Geschehen und überhebt die Psychologie
jeder weiteren Bemühung. Und tatsächlich ist es in der Assoziations-
psychologie auch so: es gibt nur Inhalte und Assoziationen. Da wir
aber der Mannigfaltigkeit und dem Reichtum seelischen Geschehens
nicht mit leeren Formeln, sondern adäquat gerecht werden wollen,
reden wir lieber weiter von Auslösung und Determination der psy-
chischen Abfolge ; und überlassen die Formen und Weisen der simul-
tanen Komplexion zum Gebilde den Untersuchungen der Phäno-
menologie und Funktionspsychologie. Den Assoziationsbegriff be-
nützen wir nur zur Erklärung willkürfreier temporaler Verknüpfung
von Inhalten.
Gegenüber dem leeren Schema der Assoziation nach Kontiguität
und Ähnlichkeit stellen die modernen Lehren von Freud, Jung,
Bleuler und insbesondere Adler den Assoziationsbegriff in einer
weitaus reicheren Ausgestaltung dar. Sie erstreben eine echte Deter-
mination der Inhalte durch besondere, den individuellen Inhalten
gemeinsam zugrunde liegende dynamische Tendenzen. Der Einzel-
ausbau dieser Lehre gehört nicht zu den Gegenständen, welche eine
theoretische Grundlegung der Psychologie überhaupt in ihrer AU-
gemeinheit an diesem Orte zu erörtern hätte. Jedoch kann schon hier
gesagt werden, daß das gesamte Forschungsgebäude dieser Forscher,
wofern es sich empirisch und durch die Tatsachen verifizieren läßt,
mit Leichtigkeit erhalten bleiben kann, wenn man ihre Assoziations-
lehre in die hier gegebenen theoretischen Grundlinien transformiert.
Der psychische Ablauf.
Von ähnlicher Ärmlichkeit wie die näheren theoretischen Be-
stimmungen der inhaltlichen Dynamik sind auch die desStruktur-
zusammenhangs und Ablaufszusammenhangs psychischer
Vollzüge. Wir wissen hier nur: es gibt ein vorgegebenes Schema des
psychischen Ablaufens. Es beginnt mit Wahrnehmungsvollzügen,
diese bedingen die Auslösung reproduktiver Akte und Vorstellungs-
weisen. Letztere fundieren Urteilsakte und Bewertungsakte im Sinne
eines »Gefühls«, denen individuale Interessen entsprechen. Gemäß
diesen finden sich sodann Akte des Strebens, Begehrens, Sichent-
schließens bis zur motorischen Innervation, der Handlung. Wir
nannten dieses Schema, das nur vorläufig ist und auf psychologische
Genauigkeit noch keinen Anspruch erhebt, vorgegeben. Und in der
Tat ist es als eine nicht weiter zurückführbare Tatsache des Psychi-
Die Reize und die allgemeinen Bedingungen psychischer Dynamik. 189
sehen hinzunehmen. E.s ließe flieh zwar denken, daß es «einer Natur
nach aus dem Wesen der P.sycho, nämlich aus Ilczeptivität und Spon-
taneität, irgendwie deduzierbar Hein müßte, indem nämlich diese
beiden Funktionen der Pöychc in ihm z,u vollem Ausgleich gelangen;
aber andererseits fehlen alle Bestimmungsstücke für eine solche
Deduktion; und wir wollen nicht künstlich konstruieren. Auch
kommen die genannten beiden Grundfunktionen ja nicht nur im
Ganzen dieses Ablaufes, sondern in jeder einzelnen Funktion bereits
zum aktuellen Ausgleich. Es ließe sich ferner denken, daß das Prinzip
von der Erhaltung des labilen Gleichgewichts seelischer Kräfte und
Bereitschaften sich nur aufrecht erhalten läßt, wenn das Ganze dos
seelischen Ablaufs der Regel nach so beschaffen ist, wie er uns von der
Wahrnelimung bis zur Handlung gegeben ist. Aber auch dies wäre
eine künstliche — zum mindesten unbeweisbare — Konstruktion.
Genau solche künstlichen Konstruktionen sind übrigens alle gene-
tischen und biologischen Erklärungsversuche dieser Ablauftendenz
von der Wahrnehmung bis zur Handlung, etwa aus dem Reaktions-
prinzip der Biologie, oder aus dem Reflexmechanismus der Nerven-
physiologie, wie in er Psychiatrie z. B. erstere von Arndt, letztere
von Wernicke am deutlichsten und folgenreichsten versucht wurden
und vor allem in der Tierpsychologie am Platze sind. Es steht der
Forschung in der menschlichen Seele aber besser an, die Tatsache
der Beschaffenheit des psychischen Gesamtablaufs als etwas Letztes
hinzuneheran, als gegebene reale, geordnete Mannigfaltigkeit, für
welche der Grund der Wirkliclikeit nicht weiter bestimmbar ist.
Diese Beschaffenheit wird dadurch zum empirischen Ausgangs-
raaterial, gerade so, wie dies für die Physik die gegebene Außenwelt
mit diesem gegenwärtigen Stande der Energieverteilung bedeutet,
zum Ausgangspunkt für die Forschung, der als vorgegeben einfach
hingenommen wird und die Bildung allgemeinerer Gesetze seiner-
seits faktisch fundiert, aber in der unendlichen Vielzahl seiner Be-
dingungen als Mannigfaltigkeit nicht restlos auflösbar wird.
Soviel ist an diesem psychischen Ablauf jedenfalls sicher, daß
jeder einzelne Vollzug in ihm der Grund der Wirkliclikeit des nächst-
folgenden ist, daß es sich also nicht um eine Aufreihung, sondern um
einen dynamischen Zusammenhang handelt; und zwar um
einen solchen, der in sich eine gewisse Abgeschlossenheit und Ganz-
heit aufweist. Innerhalb dieses Ablaufs müssen dann an der Hand
der Brcntanoschen Regel die einzelnen Funktionskategorien auf-
gesucht werden; ihr Zusammenbau zu komplexeren Gebilden ergibt
ein weiteres empirisches Problem.
Hiermit wäre das Wesen der seelischen Kausalität seiner allge-
meinen Art nach so bestimmt, wie dies aus reiner Theorie möglich
ist. Wir haben damit das theoretische Gerüst gewonnen, welchea
uns die gesetzmäßige Erklärung seelischen Zusammenhängons seinen
Grundlagen nach in jedem Einzelfalle formal ermöglicht.
190 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
7. Die Erkenntnis der Individualität und ihre wissenschafts-
theoretischen Grundlagen. Erster Teil.
Übersicht über die Problemlage.
Was haben die bisherigen Erörterungen für Ausblicke gezeitigt,
hinsichtlich der wissenschaftlichen Bearbeitung psychologischer Ma-
terien; und was bleibt zu klären übrig?
Viel ist bereits gewonnen. Wir haben die universale Geltung des
Kausalgesetzes im Psychischen begründet und seinen Cliarakter
näher bestimmt. Wie wir mit unseren wissenschaftstheoretischen
Feststellungen bereits die Grundlage der deskriptiven Theorie des
Psychischen geschaffen haben, so ermöglichten uns unsere bisherigen
Ausführungen über das Kausalgesetz nun auch die der genetischen
Theorie des Psychischen. Wir haben diese genetische Theorie des
näheren als eine dynamische bestimmt, haben die psychische Natur
der in ihr wirksamen funktionalen Kräfte bestimmt, haben ferner
die Lückenlosigkeit des Kausalzusammenhanges durch die Kon-
zeption des Unbewußten begründet, und haben die Reizmomente,
welche den Fortgang des psychischen Geschehens regelnd bestimmen,
innerhalb des psychischen Geschehens als eines Ganzen determiniert.
Es ist nunmehr lediglich Aufgabe der empirischen Einzelforschung,
diese wissenschaftstheoretischen Erklärungen und Begründungen
nun auch anzuwenden: Phänomenologie und deskriptive Theorie
zu produzieren, genetische und dynamische Theorie zu gestalten,
und beides zu den gesamttheoretischen Typen psychologischer Per-
sönlichkeit zu synthetisieren. Haben wir hierfür in der psycho-
logischen Empirie erst einmal die Regeln, Materialien und Formen ge-
schaffen, so bedarf es zur Anwendung in der allgemeinen Psychiatrie
dreier weiterer Untersuchungen: Erstens muß festgestellt werden,
inwieweit diese psychischen Materialien und Formen auf »krankes«
Seelenleben übertragbar sind. Hierbei wird an das Problem des
Wissens vom fremden Ich und seiner Grenzen anzuknüpfen sein.
Zweitens müssen die ganz andersartigen Gesichtspunkte, welche für
das »kranke « Seelenleben gelten, avis den Kriterien heraus entwickelt
werden, die sich aus den Grundlegungen möglicher Krankheits-
begriffe im Psychischen gewinnen lassen. Und drittens wird es not-
wendig sein, die Gesichtspunkte aufzufinden, unter welchen sich die
Ei'gebnisse dieser beiden Untersuchungen miteinander an ein und
demselben Erfahrungsmaterial, nämlich dem »kranken Seelenleben«
verschmelzen lassen, welches also sowohl Seelenleben ist und damit
psychologisch-theoretischen Kriterien gehorcht, als auch »krank«
ist, und damit den ganz heterogenen Kriterien untersteht, die sich
gerade aus seiner Divergenz vom eigentlichen Seelenleben er-
geben. Xfer Gang der weiteren Untersuchungen ist uns damit für
das Folgende klar vorgezeichnet.
Die Erkenntnis d. Individualität u. ihre wissfnschaftstheuret. Grundlagen. 191
Der Begriff der Persönlichkeit als Naturobjekt.
Aber bevor wii- sie in Angriff nehmen, ist es notwendig, hier
gleichsam anhangsweise nt)ch ein Problemgebiet zu behandeln,
welches an den Begriff der psychischen Persönlichkeit oder
Individualität anknüpft. Wir sagten vorhin, dali ihre theoretische
Bestimmung eine Synthese sei aus den Ergebnissen der deskriptiven
und der genetischen Forschung. Und wir haben kein Hehl daraus
gemacht, dali diese beiden Forschungsreihen entsprechend ihrer
wissenschaftsthcorctischen Fundamentierung ins Gebiet der Natur -
forschung zu fallen hätten. Wir sind bei unseren wissenschafts-
theoretischen Untersuchungen von einem Begriff von Natur aus-
gegangen»), welcher diese Konsequenz zu einer Notwendigkeit er-
hebt. Die Art der Synthese von deskriptiver und genetischer For-
schung haben wir aber mit einer gewissen Absicht völlig unbestimmt
gelassen. Sie ist nicht wissenschaftstheoretisch fixierbar, höchsten«
ihre Voraussetzungen sind auf diesem Wege bestimmbar. Und in
dieser Bestimmung läge nur eine negative und einschränkende Ab-
sicht für die Synthese selber. Die Synthese ist ihrerseits ganz ab-
hängig von dem Persönlichkeitsbegriff, den man ihr substi-
tuiert; von den Seiten und Kriterien der Persönlichkeit, gemäß denen
man ihr Wesen bestimmen will. Persönlichkeit, Individualität ist
an sich ebensowenig ein naturwissenschaftlicher Begriff wie der des
Organismus. Lediglich die Bestimmungsstücke beider Begriffe,
welche man für jeweils konstitutiv hält, sind naturwissenschaftlich
zu fundieren und zu erforschen.
Wie gesagt, in der Phänomenologie, Dynamik, der Normen- und
Typenpsychologie wird an späteren Stellen dieses Werkes von diesen
Fragen noch gehandelt werden. Hier werden sie nur gestreift, um
daraus die Berechtigung dafür herzuleiten, daß es zum Problem ge-
macht werden kann, ob der Persönlichkeitsbegriff selber
mit den Methoden der Naturforschung restlos zu erschöp-
fen ist.
Problematik dieser Auffassung. Individuelle Kausalität?
Ist diese Problematik einmal zugegeben, so ist auch die Berechti-
gung anerkannt, das bisherige wissenschaftstheoretische Fundament
aller Psychologie (und damit auch der Individualpsychologie) für
nicht ausreichend zu halten, uni das Wesen der Persönlichkeit unter
den Obersätzen unserer Wissenschaftstheorie als theoretisch deter-
minierbar anzusehen. Und es erscheinen Versuche verständlich,
ein Korrektiv für diese behauptete Unzulänglichkeit an
den Formulierungen der Wissenschaftstheorie selber an-
zubringen. Soweit sich derartige Versuche auf die Wissenschafts-
theorie des Psychischen selber unmittelbar beziehen, haben v^nr ihrer
») Siehe S. 121.
192 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
hier noch anhangsweise zu gedenken. Diese Versuche wissenschafts-
theoretischer Fundierungen der Individualität neben und jenseits
der bisher gegebenen Wissenschaftslehre vom Psychischen erstrecken
sich gerade auch auf das Kausalproblem des Psychischen
überhaupt. Sie lassen sich zuspitzen auf die Fragen der indivi-
duellenKausalität und der Persönlichkeitsfreiheit, auch Willens-
freiheit genannt.
Diesen wissenschaftstheoretischen Fragen soll, bevor wir unserer
Aufgabe gemäß weiter schreiten, noch eine Erörterung zuteil werden.
Wir bemerken aber sogleich, daß wir uns nicht einlassen werden auf
mehr oder weniger spekulative und schöngeistige Ausführungen,
welche sich mit den Prätentionen der »Philosophie « oder der Geistes-
wissenschaft nur allzuoft in der Erörterung dieser Probleme breit
gemacht haben. Die Kriterien strenger Wissenschaft werden auch
hierbei für uns maßgebend bleiben.
Das Problem der individaellen Kausalität — oder besser der
wissenschaftstheoretischen Möglichkeiten der Erkenntnis
des Individuellen — ist neuerdings herausgewachsen aus dem
von Windelband aufgestellten Gegensatz der idiographischen
und nomothetischen Wissenschaften. Die letzteren gehen auf
allgemeine Gesetze. Die ersteren suchen das individuelle Wirkliche
in der Ganzheit dieser Wirklichkeit zu erfassen. Der behauptete
Gegensatz dieser beiden wissenschaftlichen Richtungen ist ihm
identisch mit dem der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft.
Die Erkennbarkeit des Individuellen als Problem.
Daß das Individuelle etwas Einmaliges ist, in seinem Sosein nicht
wieder als dies eine Mal erfahren wird, liegt bereits in seiner Nominal-
definition. Zur Annahme und Ausgestaltung einer besonderen, auf
die Individualität des Individuellen gerichteten Wissenschaftstendenz
nötigt diese Feststellung nicht. Erst wenn es im Wesen des Indi-
viduums liegt, einzig und einmalig zu sein, wenn das Individuum
etwas grundsätzlich Unwiederholbares, Nicht-Identifizierbares
darstellt, erst dann ist das Problem einer idiographischen Forschungs-
tendenz wirklich gegeben. Denn alles Geschehen ist einmalig.
Jedes wirkliche einzelne Geschehen ist die Folge einer unüberseh-
baren Zahl von .Bedingungsreihen. Die unübersehbare Mannigfaltig-
keit der empirischen Natur bleibt bestehen bei einem jeden beliebigen
Zeitschnitt durch dieselbe; wir können den Zeitschnitt beliebig weit,
ja ins Unendliche zurückverlegen; immer treffen wir auf diese unüber-
sehbare Mannigfaltigkeit. Die Verfolgung dieses Gedankens führt
zur ersten K an tischen Antinomie und damit zu den übrigen. Denn
diese unendliche Mannigfaltigkeit ist Wirkung und ist auch wieder
Ursache für das weitere Geschehen. In der realen Wirklichkeit ist
also jedes einzelne Sein und Sichereignen, das physikalische sowohl
als das organische, unter den Bedingungen des Gesamtzustandes
Die Erkoruitnis d. InHividualitiit u. ihrf wisscnsoliaftstl»(K>ret. Cnindlagen. 193
dieser unülK-rsehbaicn Mannigfaltigkeit erwirkt und damit einmalig.
Es ist zugleich damit aueh empirisch, d. h. in der Natur nicht wieder-
holbar, wenngleich die Wiederholbarkeit denkluift nicht auszu-
schließen ist. Es fragt sich, wieweit diese Tatsache unser Wissen-
können einengt und begrenzt. Es fragt sich weiter, ob eine Methode
denkbar ist, welche diesem Tatbestande zum Trotz gerade das in-
dividuelle Wirkliciie in seinem Einzelscin wesenhaft zu erfassen
vermag.
Diese Feststellung über die Einmaligkeit des Individualen seinem
Sein nach, also des Individuums als einer Form^) des Seins, ist so
alt wie die aristotelische Philosophie selber. Sie gilt in gleicher
Weise von der anorganischen und der organischen Natur. Und es
bedurfte der Müiie gar nicht, welche Bergson darauf verwendet
hat, um diese Cieltung für das lebendige Geschehen und das seelische
Ablaufen nochmals in besonders eindringlicher Weise darzutun 2).
Wo er einen Gegensatz der Welt des Organischen zur physikalischen
Welt unter diesem Gesichtspunkt herauskonstruiert, er mag ihn Ixj-
gründen wie er wolle, ist dieser Unterschied kein grinidsätzlicher,
sondern nur ein gradueller. Freilich ist er, weiui man an die Indi-
vidualität der Struktur eines Atoms einerseits, an die einer psychi-
schen Persönlichkeit andererseits denkt, in seinem Gradunterschied
ein ungeheuerlicher. Aber auch diese ungeheure Differenz darf den
bloßen Gradcharakter des Unterschiedes beider Individualitäten
nicht verwischen.
Wir sehen also die Individualität eines Geschehens in der Natur
gegeben durch die unendliche Bestimmtheit seiner qualitativen Ge-
staltung. Wir sehen sie nicht in solchen Bestimmungen, welche
nicht qualitativer Art sind, sondern etwa auf einem formalen Prinzip
der Individuation beruhen, wonach das begriffliche Wesen eines
jeden Objektes von individueller Existenz ist, gleichviel ob und
wie oft man den darunter fallenden Gegenstand realisiert zu finden
vermöchte. Aus der Tatsache, daß die Objekte, die in den Umfang
eines solchen Begriffes eines individuellen Objektes gehören. lx>liebig
oft denkbar sind, ohne sich qualitativ voneinander zu unterscheiden,
hat man den Begriffsrealismus der Scholastik mit hergeleitet, welcher
eine irrige Konsequenz der aristotelischen Lehre ist. Allein die for-
malen Momente, welche den Begriff eines individuellen Objektes
fallweise begründen, sind natürlich wissenschaftlich zerlegbar: der
Begriff eines Objektes als einer Individualität, d. h. einer seinem
Wesen nach besonderen Zusammengehörigkeit, ist eben in die Merk-
male aufzulösen, welche zur Konzeption der Zusammengehörigkeit
in ihrer Besonderheit geführt haben. Dies mag eine unvollendbare
AufgalK» sein, grundsätzliche Schwierigkeiten bietet sie nicht. Z. B.
1) Form hitT wie überall in dioson Untor.''uchungon gleich Beziipst'inhrit,
2) \Vonij;st«>n}< im Ksimü nur U\s donn^os immödiulos do la cons<i"ini'. Pitria
1889; während er in Mntiöro et memoire (189(i) davon wieilcr zurückzukommen
Bcheint (r.. B. S. 200 ff.).
Krön (cid. Piyolil.^trWhc Erkenntnis. 13
194 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
läßt ein grundsätzlicher Einwand gegen die Naturforschung, welche
die einzelnen Merkmale und ihre Verknüpfungsweisen rekonstruiert,
die etwa zum Begriff des Organismus geführt haben, sich nicht daraus
herleiten, daß diese Aufgabe vollständig niemals wird gelöst werden
können.
Entscheidend für das Schicksal der Naturforschung, inwiefern sie
und ihre Methoden zur Erforschung des Individuellen zulänglich sind,
kann allein derjenige Begriff des Individuellen werden, welcher das
Wesen des Individuums nicht aus begriffsrealistischen formalen Prin-
zipien der Individuation gewinnt, sondern die Unwiederholbarkeit
in der qualitativen Synthese der Realität selber, in deren
unendlicher und daher tatsächlich qualitativ unwiederholbarer
Bedingtheit begründet sieht — unter den Gesichtspunkten der Ab-
leitung, die wir oben dafür gegeben haben.
Der Lösungsversuch der Geisteswissenschaften bei
Rickert.
Hier sind es nur vor allem die scharfsinnigen und bedeutenden
Werke Rickerts gewesen, welche das Problem der individuellen
Kausalität zugleich mit dem der Erkenntnis des Individuellen über-
haupt von einem Standpunkte aus in Angriff genommen haben,
welcher dem des vorliegenden Buches diametral widerspricht.
Rickert hat damit Schule gemacht; nicht nur Simmel, nicht nur
maßgebende Historiker und Soziologen, auch der größte Teil der
zeitgenössischen Philosophen hat seine Ausführungen, allerdings
zum Teil in modifizierter Form, übernommen und für historische
und kulturwissenschaftliche Forschung zum wissenschaftstheoreti-
schen Fundament gemacht. Wir halten uns im folgenden lediglich
an Rickerts Ausführungen selber, welche an systematischer Durch-
sichtigkeit von keinem seiner Anhänger wieder erreicht worden sind,
und zwar an sein berühmtes Werk: »Die Grenzen der naturwissen-
schaftlichen Begriffsbildung«!). Wir stellen seine Gedankengänge
etwas ausführlicher kritisch dar aus zwei Gründen. Einmal gibt uns
das den Anlaß, unsere eigene Ansicht vom Wesen der Erkenntnis
des Individuellen klarer hervortreten zu lassen; und ferner erhalten
wir neben seinen Fehlern, auf die wir hinweisen werden, so viele
wertvolle Gesichtspunkte auch für den Fortgang unserer eigenen
Untersuchung, und in so ausgezeichneter Begründung, daß sie uns
da, wo wir sie nicht bekämpfen müssen, zur wertvollen Stütze vieler
späterer Ausführungen werden. Es ist die Wissenschaftstheorie
der Erkenntnis des Individuums, wie sie im Gegensatz zur Natur-
wissenschaft die Geisteswissenschaft darbieten zu können glaubt.
Von dem Gegensatz der Naturwissenschaft und der Geistes-
wissenschaft geht Rickert aus. Er sieht diesen Gegensatz nicht
i) Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. 1902.
Die Erkenntnie d. Individualität u. ihre wiascnachaftatheoret. Gruiidlag.n. 195
in dem Gegenstand beider Wissenschaften, etwa derart, daß die
Natur gleich der Küri)crwelt und der Geist gleich den seelischen
Vorgängen wäre; dieser Gegensatz liegt vielmehr lediglicli in der
logischen Struktur beider Wissenschaften, und das gleiche Objekt
kiiiin einer wissenschaftlichen Bearbeitung durch jede der beiden
Methoden unterzogen werden. ->Es wird sich zeigen, daß unter rein
formallogischen Gesichtspunkten die gesamte gegebene Wirklichkeit
sowohl Objekt einer naturwissenschaftlichen als auch einer geistes-
wissenscliaftlichen Darstellung werden könnte «i). Schon hier ist
an das Wort Darstellung ein Fragezeichen zu heften. Es handelt
sich doch nicht um die bloße Darstellung, sondern um die Erkennt-
nis der untersuchten Gegenständlichkeit! Diese Erkenntnis soU den
Anspruch auf Wahrheit erheben, und nur eine Erkenntnis kann
diesem Anspruch genügen. Mehrere gleiche Erkenntnisse über den
gleichen Gegenstand, die einander widersprechen, sind unmöglich.
Entweder führen beide Methoden, die hier als gleichberechtigt be-
zeichnet werden, zu derselben richtigen Erkenntnis, dann ist ihre
Entgegensetzung grundsätzlich nicht wichtig; und wenn man die
naturwissenschaftliche hat, braucht man die geisteswissenschaftliche
nicht erst zu begründen ; oder sie führen zu widersprechenden Erkennt-
nissen, dann ist mindestens eine von ihnen falsch. Welche richtig
ist, kann nur die Erkenntniskritik entscheiden; und diese verweist,
da es sich um ein empirisches Gegenstands bereich handelt, an das
empirische Ausgangsmaterial als sachliches, au die Wissenschafts-
theorie als formales Kriterium der Richtigkeit. Rickert spielt
schon hier bedenklich mit jenem Relativismus, welcher in des
gleichgerichteten Simmeis Werken ganz unverhüllt zum Ausdruck
kommt.
Rickerts Analyse der naturwissenschaftlichen Erkenntnis.
Rickert wendet sich zur Analyse der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis; und sieht nun, wie sogleich bemerkt sei, den Träger
dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnis nicht im Gesetz, also
einem Urteil von allgemeiner und notwendiger Geltung, sondern im
Begriff. Hierin liegt sein schwerster methodischer Fehler. Begriffe
sind immer willkürliche Schöpfungen des Verstandes, Abbreviaturen
der Reflexion. Sie werden unter den verschiedensten Gesichts-
punkten gebildet und gelten problematisch, d. h. sie erheben keinen
Anspruch darauf, anerkannt zu werden, \vie dies jedes Urteil tut.
Rickert läßt diesen fundamentalen Unterschied zwischen Begriff
und Urteil völlig außer acht. Für ihn ist die Naturwissenschaft
keine Ge setze s Wissenschaft, sondern eine Begriffswissenschaft;
und die Aufgabe des naturwissenschaftlichen Begriffs ist nach ihm
die Ȇberwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit
1) Seite 29.
13»
196 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
der Dinge «i). Und zwar wird im Umfange des Begriffs die extensive,
im Inhalte die intensive Mannigfaltigkeit »überwunden «. »Selbst
in den einfachsten Urteilen, in denen wir nichts weiter tnn, als die
Wirklichkeit beschreiben, nehmen wir immer bereits eine weitgehende
Vereinfachung und eine logische Bearbeitung der Wirklichkeit vor , . .
Weil ein Urteil über die Wirklichkeit immer nur mit Hilfe eines Be-
griffs möglich ist, so können wir auch sagen, daß alles Gesehene oder
Gehörte in ein Urteil immer nur als Glied einer Klasse eingeht . . . « 2)
Der Inhalt dieser Sätze ist richtig und entspricht völlig unseren An-
schauungen; er begründet, genau wie wir es tun, die immanente
Notwendigkeit des Theoretischen in jeder wissenschaftlichen Be-
arbeitung, selbst in der bloßen Deskription. Aber diese Sätze sollen
zur Begründung des Primats der Begriffe in der wissenschaftlichen
Bearbeitung dienen — und sie zeigen dennoch bloß den Primat der
Urteile in ihr auf. Es macht das Wesen des Urteils nicht aus, daß
es ein Begriff ist, der in ihm prädiziert wird; daß etwas in ihm prä-
di ziert wird, macht sein Wesen aus. Rickert verwechselt beides.
Aber daß er es tut, hindert uns nicht, die wertvollen Wahrheiten
anzuerkennen, die er gleich darauf über die Behauptung feststellt,
die Aufgabe der Naturwissenschaft sei die möglichst vollständige
Beschreibung — eine Ansicht, zu der sich selbst ein so hervorragender
Naturforscher wie Kirchhoff bekannte. Rickert erkennt sehr
deutlich in jeder Beschreibung bereits den Charakter der klassi-
fikatorischen Ordnung und damit der theoretischen Bearbeitung.
»Soll das Wort Beschreibung als Bezeichnung für den ersten
Schritt zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge, zur Unter-
scheidung von dem zweiten Schritt, der Klassifikation, einen
Sinn haben, so darf man darunter nur die Art der Klassifikation ver-
stehen, welche die Gestaltung der Wirklichkeit lediglich mit Hilfe
der ohne bewußte logische Absicht entstandenen Wortbedeutungen
vereinfacht. Das ist . . . bisweilen notwendig; aber warum diese
Vereinfachung vor anderen einen Vorzug haben soll, ist nicht ein-
zusehen. Die Naturwissenschaft auf Beschreibung der Tatsachen
in diesem Sinne einschränken, würde heißen, daß die Untersuchung
bei der ursprünglichen, durch äußerliche Ähnlichkeiten entstandenen
Ordnung der anschaulichen Mannigfaltigkeit stehen bleiben müsse.
Dies führt aber für die Logik . . . höchstens als Vorstufe für das
wissenschaftliche Denken, zu nichts«. Derartige Ausführungen
möchte man manchem seiner Anhänger auf psychologischem Ge-
biet, z. B. Jaspers, ins Stammbuch schreiben.
Nachdem Rickert einmal die Stellung von Begriff und Urteil
im Wesen der wissenschaftlichen Bearbeitung verwechselt hat, muß
er den weiteren Schritt tun, dem Begriff zuzubilligen, worauf er nicht
das mindeste Anrecht hat und was nur das Urteil beansprucht: die
1) Seite 36.
2) Seite 45.
Die Erkeuiitnis d. Individualitut u. ihre wibScusohaltBthcoret. GrundLig. n. I<j7
(Jeltung. Er tut dies ohne weiteres. »Wii- halxii zu fragen, oh dio
Wissenscliaft niclil dio Aufgabe hat, Begriffe zu bilden, die ihrem
logi.scheii Werte nach L'rteilen gleiclizu.setzen .sind.« Vergeblicii fragt
hier einfacliste Logik: Wie macht mau das ^ Rickert untersucht
diese Frage nicht, sondern bejaht sie ohne jede Begründung; und
doch hätte es nahe gelegen zu prüfen, ob die Wissenschaft statt der
Aufgabe »Begriffe zu bilden, die ihrem logischen Werte nach Urteilen
gleichzusetzen sind«, nicht die viel einfachere Aufgabe habe, Urteile
zu bilden, die richtig sind. Rickert bleibt bei seinen Begriffen,
»tsolcho Begriffe (die ihrem logischen Werte nach Urteilen gleich-
zusetzen sind) würden unter den Gesichtspunkt der Wahrheit ge-
stellt werden können, und sie müßten die dem Urteile wesentliche
Beurteilung, wenn auch nicht explicite, so doch implicite enthalten.«
»Nur dann, wenn wir die Begriffe als potentielle Urteile auffassen,
sind sie fähig, die Unendlichkeit der anschaulichen Welt wirklich
zu überwinden«*). Diese Fähigkeit scheint uns einzig und allein
dem Urteil anzuhaften. In der Tat, wenn Begriffe Urteile wären,
so würden sie diese Fähigkeit besitzen. Sie sind es aber nicht; dio
Schwäche von Ricker ts Stellung wird hier überaus deutlich.
Aber in dieser Schwäche bleibt Rickert sich treu. So spricht
er im folgenden von Begriffen, welche, »wegen ihrer lediglich em-
pirischen Allgemeinheit « dem Zwecke der Naturwissenschaft nicht
genügen. Es ist ganz klar, daß er hier Urteile meint, wenn er
Begriffe sagt. Aber diese Verwechslung geht sofort über die bloße
Namenvertauschung hinaus. Denn er setzt diese angeblichen Be-
griffe von empirischer Allgemeinheit mit Klassen begriffen gleich
und begründet so auf falschem W^ege die richtige Forderung, daß
die naturwissenschaftliche Begriffsbildung ȟberall die rein klassi-
fikatorische Bcgriffsbildung zu verlassen strebe« auf Grund ihrer
»Einsicht in die naturgesetzliche Notwendigkeit der Dinge «. Rickert
sagt hier selber naturgesetzliche, nicht naturbegriffliche, wie
es konsequent wäre. »Sie wird sich niemals bei Begriffen begnügen,
die bloße Merkmalskomplexe sind, sondern es wird jede Zusammen-
fassung zu einem Begriff immer nur unter der Voraussetzung ge-
schehen, daß die zusammengefaßten Elemente in einem natur-
gesetzlich notwendigen, d. h. unbedingt allgemeingültigen Zusammen-
hange stehen «2), Diese Behauptung ist falsch. Es gibt zwar Be-
griffe, welche nicht eine Klasse von Dingen oder Vorgängen, sondern
eine Klasse von Gesetzen umfassen; aber auch diese Begriffe sind
Klassenbegriffe. Richtig und wertvoll ist hier nur der Gedanke,
daß eine jede Klassifikation immer willkürlich ist, — wie das im
Wesen der Ik^griffsbildung als willkürlicher Schöpfung des Verstandes
liegt. Eine notwendige Klassifikation kann daher immer nur in Rück-
sicht auf eine Theorie vorgenommen werden, welche als Regulativ
») Seite 67.
2) Seite 69.
198 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
den Gesichtspunkt des Abstrahierens gibt. Für Ricker t ist es
natürlich konsequent, in seinen Begriffen, welche potentielle Gesetze
darstellen, gleichsam »Vereinigungspunkte von Urteilen« zu sehen
Wobei der Terminus »Vereinigungspunkt« gerade die nötige Ver
schwommenheit besitzt, um unklar zu lassen, wie man sich den
logischen Mechanismus einer derartigen Begriffsbildung denken soll
Schon Sigwart hat gegen diese Begriffskonzeption die Frage ge
wendet, was sollen die Subjekte und Prädikate dieser Urteile sein
welche in derartigen Begriffen ihren »Vereinigungspunkt« haben'
Der Gravitations begriff z. B. besagt doch an sich gar nichts über die
Bestimmungen, welche das Gravitations gesetz von der in ihm be
urteilten Materie notwendig aussagt. Und der Begriff des Gravi
tationsgesetzes ist neben diesem Gesetz selber völlig irrelevant.
Sigwart nennt derartige Begriffe von Gesetzen Relationsbegriffe
und weist nach, daß alle derartigen Relationsbegriffe, wie die Urteile
überhaupt, Dingbegriffe voraussetzen, für welche Rickerts Fest-
stellungen nicht gelten. Rickert nun gibt dies zu, behauptet aber,
in einer logisch vollkommen gedachten Naturwissenschaft spiele
der Dingbegriff nur eine sehr kleine Rolle; den Forderungen einer
solchen logisch vollkommenen Naturwissenschaft könne nur genügt
werden, wenn auch in dem Dingbegriff der »dunkle Kern« geklärt
werde, welchen die Beziehungen seiner Elemente zueinander dar-
stellen, d. h. wenn auch jeder Dingbegriff zu einem Relationsbegriff
werde. Dies »bedeutet nichts anderes, als daß die Naturwissenschaft
die Tendenz haben muß, die Dingbegriffe soweit wie möglich in Re-
lationsbegriffe umzuwandeln«!). Uns scheint: Es handelt sich für
die Naturwissenschaft nicht um Auffindung der Relations begriffe,
sondern der Relationen. Gegen Rickert spricht hier die einfache
Forderung, daß doch immer etwas in Relation stehen muß, und
dieses etwas ist für die Naturwissenschaft schließlich doch nicht ganz
unwesentlich. Sie hat es nämlich nicht mit den Relations begriffen,
sondern mit der Natur zu tun. Rickert kommen derartige Be-
denken auch; und so gibt er denn in der Folge zu, daß sich die Aus-
schaltung der Naturobjekte, auf welche sich die gesetzmäßigen Re-
lationen der Naturwissenschaft beziehen, auch in der Natiirwissen-
schaft, die er für logisch vollkommen hält, schlechterdings nicht wird
.durchführen lassen. Er spricht freilich naturgemäß nicht von den
Objekten, sondern von den Dingbegriffen, und räumt ein, daß die
Ausschaltung des Dingbegriffes auch für eine logisch vollkommene
Naturwissenschaft nicht möglich, ja nicht einmal als logisches Ziel
wissenschaftlichen Strebens zu betrachten sei. Der Dingbegriff, den
es also auch in einer logisch vollkommenen Naturwissenschaft geben
muß, ist nach ihm freilich nur ein Grenzfall, der »unsere Theorie im
allgemeinen unberührt läßt«. Rickerts Ideal einer logisch voll-
kommenen Naturwissenschaft ist sonderbar genug und weicht von
2) Seite 79.
Die Erkenntnis d. Individualität u. ihre wissenBchaftstheoret. r; rundlagen. 199
dem Ideal aller großen Naturforscher, von Helmholtz bis Pasteur,
recht weit ab: das Ideal der Rickertschon NaturwiHsen.schaft ist
nämlich, »die allgemeinsten Gesetze zu finden, die au.snahniHloH alles
körperliche Geschehen Ixjherrschen «, und zwar dadurch, daß sie
einen Begriff von der KöriK'rwelt bilde, in dem nur noch die unaus-
schaltbaren Dingbogriffo vorkommen, sonst aber nur Relations-
begriffe. Der von der Naturwissenschaft beizubehaltende, weil un-
ausschaltbaro Dingbegriff, den Rickert noch allenfalls toleriert,
muß nach ihm ein Begriff von Dingen sein, welche weder quantitative
noch qualitative Unterschiede mehr aufweisen. Letztores ist nötig,
weil in der Natur sonst Dinge mit neuen Qualitäten auftauchen
könnten, welche in den bisherigen Rolationslx^griffen nicht auf lös-
lich wären, wodurch denn in der Tat die »Vollkommenheit « dieser
Naturwissenschaft bedenklich gestört würde. Nun stelle man sich
diesen Dingbegriff vor, dessen Schöpfung das unerreichbare Ideal
der ganzen naturwissenschaftlichen Arbeit sein soll: Er hat weder
quantitative noch qualitative Merkmale mehr. Rickert nennt ihn
den Begriff des einfachen iinanschaulichen Dinges. Das sind —
omnis determinatio est negatio — zwei negative Merkmale. Welche
positiven Merkmale hat aber ein solcher üingbegriff ülx?rhaupt noch?
Gar keine! Das also ist Rickerts Ideal der vollkommenen Natur-
wissenschaft: 8ie bildet den Gesetzes begriff und den Dingbegriff,
beide möglichst merkmalsfrci und frei von irgendwelchen Bestim-
mungen; darunter fällt dann natürlich in letzter Linie alles, unter
anderem auch die gesamte Natur. Diese »logischen« Forderungen
an eine »ideale« Naturwissenschaft sind, wie uns deucht, leicht zu
erfüllen. Es bedarf nur einer in wenigen Augenblicken zu vollziehen-
den Abstraktion von allem Wirklichen und Denkbaren, die man im
bequemen »Schreibtischsessel anstellt. Und es bleibt nur erstaunlich,
daß trotz einem so bequem zu verwirklichenden »Ideal« immer noch
Generationen ernster Forscher in der Naturwissenschaft, der Be-
tätigung in Werkstatt und Laboratorium, in fernen Ländern, in
den Lüften, auf und unter dem Meere Probleme über Probleme und
Arbeit über Arbeit finden! Aber so muß es kommen, wenn die An-
maßliclikeit »geisteswissenschaftlicher« Spekulation mit einem Feder-
strich Ziel und Grenzen der Naturforschung zu geben sicli vermißt,
ohne auch nur eine Ahnung von ihrer wirklichen Arbeitsweise zu
haben! Es ist derselbe Gestus dünkelhafter Herablassung gegenüber
der empirischen Forschung, den wir schon bei dem gleichgesinnten
Windelband an anderer Stelle zurückweisen mußten *). Nur ncl)en-
1) Vgl. S. 72 «licsps Bucht s. Es gilt auch hiir das Sprichwort: Wie die
Alton sungen, so xwitsclu-rn die Jungen ! Man loao etwa, wie der Rickert.-^hüUT
Kroner (Zw<i-k und fJrsctz in der Biologit'. Tübingen 19i:i) mit wirklich leut-
seliger Duldsanik«'it den naturwi.ssenschaftlichcn, biologinchen Methoden und
FragestfUungcn immerhin noch ein bescheidenes Plätzchen im Werke der Bio-
logie übrig laut, wenn «t sie auch gUichsjim moralisch vernichtet und »in ihre
logischen Grenzen zurückweist« durch seine Methode »logisch<?r Besinnaiigs
200 Über die wissenscliaftstheoretischcii Grundlagen der Payclioiogie usvr.
Lei sei erwähnt, daß eine derartige Einstellung, wie die Rio kert sehe,
natürlich auch nicht im geringsten in der Lage sein kann, die wahre
Bedeutung der Mathematik für die Aufgabe der Naturwissenschaften
zu erfassen. Daß die mathematische Behandlung der Natur durch die
raumzeitliche Gegebenheit der Natur erfordert wird, und deren Wesen
mit Notwendigkeit zur Darstellung bringt, daran geht Rickert
vorüber. Bei ihm folgt die Bedeutung der Mathematik lediglich
aus seinem Begriffe des einfachen Dinges, auf dessen Mannigfaltigkeit
»die Zahlenreihe « anwendbar wird. Freilich soll auch diese Mannig-
faltigkeit durch den Gesetzesbegriff überwunden werden; und so
sind die in Frage stehenden mathematischen Methoden nur ein bei-
läufiges und vorläufiges Aushilfsmittel der Naturwissenschaft. Immer-
hin kann selbst Rickert nicht übersehen, daß es ja auch eine Mannig-
faltigkeit von »Relations begriffen« gibt; auch diese will er mathe-
matisch behandeln, womit er aber nicht etwa meint, daß er die Re-
lationen mathematisch bestimmen wolle, sondern die Mannigfaltig-
keit der Begriffe. Er läßt hierbei offen, ob er diese Mannigfaltigkeit
zählen oder ordnen will; etwas anderes dürfte er mathematisch kaum
mit ihr anfangen können. Daß auch die raumzeitlichen Bestim-
mungen der Natur einen Grund der Möglichkeit mathematischer Be-
handlung bieten können, ist ihm äußerst unbehaglich, läßt sich aber
für die Phoronomie nicht ganz vermeiden. Die Bewegung ist ja
ebenfalls »mannigfaltig« und daher mathematisch darstellbar. Von
einer mathematischen Behandlung der Dynamik hört man nichts
bei Rickert. Für ihn ist die ganze Sache damit erledigt, daß aus
der empirischen Unendlichkeit durch die mathematische Behandlung
eine »übersehbare mathematische Unendlichkeit« wird^). Dies zur
Belehrung der theoretischen Physik!
Wir wandten uns schon gegen die logische Struktur des Begriffs
des einfachen unanschaulichen Dinges bei Rickert. Er selber be-
merkt im Verlauf dieser Untersuchung ebenfalls, daß die Merkmale
dieses Begriffs, so wie er ihn fordert, lediglich negativer Art sind.
Mit einem verblüffenden Sprung vollzieht er daher die Verwandlung
auch dieses Dingbegriffes, den wir nur so behandeln, als ob er ein
Dingbegriff wäre, in einen Relationsbegriff. Er dekretiert: Im
Grunde setze sich auch der logisch vollkommene Dingbegriff aus
eine sonderbare Art von spekulativen Deduktionen und Dekreten über »chemische
Einheit« (!?) und Organismenbegriff. Diese »logischen« Besinnungen instauriert er
seinerseits dafür als die wahre Fundamentierung aller Biologie. Inhaltlich sind
sie oftmals ungenießbar, von einer auch stilistischen Dunkelheit, welche ihre
biologische Falschheit geschickt, aber wirkungslos, verschleiert. Es ist Geist vom
Geiste der Schellingschen neuen Zeitschrift für spekulative Physik: und bevor
man an die kritische Diskussion dieser Ausführungen herantritt, fühlt man sich
versucht, an den Autor dieser pseudo-isidorischen (oder besser pseudo-Rickertschen)
Dekretalien die bescheidene Frage zu richten, ob er überhaupt schon jemals in
seinem Leben auch nur die schülerhafteste biologisch-physiologische Versuchsreihe
angestellt habe.
1) Seite 92.
Die Erkenntnis d. Individualität u. ilirc wiseenBchaftstheoret. Gnuidlitj^en. 201
lauter Urteilen zusammen. »So kommt er zu dem SchluBne: »Der
Inhalt aller logiseh vollkommenen naturwis.senscliaftlichen Begriffe
besteht auH Urteilen»)*). Daß dies abstru.s i.st, brauchen wir kaum
mehr zu wiederiiolen.
Hat Kickert auf diese Weise die Urteilscharaktere in das Wesen
der Begriffe hineingeheimnist, so muß er auch die Konsequenz ziehen,
daß Begriffen notwendige Geltung zukommt. Man unterscheidet
danach drei iStadien der Begriffsbildung: Erstens Wortbedeutungen
von empirischer Allgemeinheit noch ohne logischen Wert (»Beschrei-
bung«). Zweitens logische Bestimmtheit zu MerkmaLskomplexen
(»Klassifikation«). Drittens notwendige Geltung (»Erklärung«).
(So verwaschen diese »logische« Gliederung der Begriffsbildung auch
ist, so führt sie ihn zu einer Konsequenz, die wir für sehr wertvoll
und richtig halten: dazu nämlich, daß er jede prinzipielle Unter-
scheidung zwischen Beschreibung und Erklärung verwirft. Die
Erklärung ist kein Gegensatz zur Beschreibung, denn auch Beschrei-
bung ist ohne Begriffe nicht möglich. Die Beschreibung arbeitet
nur mit logisch weniger vollkommen geklärten Begriffen als die Er-
klärung. Eine vollständige Beschreibung ist wegen des begrifflichen
Wesens ihrer -Hilfsmittel unmöglich. Beschreibung kann bedeuten:
Erstens Klassifikation. Das wäre lediglich eine zweckmäßige Ver-
einfachung der Tatbestände als Vorarbeit zur Anwendung von noch
nicht auffindbaren Gesetzen. Wenn die Begriffe dieser Beschreibung
ihrem Zweck genügen, so »gelten «sie damit im Ricker tschen Sinne;
an sich gelten sie nicht. Auch hier meint Rickert wieder die Urteile,
in denen diese Begriffe vorkommen, aber nicht die Begriffe selber.
Die Tatsache dieser Geltung aber verwischt, wie er richtig sagt, den
prinzipiellen Unterschied zur Erklärung, oder, wie wir sagen würden :
zur Theorie.
Zweitens kann Beschreibung bedeuten deskriptive Tatbestands-
analyse. Eine solche ist an sich immer wertlos und hat nur Sinn als
Vorarbeit für eine erklärende oder deskriptive Wissenschaft. Auch
diesen Satz untersclireiben wir durchaus: Ja. wir sind der Meinung,
daß es gar keine deskriptive Analyse von Tatbeständen geben könne,
in welche nicht schon Elemente der erklärenden Wissenschaft ein-
gegangen wären. Um so überraschender und bedeutsamer ist dem-
gegenüber Rickcrts neuer, hier hervortretender Gesichtspunkt*),
daß auch reine Deskription an sich wertvoll sein könne, aber nur,
soweit keine naturwissenschaftliche Absicht im engeren
Sinne vorliegt. Wird durch diese Beschreibung nämlich die Man-
nigfaltigkeit der Anschauung nicht überwunden, sondern gerade
herausgehoben, so handele es sich nicht um Naturwissenschaft.
Wir würden die neue Lehre gern annehmen, wenn wir erfahren
könnten, wie überhaupt eine Beschreibung möglich sein soll, welche
») Seite 96.
«) Seite 141.
202 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
die Mannigfaltigkeit des Anschaulichen nicht abstrakt! v vereinfacht,
sondern gerade in ihrer individuellen Fülle heraushebt. Immerhin
sind wir im Negativen mit Rickert völlig einer Meinung: »Tat-
sachen kann die Naturwissenschaft gar nicht beschreiben. Diese sind
in ihrer anschaulichen Vereinzelung durch die Abstraktion der Natur-
wissenschaft nie vollständig faßbar. « »Da ohne Begriffe ein natur-
wissenschaftliches Denken überhaupt nicht möglich ist, so . . . geht
das einzelne Faktum als solches auch in die naturwissenschaftlichen
Urteile, die Tatsachen konstatieren, gar nicht ein^).« Dieser letzte
Satz ist wieder in mehrfacher Hinsicht bedenklich. Ohne Begriffe
ist nicht nur naturwissenschaftliches Denken, sondern Denken
überhaupt unmöglich. Würde die Konsequenz Ricker ts gelten,
daß, da ein Denken ohne Begriffe unmöglich ist, das einzelne Faktum
als solches niemals beurteilt werden könnte, so würde diese Konse-
quenz nicht nur das naturwissenschaftliche Denken, sondern das
Denken überhaupt, also auch das historische, treffen. Diese Kon-
sequenz ist aber falsch. Die Möglichkeit singulärer Urteile über
einzelne Tatsachen ist logisch von der Begrifflichkeit des Denkens
ganz unabhängig. Rickert bringt seinem Dogma nach und nach
die gesamte Logik zum Opfer.
Rickerts Analyse der psychologischen Erkenntnis.
Nach diesen allgemeinen Ausführungen unternimmt es Rickert,
der Psychologie ihre Stellung zur Naturwissenschaft und dem
Wissenschaftsganzen überhaupt anzuweisen. Er geht von einer Prü-
fung der landläufigen Trennungslinie der Psychologie von den Natur-
wissenschaften aus, welche dadurch gezogen sein soll, daß die Natur-
wissenschaften sich mit den Objekten beschäftigen, die dem Subjekt
gegenüberstehen, die Psychologie hingegen ihren Gegenstand in
diesem erkennenden Subjekt unmittelbar findet. Wir begrüßen es,
daß Rickert diese Trennung ebenso verwerflich findet, wie wir
selber. In der Tat zeigt einfachste Überlegung, daß das erkennende
Subjekt, um seinerseits wissenschaftlich erkannt zu werden, zum
Objekt einer auf es gerichteten Erkenntnistätigkeit werden muß.
Ist dies nicht möglich, so ist Erkenntnis von ihm nicht möglich, sie
sei nun naturwissenschaftlich oder nicht naturwissenschaftlich. Ist
€8 aber möglich, das erkennende Subjekt seinerseits zum Objekt
einer Erkenntnis zu machen, so ist dies »Subjekt« dann von sämt-
lichen anderen möglichen Objekten einer Erkenntnis nicht mehr
grundsätzlich unterschieden. Es steht dann wie alle Objekte einem
erkennenden Subjekt gegenüber, nämlich dem Subjekt der auf es
bezüglichen Erkenntnis. Definiert man aber Naturwissenschaft —
(fälschlich) — als Wissenschaft von den Objekten, die einem er-
kennenden Subjekt gegenüberstehen, so ist e§ dann ebenfalls ein
1) Seite 14.5.
Die Erkenntnis d. Individualität u. ihre wissenschaftethcoret. Grundlagen. 203
Gegenstand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis — oder es ist
ülxjrhaupt kein Gegenstand irgendeiner möglichen Erkenntnis. Diesen
sonnenklaren Tatl)estand wollen wir uns durcli noch so geistvolle
Spekulationen der Trias Natorp, Münsterberg und Bergson
nicht verdunkeln lassen!
Wir folgern aus dieser Überlegung nicht etwa, daß »das Ich«
Gegenstand naturwissenschaftlicher Erkenntnis sei, wir folgern aus
ihr vielmehr die Falschheit der genaimten Definition von Natur-
wissenschaft und ihrer Trennungslinie gegen die Psychologie. Den
naturwissenschaft Hellen Charakter der Erkenntnis des Seelischen
haben wir ja an anderer Stelle aus allgemein wissenschaftstheoretischen
Erwägungen abgeleitet i). Für das individuelle Wesen des Seelischen
stellt er aber hier noch in Frage. Soviel ist uns klar, daß er durch
die genannte logisciie Mcrkmalsbildung nicht beantwortet zu werden
vernuig.
Rickert ist darin ganz unserer Ansicht. Aber der Weg seiner
Prüfung ist ein viel komplizierterer. Er fragt sich: welche Subjekts-
begriffe sind denn möglich, welche als erkennend den naturwissen-
schaftlichen Objekten gcgenüberstellbar sind — wenn wir jene be-
hauptete Trennungslinie einmal als gültig voraussetzen?
Als erstes kommt das psj'chologische Subjekt in Frage: Das
Ich als Gesamtheit von Körper und Seele. Die Entgegensetzung
des Ich als Subjekt zum Umkreis von Naturobjekten kommt dann
durch eine eigentümliche Lokalisation des Seelischen innerhalb
dieses »psychophysischen Ich« zustande. Wir sprechen von der
Körperwelt als der »Außenwelt «, dem Seelenleben als der »Innen-
welt«, und behalten diesen Gegensatz auch in denjenigen psycho-
logischen Systemen bei, welche den Seelenbegriff selber nicht mehr
anerkennen. Diese Trennung hat aber nur Sinn, wenn beide Be-
griffe, Außenwelt und Seelenleben, auf verschiedene Teile der räum-
lichen Welt, in weleher das psychophjieische Subjekt drinsteht,
l)ezogen werden. Dadurch aber wird die abzuleitende Trennung
des Körperlichen und des Seelischen aufgehoben; deim das Seelische
wird zu einem Teil des Räumlichen, nämlich zu dem Räumlichen
»im« psychophysischen Ich. »Machen wir uns ntir klar, daß das
huiere des Menschen sein Gehirn, seine Nerven, seine Muskeln, seine
Eingeweide, aber nicht sein Seelenleben ist«. Natürlicli ist das
Seelenleben psychophysisch von diesem »Innenleben« abhängig;
jedoch ist das prinzipiell für unsere Frage lx>langlos. Selbst wenn
man alx?r den so gewonnenen Gegensatz von Natur und Seelenleben
anerkennen würde, so würde aus ihm noch nicht folgen, was doch
eigentlieh aus ihm folgen sollte: daß die Methode der wissen-
schaftlichen Bearbeitung des »Innenlebens« eine grundsätzlich an-
dere sein müßte, als die der »Außenwelt« in diesem psychophj-si-
schen Sinue. Kh ist logisch bedeutungslos, wenn gesagt wird, die
») Siehe S. l'23ff. dit^sos Buches.
204 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Psychologie als Geisteswissenschaft hätte es mit dem Innenleben,
die Naturwissenschaft mit dem Außenleben zu tun, weil aus diesem
Gegensatz gar keine logische Differenzierung der Erkenntnis-
methoden folgt 1).
Der zweite Begriff von Subjekt, welcher möglich wird, ist nach
Rickert der des Bewußtseins. Seelisches Leben würde hiernach
als Bewußtseinsvorgang definiert. Das tun tatsächlich fast alle
neueren Psychologen! Was von dieser Gleichsetzung des seelischen
Seins mit dem Bewußtsein zu halten ist, werden wir in der Phäno-
menologie noch zu erörtern haben. In der Wissenschaftstheorie
haben wir bereits einige Andeutungen darüber gemacht, daß und
warum wir diese Identifizierung für falsch halten. Folgen wir aber
Rickert vorerst weiter. Er kommt zu dem, wenn man die Gleich-
setzung des Seelischen und des Bewußtseins wirklich ernst nimmt,
völlig richtigen auch schon von Wundt zugestandenen Ergebnis:
Was wir mit dem Begriff Bewußtsein meinen, können wir nicht er-
klären. Aber er hat einen anderen Einwand gegen diese Gleich-
setzung des Seelischen mit dem Bewußtsein. Der Bewußtseinsbegriff
umfaßt nach ihm mehr als bloß das Psychische. »Wir kennen in
der Erfahrung kein Sein, das wir zu den Bewußtseinsvorgängen in
einen Gegensatz bringen können. « Auch die Körperwelt ist in diesem
Sinne Bewußtseins Vorgang. — Mit dieser Konsequenz wird ein ur-
alter Fehler begangen, welcher aber noch heute allem Panpsychismus
und ähnlich gerichteten monistischen Dogmen zugrunde liegt 2). Die
gesamte Körper weit, sie sei welcher Art man immer annehmen will,
ist uns nur vermittels »Bewußtseinsvorgängen«, nämlich solchen
des erkennenden Bewußtseins, gegeben; sie ist Gegenstand von
Bewußtseins Vorgängen, und hierin unterscheidet sie sich nicht von
irgendwelchen beliebigen anderen Gegenständen erkennender Be-
wußtseinsvorgänge, die wir nicht zu ihr rechnen. Die Gegebenheit
der Körperwelt durch erkennende Bewußtseinsvorgänge, und selbst
die ausschließliche Gegebenheit derselben durch Bewußtseins Vor-
gänge, ist aber nicht identisch mit der Existenz dieser Körperwelt
1) Vgl. Avenarius, Bemerkung zum Begriff des Gegenstandes der Psycho-
logie (Vierteljahrsschrift f. wiss. Phil. usw. Bd. 18. S. 141— ISOff.).
2) Es ist im Grunde das alte erkenntnistheoretische Immanenzprinzip,
welches sich hier in einer psychologisierenden Färbung wieder auftut. Wir gehen
auf die erkenntnistheoretische Seite im folgenden nicht ein, sondern beseitigen
nur einige aus dieser falschen Fragestellung herrührende psychologische
Schwierigkeiten. Über das philosophische Dogma der Immanenzphilosophie hat
Kant sich, wider Berkeley und dessen »dogmatischen Idealismus«, grund-
legend geäußert, gerade auch in bezug auf jene psychologische Einzelfrage nach
dem Bewußtsein einer Außenwelt (K. d. r. V. 1. Ausg. S. 274—279). Er zeigt
hier, daß »das unmittelbare Bewußtsein des Daseins äußerer Dinge . . . nicht vor-
ausgesetzt, sondern bewiesen wird, die Möglichkeit dieses Bewußtseins mögen wir
einsehen oder nicht«. — Die beste systematische Darstellung zur Ideengeschichte
des Immanenzprinzips und seiner Überwindung in Hume gibt Otto Selz, Die
psychologische Erkenntnistheorie und das Transzendenzproblem, Arch. f. d. gcs.
Psychol. Bd. IG. Heft 1 und 2.
Die Erkenntniß d. Individualität u. ihre wisscnBchaftflthforpt. fJrundlagon. 205
als Bewiißtseinsvorgängc. Was den Bewiißtscinsvorgängen, durch
die uns die Körperweh gegeben ist, ala Objekt tatHÜchlich enlsj)ri(ht,
ist eine erkennt ni.stheoretJHc he Frage; dio Unlösliarkeit der-
.selben haben wir el)en.so wie ihre Vermeidbarkeit an früheren Stellen
dargetan*); die Belumptung, diese entsprechenden Objekte seien
selber Bewußtseinsvorgängo, ist eine erkenntnistheorctische Ant-
wort, welche wie alle erkenntnistheoretische Antworten eo ipso falsch
ist. Für unsere Vernunft kritische ülx^rzeugung sind diejenigen Be-
wiißtseinsvorgätige, durch welche Seelisches erkannt wird, und die-
jenigen, durch welche uns eine Körperwelt gegeben wird, zwei ver-
schiedene, unauflösliche, als etwas Letztes hinzunehmende unmittel-
bare Erkenntnisgrundformen; ihre wissenschaftstheoretische Deri-
vation aus der erkennenden Vernunft seliger haben wir dargetan.
Beide gelten mit gleicher unmittelbarer Gewißheit und Untrüglich-
keit ; damit erübrigen sich für uns alle weiteren hier anzuschneiden-
den Probleme.
Rickert hat es nicht so einfach. Er hat die Konsequenz auf
sich genommen, daß alles Sein, auch das der Körperwelt, Bewußt-
seinsvorgang ist. Und es ist ihm nun überaus scliwierig, die Sonderart
des psychischen Seins als Bewußtseinsvorgang von der des physischen
Seins als Bewußtseinsvorgang zu trennen. Da die Verschiedenheit
beider Seinsgebiete evident ist, so entsteht mit unwiderstehlicher
Folgerichtigkeit jene Konsequenz, welche aus gleichen Voraus-
setzungen wie Rickert sowohl Wundt als auch Brentano und
seine Schule für ihre Philosopheme gezogen haben: die Körjierwelt
muß dann mehr sein als dasjenige, was wir als anschauliche Welt
von räumlichen Dingen und Vorgängen unmittelbar erkennen. Diese
Erkenntnis ist vielmehr nur ihr Abbild oder ihre Erscheinung. Diese
Erkenntnis nun gehört dem Seelenleben an; und so ist auch die
Körperwclt in der Form dieser Erkenntnis, als Erscheinung, mittel-
bar dem Seelenleben angeiiörig. Daraus folgt weiter, daß uns das
Seelenleben allein unmittelbar gegel)en ist; soweit das Seelenleben
Körperwelt ist, ist die Körperwelt nur als Erscheinung Seelenleben,
also mittelbar. Wenn alles unmittelbar gegebene Sein Bewußtseins-
vorgang, und jeder Bewußtscinsvorgang etwas Psychisches ist, so
kann das Psychische allein unmittelbar, die Körperwclt dagegen
*) Es ist nin- merkwürdig, daß das Immanenzprinzip sich auch in den Gedanken-
gängen transzcndentahstischiT IMiilosophen, wenigstens als gebilligte Pniblem-
8t<>llung in dieser psychologischen Fassung, noch heutigen Tages ab und zu vor-
findet — vom l'anpsychisnnis und den verscliiedenen Monismen gar nicht zu
sprechen. So hier bei Rickert; ferner bei Wundt; ferner bei Münsterberg
((Jnindzüge der Psychol. I. 1900. S. 204, 7 Iff.); und selbst bei Na torp (All-
gemeine Psychologie. I. 1912. S. 114 ff.). Allerdings sieht der letzten\ welcher
überall bei psycholoßisehen Statuit-nnigen die sonderbare Voreingenommenheit
hat, eine »Vembjektiviennig« zu wittern (denn die Wissenschaft vom SiM«lischen
darf doch beileibe nicht Objektivität an.><tn>ben !), sogar im Begriff des H« wußt-
seinsvorgangea eine solche »Verubjcktiviorungc Was würde Kant zu dickem
Kantianer gesagt haben !
206 Über die -wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
nur mittelbar gegeben sein; d. h. wir müssen alles Psychische als
Realität, die KörperweJt hingegen als Phänomen bewerten.
Der Erkenntniswert des psychischen Erkennens bleibt also der einer
unmittelbaren untrüglichen Erkenntnis; der des physischen Er-
kennens hingegen sinkt zu einer mittelbaren und trügerischen Erkennt-
nisweise, deren Kriterien weder in der Gewißheit der Erkenntnis -
Vollzüge liegen können noch in den Gegenständen, die ja nur durch
diese trügerische und mittelbare Erkenntnis gegeben sind. So be-
gründet sich dann auch bei Wundt^) und Brentano2) und stellen-
weise auch bei Lipps^) der Vorrang der inneren über die äußere
Erkenntnis, und die innere Wahrnehmung wird zum Korrektiv für
die Geltung der äußeren*).
In dieser ganzen Deduktion liegt der gleiche Fehler, den wir schon
in ihren Voraussetzungen aufwiesen: die Verwechslung von Inhalt
und Gegenstand des Erkennens. Wir verweisen auf unsere Wider-
legung dieser Voraussetzung: daß alles Sein ein Bewußtseinsvorgang
wäre. Beide Erkenntnis weisen, die innere und die äußere, setzen
sich, wie wir nachgewiesen haben, aus irreduziblen Materialien zweier
1) Wundt, Physiol. Psychol. 5. Aufl. III. S. 766.
2) Brentano, Psychol. I. 1874. S. 184.
3) Lipps, z. B. in Grundtatsachen des Seelenlebens. S. 10.
*) Zum Problemkreise der inneren Wahrnehmung äußern wir uns in der
Phänomenologie. Wird die äußere Wahrnehmung als mittelbar und vom Korrektiv
der inneren abhängig aufgefaßt, so wird ihre Geltung als Erkenntnis damit pro-
blematisiert. Hiergegen behaupten wir: Erstens die Frage, wie man zum Inhalt
der Wahrnehmung hinsichtlich seiner Trüglichkeit Stellung nehmen solle, ist sinn-
los — mag es sich nun um äußere oder innere Wahrnehmung handeln. Zweitens
fehlt uns jedes Kriterium, um den Zweifel an der Geltung der Wahrnehmung zu
entscheiden oder zu begründen. Mit dem Nachweis dieser beiden Behauptungen
ist die untrügliche und unmittelbare Geltung der Wahrnehmung — es sei dies nun
äußere oder innere — gegeben. Wir führen diesen Nachweis hier für die äußere
Wahrnehmung, deren Geltung in Frage steht.
Erstens: Die Frage, ob eine äußere Wahrnehmung richtig oder irrig ist, ist
sinnlos; denn mit der Wahrnehmung ist die Richtigkeit der Wahrnehmung schon
unmittelbar psychologisch gegeben. Jeder Wahrnehmung liegt vermöge ihrer
eigenen Natur ursprünglich und unvermeidlich ihr assertorisches Wesen zugrunde;
dies bildete von vornherein einen unabtrennbaren, integrierenden Bestandteil des
Wahrnehmungsaktes. Ein Zweifel an der Wahrnehmung im Hinblick auf diese
Assertion ist psychologisch nicht möglich.
Zweitens: Wäre er möglich, wie könnte er beseitigt werden? Durch ein Kri-
terium, welches über die Richtigkeit von äußeren Wahrnehmungen entschiede.
Dies Kriterium kann nicht der Gegenstand sein, welcher ja erst in der Wahrneh-
mung gegeben ist. Es müßte also eine Erkenntnis sein, welche unabhängig von
der äußeren Wahrnehmung gilt. Als solche könnte es entweder eine Erkenntnis
a priori sein — in ihr aber kann ein solches Kriterium für die äußere Wahrnehmung
nicht liegen wegen ihrer modalischen Inkongruenz mit dieser; oder es könnte eine
innere Wahrnehmung sein — , in dieser aber kann das Kriterium nicht liegen
wegen ihrer gegenständlichen Inkongruenz mit der äußeren Wahrnehmung, deren
gegenständliche Geltung sie prüfen soll. Mithin ist ein solches Kriterium über-
haupt unmöglich. Der Zweifel an der Geltung der äußeren Wahrnehmung ist nicht
nur psychologisch sinnlos, ihre Problematisierung ist auch logisch undurchführbar.
Mithin bildet die Geltung der äußeren Wahrnehmung überhaupt kein mögliches
Problem.
Die Erkenntnis d- Individualität u. ihre wissfaschafteiheoret. GrundlAgen. 207
verschiedener, jeweils anschaulich-evidenter und untrüglicher Er-
kenntnisgrundfornien zuHumnien, welche durch eine begriffliche
Theorie in die gesarate Erkenntnis der Vernunft eingeordnet werden.
In gewissem iSinno ist die psychische Anschauung sogar mittelbarer
als die äuÜero Anschauung, nämlich insofern, als sie von köriK-rlicher
Zeitl^stimmung abhängig ist. Wie Kant sagt, ist sie »in der Zeit
nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme,
möglich . . ., so daß folglich innere Erfahrung selbst nur mittelbar
ist, nur durch äußere möglich ist «i). Rickert denkt kantisch genug,
um jene Konsequenzen zu mißbilligen, welche sicli aus der Gleich-
setzung der Körperwelt mit Bewußtseinsvorgängen notwendig er-
geben müssen. Aber da er das ganze Problem der Möglichkeit einer
Psychologie als Wissenschaft und ihrer Stellung zur Naturwissenschaft
von vornherein, wie wir zeigten, unter der falschen Fragestellung er-
scliöpft sieht : welche Subjektsbegriffc es denn seien, welche für die
Materien der Psychologie (und für die Körperwelt) als erkennende
in Frage kämen, so geht er einen Irrweg, um jene von ihm mißbilligten
Konsequenzen zu widerlegen. Das Subjekt für alles Gegebene ist
nach ilim nicht identisch mit dem Subjekt des psychisch Gegebenen.
Fassen wir Subjekt als das aktive, Objekt als das passive Moment
des Erkenntnisvorganges auf, so läßt sich eine Reilie denken. Der
Ausgangspunkt sei das psychisch-physische Subjekt. Von diesem
wird zunächst der Körper Objekt für den gleichsam mehr psychischen
Anteil des psychophysischen Subjekts. Eine Reihe von psycho-
physischcn Subjektsbegriffen, in denen auf diese Weise das Phy-
sische immer kleiner wird, führt uns allmählich zum psychologi-
schen Subjekt, welches seinerseits gar nichts körperliches mehr ent-
hält, hinüber. Diese Reihe läßt sich auch noch über das psycho-
logische Subjekt hinaus weiter verfolgen. Einmal kann das psycho-
logische Subjekt in seiner Ganzheit als das Aktive den Körpern in
ihrer Gesamtheit als passiven Objekten gegenüberstehen. Aber auch
in sich selber kann das psychologische Subjekt in eine aktive und in
eine passive Seite zerfallen. Die passive Seite erhält Objektcliarakter;
und es ist dann so, daß gleichsam ein Teil des Subjekts den anderen
erkennend betrachtet. Es ist nun möglich, einen jeden beliebigen
Teil des psychologischen Subjekts zum Objekt zu machen. Und
dieser Prozeß der Objektivierung des Psychologischen läßt sich
immer weiter fortgesetzt denken. Denken wir ihn uns vollendet,
so bleibt ein reines Subjekt übrig, welches selbst gar kein empi-
risches Sein mehr enthält, weder physisches noch psychisches, und
niemals Gegenstand einer empirischen Wissenschaft werden kann.
Nennen wir dieses übrigbleibende reine Subjekt Ik>wußtsein, so ist
alles gegebene Sein Bewußtseinsinhalt. Dies Bewußtsein ist aber
nicht das psychologische Subjekt, es enthält nichts psychisches
1) Kr. d. r. V. 1. Ausg. S. 276. Vgl. Meyerhof, Psychologische Theorie usw.
S. 65.
208 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
mehr. Dieser ganze Prozeß ist nach Rickert natürlich nur be-
grifflich möglich.
Hierzu sagen wir: Das ganze ist eine Konstruktion. Diese Kon-
struktion Ricker ts ist aber logisch falsch. Und ferner beseitigt
sie gar nicht, was Rickert doch erstrebt, jene Konsequenzen, welche
Wundt und Brentano aus der Annahme gezogen haben, daß auch
die Körperwelt in Bewußtseins Vorgängen bestehe.
Jenes übrigbleibende reine Subjekt soll erhalten werden, wenn wir
das ganze individuelle Ich restlos objektiviert haben. Also nicht
mehr die Individualität des Individuums, sondern lediglich dasjenige
ist in diesem Begriffe des reinen Subjekts enthalten, was überhaupt
nicht mehr objektivierbar ist, was seinem Wesen nach nicht zum
Objekt zu werden vermag. Die Frage liegt nahe, wie Rickert eine
Aussage über etwas machen kann, was durch seine Definition gar
nicht Objekt zu werden vermag, also auch nicht Objekt einer Aus-
sage. Hier zeigt sich aufs klarste die logische Erkünstelung der
ganzen Konstruktion. Die Konstituierung eines Subjektes, welches
nicht Objekt zu werden vermag, bildet einen Widerspruch zu dem
Inhalt dessen, was diese Konstituierung besagt. Sie ist also logisch
unzulänglich. Nun spricht Rickert freilich immer vom reinen
Subjekt als einen bloßen Begriff. Hierzu bemerkt Nelson in an-
derem Zusammenhange sehr fein^), der Unterschied der zwischen
einem Gegenstande und dem Begriff dieses Gegenstandes besteht,
verschwindet auch dann nicht, wenn der Gegenstand selbst ein Begriff
ist, und es ist daher genau zu unterscheiden, ob eine bestimmte Aus-
sage sich auf einen Begriff oder auf den Begriff eines Begriffs be-
zieht. Rickert vergleicht einmal den Begriff eines reinen Subjekts,
oder des »Bewußtseins überhaupt«, wie er sagt, mit dem mathe-
matischen Begriff, indem er hervorhebt, daß auch derselbe sich auf
keine Wirklichkeit bezieht^). Setzen wir also einen derartigen
mathematischen Begriff ein, z. B. ein gleichschenkliges Dreieck.
Auch die Eigenschaften des gleichschenkligen Dreiecks sind auf
das strengste zu trennen von den Eigenschaften des Begriffs des
gleichschenkligen Dreiecks. Die Basiswinkel des gleichschenkligen
Dreiecks sind gleich; es hat aber keinen Sinn zu sagen, die Basis-
winkel des Begrifs des gleichschenkligen Dreiecks seien gleich.
Rickert steht also vor folgender Alternative: Entweder seine Aus-
sagen beziehen sich auf das reine Subjekt als einen Begriff; dann
ist die Begriffsnatur dieses reinen Subjekts kein Einwand dagegen,
daß Aussagen über dasselbe nach der Definition des reinen Subjekts
logisch unmöglich sind, Oder seine Aussagen beziehen sich auf den
Begriff des reinen Subjekts; dann dürften sie zum Inhalte nur
solche Feststellungen haben wie die, ob dieser Begriff widerspruchs-
frei sei, welche Merkmale er enthält usw. Derartige Aussagen macht
1) Über das sogenannte Erkenntnisproblem S. 496 ff.
2) Der Gegenstand der Erkenntnis. 2. Aufl. 1904. S. 155.
Hie Erkenntnis d. Individaalitat ii. ihre wissfn8ch;ift«tlioorft. (Jrundiagm. "209
Kickert aber nicht. Wenn er erklart, das n-ine »Subjekt vermöge
niemals Objekt zu worden, so ist die« eine Aussage üter da« reine
Subjekt, nicht al>er üIkt den Begriff des Begriffs reines Subjekt«.
Damit ist diese Konzeption logi.sch erledigt.
Rickert sagt, nenne jnan das reine Sii))jekt Bewußtsein, ho sei
das gesamte gegebene Sein Bewußt.seinsinhaU. In diesem Satze
wird es ganz klar, worin der Fehler in Rickerts Voraussetzungen
steckt, welche ihn zu seiner falschen logischen Konstruktion rei -
anlaßt halx'ii. Bewußtsein ist nach dem sonstigen Sprachgebrauch
d«)ch immer ein geistiger oder seelischer Vorgang, Zustand oder Ha-
bitus oder was man sonst will; dieser Ifabitus ist aber von deoi
Subjekt, welches ihn aufweist, scharf zu unterscheiden. Da« Subjekt,
es sei »rcind oder >»p.sychologisch *, ist nicht Bewußtsein; es besitzt
Bewußtsein. In diesem letzteren Sinne geht es schließlich an. alles
(Jegebene als »Bewußtseinsinhalt « zu bezeichnen, wofern mit dem
Bewußtsein eben diejenige Funktion gemeint ist, kraft deren das
(»egebene )>gegel>en« wird. Für wen gegel^en? Für ein Bewußtsein,
wie Rickert will? Nein, sondern für das Subjekt, dessen <iel)ende
Funktion das Bewußtsein ist. Indem Rickert den Akt des Er-
kennens nicht vom Subjekt des Erkennens. dem Erkennenden, ti-enni.
und für beides die gemeinsame Bezeichnung »Bewußtsein« einführt,
muß sich für ihn die Schwierigkeit ergel>en, daß ein Ich nicht sicli
selbst zum »Bewußtsein.sinhalt «, also zum Objekt eines Erkennens
zu machen vermag. Und darum muß er seine »Reihe « von Spaltungs-
produkten des Subjekts aufstellen, von denen immer ein Teil zum
Objekt für den anderen werden kann. So endigt er endlich bei seinem
logisch unmöglichen reinen Subjekt, welches nie Objekt werden kann.
Es ist nur konsequent, wenn er erklärt, dieses Subjekt sei ein anderes
als das psychologische, es sei gar nicht mehr individuell, sondern
iil)erindividuell und erkenntnistheoretisch*).
Trotz dieser Konstruktion entgeht aber Rickert jener Kon-
sequeiiz gar niciit, die er durch sie zu überwinden hoffte. Die Körper-
welt bleibt ja »Bewußtseinsinhalt f, also, sehen wir von der fehler-
haften Terminologie ab, ein Teilphänomen der Vorgänge im Subjekt.
Ob dieses Subjekt ein mehr oder weniger »reines« ist, ist völlig be-
langlos für das Verhältnis der Körperwelt als Teilphänomen einer
*) Zu ganr. ähnlichen Schwiorigkciton vrio Ricktrt kuiiuut (l<i- .-m.»!!;*! i*<>
scharr-^innim- Brentano (PsypholoRJe usw. S. löO. IHHff.) durch .seine verfehlt«-
Konzeption ilv^ RewaßtsiMns. die der Ri( kertschon analog ist. Auch er stiehl
vor den urendiiclien Verwickhuigen, die in der danuis entspringenden Annahme
liegen inüsstn, daß jedes paychusche i'hänüiuun ziun t)bjekt eines j>.-<ychischon
l'liäncftnüDS werden inuO. um i-lKrwußt» zu werden. Er führt den unendlichen
Regreß, der hier auftaucht und den Rickert ganz willkürlich mit dem »r^'inen
{Subjekt* bocndet, in »einer ganzen logischen Ah.surditat vor. Aber wa.s »<chli«6t
rr daraus? Nicht etwa die Ablehnung .seines BewuÜtseinsbegriHes als Inbegriff
des psychischen (Jt-nebenseins — sondern die rein dogmatische Wendung: Vor-
Htellung und Vorstellung von der Vorstellung seien in einem und demselUn Akto
gegeben ! — HicrülnT weiteres in der PhünomcDologic.
Kronfrid, FsychUtrUchc KrkenotoU 14
.210 Über die wissenschaftfctheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
übergeordneten ßJasse, die zu den psychischen Phänomenen gehört>
zu dieser Klasse selber. Es sind also von seinem Standpunkt aus
bloße Beteuerungen ohne jeden substantiellen Grund, wenn er fälsch-
lich aus diesen falschen Voraussetzungen zu schließen vermeint, was
wir sachlich absolut richtig finden: »Wir halten daran fest, daß das
Wort Psychisch jeden Sinn verliert, wenn es nicht auf einen Teil
der gegebenen Wirklichkeit beschränkt wird, daß eine Körperwelt
uns ebenso unmittelbar gegeben ist, wie das Seelenleben. «... »Um
die Scheidung in Realitäten und Phänomene kümmern wir uns hier
nicht weiter ... es genügt uns, wenn wir zeigen können, daß durch
sie jedenfalls das Psychische vom Physischen nicht getrennt werden
darf.« Sehr schön; aber das zeigt Rickert ja gar nicht! Er ver-
sichert, beides sei letztlich »Bewußtseinsinhalt «. Und aus der gleichen
Versicherung haben andere Denker gerade die Konsequenz gezogen,
daß beides getrennt werden müsse, daß das Psychische Realität, das
Physische Phänomen sei. Rickert ist infolge der unglückseligen
Sackgasse, in welcher er steckt, gar nicht in der Lage, eine besondere
Begriffsbestimmung des Psychischen überhaupt zu geben. Er macht
sich die Sache bequem und meint, nach dem Gesagten kann man
»davon absehen«. »Wir wissen, daß das Psychische ein Teil der
empirischen Wirklichkeit ist, sogut wie die Körper« (nämlich die
»empirische Wirklichkeit« Rickerts ist als »Bewußtseinsinhalt«
definiert), »und wir beschränken uns darauf, zu sagen, daß psychisch
alle Objekte sind, die nicht physisch sind«. Wie weise! Und wie
genügsam, wenn er fortfährt: »Diese negative Bestimmung reicht
vollständig aus,«i) Aus all diesem Gestrüpp von unzulänglichen An-
sätzen zu begrifflicher Klarheit und von völlig richtigen und wert-
vollen Erkenntnissen, welche aber leider als" falsche Schlüsse ver-
fehlter Ableitungen aus irrigen Voraussetzungen geboren werden,
wollen wir noch eine Erkenntnis retten, die wir ebenfalls voll unter-
schreiben können : »Damit hat der Satz, die Psychologie hat es mit
dem Subjekt, die Naturwissenschaft mit dem Objekte zu tun, seine
Bedeutung verloren. Auch die Psychologie muß alles, was sie unter-
suchen soll, zum Objekt machen, und wenn die Trennung des psychi-
schen Materials vom erkennenden Subjekt auch schwieriger aus-
zuführen sein mag, so ist sie darum doch nicht minder notwendig. «
Die Konsequenz hieraus ist auch bei Rickert die, welche die unserige
war: Daß die Psychologie durchaus nach naturwissen-
schaftlicher Methode verfahren müsse. Und wir fragen
vergeblich, was alle die schwierigen Spekulationen Rickerts denn
nun dazu beigetragen haben könnten, die Individualpsychologie
auf einem Fundament wissenschaftstheoretischer Sicherungen auf-
zubauen, welches von dem der Naturwissenschaft grundsätzlich ver-
schieden ist.
Aber Rickert versucht das Ziel, wie wir es charakterisierten,
1) Seite 183.
Die Erkenntnis d. Individualität u. iLrc wihs-nscbaftflthcoret. Gnindlagen. 21 1
noch auf einem anderen Wege zu erreichen, und zwar durch eine
Untersuchung der naturwissenschaftlichen Methode in der Psycho-
logie selber und ihrer Erkenntnisgrenzen. Er zeigt zunächst, daß in
der Psyclu^logie die Teinporalitüt alles Psychi-schen es erschwert,
tlas Einzelne, weil es durcli seine jeweilige zeitliche .Stellung im Strom
psychischer Kontinuitiit inuner ein einziges und unwiederholbare« ist,
restlos erkennend zu erfassen. Er zeigt ferner die Begrenzung des
Erkenntnisfeldes für eine jede Psychologie: Es ist nur das eigene
.Seelenleben des erkennenden .Subjekts und ein kleiner nur erschlieli-
barer Teil des fTeniden. BtM weitem der größte Teil alles psychischen
(jJeschehens bleibt dem erkennenden .Subjekt völlig unbekannt; »das,
wofür wir bei luis selbst kein Analogon finden, werden wir niemab
auch nur zu erraten imstande sein, und es ist daher für die Wissen-
schaft als Material so gut wie nicht vorhanden«^). In diesen richtigen
Eeststelhingen liegt, scheint uns, nichts anderes als die grund-sätzlicho
Anerkennung der (Jleichartigkeit des psychischen Gegebenseins mit
»lern physisciien, so wie es Rickert vorher charakterisiert hatte; es
liegt darin der Ausschluß jeder nicht naturwissenschaftlichen Indivi-
(hialpsychologie und damit vielleicht der wissenschaftlichen Indi-
vidualpsychologie überhaupt. Rickert aber folgert nur teilweise
das gleiche: >)schon aus diesem Grunde wäre es ganz unmöglich, in
fine Psychologie, die doch nicht nur das individuelle Seelenleben
eines einzelnen Menschen darstellen soll, die psychischen Vorgänge,
so wie wir sie erleben, aufzunehmen. « Das ist aber gerade die Frage!
Die Individualpsychologie stellt es sich gerade zur Aufgabe, »das
individuelle Seelenleben eines einzelnen Menschen darzustellen*; daß
die Psychologie das nicht soll, bleibt zunächst Dekret. Rickert
folgert es nur aus dem naturwissenschaftlichen Charakter psychologi-
scher Erkenntnis, oder vielmehr aus demjenigen, was er diesem
Charakter fälschlich imputiert: der »Überwindung« der gegebenen
Mannigfaltigkeit, und dem Drang nach dem allgemeinsten, nierkmals-
ieersten Gesetz. Rickert macht es sich sodann leicht, wenn er
Dilthey») darin beipflichtet, daß die naturwissenschaftliche Psycho-
logie nicht die Grundlage historischer Wissenschaft sein könne. Das
l*roblem, ob eine Individualpsychologie nach naturwissenschaftlicher
.Methode möglich sei, setzt er damit schon als im verneinenden Sinne
ontschicden voraus; und nichts ist einfacher, wenn man den Sinn der
>faturwissenschaft derartig falsch interpretiert. Rickert verneint
über auch die Erfüllbarkeit der Dilthey sehen Forderung nach einer
beschreibenden, unmittelbar anschaulichen Individualpsychologie;
sie sei logisch unmöglich. Und zwar mit Recht. »Bruchstücke des
unmittelbar erfahrbaron oder erschließbaren Seins kami man so, wie
sie hier und da in der anschaulichen Mannigfaltigkeit gegeben sind,
durch eine die Phantasie anregende Beschreibung, wie wir in der
») Seite 187.
«) Siehe S. 315 ff dieses Buob«».
U«
212 Über die wissenschaffestlieoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Phänomenologie sehen werden, wenigstens annähernd darzustellen
versuchen. Die Gesamtheit des Seelenlebens aber entzieht sicli
ebenso wie die Körperwelt jeder Darstellung, in der ihr ganzer Inhalt
Raum finden soll. Sie ist prinzipiell unerschöpflich, und nicht ein-
mal eine Annäherung an ein Ziel dieser Art ist möglich, sie muß viel-
mehr auf jeden Fall eine Umformung des ihr gegebenen Materials
vornehmen, und diese Umformvmg kann ebenso wie in den Natur-
wissenschaften nur eine Vereinfachung sein, «i) Um die naturwissen-
schaftliche Theoretik der Psychologie können wir also nicht herum,
freilich bleibt diese immer logisch weniger vollkommen als die physi-
kalische. Immer aber enthalten ihre deskriptiven Begriffe schon
erklärende Elemente. So ist Psychologie niemals bloße Beschreibung.
Der Einwand gegen ihren allgemeinen Erklärungsanspruch, daß sie
am einzelnen, eigenen Seelenleben der erkennenden Individualität
gebildet werde, ist nicht stichhaltig. Die Begriffe, welche sie an diese
Materie binden, müssen gelten für das Seelenleben überhaupt, gleich-
viel welches Individuums, sonst ist eine Psychologie als Wissenschaft
nicht möglich. Demgemäß ist alle Psychologie nach Rickert zwar
individuelle Psychologie, aber niemals bloß Psychologie des Indivi-
duums. Wäre sie bloß letzteres, so würde der Inhalt jeder deskrip-
tiven Psychologie von dem jeder anderen verschieden sein müssen.
Tatsächlich aber sucht die Psychologie zu der Allgemeinheit und
Bestimmtheit ihrer Begriffe auch die notwendige Geltung hinzu-
zufügen.
Mit allen diesen Ausführungen stimmen wir völlig überein; sie
beweisen abermals den naturwissenschaftlichen Charakter der Psy-
chologie und ihre immanente Theoretik, und daß dies von der Indi-
vidualma terie, an der die Wissenschaft sich inhaltlich erfüllt, nicht
berührt wird. Nur eine Einschränkung machen wir gegenüber den
Rickertschen Formulierungen. Diese betrifft das Geltungsbereich
der psychologischen Gesetze. Rickert sagt hier, diese Gesetze gelten
allgemein, nicht bloß für das Individuum, von dessen Seelenleben sie
abgeleitet sind. Das ist nicht richtig. Die »Allgemeinheit« der
Geltung bezieht sich nur darauf, daß die Gesetze in jedem Falle
gelten, in welchem die in ihnen beurteilte Materie unter den gleichen
Bedingungen steht, unter denen die Gesetze gewonnen wurden.
Nicht aber liegt in dieser »Allgemeinheit « schon drin, daß diese Um-
stände, unter denen die Gesetze gelten, bei mehr als einem Indivi-
duum realisierbar sein müßten. Rickert beweist hier zu viel. Es
kann auch allgemeingültige Gesetze seelischer Indivi-
dualität geben — wenigstens liegt logisch in dieser Konzeption
kein Widerspruch. Die Allgemeinheit eines Gesetzes bedeutet nicht
die Ubiquität der in ihm beurteilten Materie, sondern nur die aus-
nahmslose Geltung für diese Materie.
Es versteht sich bei Rickert von selbst, daß er, nach so weit-
1) Seite 189.
Die Erkenntnis d. IndividualitÄt u. ilir«' wibsonet baft«tbc>ori-t. (trundlagen. 213
gehender Angleichung der Psychologie an die NaturwissenKchaft,
auch sein seltsames »logisches Ideal« der Naturwissenschaft, welche«
wir schon gekennzeichnet haben, für die Psychologie als maügebend
erachtet. Wir gelien darauf niciit weiter ein. I>ediglich einen Unter-
schied sieht Rickert zwischen psychologischer und physikalischer
Naturwissenschaft, und zwar mit Recht: es ist der alte kanti.sche
(»edanke, daß die Quantifizierung der Qualitäten, welche gerade
<lie tiefsten Erkenntnisse der physikalischen Welt verbürgt, in der
Psycliologie nicht möglich ist. Freilich leitet Rickert selbst diesen
«;infachen Gediinkcngang falscli ab: er meint, wenn man in der Psy-
chologie von den (Qualitäten abstrahiert, behalte man »nichts« übrig;
und übersieht dabei die zeitliche Dauer. Aber er zieht wenigsten»
günstigere Fornnilierungen aus diesem Tatbestande als Kant, welcher
bekaruitlich die Psychologie »vom Rang einer strengen WissenHchaft
auf immer entfernt« erachtet.
Rickerts Analyse der historischen Erkenntnis. tSeine Lo-
sung der Erkenntnis des Individuellen.
Rickerts ganzer Gredankengang ging dahin, die Erkenntnis des
Individuums aus dem Werk der Naturwissenschaft, und auch aus dem
der naturwissenschaftlichen Psychologie, grundsätzlich als logisch
unmöglich zu verbannen. Unsere Spannung, wie denn nun diese
Erkenntnis des Individuums möglich sein soll, löst er endlich durch
eine im Wurf zweifellos groliartige Gegenüberstellung der natur-
wissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Er-
kenntnis. Unter Natur verstellt er liierbei von vornherein nicht
empirisclie Wirklichkeit. Er erkennt also unsere Definition von Natur
von vornherein nicht an. Kunstwerke, sagt er, sind auch empirische
Wirklichkeit und dennoch nicht Objekte der Natur. Hier stocken
wir schon. Eine wissenschaftliche Deskription und Erklärung der
Geneso von Kunstwerken als Gegenständen in der empiri-
schen Wirklichkeit würden wir in unserer Uiilx^fangenheit
naturwissenschaftlich zu geben versucht haben — soweit eine der-
artige wissenschaftliche Bestimmung überhaupt möglich ist. L«dig-
liob die Wertgesichtspunkte, unter denen jene Gegenstände zum
(yharakter von Kunstwerken gelangen, würden wir als der natur-
wissenschaftlichen Erkenntnisweise entzogen bezeichnen. Rickert
tueint, Naturwissenschaft und Cieisteswissenschaft seien Erkenntnis-
begriffe verschiedener Gesichtspunkte. Natur sei das vom Gesetz
beherrschte Sein, jene Wirklichkeit, die von selbst wird und nicht
von anderen genuiclit wird. Die Natur ist die Wirklichkeit n\it Rück-
sicht auf das Allgemeine. Und Psychologie ist deshalb eine Natur-
wissenschaft, weil sie die Wissenschaft von der Natur des Seelen-
lebens ist, insofern dies Seelenleben aufgefaßt wird im Gegensatz
nicht zur Körperwclt, sondern zur Kunst, zur Kultur, zur Sitte, zur
Geschichte, als ein in sich ruhender, von immanenten Gesetzen Ix?-
214 Über die wissenschaftsfcheoretischeu Grundlagen der Psychologie usw.
herrschter Zusammenhang. Der Ausdruck Geisteswissenschaft hat
gar keine logische Bedeutung, wenn man Naturwissenschaft so defi-
niert, daß darunter jede Wissenschaft fällt, welche ihre Objekte mit
Kücksicht auf das Allgemeine betrachtet und in Gesetzesbegriffen
zu erfassen sucht. Geisteswissenschaft fiele danach mit der Wissen-
schaft vom Seelenleben zusammen. Und Geschichte würde zu einem
Teil der psychologischen Disziplin. Aber das Wort Geist enthält
einen Gegensatz zum bloß Psychischen in diesem Sinne, es bedeutet
ein psychisches Leben von besonderer Art. Es bedeutet kurz
das individuelle Wesen psychischen Lebens.
Schon hierin liegt das alte vGTeQor ttqotsqop: denn es war ja
gerade unser Problem, ob nicht die Psychologie fähig sein sollte,
unbeschadet ihres Charakters als Gesetzeswissenschaft das Indivi-
duelle zu bestimmen, und wieweit diese Fähigkeit ihr zukam. Aus
der bloßen Prüfung auf die Tendenz zum Gesetz, die ihr eignet, kann
also dies Problem nicht verneinend entschieden werden. Nur wenn
man diese Tendenz zum Gesetz entsprechend dem falschen Ricke rt-
schen logischen Ideal ausbaut, hat diese Verneinung Sinn.
Auch Ricker t sieht ein, daß durch diese Formulierung das
Problem logisch nicht gelöst wird. Er läßt daher die Entgegen-
setzung zweier Tendenzen in der Psychologie selber, der Tendenz
zum Gesetz und der Tendenz zum Individuellen, als logisch nicht
faßbar fallen. Für ihn ist es der Begriff der Geschichte, welcher
den wahren Gegensatz zum Begriff der Natur ausmacht. Es muß
gefragt werden, was von der Wirklichkeit durch ihre Vereinfachung
bei der naturwissenschaftlichen Bearbeitung notwendig verloren geht.
In denjenigen, was diese nicht in den Inhalt ihrer Begriffe aufnehmen
kann, liegen ihre Grenzen zur Geschichte.
Verloren geht nun zweifellos die Anschaulichkeit — allerdings in
der Psychologie niemals ganz, da die Qualitäten bestehen bleiben.
Hierin liegt nach Rickert nur ein Beweis der logischen Unvoll-
kommenheit der Psychologie. Ferner geht verloren der individuelle
Charakter der Wirklichkeit. Dies liegt bereits im Wesen der primi-
tiven Begriffsbildung. Geht aber dieser Charakter nicht in den
Inhalt der naturwissenschaftlichen Begriffe ein, so folgt, daß eine
Kluft zwischen der Wissenschaft und der Wirklichkeit entstehen
muß. »Das was der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung die
Grenzen setzt, über die sie niemals hinweg zu kommen vermag, ist
nichts anderes, als die empirische Wirklichkeit selbst.«
»Jeder Versuch einer Systembildung ist aus logischen Gründen un-
zertrennlich verknüpft mit einem Absehen von der individuellen
Gestaltung der Wirklichkeit, und ebenso sicher ist es, daß alle Wirk-
lichkeit, die wir kennen, lediglich aus individuellen Gestalten ge-
bildet besteht«!). So muß die Naturwissenschaft darauf verzichten,
das, was wir unmittelbar erleben, in ihre Theorien aufzunehmen.
1) Seite 240.
Dir Erkonntni-« d. Individii.ilitä* u. ihro widfl -ns jh ifl^tbeoret. Grundlag.jn. 21)
Krkcnnliiis der XatiirwisseiiMcliiift ist nie abbildende Krkeiintnin.
Ihre Wahrheit lK>.slcht nicht in der Ul>ercin.stininiunj4 der Vorstellung
mit ihrem Ciogenstande. Das Unendliche und Unül)er8ehbare ab-
bilden zu wollen ist logisch widersinnig. Dennoch steht die Natur-
wissenschaft in Beziehung zur Wirklichkeit. An Stelle des Seienden,
welches ihre Bogriffe nicht darstellen körmen, tritt die fJeltung.
Die natiirwissensrhaft liehen liegriffe sind nicht dadurch wahr, dali
sie die Wirklichkeit abbilden, sondern dadurch, daß sie für die Wirk-
lichkeit gelten. »Wir sagen damit nichts anderes, als daß das Ali-
gemeine nicht das Besondere ist «. Nun gibt es al)er eine Fülle von
Dingen und Vorgängen, die uns als anschauliche und individuelle,
d. h. als Wirklichkeiten, von Bedeutung sind. Hier tritt die Ge-
schichte ein. Sie kann die Wirklichkeit nicht mit Rücksicht auf
das Allgemeine, sondern auf das Besondere vorstellen.
Es könnte scheinen, als wenn durch diese Aufgalx? der Geschichte
ihr Charakter als Wissenschaft von vornherein verneint werden
müßte. Jedenfalls muß das Pro])lem ihrer Möglichkeit als Wissen-
schaft erst imtersucht werden. Der Begriff des Historischen als
Wissenschaft vom Wirklichen in seiner Besonderheit ist an sich ganz
unabhängig vom sachlichen Unterschied etwa der Natur und des
(Tcistos. Aus dem Begriff einer solchen Wis.senschaft vom Individuell-
Besonderen folgt weiter, daß der Begriff des historischen
Gesetzes zu einem Widerspruch in sich selbst wird, (k-
schichtswissenschaft und Gesetzeswissenschaft sehließen einander aus«.
Es ist nicht die Kompliziertheit der historischen Persönlichkeiten und
Vorgänge, welche die gesetzmäßige Erkenntnis dorseUxjn behindert :
dies wäre kein grundsätzliches Hindernis. Nicht als kompliziertet
Tatljostand, sondern als Individualität ist ein Gegenstand der Cie-
schichtc unlwgreiflich. Diese Unlx.'greifliclikeit teilt alles individuelle
Wirkliche. Alle Wirklichkeit ist irrational. Man kann diesen Gegen-
satz auch nicht dadurch ausdrücken, daß man der Naturwissenschaft
das Sein, der Geschichte das Werden zuweist.
Soweit der grundlegende Gedankengang Rickerts. Sieht mau
von einigen schiefen Darstellungen über das Wesen der Naturwissen-
schaft inid ihr Verhältnis zur Wirklichkeit ab, welche wir hier als
belanglos nicht weiter verfolgen, und fragt man sich, was Rickert
denn nun erreicht hat, so mü.ssen wir gestehen, wir finden uns genau
so fern von der Lösung des Problems wie am allerersten Beginn
unserer Fragestellung. Dies Prol)lem ist doch gerade gewesen: Ist
eine Wissensthaft vom individuellen möglich? Es kann i\icht da-
durch gelöst werden, daß man dieser problenu\tischen Wissenschaft
den Namen »Geschichte* gibt. Tut man dies, so liegt die Gefahr
nahe, daß gesagt wird: Geschichte als Wi.s.senschaft ist wirklich vor-
handen, also ist eine Wissenschaft vom Individuellen möglich. F*s
fragt sich doch gerade: inwiefern ist die vorhandene Geschichte
erstens eine Wissenschaft, und zweitens eine Wissenschaft vom In-
tli viduellen; >md ferner frajft sich: sind die Kriterien ein«r
216 Über die wissenscliaitstheoretischeii Gniucllagen der Psjchologic usw.
Wissenschaft mit den Eikenntnismöglichkeiten des In-
dividuellen vereinbar?
Unter Wissenschaft verstanden wir bisher immer ein System not-
wendiger allgemein gültiger Erkenntnisse, deren wir uns denkend
bewußt werden. Derartige Erkenntnis nennen wir Gesetz; und das Ge-
setz war bisher das konstitutive Merkmal der Wissenschaft . Rickert
behauptet hier: Erstens eine Wissenschaft vom Individuellen sei
möglich. Zweitens diese mögliche Wissenschaft könne niemals Gre-
«etzeswissenschaft sein. Daraus folgt : Entweder es gibt noch einen
anderen Begriff von Wissenschaft, welcher den Begriff der not-
wendigen allgemein gültigen Erkenntnis nicht einschließt. Oder
eine Wissenschaft vom Individuellen ist nicht möglich. Daran
ändern alle Einzelausführungen Ricke rts nichts.
Es gibt noch eine dritte Möglichkeit der Lösung — die unsrige,
wie wir später zeigen werden. Wenn man nämlich die grund-
sätzlich behauptete Irrationalität des Individuellen und
Wirklichen, welche Rickert völlig dogmatisch behauptet, ver-
neint, so fällt die ganze aus ihr abgeleitete logische Alternative fort.
Es besteht dann keine grundsätzlich -logische Unmöglichkeit mehr
in der Behauptung: eine Wissenschaft im »Sinne gesetzesmäßiger Er-
kenntnis sei auch vom Individuellen möglich. Eine andere Frage ist
dann freilich, das Wie dieser Möglichkeit zu begründen. Deren
Beantwortung muß sich aus einer Kritik des Individualitätsbegriffs
ergeben.
Rickert seinerseits, welcher den anderen Weg erwählt hat,
steht konsequenterweise vor der Aufgabe, die Möglichkeit einer
Wissenschaft zu begründen, welche nicht aus allgemein-
gültigen notwendigen Erkenntnissen, gleich Gesetzen, be-
steht. Wir verfolgen, wie er diese Aufgabe löst.
Er hält sich zunächst an die bestehende wissenschaftliche Ge-
schichtsforschung als Ausgangsmaterial für seine logische Zergliede-
rung — und schon dies kennzeichnet das Bedenkliche seines Ver-
fahrens, die geforderte problematische Wissenschaft vom Individuel-
len, die Wissenschaft ohne Gesetze, die es unserer Meinung nach
gar nicht gibt, »Geschichte« zu nennen und dadurch gleichsam den
Nachweis zu erschleichen, daß es diese Wissenschaft tatsächlich gebe.
Freilich sagt Rickert: sein Begriff von Geschichte findet sich als
Tendenz bereits in den Naturwissenschaften mehr oder weniger aus-
gesprochen vor. Die Vollkommenheit der Naturwissenschaft hänge
ab von dem Grade, in welchem es ihr gelinge, »historische Bestand-
teile« aus ihren Begriffen zu entfernen. In dieser Behauptung wird
offensichtlich die zufällige Wirklichkeit, soweit sie, als Ausgangs-
material naturwissenschaftlicher Gesetzesbildung, von dieser mit
Notwendigkeitscharakteien versehen wird, gleichgesetzt mit dem
Ricker tschen Begriff des »historischen Bestandteils«. Was ist
denn nun »historischer Bestandteil«? Die Wirklichkeit in ihrer
zufälligen Zusammensetzung vor der naturwissenschaftlichen Be-
Die Erkenntnis d. Individualit&t u. ihre wifificnt>cbaltätbcorct. Gnuidlagcn. 217
arbeit ung, oder die notwendig gemachte Wirklichkeit, welche in
dem Naturgesetz als seine Materie geordnet iat ? Rickert weiÜ tsa
offenbar selber niilit. Seine Antwort würde lauten, »das Wirkliche«.
Ja, aber sind denn die Naturgesetze nicht wirklich i Ach so, sie
»gelten« ja nur. Die Geltung einer Geltung, welche nicht den Sinn
notwendigen Seins hat, und damit den den Wirklichkeitscha-
lakters, vermögen wir nicht anzuerkennen. Rickerta Formulierung
erscheint uns ein leeres Wortspiel. Ebenso sein umgekehrter Satz,
daß auch die Geisteswissenschaft »naturwissenschaftliche Bestand-
teile« aufweise.
Endlich macht Rickert doch einen schwachen Versuch einer
grundsätzlichen Entwicklung seiner Wissenschaft ohne Gesetz,
seiner Wissenschaft vom Individuellen. Klugerweise legt er sich
sogleich die Frage vor: Sind alle individuellen Wirkliclikeiten
Gegenstand der Geschichte — wie er diese Wissenschaft nun einmal
nennt. Er verneint diese Frage. Der individuellen Wirklichkeit,
sofern sie historischer Bogriffs bildung unterliegt, muß die Beziehung
auf einen Wert eignen. Die Begriffe dieser Wissenschaft müssen
teleologische Begriffe sein. Ebenso muß zwar auch der Begriff
des historischen Zusammenhangs gebildet werden, aber dieser muß
logisch ein anderer Kausalzusammenhang sein als alle naturwissen-
schaftlich möglichen Kausalzusammenhänge. Auch diese Auf-
stellungen Rickerts sind zunächst bloße Forderungen. Und man
vergegenwärtige sich, was er fordert: die Erkenntnis eines Zu-
sammenhanges, der nicht zufällig, sondern notwendig bestimmt ist
und dessen notwendige Bestimmtheit dennoch grundsätzlich nicht
durch ein Gesetz gegeben sein soll!
Für die erste dieser beiden Forderungen, die Entscheidung des.sen,
was von der individuellen Wirklichkeit zu historischem Material zu
werden vermag, bedarf es also der Festlegung eines besonderen Aus-
wahljjrinzips. Damit scheint bereits der Grundgedanke
einer Wissenschaft von der individuellen Wirklichkeit
schlechthin durciilochcrt. Rickert will treilich darin keine
grundsätzliche Schwierigkeit erblicken. Ihm genügt seine Deduktion:
In der Naturwissenschaft liege der Schwerpunkt der Probleme in
der Geltung der Begriffe, in der Geschichtswissenschaft in der
Existenz der Objekte*), um seine Individualwissenschaft trotz
ihrer materiellen Beschränkung als grundsätzliche Sondergrupi»
aufrecht zu erhalten. Aber was Rickert hier wieder einmal mit dem
verschwommenen Terminus »Schwerpunkt« bezeichnet, gibt gar
nicht einander ausschließende Tendenzen wissenschaftlichen Er-
kennens wieder! Oder wollte Rickert etwa behaupten, für die
Geltung naturwissenschaftlicher Gesetzeserkenntnis sei die »E.xistenz
der Objekte« wesenlos? Eine Naturwissenschaft, deren Objekte
uiclit existieren . oder die unabhängig von der F^xistenz ihrer Objekte
>) Seite 327.
218 Über die wissenachaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Gesetze bildete, wäre keine Wissenschaft von der Natur; denn
Natur ist nichts als der Inbegriff existierender Objekte.
Umgekehrt wäre eine Wissenschaft von der »Existenz der Objekte«,
aber ohne Geltung ihrer Begriffe, keine Wissenschaft; — mag sie-
sich nun Geschichte nennen oder sonstwie; denn die Geltung
der Begriffe ist das Kriterium wissenschaftlicher Er-
kenntnis. So bleibt bei Rickert alles eine Rede um die eigentliche
öache herum.
Wie kann man das besondere Individuelle begrifflich darstellen?
Rickert gibt die völlig richtige und unserer eigenen Meinung von
der individuellen Erkenntnis entsprechende Antwort: Es ist durch-
aus möglich, daß der Komplex von allgemeinen Elementen als Ganzes
einen Inhalt hat, welcher sich nur an einem einmaligen und besonderen
Objekt verwirklicht findet; so würde er gerade das darstellen, wodurch
sich dieses Objekt von allen anderen Objekten unterscheidet. In
dieser Weise werden Begriffe zum Mittel, das Individuelle darzu-
stellen i). Zu dieser Erkenntnis hätte es wahrlich des großen Um-
weges nicht bedurft, den Rickert eingeschlagen hat! Es hätte der
Entgegensetzung von Natur und Geschichte nicht bedurft. Denn
Rickerts Worte besagen doch nur diese alte Tatsache: Daß jedes
einzelne Wirkliche in seinem Sein und Werden eine Folge einer Viel-
zahl von allgemeinen gesetzlichen Bedingungen ist, deren Erkenntnis
in ihrer Gesamtheit (Rickert spricht wieder von Begriffen) es er-
lauben würde, das einzelne Wirkliche in seinem Wirklichkeitscharakter
restlos zu bestimmen. Nichts anderes ist die Aufgabe der Natur-
wissenschaft! Der Einwand war ja gerade, daß diese Aufgabe wegen
der unübersehbaren und daher zufälligen Mannigfaltigkeit jener Be-
dingungen eine unvollendbare bleiben muß; und die Frage war, ob
es neben oder jenseits dieses Weges zum Individuellen einen kürzeren
und direkten Weg der Erkenntnis gibt, welche aber doch nicht an-
schaulich, sondern begrifflich ist?
Rickert fühlt das Ergebnislose seines bisherigen Verhaltens
wohl und rafft sich endlich zum entscheidenden Schritt auf, welcher
gerade diese Frage beantworten soll. Er sagt : Das wesentliche
Merkmal des Individuellen in seiner Mannigfaltigkeit ist seine Unteil-
barkeit. Die Einheit des Individuellen ist eine Synthesis des Mannig-
faltigen. Diese Feststellung bezieht sich besonders auf die Seele.
Für die Geschichte nun kommt lediglich die Seele, als psychologisches
Subjekt, in Frage. Die psychische Individualität ist etwas anderes
als das seelische Ablaufen, sie ist gleichsam sein unteilbares Zentrum,
und nur an der Außenfläche spielen sich die veränderlichen seelischen
Prozesse ab. Wo haben wir dieses Zentrum nun zu suchen? Mit
Recht sagt Rickert: nicht jenseits, sondern nur innerhalb der
empirisch feststellbaren seelischen Vorgänge. Aber nach welchem
Prinzip vermögen wir dieses Zentrum von seiner veränderlichen
1) Seite 340.
Die Erkenntnis d. Individualitnt u. ihn.' wis-HonRchaflathc-orct. Grundlageu. 219
Aulioijfläclio 7,11 unttTsclioidon? Hier gibt Rickert die epoche-
ninehendo Antwort, welclio eine Quelle unendlicher Irrtünier in der
«eueren Philosopliic der Geschichte geworden ist. Dies Scheidung^•
prinzij) ist der Wert der Einzigartigkeit dieses Zentrum«. In-
dividuen sind stets mit Bezug auf einen Wert und nur durch
einen solchen Individunlif ät . Rickert gibt diese Antwort ohne
jede Begründung. Kr Ix-hauptet : Dieser Wert müsse ein allgemeiner
sein. Jedoch sei diese Allgemeinheit nicht die des naturwissen-
schaftlichen Gesetzes. Das historische Individuum sei »für allee
(gemeint ist allgemein) Ixjdeutsam durch das, wodurch es anders
als alle ist. In ihm wird das, was an ihm gemeinsam mit allen ist,
ausgeschieden zugunsten dessen, M'as an ihm allein für alle bedeut-
sam sei*). Was hat Rickert mit diesem iSatz gesagt? Eine leere
Tautologie. Die Individualität des Individuellen liegt in dem-
jenigen, wodurch das Individuelle anders ist als alles andere. Daa
ist eine Nominaldefinition. Die Individualität des Individuellen
stellt seinen Wertcharakter dar. Nur unter diesem Wertgesichts-
punkt ist das Individuelle wirklich individuell. Der Grund dieses
Wertes liegt in dem, was es von allen anderen unterscheidet. Da-
durch war doch al3er gerade die Individualität definiert worden!
Wir kommen also auf folgende leeren Sätze: Die Individualität
des Individuellen liegt in seiner Individualität. Diese stellt einen
Werlgesichtspiuikt dar. Der Grund dieses Wertes liegt in der In-
dividualität. Und so halben wir es herrlich weit gebracht! Wir werden
Rickert um so dankbarer sein, für die tiefsinnige Warnung, diese
»Beziehung anf einen W^ert « sorgfältig zu unterscheiden von der Be-
wertung. Ich wenigstens bin niclit imstande, einen faßbaren Sinn
mit dieser Unterscheidung zu verbinden. Beziehe ich ein l>eliebige8
Objekt auf einen Wert — die Bezielning mag reell oder logisch sein, —
«o vollziehe ich damit eine Bewertung des betreffenden
<iicgen8tande3.
Wir kommen also mit Rickert nach seinen bisherigen Dar-
stellungen zu schönen runden Formulierungen, v^ne etwa der, daß
der naturwissenschaftliclie Begriff das gemeinsame, der liistorische
das unterscheidende entlialte . . . Wir erfahren ferner, daü die histo-
rische Erkenntnis das Individuelle keineswegs nur benützt, um zur
•Erkenntnis typischer Geschehensweisen zu gelangen. Typus bedeute
■entweder einen Durchsclniitt oder ein Vorbild. Und nur in letzterem
8inne sei ein Typus liistorischer Vorwurf. Diese Fragen der Typik
werden uns später noch Ix'schäftigen.
Es ist l)emerkenswert. wie Rickert immer, wenn er einen Ge-
•claukengang anscheinend wirklich zum Ende geführt hat, ihn sofort
aufgibt und vorläßt, als fühle er selber, daß sich praktisch damit
nichts anfangen ließe. So auch hier. Kaum hat er den Wertcharaktcr
■des Individuellen in dasjenige verlegt, wodurch sich dasselbe aU indi-
>) Soito 301>.
220 Über die wisscnschaftstheoretihchen GiTindlagen der Psychologie usw.
viduell erweist, seine Unterschiedenheit — so geht er schon wieder
völlig davon ab, und sucht neue Wertgesichtspunkte historischei*
Erkenntnis. Er sucht eine Hierarchie geltender Werte, auf welche
die historische Begriffsbildung bezogen wird. Die Anerkennung un-
bedingter Werte wird dazu vorausgesetzt. Und die Begriffsbildung
der Historie findet teleologisch in bezug auf dieses Wertsystem statt.
Das Wertsystem selber wird nicht bei ihm entwickelt — so inter-
essant dies für uns wäre. Lediglich der Begriff sbildung werden noch
Ausführungen gewidmet. Individuum und Zusammenhang in der
Geschichte seien als Teile eines Ganzen nicht wie Glied und Gattung
in der Naturwissenschaft. »Die Einordnung eines historischen Ob-
jekts als eines Gliedes in einen allgemeinen historischen Zusammen -
liang ist lediglich die Einordnung in ein anderes umfassenderes In-
dividuum, nicht eines Exemplares imter eine Gattung «i). Auch
hierzu muß der Logiker bescheidentlich fragen: wie ist es logisch
möglich, ein Individuum in ein anderes einzuordnen? Uns ist doch
dunkel so, als wenn das Individuum durch seine Unterschiedenheit,
durch die Unmöglichkeit seiner begrifflichen Einordnung definiert
wäre! Rickert kümmert dies nicht. Er dekretiert: In der Ge-
schichte enthält der Umfang des Ganzen die einzelnen Teile; in
der Naturwissenschaft enthält der Inhalt des Gattungsbegriffes die
besonderen Exemplare. Auch in dieser schönen runden Formel
irrt Rickert, was die Naturwissenschaft anlangt: Nicht der
Inhalt, sondern der Umfang des Gattungsbegriffes dient zur Sub-
sumtion der einzelnen Individuen. Aber dies ist noch sein ge-
ringster Irrtum!
Mehr weiß Rickert über das Wesen historischer Begriffsbildung
vom Individuellen nicht zu sagen, in einem, annähernd 600 Seiten
starkem Buche über diesen Gegenstand.
Rickert steht nun vor der Aufgabe, auch den Zusammenhang
»in einen individuellen Begriff zu bringen «2). Der gewöhnliche
Mensch und Logiker würde dieses logische Verfahren individueller
Begriffsbildung als Benennung bezeichnen, sintemal individuelle
Begriffe nur Namen sind. Bei Rickert aber bedeuten individuelle
Begriffe eines Zusammenhanges, daß die Elemente dieses Zusammen-
hanges »sich mit Rücksicht auf die Bedeutung zusammenschließen,
welches das Gesetz durch seine Besonderheit besitzt«. Er schreibt
den unanfechtbaren Satz nieder: Auch die Geschichte hat ihre
Kausalität 3) ; und jene individuelle Begriffsbildung mit Rücksicht
auf die Bedeutung der Besonderheit eines Zusammenhanges — dies
ist für ihn die historische Kausalität. Ausdrücklich sagt er: Der
Begriff der Kausalität ist nicht mit dem der Naturwissenschaft iden-
tisch. Daß das Sein kausal bedingt ist, macht die Aufstellung vom
Natui-gesetzen erst möglich. Die Voraussetzung der Möglichkeit
i) Seite mö.
2) Seite 398.
») Seite 414.
Die Erktnutnis d. IndivitlnalitHt ii. ihre wiwnschaftsthtvjiel. Grundlag«-n. 221
von Naturgesetzen kann nicht selbst ein Naturgesetz sein. I)hs
Kausalprinzip ist also kein Gesetz.
Für einen Kantianer ist diese Deduktion ungeheuerlich. Wer,
Hußor den» krassi-sten Krnpirisinns, hat jemals lurluuiptet, das Kausal-
prinzipsei ein Naturgesetz? Hickert schließt hier: Was kein Natur-
gesetz ist, ist kein Gesetz. Sollte der Transzendentalphilosoph die
Existenz metaphysischer — oder wie wir sagen — wissonschafts-
theoretischer Gesetze leugnen wollen?
Je weiter es geht, um .>^o schlimmer wii-d es l>ei Kickert. Ki
sagt: Jeder historische Kausalzusammenhang ist anders. V'öUiu
lichtig. Was aber folgert vr daraus? Historisch sei die einmalig»-
und individuelle Kausalität. Wie dieser Begriff der individuellen
Kausalität zwischen zwei als Ursache und Wirkung liezeichneten
Wirklichkeiten zu definieren sei, dafür »können wir uns jederzeit
auf ein Erlebnis Ijerufen«. Worin dies Band bestellt, »läßt sich viel-
leicht sehr schwer beantworten, aber wir brauchen gar nicht danach
zu fragen, solange wir nur den Unterschied naturwissenschaftlicher
»ind historischer Kausalität feststellen wollen «i).
Rickert macht es sich l>equem. Er definiert nicht einmal, was
er unter individueller Kausalität versteht, geschweige denn versucht
er auch nur den Schein einer Begründung. Er dekretiert sie ein-
fach als von naturwissenscliaft Heller Kausalität unterschieden. Nach
allen weiteren »braucht man nicht zu fragen«. Er dekretiert weiter,
der Satz der Äquivalenz von Ursache und Wirkung gelte für die Ge-
schichte nicht. Freilich vermag er auch dem elementarsten Einwand
nicht zu Ixjgegnen; er muß zugeben: die Darstellung historischer
Kausalzusammenhänge ist nur niit Hilfe von Begriffen möglich, die
einen allgemeinen Kausalljegriff oder ein Naturgesetz enthalten^).
Und er flüchtot sich lediglich in die phraseologische Behaupt\ing, die
wir schon kennen: es käme eben nicht auf die Elemente, sondern axif
ihre Zusammensetzung zum l)esonderen Fall für die (Tpschichto an').
Rickert ist derartig verwachsen mit seinem individuellen Kausal-
begriffe, daß er jedes andere Argument für die Besor\derheit einer
historischen Methode verwirft. So wendet er gegen die Hinein-
ziehung der Willensfreiheit ein, auch die historische Methode arbeite
an empirischem Material, in welchem die transzendentale Willens-
freiheit sich nicht geltend mache. Das Argument, die Zufälligkeit
des psychischen Geschehens Ijedinge eine besondere Erkennt nis-
methodo, weist er damit zurück, daß Zufall noch nicht Ursachlosig-
koit bedeute. Beides ist richtig; aber es beweist nichts zu seineu
Gunsten.
>) Seit© 420.
«) Soite 432.
>) Sohon .Max Süheler bat «iob goffpu dii* I>ogik Riokerts zur iodividuaUen
Kausalität gewandt (Dio tninszondcntalr und die }>«ychoIi)gische Methocli\ 1900.
S. 142 ff.) Wir selber behandeln das Prublem der individuellen Kausalität im
folgenden Kupitel zuttarnnu-nhangond
222 Über die wissenschaftstLeoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
Was folgt aus Rickerts Darlegungen für die Psychologie der
Individualität? Zunächst dies, »daß das geistige Leben Eigen-
schaften besitzt, die in höherem Maße als das physische Sein eine
historische Darlegung fordern «i). Ferner, daß die exakte Psycho-
logie niemals zum Hilfsmittel historischer Wissenschaft zu werden
vermag; jene ist systematisch, diese unsystematisch; jene ist natur-
wissenschaftlich, diese nicht. Historie kann also niemals in der
Psychologie aufgehen: um Psychologie zu sein, müßte Geschichte
Naturwissenschaft sein. Der Historiker ist Psychologe nur in dem
Siim, daß er Kenntnis von bestimmten individuellen Vorgängen
besitzt; er hat aber keine Veranlassung, diese Kenntnisse in eine
allgemeine Theorie umzusetzen. Somit bleiben zwei Arten von
Psychologie übrig: einmal die historische — die Fähigkeit indivi-
duelle psychische Vorgänge nachzuerleben. Zweitens die natur-
wissenschaftliche. Aber — und nun kommt die große Enttäuschung:
jene Fähigkeit des anschaulichen Erkennens individuell psychischer
Vorgänge ist nicht etwa historische Wissenschaft; sie ist nur Aus-
gangsmaterial für eine solche. Die individuelle Psychologie Rickerts
ist methodisch ihrem Wesen nach, wie Ricker t selber sagt, keine
Wissenschaft. Ihr fehlt die Beziehung auf einen Wert, in welche
die Geschichte ihre Objekte setzt. Diese Beziehung auf einen Wert
aber stellt das geistige Geschehen allererst, als Objekt besonderer
Geisteswissenschaft, dem nicht auf den Wert Beziehbaren gegenüber.
Für die Individualpsychologie, welche dauernd im Vorhof wissen-
schaftlicher Zulässigkeit zu verharren hat, gibt es auch nach Rickerts
Feststellungen kein wissenschaftliches Fundament.
8. Die Erkenntnis der Individualität und ihre Wissenschafts-
theoretisclien Grundlagen. Zweiter Teil.
Individualität und Typus; die idealtypische Begriffs-
bildung.
Rickerts Werk hat in den historischen und soziologischen Dis-
ziplinen ungeheuren Beifall gefunden. Die Gründe dafür liegen wohl
nur zum Teil in dem glänzenden Stil seiner Didaktik; zum größeren
Teil gehen sie darauf zurück, daß hier ein Werk vorlag, welches mit
hinreißender Unwiderstehlichkeit endlich die Pforte aufzutun schien
zur Erkenntnis dessen, was sich kraft seines Wesens aller Erkennt-
nis entziehen wollte. Wir haben gesehen, wie wenig eine exakte
Kritik von dem Bau Rickertscher Gedanken stehen lassen durfte.
Es hat auch schon vorher nicht an zahlreichen Bedenken gefeült;
und in zwei Richtungen war man bemüht, die von Rickert be-
tretene Bahn zu befestigen und zu sichern : Einmal hinsichtlich des
1) Seite S32.
Die ErkonntniH >]. Individualitiit u. ihre wiafl^nBchaftethoort-t. rjrundlagen. 223
Erfassens der Individualität als eines Typus; und zweitens hin-
sichtlicii dor Begründung der individuellen Kausalität.
Typus und Individualitat sind in der Tat keine prinzipiellen
Gegensätze. In welchem Sinne man den Bogriff dos Typus auch
anwende, immer fallen CJriippen von Individuen darunter, welche
hinsichtlich ihrer wesentlichen Merkmale irgendwie vergleichbar
sind. Und auch ohne logische Klärung des Begriffes eines Typus
und seiner Bildung liegt es nahe, den Typus als Denkmittel zum
Begriff der Individualität zu verwenden»). Schon Ricker t selber
hatte den Begriff des Typus andeutungsweise zur Erkenntnis des
Individuellen herangezogen. Und zwar nicht in dem bisherigen
biologischen Sinne eines variativen Durchschnitts, sondern in dem
eines oVorbildes«. Diese Fassung w^rde aufgegriffen und ausgebaut.
So meint Weber"): in allen historisch bedeutsamen Abläufen ist
ihre besondere Bedeutsamkeit nicht aus Gesetzen deduzierbar, son-
dern hängt an der qualitativen Färbung des Einzelvorgangs. Eine
psychologische Analyse nach Art der naturwissenschaftlichen würde
für das Wesen solcher Abläufe nicht mehr besagen, als etwa che-
mische Daten für die Biogenesc. Man könnte das Spezifische aus
ihnen nicht deduzieren; die Verständlicli machung von Grund und
-\rt dieser Bedeutsamkeit fehlte. Die Bedeutsamkeit eines Vorgangs
setze die Beziehung desselben auf einen Wert voraus. Sie falle daher
nicht mit dem Gesetz dieses Vorgangs zasammen. Historische
Erkenntnis aber sei die Erkenntnis einer in diesem Sinne bedeut-
samen Erscheinung. Unter den unendlich vielen Bedingungen eines
Phänomens sind nur diejenigen wissenswert, welche zu dieser seiner
Bedeutsamkeit in kausaler Beziehung stehen; also die Ursache seiner
»wesentlichen« Bestandteile; nicht das Gesetz, sondern der einzelne
individuelle Zusammenhang. Hieraus folgert er: es sei »Zurech-
nungsfrage«, welcher individuellen Konstellation ein Phänomen
seinem Zusammenhang nach angehört. Zur Beantwortung dieser
Frage müsse man eine entscheidende Abwendung vollziehen von
der Reduktion des Phänomens auf allgemeine, »inhalt leere« Gesetze.
Man müsse aus der Fülle der Phänomene »kraft der Wertideen«
das Moment, den »winzigen Bestandteil« herausheben,
»auf dessen Betrachtung es allein ankommt«'). Hier wird
ganz deutlich Rickcrt selber überwunden. Nicht mehr die
Erkenntnis des Individuellen wird auch nur angestrebt, sondern
es findet eine Restriktion statt auf die Erkenntnis des indivi-
duell Bedeutsamen, mag dies gleich nur einen »winzigen Bestand-
teil« dos Individuellen ausmachen. Die Bindung dieser Bedeutsam-
keit wird richtig als eine subjektive des Erkennenden aufgefaßt; sie
') Über dit< Grundfragen i^sycholoniM^her Typik und ihr theoretische« Funda-
ment tiiiU<Tn wir uns tTf^t spatvr S. 423 ff.
«) MrtxWfbor, Dicübjfktivität sozialwiiwenKshaftlichcr undeozialpolitiBchrr
ifirkcnntiii.x. Arch. f. Sozudwiysenjchaft. 1914. S. 22ff.
») Seit»' 50.
224 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
liegt in der Anerkennung bestimmter Wertideen. Folgerichtig
kommt Weber zu dem Satze : das »Persönliche « an wissenschaftlichen
Werken ist das allein Wertvolle. Dies mag sehr geistreich sein. Aber
dem Logiker liegt die Frage nahe, wie und wodurch bei dieser ent-
scheidenden Rolle des Persönlichen und Normativen — nicht für
die Genese, sondern für den Inhalt der Erkenntnis — der Charakter
der Wahrheit, der Erkenntnis, der Wissenschaft verbürgt
werde. Weber versichert, daß Wissenschaft vorliege; daß jene Er-
kenntnis trotz allem Persönlichen eine kausale sei.
Er sucht dies auch zu begründen. Er findet dafür eine besonders
sichere Quelle: ein »evidentes Verstehen« individueller Abläufe in
ihrer Individualität, im Gegensatz zu ihrer Erklärung (»Deduzier-
barkeit«) aus Gesetzen. Dieses Verstehen gehe aus auf die »Idee«
eines historischen Zusammenhanges, auf eine Utopie, die »durch
gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit ge-
wonnen ist«i). Es ist eine »Veranschaulichung« am »Idealtyp«.
Diese »idealtypische Begrif fsbildung « ist keine Hypothese, sondern
»ein Ausdrucksmittel der Darstellung«. Sie beruht auf einseitiger
Steigerung eines oder mehrerer Gesichtspunkte an Einzelerschei-
nungen. Sie ist ein rein idealer Grenzbegriff. Sie versucht histo-
risches Geschehen »in genetische Begriffe zu fassen«. Sie ist nicht
mit der Bildung von Gattungsbegriffen identisch.
Diese idealtypische Begriffsbildung ist auch bereits in die Psycho-
pathologie eingedrungen. Jaspers 2) hat dies auf sich genommen.
»Idealtypen sind umfassende Einheitsbildungen, die zwar bei Ge-
legenheit der Erfahrung, aber nicht durch die Erfahrung, vielmehr
aus wenigen gegebenen Voraussetzungen mit apriorischen Mitteln
konstruiert werden«. »Aus dem Wesen des Idealtypus ergibt sich,
daß sie zunächst gar keine empirische Bedeutung haben, daß sie
aber der Maßstab sind, an dem wir die wirklichen Einzelfälle messen.
Soweit diese dem Idealtypus entsprechen, begreifen wir sie. « »Wo
die Wirklichkeit dem Idealtypus nicht entspricht, fragen wir weiter,
woher das kommt; entspricht die Wirklichkeit aber völlig, so ist die
Erkenntnis auf eigenartige Weise befriedigt, und wir fragen nur
nach der Ursache des Ganzen.«
Auch hierbei ist wieder klar, daß der Sinn dieser Erkenntnisweise
nicht mehr die restlose Erkenntnis der Individualität ist, sondern
eine Erfassung des Wesentlichen an ihr. Dies wesentliche, not-
wendige, gültige, welches sonst das Gesetz einer Erkenntnis zu
verleihen pflegte, wird hier vom Idealtypus aus bestimmt. Dieser
ersetzt gleichsam das Gesetz in seiner logischen Funktion.
Aber die Ableitung dieses Idealtypus ist ein stümperhaftes lo-
gisches Flickwerk. Hier ist die Rede von einer Begriffsbildung,
welche auf Steigerung eines Merkmals beruht, unter Absehen von
i) Seite 64.
2) Allgemeine Psychopathologie. 1913. S. 270.
J>ic KiUi'imtiü.s (l liidividuiilitüt ii. ihn- wIsHcimchaftutlu'orft. Grundlagen. 213
dem C'hrigen und wcU-lu! dcMiuoch nicht Abatiaktiuii sein .-oll, nicht
zu Gattungslx?griffen führen soll! Hier ist die Rede von Begriffen
a priori empirischer CtcgenHtände! Hier ist die Rede von Begriffen,
woiclic ftwus »genetisch« fassen — einer Aufgalx*, welche bisher
tlom Kausalurteile vorbehalten war! \\ ir finden alle Rickertschen
Kohler vergrölx;rt wieder. Allen diesen Konzeptionen liegt seine
ominöse Verwechselung von Begriff und Gesetz zugrunde. Was
Weber unter genetischen Begriffen versteht, ist schleierhaft. Natür-
lich sind seine sogenannten idealtypischen Bcgriffsbildungen, logisch
i)etrachtct, ganz gewöhnliche Abstraktionen; und der iiistori.sehe
(Gesichtspunkt für die Bildung dieser Abstraktionen ist die »Be-
tleutsamkeit « des herausgehobenen Merknuils für einen subjektiven
vorausgesetzten Wert.
Ob so etwas in der Historie notwendig oder wünschenswert ist,
geht uns hier nichts an — die »Sachlichkeit Rankes scheint diese
Notwendigkeit .hinreichend zu widerlegen. Daß diese Mctiiode in
tlor Psychopathologie nichts zu suchen hat. ergibt sich schon daraus,
(laß diese keine Wertwissenscliaft ist und aucli kein Derivat einer
solchen, sondern ihrem idealen Ziel nach reine deskriptive und gene-
tische Theorie. Woher sollte denn der vorausgesetzte Wort, im
Hinblick auf den die einzelnen psychologischen Phänomene in jeweils
besonderer Weise »bedeutsam« sind, genommen werden? Aus der
Fithik, aus der Astlietik oder aus irgendeiner sozialen Teleologie?
im letzteren Falle wäre es also Sache des politischen Bekenntnisses,
Avie man letzten Endes psychopathologischc Typen fundierte! Und
auch im erstercn träte eine unerwünschte Relativierung und Sub-
jekt ivierung unserer Wissenschaft ein, die ihr jedes Kriterium des
objektiven Fortschrittes entzöge. Weber sagt ganz richtig, es sei
»Zurechnungsfrage«, wie man solche Typen bilde. In der Tat
verlieren die psychopathologischen Typen und sogar die Krankheits-
einheiten ihren Sinn als Ausdruck realer gesetzmäßiger Zusammen-
hänge; sie werden zur Sache des Gesichtspunktes; und seine Gesichts-
punkte hat l)ekanntlich jeder Mensch für sich. Der Sinn der Wissen-
schaft hört hier für unsere Arbeit auf zu bestehen.
Solche begrifflichen und methodischen Verirrungcn sind gerade
in der Psychopathologie begreiflich als Reaktionsprodukte auf die
Sterilität und die Trivialitäten einer nur auf die Elementaranalyse
gerichteten Exi>erimentalpsychologie. Man sollte alx?r das Kind
nicht mit dorn Bade ausschütten und sich von der naturwissenschaft-
lichen Arbeitsweise und ihrer logischen Fundierung überhaupt ab-
wenden, bloß weil eine einzelne Methode versagt.
Individuelle Kausalität und Gesetz.
Wenden wir uns nunmehr zur individuellen Kausalität.
Ivickert lohnte es ab, die kausal bedingte Voränderung gleich-
zusetzen mit der gesetzmäßigen Veränderung. Er hat hierin recht,
Kronu'lii. l'nyt'hiatrische KrkrnntnU. \ö
226 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
soweit diese Ablehnung nur besagen will, daß »das Allgemeine nicht
das Besondere ist «, daß also nicht der einzelne Fall dasselbe ist wie
die allgemeine Regel. Er irrt sich aber in der Konsequenz hieraus:
daß in einem Urteil, welches eine Kausalverknüpfung zweier Er-
eignisse behauptet, nur ein Urteil über den individuellen Vorgang
enthalten sein soll. Ist nämlich nicht nur von der Abfolge zweier
Ereignisse in der Zeit die Rede, sondern von ihrer kausalen Abfolge
als etwas notwendigem, so wird der Gedanke der Bewirkung des
einen Ereignisses durch das andere hinzugebracht. Dieser Gedanke
aber ist kein anderer als der der Gesetzmäßigkeit dieses Vor-
gangs, der Gedanke, daß unter gleichen Verhältnissen jeweils der eine
Vorgang den anderen zur Folge haben müsse. Die Behauptung
einer Gesetzmäßigkeit geht über eine Aussage bezüglich des indi-
viduellen einmaligen Vorgangs weit hinaus. Die Erkenntnis der
Gesetzmäßigkeit kann nicht lediglich den Beobachtungen beider
Vorgänge, nicht dem »Erleben« oder »evidenten Verstehen« ent-
nommen worden sein; wollen wir uns ihrer gesondert bewußt werden,
so kann dies in der allgembinsten Form nur geschehen durch das
Urteil: jede Veränderung hat eine Ursache, Dies Gesetz enthält
implizite auch den Grund der Möglichkeit für die Erkenntnis der
Kausalität des individuellen Vorgangs, den wir besonders beurteilen.
Die Tatsache, daß ich ein »Wirklichkeitsurteil« fälle, wenn ich jenes
individuelle Urteil fälle, beweist gar nichts gegen die Ge-
setzesnatur der darin ausgesagten kausalen Abhängig-
keit; denn die Gesetze gelten in der Wirklichkeit. Gewiß ist das
Gesetz, oder im Sinne Rickerts der Gesetzesbegriff, ein Abstrak-
tionsprodukt, ein Produkt der Wissenschaft; aber nur insofern, als
es in dem, wovon ich es abstrahiere, schon enthalten ist. Es
ist also mehr als ein bloßes Darstellungsmittel, wie Rickert immer
will; es ist so wirklich, wie die Wirklichkeit selber, in der
es gilt. Es ist also der Sinn des Kausalbegriffes, daß durch seine
Anwendung auf einen Einzelfall dieser Fall unter ein allgemeines
Gesetz gestellt wird. Der Begriff einer einmaligen Kausalität
enthält einen Widerspruch in sich selbst, wenn er besagen
soll, daß dieser Kausalität der allgemeine Geltungsanspruch fehlt
und nur individuell ist. Mit Recht sagt auch Bergmann in scharf-
sinnigen Erörterungen: Die Behauptung sei falsch, »daß eine volle
individuelle kausale Verknüpfung wie jede volle Wirklichkeit nur
zu erleben, aber niemals direkt wissenschaftlich darzustellen ist«i).
Daß eine volle Wirklichkeit nur zu erleben ist, trifft zu, wenn man
unter Wirklichkeit nur die anschauliche Wirklichkeit versteht. Aber
dann ist es falsch zu behaupten, die individuelle kausale Verknüpfung
verhielte sich wie diese »volle Wirklichkeit« der Anschauung. Denn
Kausalität wird eben nicht erlebt, sie wird gedacht und dem
Geschehen unterlegt, welches dadurch auf ein Gesetz bezogen
1) Der Begriff der Verursachung usw. Logos 1914. S. 94ff.
Die Erkenntnis d. liKiividuulit-a u. ihrr wi(is<ii.4clia(t8th<or<-t. < iran'Jla;;«n. 227
wird. Sobald wir von Kausalität sprechen, IiuIh.'!! wir die volle An-
Hchauuiigswirkliclikcit schon verlassen und Iwfinden un« in der
begrifflichen Bearbeitung der Anschauung. Und wenn es auch wahr
wäre, dali das Individuum nur anschaulich erkennbar und nicht
denkender Ki kennt nis erschlieübar sein könne, dann würde indivi-
duelle Kausalität abermals zu einem Widerspruch in sich selbst;
denn dieser Begriff des Individuellen würde kausale Erkenntnis der
Definition nach ausschlieUen.
Bergmann fragt mit Recht: warum soll das Individuum nicht
Gegenstand eines allgemeinen Urteiles sein? Die Struktur eines
solchen gibt keinen tJrund dafür, daß auch ein allgemeines Urteil
nicht auf einen einmaligen Vorgang Anwendung finden könnte. Die
Allgemeinheit eines Gesetzes bedeutet nur, daß es sich erfüllen muß,
falls die Bedingungen seiner Anwendung gegeben sind. Ob aber
diese Bedingungen jemals gegeben sind und wie oft sie gegeben sind,
ob einmal oder mehrmals, davon enthält das Gesetz nichts. Die
Allgemeinheit eines Urteils ist ein Bestandteil der Urtcilsform, das
individuelle Ereignis geht als Beurteiltes in die Urtcilsmaterie ein.
Daß ein allgemeines Urteil auf eine individuelle Materie geht, ist
durchaus nicht widersprechend; sagt es doch nur aus, daß sich diese
niemals anders verhalten wird, als wie dies das Urteil aussagt.
Individualität als kategoriale Erkenntnisform.
Damit ist denn auch die individuelle Kausalität abgetan. Und
so bleibt nur noch eine letzte Methode wissenschaftstheoretischer
Sicherung für die Erkenntnis des Individuellen übrig: nämlich die
Individualität selber als eine Erkenntnisgrundform un-
auflöslicher Art in den notwendigen Grundformen des Erkennens
überhaupt wissonschaftstheoretisch zu verankern. Meines Wissen
hat nur Driesch einmal einen Versuch in dieser Richtung unter-
nommen i). Driesch geht von dem gleichen Naturbegriff aus, den
wir selber haben. Natur umfaßt die Gesamtheit dessen, was Objekt
ist, oder sich auf Objekte bezieht. Es ist die Gesamtheit aller Fak-
toren raumzeitlichen Geschehens, nicht nur der räumlichen, wie er
ausdrücklich hervorhebt. Driesch folgert nun aus seinen biolo-
gischen Feststellungen, daß Natur nicht erschöpfend gekennzeichnet
wird, wenn man sie ein mechanistisches Syst.-m irgendwelcher Art
nennt; Natur ist jedenfalls nicht nur ein mechanistisches Sj'stem.
Alle diejenigen Faktoren, welche in der Natur wirken, ohne jedoch
selber räumlich zu sein oder eine Art von Energie darzustellen, be-
zeichnet er mit dem aristotelischen Terminus Entelechie. Er gibt
an, diese Entelechie sei nur denkbar, nicht vorstellbar, hypostaaiert
1) CbiT den Bej^riff Nntur. BiTicht üImt don dritten internationalen Kongreß
für Philosophie IIHKS. S. riU .119. Neuen« Werke d»s ausiiezeichneten Denker«
und Forscher.s, in welchen er die.scn Versuch vielleicht ausgebaut hal>«'n könnte,
waren mir leider nicht zug&nglich.
15»
228^%Übcr die wissenachaftstheoretisclicn C4rundlagen der Psj'cbologie nsw.
aber ihre Wirklichkeit für die Biologie auf Grund empirischer Daten.
Sodann aber fährt er fort^) : »Es kommt die positive Rechtfertigung
dazu : es kann gezeigt werden, daß es neben den Kategorien der
Substanz-Inhärenz und der Kausalität eine dritte gleichberechtigte
Relationskategorie gibt; nicht Wechselwirkung, wie Kant wollte,
sondern Individualität. Finalität würde eine besondere Unterart
dieser Kategorie sein. Ohne den Besitz der Individualitätskategorie
würde es unmöglich sein, über aus Teilen zusammengesetzte Ganz-
heiten Erfahrung irgendwelcher Art zu machen.
»Die neue Relationskategorie, Individualität, ist, um kantisch
zu sprechen, ebenso konstitutiv wie die Kategorien Substanz und
Kausalität, und nicht etwa nur regulativ . . . Wie wir auf die Kate-
gorie Substanz und Kausalität Faktoren des Wirklichen gründen . . .,
ganz ebenso gründen wir auf die Individualität Faktoren des Wirk-
lichen . . . Anders gesagt: die Kategorie Individualität eilaubt uns
gewisse Faktenreihen der Gegebenheit zu »verstehan«, und diesem
Verstehen wird durch Schöpfung der Entelechie als eines Gegeben-
heitsfaktors Ausdruck verliehen . . . Freilich ermangeln alle auf die
Individualkategorie gegründeten Wirklichkeitsfaktoren nicht nur
jeder Anschaulichkeit, sondern sie ermangeln auch jeder Räumlich-
keit, sogar des bloßen Ortes . . . «.
Hierwider ist Driesch eingewendet worden, er müsse diese bloße
Behauptung, die Individualität sei die wahre dritte Relationskate-
gorie, und Kant habe mit seiner Einsetzung der Wechselwirkung
geirrt, auch methodisch auf dem gleichen Wege begründen,
den Kant zur Auffindung der Kategorien aus der Tafel der logischen
Urteilsformen gebahnt hatte. Driesch muß entweder nachweisen,
daß Kants transzendentaler Leitfaden falsch ist, oder daß sich Kant
bei seiner Anwendung geirrt hat. Driesch deutet das letztere an,
wenn er 2) erklärt, die Kategorie der Individualität »lasse sich sehr
wohl deduzieren aus der Tafel der Urteile, wenn man nur die Gruppe
der hypothetischen Urteile (wenn . . .) gehörig klassifiziert (weil,
damit usw.)«.
Mit diesem Einwand scheint aber Driesch die logischen Urteils-
formen mit den grammatischen zu verwechseln. Das deuten die
eingeklammerten Konjunktionen offensichtlich an. Eine positive
Begründung der Kategorie der Individualität im K an tischen Sinne
hat Driesch bisher jedenfalls noch nicht gegeben. Auch schlägt
er das Bedenken zu leicht an, welches daraus folgt, daß seiner eigenen
Angabe nach dieser angeblichen Kategorie der Individualität jeder
anschauliche Schematismus mangelt. Was nützt mir eine Erkenntnis-
grundform des Naturgeschehens, wenn diese gar keine Möglichkeit
der Anwendung auf das Naturgeschehen bietet!
1) Seite 515.
2) Seite 523.
Die ErktiuitiiiB (.1. Indi\idtialitüt ii. ihi<- \v. tBtLeorct. <;ru:. _'"29
Die Lösung dos Individualitütsprublems.
Nach allfu diesen Wegen und Irrwegen steht da.s Prtjblein der
Erkenntnis des individuellen nunmehr folgenderniaüen : Wir haben
nachgewiesen, daß irgendeine wissenschaftstheoretische
Möglichkeit der Erkenntnis des Individuellen neben oder
jenseits der von uns bisher festgelegten Wissenschaftstheorie, nach
welcher das Individuelle ein Teil der Naturobjektivität und daher
unter den Gesetzen der Naturerkcnntnis allein zu erfassen ist, nicht
besteht. Wir haben nachgewiesen, daß, wenn es überhaupt einen
Weg zur Erkenntnis des Individuellen geben kann, dieser Weg
nur der der Naturerkenntnis sein kann. Wir haben nach-
gewiesen, daü die Fassung des Individualitätsbegriffs, soweit sie dessen
Wesen in der unübersehbaren Maiuiigfaltigkeit der zufälligen Zu-
sammensetzung aller Goschehonsbedingungen begründet, die Er-
kenntnisaufgabe der Naturwissenschaft in bezug auf das Individuelle
zu einer unvollendbaren, aber methodisch nicht grund-
sätzlich von der theoretischen Erklärung unterschiedenen
macht. Wir haben aber einen Begriff des Individuellen als möglich
hingestellt, wonach es im W'esen des Individuellen liege, einzig zu
sein, wenn auch nicht hinsichtlich seiner begrifflichen Wirklichkeit,
so doch hinsichtlich seiner qualitativen Tatsächlichkeit.
Für diesen Individualitätsbegriff liegt noch eine letzte Schwierigkeit
vor hinsichtlicli seiner wissenschaftlichen Aufloslichkeit in Gesetzen;
ihr widmen wir noch einige Schlußworte.
Es wird sich nämlich nicht gut leugnen lassen, daß dieser Begriff
von Individualität mehr oder weniger deutlich auf alle einzelnen
Naturobjekte zutrifft, so wie sie zeitlich und im Raum erscheinen.
Aber hier muß unterschieden werden : Inwieweit ist diese Einmalig-
keit und Einzigartigkeit für das betreffende Naturobjekt ein zu-
fälliges, außerwesentliches, inwieweit ist es ein konstitutiv
wesentliches Merkmal? Ein Kriterium dafür, oö individuelle
Eigenschaften an einem Naturvorgang oder -objekt — und ein solches
ist auch die menschliche Persönlichkeit — zufällig oder nicht zu-
fällig sind, ist zunächst die Vergleich bar keit des betreffenden Vor-
gangs oder Objekts mit anderen ähnlichen. Wir wissen, daß diese
Ähnlichkeiten, die Vergleichung erlauben, in der Natur außerordent-
lich weit gehen. Soweit die Vergleichbarkeit möglich wird,
soweit ist die Anwendung von Gesetzen möglich. Zwar
untersteht auch das Unvergleichbare dem Naturgesetz, aber dies
Naturgesetz ist empirisch nicht auffindbar. Nun wissen
wir aber: grundsät zlitli wird, wenn auch nicht das Ganze, so doch
jeder einzelne Teil innerhalb der Objektwelt irgcndeinmal gesetz-
mäßig vei-standen worden. »Die Naturwissenschaft hat hier keine
Schranke. Daraus folgt für das einzelne Naturgeschehen oder Natur-
objekt: Der Anteil des Vergleichbaren an ihm wird sich
grundsätzlich immer weiter ziehen lassen. Der indivi-
230 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
duelle Rest des noch nicht Vergleichbaren wird immer
kleiner werden.
Hieraus folgt: in diesem stetig sich verkleinernden Rest von
Unvergleichbarem kann das Wesen des Individuellen nicht liegen.
Dieser ganze Abriß ist ja nichts als eine neue Wendung des alten
Gedankengangs von der Un vollendbar keit empirischer Erkenntnis.
Es ist in bezug auf diese Erkenntnis, in bezug auf den Anteil des
Vergleichbaren, bereits Naturgesetzen Unterstellbaren an Natur-
objekten und Vorgängen rein zufällig, wieweit sie in dieser Hin-
sicht noch individuell und unauflöslich, wieweit sie schon unter Ge-
setze zu bringen sind. Wenn wir also vom Wesen der Individualität
sprechen, so kann dieser durch den Stand unserer Erkennt-
nis begrenzte zufällige Charakter des Unvergleichbaren,
zeitlich und örtlich Einmaligen nicht gemeint sein. Das
Wesen des Individuellen, soweit es sich auf seine faktische quali-
tative Eigenart bezieht, aber als notwendig und konstitutiv er-
faßt wird, muß vielmehr liegen in der besonderen Synthese
verschiedener naturgesetzlicher Bestimmungen, deren Schnitt-
punkt gerade das hie et nunc bestehende Einzelne nicht
als ein zufälliges, sondern als ein so besonders Bestimmtes
und Notwendiges erscheinen läßt. Es ist also — im Gegensatz
zu allen bisherigen Auffassungen von Individualität, gerade der
gesetzmäßige Charakter, das besondere Zusammentreffen einer
Vielzahl von Gesetzen in bezug auf die Einheit eines Vor-
gangs oder Zustandes, welches diese Einheit als eine not-
wendige erscheinen läßt, dasjenige was das wahre Wesen der
Individualität ausmacht. Nicht die empirische Einmalig-
keit und Unvergleichbarkeit, sondern notwendige Einheit in
einem Naturvorgange oder Objekte als eine gesetzmäßig be-
stimmte, als ein Schnittpunkt einer Vielzahl von Gesetzen, — nicht
das zufällige Sosein, sondern die Notwendigkeit des gerade
Sosein müsSens als Naturobjekt macht seinen individuellen
Charakter aus. Und dieser individuelle Charakter transzendiert
durchaus nicht über die Naturerkenntnis, er setzt die
Erkenntnis von Naturgesetzen zu seiner Möglichkeit erst
voraus. Wir werden später zu zeigen haben, wie vom Begriff
des gesetzlich bestimmten Einzelfalles über den Begriff
des Typus zum Begriff des Gesetzes selber eine Kette logi-
scher und methodologischer Notwendigkeiten führt.
Damit schalten wir die Irrationalität des Individuellen aus. Wir
leugnen sie nicht im Sinne einer unvollendbaren Aufgabe für die
Erkenntnis, aber soweit diese Aufgabe unvollendet ist, betrachten
wir das irrationale Moment als nach Art und Umfang zufällig. Wir
behaupten im Gegensatz zu diesem Begriff des Individuellen aber
gerade einen zweiten, welchem die völlige Rationalität zum
konstitutiven Merkmal wird; dieser ist kein anderer als der
der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen, die vom
Bemorkungcn zum Probl'm der Willf-nafreiheit ii.-w. 231
Gesetz l)e8timmt ist. Ihre Erkenntnis ist aber durchaus nicht un-
voUondbar; sie ist methodisch und sachlich gesichert und
voni Oeltungswert echter naturwissenschaftlicher Kr
kenntnis.
y. ßemerkunßtMi zum rrobleiii der Willensfreiheit und ihrer
Vereinbarkeit mit der Naturbestininitheit psychischen
Geschehens.
Psychologische und transzendentale Freiheit.
Nur ein Moment ist es noch, welches im Anschluß hieran eine
besondere Klärung erfordert, ehe wir das Kausalproblem und damit
die Wissenschaftstheorie des Psychischen verlassen können: es läßt
sich zusammenfassen in dem Problem vom Eingreifen der
Willkür in den Zusammenhang der seelischen Abläufe. Diese Will-
kür hat die verschiedensten Benennungen und Theorien gezeitigt :
»das Ich«, »der Wille«, »der Verstand«, »die Tatkraft« — etwa*?,
was unter all diesen Benennungen verstanden werden soll, greift
in das psychische Geschehen irgendwie zielrichtend ein. Es richtet
»die Aufmerksamkeit« auf bestimmte Materien, es bedient sich
reflektioneller Akte und reproduktiver Funktionen in einer Weise,
die durch den bloßen naturbestimmten Fortgang des Geschehens in
der Seele gar nicht beeinflußt zu werden scheint, es erzwingt Ent-
schließungen und Handlungen, welche den Triel^en und Interesse-
tendenzen nicht nur nicht zu unterliegen scheinen, sondern direkt
zuwiderlaufen können. Was ist dies für ein Moment des Seelischen ?
Seiner theoretischen Bestimmung innerhalb des seelischen Ganzen
nmß eine l)esonderc Untersuchung gewidmet werden. Dabei wird
es sich nicht vermeiden lassen, sowohl an das Problem der Willens-
freiheit im psychologischen Sinne als auch an die Frage der Freiheit
des Menschengeistes überhaupt und ihrer Vereinbarkeit ^ mit der
kausalen Determination alles Naturgeschehens, auch des psychischen,
kurz zu rühren.
Auch l)ei der Berührung dieser Frage werden wir es uns zur Richt-
schnur machen, so präzise und exakt wie möglich zu sein und uns
genau ül)er die Grenzen klar zu werden, innerhalb deren sich un.sere
wissenschaftlichen Aussagen bewegen können und sollen. Alles
Eingehen auf die Fülle der Behauptungen, Konjekturen, Dogmen,
Konstruktionen und Fragestellungen, weiche eine wahre Hociiflut
pliilosophischer Literatur auf diesem Gebiete seit dem hellenischen
Altertum mit sich gebracht hat, werden wir vermeiden. Einen
methodologischen Führer durch das Ljibyrinth von Erkenntniskritik
und SjK'kulation, welches sich mit der Frage der menschlichen Frei-
heit auftut, besitzen wir, wie wir ihn sicherer und behutsamer uns
nicht zu wünschen vermögen: es ist ein Gedankengang meines Lehrers
232 Über die wissei)Scliaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
lind Freundes Leonard Nelson, eine seiner schönsten Geistes-
taten, tiefsinnig und exaktwissenschaftlich zugleich i); an diesen
wollen wir uns aufs engste anlehnen.
Wenn wir von Willkür und Freiheit im Seelenleben reden, so
müssen wir zwei Begriffe scharf auseinanderhalten: den Begriff der
transzendentalen^) Willensfreiheit einerseits, den der psycho-
logischen Freiheit, wie Kant sagt, andrerseits. Die psychologi-
sche Freiheit besteht in der Möglichkeit so zu handeln, wie man
will. Der Begriff der psychologischen Freiheit besagt also weiter
nichts als die Abhängigkeit eines Geschehens von einem Wollen.
Diese Abhängigkeit eines Geschehens von einem Wollen ist eben
dadurch die Abhängigkeit eines Geschehens von einem anderen
' Geschehen, nämlich dem Vollzuge der Willensfunktionen. Insofern
liegt dasjenige, was hier psychologisch Freiheit genannt wird, ganz
im Bereich der Naturnotwendigkeit, und es wird zu ihr keine
Unabhängigkeit von der Notwendigkeit des Müssens erfordert; han-
delt es sich doch bloß um eine bestimmte Art des Müssens. Wir
bezeichnen also, wenn wir die psychologische Willkürlichkeit eines
Geschehens behaupten, nur eine bestimmte Art der Ursache des
Geschehens, nämlich ein Geschehen, welches dadurch verursacht ist,
daß wir es wollen. Ob dieses Wollen seinerseits ursächlich bedingt
ist oder nicht, diese Frage wird hierbei noch nicht berührt. Mag
dies der Fall sein oder nicht: daß dies Wollen die Ursache für ein
anderes Geschehen ist, ist davon unabhängig, wie dies Wollen selbst
verursacht ist und ob es verursacht ist. Im Gegensatz hierzu be-
deutet die transzendentale Freiheit die Unabhängigkeit meines
Wollens von der Notwendigkeit eines Müssens. Also: ein Geschehen
ist willkürlich oder psychologisch frei, wenn es nur von meinem Willen
abhängt, ob es stattfindet oder nicht. Welches aber die Ursache
dieses Willens ist und ob es für diesen Willensentschk;ß überhaupt
eine Ursache gibt, diese Frage betrifft nicht die psychologische Frei-
heit, sondern die transzendentale. Über diese Unterscheidung muß
man sich zunächst völlig klar sein.
Die Antinomie von Freiheit und Gesetz.
Man kann den Unterschied der psychologischen von der trans-
zendentalen Freiheit auch so fassen, daß jene die Unabhängigkeit
von äußeren Ursachen, diese die Unabhängigkeit von Ursachen
überhaupt in sich begreift. Aus der Verwechselung dieser beiden
1) Kritik der praktischen Vernunft. 1917. Postulate der Anwendbarkeit des
Sittengesetzes. S. 280, 295 ff.
2) Unter dem Terminus transzendental verstehen wir mit Kant »den Gnind
der MögHchkeit des Apriori«. Die hier gemeinte Freiheit heißt transzendental,
weil sie den Grund der Möglichkeit sittlichen Handelns gibt, ein Postulat der An-
wendung des Sittengeszes (das a priori gilt) ist. Der Terminus transzendental
sagt nichts aus über die ModaHtät dessen, wovon er prädiziert wird; die transzen-
dentale Freiheit kann also, trotz ihrem transzendentalen Charakter, empiri.sch sein.
I'cmcikungi 11 /.um rrubk-m du Willtnufrcüi- >-. u.-m. _33
Begriffe von Froiheit erklären sicli die vielen verfohlten Stellung-
nahmen, die wir in der philortophi.schen Literatur vorfinden. Kh
ergeben sich nämlich aus dieser Verwechselung folgende zwei Mög-
lichkeiten. Erstens: die Verwechselung besteht darin, daß man die
bloüo Willkürlichkeit des Handelns schon als transzendentale Freiheit
nimmt; dann muü man folgern, daß die Fähigkeit, zu wollen, Inireits
die Schranken der Naturnotwendigkeit ülwrschreitet . Daraus folgt
dann der Fehlschluß tles gewohnlichen Indeterminismus,
daß das Faktum der Willkürlich keit des Handelns bereits an sich
die transzendentale Freiheit des Ganzen beweise. Zweitens: Man
geht von der Unmöglichkeit der Freiheit in der Natur aus. Psychi-
sches Geschehen ist ein Naturge.schehen. Daraus folgt der Schluß,
daß willkürliches Handeln unmöglich ist, und eine leere Fiktion des
Erlebens bedeutet. Dies ist der gewöhnliche Fehlschluß des
Determinismus.
Diese Antinomie besteht also in der wechselseitigen Ausschließung
der Voraussetzungen der Freiiieit einerseits und der Naturgesetzlich-
keit alles Geschehens andererseits. Freiheit schließt Gesetzlichkeit
des Geschehens aus, letztere führt zur Unmöglichkeit von Freiheit.
Logische Zergliederung der Voraussetzungen der
Antinomie.
Aus einer Prämisse allein ist aber kein Schluß möglich. Es
kann daher weder aus dem Postulat der Freiheit allein auf die Un-
gesetzlichkeit des Geschehens, noch aus der Gesetzlichkeit des Ge-
schehens allein auf die Unmöglichkeit der Freiheit geschlossen werden.
Es müssen also in jedem dieser beiden Schlüsse noch andere Vor-
aussetzungen enthalten sein. Diese wollen wir genau bestimmen.
Was behauptet das Postulat der Freiheit? Offenbar, daß die
Naturgesetze nicht hinreichen, um das Geschehen zu bestimmen.
Was behauptet andererseits die Naturgesetzlichkeit alles Geschehens?
Offenbar, daß die Naturgesetze für alles Geschehen uneingeschränkt
gelten.
Wenn daher von dem Postulat der Freiheit auf die Ungesetzlichkeit
des Geschehens geschlossen wird, so ist dieser Schluß nur unter der
weiteren Voraussetzung möglich, daß die Naturgesetze nur insofern
uneingeschränkt gelten, als sie auch hinreichend sind, um das Ge-
schehen zu bestimmen. Diese zweite Voraussetzung besagt also,
daß die Naturgesetzlichkeit alles Geschehens dessen vollständige
Bestimmtheit durch die Naturgesetze einschließt.
Weini dagegen aus der Abhängigkeit alles Geschehens von Natur-
gesetzen gefolgert wird, daß die Naturgesetze hinreichend sind, um
das Geschehen zu bestimmen, so daß Freiheit unmöglich wird, —
so liegt bei diesem Schlüsse dieselbe Voraussetzung vor wie lx;i den
erstgenannten. Daß nändich das CJeschehen, sofern es unter Natur-
gesetzen steht, durch sie vollständig bestimmt sein muß.
234 Über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie usw.
iSchließt die Naturgesetzlichkeit des Geschehens dessen
vollständige Bestimmtheit ein?
Diese zweite Voraussetzung ist es, vermittelst derer das
erste Mal von der Gültigkeit des Vordersatzes auf die des Nach-
satzes geschlossen wird, vermittels derer das zweite Mal aber von
der Ungültigkeit des Nachsatzes auf die Ungültigkeit des Vorsatzes
geschlossen wird.
Um diese Frage zu entscheiden, müssen wir das logische Ver-
hältnis zwischen dem Vordersatz und dem Nachsatz dieser Voraus-
setzung untersuchen. Wir müssen uns fragen, ob der Nachsatz
logisch aus dem Vordersatz folgt. Wenn dies der Fall sein sollte, so
müßte die Verneinung des Nachsatzes mit dem Vordersatz in Wider-
spruch stehen. Es müßte also die Annahme, daß das Psychische
durch die Naturgesetze nicht vollständig bestimmt ist, im Wider-
spruch stehen mit der Naturgesetzlichkeit alles Geschehens.
Dies ist nun aber keineswegs der Fall. Rein logisch wider-
spricht der Behauptung der Gesetzlichkeit des Geschehens nur die
Behauptung der Ungesetzlichkeit des Geschehens. Nun kann zwar
ein nichtgesetzliches Geschehen auch nicht durch Gesetze vollständig
bestimmt sein; wohl aber kann das Geschehen unter Gesetzen stehen,
ohne durch diese Gesetze vollständig bestimmt zu sein. Wenn es
nämlich positiv nicht durch Gesetze bestimmt ist, so braucht es
darum noch nicht überhaupt ungesetzlich zu sein. Mit anderen
Worten, wenn die notwendige Bedingung eines Geschehens seine
Gesetzmäßigkeit ist, so braucht dies noch nicht zugleich seine hin-
reichende Bedingung zu sein.
Nelson bestätigt diesen Gedankengang daran, daß die Natur-
gesetze zwar die Abfolge eines Vorganges aus dem vorhergehen-
den bestimmen; daß aber kein Naturgesetz uns unmittelbar etwas
darüber sagt, welcher Art der vorhergehende und so auch der
folgende Zustand ist. Diese Feststellung über die wirkliche Existenz
eines Zustandes gibt uns nur die Beobachtung.
Man kann dies auch so darstellen: wenn alles Geschehen unter
Naturgesetzen steht, so kann es in keiner Hinsicht zufällig sein.
Denn zufällig nennen wir das, was nicht mit Notwendigkeit bestimmt
ist. Gehen wir davon aus, daß das, was wirklich geschieht, auch
notwendig so geschieht, wie es geschieht, dann können wir aller-
dings behaupten, daß durch die Gesetzmäßigkeit des Geschehens
alle Zufälligkeit ausgeschlossen ist. Dann ist alles Geschehen schon
eindeutig und vollständig durch die Gesetze bestimmt.
Nun gehen wir tatsächlich von der Vorstellung aus, daß es in der
Wirklichkeit keine Zufälle geben kann. Wenn wir etwas als zufällig
bezeichnen, so behaupten wir nicht, daß es an sich unbestimmt sei,
sondern nur, daß wir seine Notwendigkeit nicht einsehen.
Wo wir also vom Zufall sprechen, tun wir dies nur mehr mit Bezug
auf unsere Erkenntnis. Nicht das Sein an sich ist zufällig, sondern
Bemerkungen zum Prol*l<in (1<t Willirmfn-ih'it u«w. "^35
wir setzen voraus, daß an sicli nichts wirklich ist, was nicht auch
notwendig so ist, wie es ist. Nicht dem (Jegenstand, der wirklich ist,
kann die Notwendigkeit seines Seins fehlen, sondern nur una die
!*]rkeimtnis dieser Notwendigkeit.
Nun folgert Nelson weiter: Diese Feststellung ist ihrereeita
wieder nicht logisch selbst verständich. Es liegt nicht im Begriff
des Wirklichen, daU es auch so, wie es ist, notwendig ist. Der Begriff
der Notwendigkeit ist vielmehr ein eigener, von dem der Wirklichkeit
unabhängiger Begriff. Wenn wir also behaupten, daß der Zufall
nicht aus sich bestehen kann, sondern nur in einem Mangel unserer
Erkenntnis besteht, so machen wir damit eine besondere, logisch
nicht selbstverständliche Voraussetzung. Und nur vermittels dieser
logisch nicht selbstverständlichen Voraus.'^etzung können v^nr \)e-
haupten, daß die Gesetzlichkeit alles Geschehens seine vollständige
Bestimmtheit einschließe. Denn ein Geschehen, welches durch die
Naturgesetze nicht vollständig bestimmt wäre, bleibt insofern zu-
fällig.
Aber noch eine zweite Voraussetzung ist notwendig, um von der
Behauptung der Gesetzmäßigkeit hin zu derjenigen der vollständigen
Bestimmtheit des Naturgeschehens zu gelangen. Aus dem Satze:
Das an sich Wirkliche kann in keiner Hinsicht zufällig sein, —
folgt der Schluß: das Naturgeschehen kann in keiner Hinsicht
zufällig sein — nur unter der stillschweigenden Hinzunahme dieser
zweiten Voraussetzung: daß das Naturgeschehen etwas an
sich Wirkliches sei. Auch diese Voraussetzung ist logisch durch-
aus nicht selbstverständlich, denn sie behauptet nichts anderes, als
die Unabhängigkeit des Naturgeschehens von unserer Erkenntnis —
eine Behauptung, welche sich mit rein logischen Mitteln nicht be-
gründen läßt ; denn wir können sie verneinen, ohne auf einen logischen
Widerspruch zu geraten.
Nelson faßt hiernach zusammen: Die Ausschließung der Zu-
fälligkeit des Naturgeschehens enthält zwei allgemeine, logisch nicht
selbstverständliche Voraussetzungen: Erstens: daß das an sich
Wirkliche nicht zufällig sein kann, und zweitens, daß das Natur-
geschehen etwas an sich Wirkliches ist.
Die Auflösung der Antinomie.
Greifen wir jetzt auf unsere Antinomie zurück. Man sieht nun,
daß die Schlüsse, auf denen sie beruht, durchaus nicht logisch zwingend
sind. Wenn man nämlich eine von den genannten beiden stilLjchwei-
genden Voraussetzungen aufhebt, so kann man die beiden aus-
gesprochenen Prämüssen, von denen die Antinomie ausging, wider-
spruchslos vereinigen. Wir köiuien also das Postulat der transzen-
dentalen Freiheit und die Voraussetzung der Naturgesetzliohkeit
alles Geschehens widerspruchslos vereinigen, wenn wir einen dritten
Satz aufgeben, nämlich entweder den, daß das an sich Wirkliche
236 Über die wissenschaftstheoretischeu Grundlagen der Psychologie usw.
nicht zufällig sein kann, oder den, daß das Naturgeschehen etwas
an sich Wirkliches ist. Mithin ist dargetan, daß jene Antinomie
zwischen Determinismus und Indeterminismus logisch nicht zwingend
ist. Das Postulat der transzendentalen Freiheit bedeutet also keinen
logischen Widerspruch zu der Voraussetzung einer Naturwissenschaft,
welche in der Naturgesetzlichkeit alles Geschehens besteht.
An dieser Stelle mehr zu sagen und Nelsons Gedankengang
weiter zu verfolgen, ist für unseren wissenschaftstheoretischen Zweck
nicht notwendig. Indem wir die widerspruchslose logische Verein-
barkeit des Postulats der transzendentalen Freiheit mit der Natur-
gesetzlichkeit alles Geschehens erwiesen haben, haben wir ein Gebot
wissenschaftstheoretischer Klarheit erfüllt, welches uns auf die
Schranke gesetzmäßiger Erkenntnis überhaupt hinweist. Für unsere
psychologische Aufgabe aber haben wir uns innerhalb dieser
Schranken, innerhalb der Sphäre des Geschehens zu bewegen, inso-
fern es naturgesetzlich bestimmt und bestimmbar ist. Diejenige
Freiheit, welche wir hier in der Seele anzutreffen vermeinen, ver-
mögen wir mit diesen Erkenntnis mittein nur aufzufassen als die
psychologische Freiheit, die Freiheit zu handeln wie das Wollen es
bestimmt. Das Wollen sowohl als auch seine Wirkung im Handeln
fallen damit unter die Objekte naturwissenschaftlicher
Erkenntnisweisen; und diese Freiheit, welche die bloße Willkür
des Handelns zum Ausdruck bringt und deren Erscheinungsweisen
sich aus der Phänomenologie und Theorie der wollenden Funktionen
werden entwickeln lassen, liegt auch schon unterhalb der Sphäre
wissenschaftstheoretischer Feststellungen. Diese Freiheit ist, wie
Kant einmal bemerkt, nur die Freiheit eines Bratenwenders, der,
wenn er aufgezogen ist, sein Geschäft von selber verrichtet.
Proh'j^oim'iiji zur all^eiiK'iiM'ii Psychiatrir als
strcii^rr Winseiischaft.
J)ie allgemeine Psychiatrie und die psychiatrische Gesamt-
forschung.
Wenn wir es unternohmen, im folgenden die Grundlinien der all-
gemeinen Psychiatrie zu entwickebi, so drängt uns dazu die Erkennt-
nis von der unumgänglichen Notwendigkeit, innerhalb des Ganzen
psychiatrischer Forschung einen grundsätzlich neuen, anderen
liegriff von allgemeiner Ps3'chiatrio. zur Verwirklichung bringen zu
müssen, als ihn die bisherige Literatur, so reich an Lehrbüchern und
tSynopsien sie ist, zur Geltung gebracht hat. Angesichts der über-
wältigenden Fülle didaktischer Werke, in welchen die Geistesarbeit
von zwei Generationen bedeutender Forscher zusammengefaßt wird,
erscheint es vermessen, ein neues Unternehmen mit dem Anspruch,
das Lehrgebiet der Psychiatrie in Ix^stimmter Form neuer und rich-
tiger zu vermitteln, als dies bisher geschah, in die Welt zu setzen.
Und besonders schwer muß das Gefühl der Verantwortung für eui
solches Unterfangen zu einem Zeitpunkt sein, wo die Forschung
selber in allen ihren Einzclzweigen ein Entwicklungsstadium durch-
macht, in dem sich eine ordnende Zusammenfassung ihrer Methoden
liud Ergebnisse von selber zu verbieten scheint.
Wenn im folgenden diese ordnende, didaktische Zusammenfassung
eines Teilgebietes der Psychiatrie dennoch wenigstens begonnen wird.
so besteht hierfür mir eine einzige, aber zwingende Rechtfertigung:
Es wird über da* Wesen der Psychiatrie als Wissenschaft, über ihre
(irundlegung und Methodologie prinzipiell neues gesagt werden; und
dieses Neue wird von bestimmendem Einfluß auch auf die syste-
matische und didaktische Bearbeitung der materialen Bestände
psychiatrischer Forschung sein.
Nicht als ob die Gesichtspunkte, für deren systematische An-
wendung wir den Charakter der Neuheit in Anspruch nehmen, sich
nicht schon in Arbeiten und Werken einzelner hervorragender älterer
und jüngerer Forscher fänden. Aber wo sie sich fanden, blieben sie
in Vereinzelung und ohne die sj-stematischo und methodische An-
wendung, welche wir im folgenden zu gelnm die Absicht hal>en.
Als Aufgabe der allgemeinen Psychiatrie Iwt rächten wir die Grund-
logung, Sicherung und Begrenzung des Erkenntnischarakters und der
Wissenschaftlichkeit psychiatrischer Forschung überhaupt.
238 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatric als strenger Wissenschaft.
Das Thema dieser Untersuchung schließt also die Voraussetzung
in sich, daß die Grundlagen der Psychiatrie als Wissenschaft
ein Problem bilden. Indem sie die Lösung dieses Problems in
Angriff nimmt, setzt sie dieses Unternehmen mit dem Begriff
einer allgemeinen Psychiatrie gleich.
Die Berechtigung der Voraussetzung, daß die Grundlagen der
Psychiatrie als Wissenschaft nicht feststehen, sondern problematisch
sind, wird durch die folgenden Untersuchungen eingehend dargetan
werden. Es darf übrigens als hinlänglich bekannt vorausgesetzt
werden, daß diese Problematik von der Mehrzahl der Verfasser di-
daktischer Werke in der Psychiatrie erfaßt worden ist; worauf sich
dann alsbald das Schauspiel abzuspielen pflegt, daß jeder dieser Au-
toren es unternimmt, diese Problematik auf eigene Faust in der Ein-
leitung zur materialen Darstellung gleichsam en passant und neben-
bei zu »erledigen « — durch irgendeine unausgegorene psychophysische
oder sonstige Konzeption i).
Indessen um diese Problematik, der das ganze vorliegende Werk
sich widmet, handelt es sich uns hier nicht. Zunächst ist die andere
Berechtigung zu erweisen, daß nämlich eine derartige Untersuchung
über die Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen der Psychiatrie als
Wissenschaft gleichgesetzt werden dürfe mit dem Inbegriff des Wissens-
gebietes, welches bisher als »allgemeine Psychiatrie« bezeichnet
worden ist.
Lassen wir es noch dahingestellt, inwieweit die Psychiatrie den
Anforderungen und Kriterien der Wissenschaft überhaupt bisher zu
genügen vermocht hat, so ist doch soviel sicher, daß diese als Wissen-
schaft auftretende Lehre ihrer Natur nach keine theoretische
Disziplin, sondern daß sie eine praktische, angewandte Wissen-
schaft war und sein wollte. Und ferner ist klar, daß die Psychiatrie
in diesem wissenschaftlichen Gewände nicht auf Prinzipien und
Maximen, Grundsätze und Methoden eigenen Wesens aufgebaut,
nicht autologisch war, sondern daß sie sich auf eine Reihe ihr
zugrunde liegender anderer Wissenschaften zu ihrem eigenen Aufbau
stützen, berufen und zurückbeziehen mußte. Das liegt in der Natur
der für die Psychiatrie zur Forschung sowie zur Lehre dienenden
Ausgangspunkte und Gegebenheiten. Diese sind in ihrem Wesen
recht heterogener Art, Psychologische Aussagen von Erlebnissen
und Vorgängen in ihren Kranken, objektiv psychologische und
psychophysische Feststellungen und Messungen, experimentell-
psychologische Abwandlungen gebräuchlicher normalpsychologischer
Versuchsmethoden — drei Gegebenheitsreihen, die in sich wesens-
1) In der Ära nach Griesinger hat von allen Autoren synoptisch-didaktischer
Werke nur Dittmar (Vorlesungen über Psychiatrie. Bonn 1878) einen besonderen
ersten Band »Grundlegungen der Psychiatrie« erscheinen lasesn. Er entschuldigt
sich auch entsprechend wegen der Ausführlichkeit dieses Unternehmens, welches
ihm übrigens den (sachlich nicht unberechtigten) Spott Westphals zuzog (Archiv
f. Psychiatrie. IX. S. 451 ff.).
Die allgi'mt'ine l'sychiatric und die psych iatrisc he (Ji-saiutforachiuig. 239
verschieden sind, weisen in iluer wissonscluift liehen (Gewinnung und
Ordnung auf die Psychologie ala dasjenige zugrunde liegende
Wissenschaftsgebiet hin, dessen eigene Voraussetzungen, Grund-
lagen, Metiiodi-n und P>gebnissc hier nur ein neues Feld ihrer An-
wendung und Betätigung finden. Physiologische, hirnanatoniische
und neurologische (Jesichtspunktc und Fragestellungen, biologische
und allgemein pathologische Annahmen und Lehren üljer die
Vererbungsgesetze und das Konstitutionsproblem besitzen in der
Psychiatrie ebenfalls ein neues materiales Bestimmungsfeld, wurzeln
aber mit ihren Grundlagen in ihren eigenen .Sondergebieten. Die
klinische Heuristik, die Zusainmenstcllung und Ordnung der Zu-
standsbilder und Verlaufsformcn, ja die Anwendung des Krankheits-
begriffes selber und das Aufsuchen seiner konstituierenden Merkmale,
die Schaffung von Symptom- und Krankheilsentitäten mit all ihrer
Komplizierung, die Stellung von Diagnose und Prognose sind ihren
Prinzipien nach aus dein Arsenal allgemeiner medizinischer Funda-
mente entlehnt. Und dennoch sind sie ihrer grundsätzlichen psychia-
trischen Geltung nach, sieht man einmal von allen wohlbegründbaren
praktischen Konventionen ab, zunächst nicht mehr als ungeheure
problematische Metaphern i). — Hier sei eine Einschaltung gestattet.
J)ie heutige Forschung ist sich der Metaphorie ihres Krankheits-
begriffes in seiner psycliiatrischen Anwendung kaum deutlich bewußt.
Er ist ihr etwas selbstverständliches. Dali er in unklarster Weise
von der symptomatologischen nach der nosologischen Seite hin und
her schwankt, daß es faßbare Kriterien einer psychiatrischen Krank-
heitseinheit generell überhaupt nicht und in der Praxis nur für ein
umschriebenes organisches Gebiet gibt, dies alles und noch unendlich
viel anderes macht sie in der prinzipiellen Selbstverständlichkeit
nicht irre, mit welcher sie den Krankheitsbegriff als solchen von der
Medizin her übernimmt. Dies war historisch keineswegs immer so.
Die spekulative und moraltheologisch orientierte Psychiatrie der
älteren Periode sah das hier sich aufführende Problem in seiner ab-
strakten Reinheit noch deutlich. Sie löste es methodisch und syste-
matisch falsch^). Aber sie überging es nicht. Und noch Grie-
1) Man kann sich dies sofort klarmachen: man denke nur etwa an die Wr-
Bchiedenheit der Bedeutung de.s Krankheitsbepriffes bei dt-r Krankheit Paralyse,
der »Knmkheit« Hysterie, der »Krankheit« Schizoj)hrt'nie — ferner etwa der
»Krankheit« Idiotie und der »Krankheit« moral insanity; nuin denke femer an
die Scliwierigkeiten di-.s Begriffs des l'athi)I<)j;i<chen und seines Verhältnisses zum
Abnormen, an die Begriffe »nathologit-cher Charakter«, l\sycht>pathie usw.
Kein einziger dieser Kninkheitsbegriffe, auch der der Paralyse nicht, zeigt mehr
als eine bloQc Analogie zu den Krankheitsb«'j;riffen der Klinik köriM«rlieher Urgan-
und Funktionsstönuigi'n; einzehie ühin-ln logi.sch köqxTliclien »Krankheiten«,
wie SechsfingriK'keit. LinkshändiRkeit tuier Situ» inversus, die selber als Krank-
heiten nur metaphori.sch bezeichenbar sind.
*) Kieser, Elemente der l'sychiatrik, ISr).*). aus dem Begriffe Gottes, Hein-
roth (l'sychiHch-gerichtl. Mtnlizin. ly-inzig I8L''>) und Hoffbauer (Krankheiton
der Seele. Halle ISO.'l) aus dem Begriff der Schuld und aus dem »Widerspruch zur
Naturbestimmung« (Hoffbaucr, I. S. 274 270); ähnlich Reil u. a. m. Liogst
240 Prolcgomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wi^senscliaft.
singer, der dem Unfug dieser Richtung praktisch und theoretisch
ein Ende bereitete, sah dieses Problem und suchte ausführlich zu
begründen, warum er in der Psychiatrie nur den symptomatologischen
Krankheitsbegriff gelten lasse und ihm den pathogenetischen einer
Hirnpathologie als ideale Forderung gegenüberstellte, zugleich mit
der Resignation hinsichtlich der Hauptforderung, beide in einer noso-
logischen Einheit jemals verschmelzen zu können 2). Schon West-
phal, dem ersten Kliniker im modernen Sinne, war aber dieser theo-
retisierende Standpunkt zu »spekulativ«'). Für ihn bildete die
klinische ungeklärte Übernahme des Terminus Krankheit auf die-
jenigen Beobachtungskomplexe, welche der Kliniker autonom zu-
sammenfassen zu dürfen glaubte, kein besonderes Problem. Und
seitdem ist der klinische Arbeitsgesichtspunkt ja der selbstverständ-
liche, »voraussetzungslose« geworden, welchem jeder Primat gegen-
über den »Hilfswissenschaften « zusteht . Und doch ist die Übernahme
des Krankheitsbegriffes in die Psychiatrie keine so einfache und
problemfreie Sache. Vielmehr besteht hier genau solch ein Problem wie
bei allen heterologischen Arbeitsmaximen, seien sie nun physiologischer,
biologischer oder psychologischer Art. Ihr Nebeneinander und Durch-
einandersoll aber im wissenschaftlichen Gesamtgebäude der Psychiatrie
zu einem Miteinander, zu einer synthetischen Einheit werden, in welcher
die Geltungssphäre jedes einzelnen dieser Arbeitsgesichtspunkte sich
klar und scharf umreißen läßt*). Dies soll schon hier betont werden.
Um nun in unserer Aufzählung der heterologischen Erkenntnis -
quellen der Psychiatrie fortzufahren, so sind endlich auch die sozio-
logischen und die kriminologischen Gesichtspunkte mit ihren lar-
vierten normativen Stigmaten von einer anderen »Grenzwissenschaft «
her, also gleichsam von außen, der Psychiatrie zugebracht worden
imd ihr im Kerne wesensfremd.
vor ihren maximenlosen, ku Unrecht gerühmten Gegnern Nasse und Jacobi
trat von philosophischer Seite aus Fries derartigen Bestrebungen entgegen (Psych.
Anthropologie. II. Jena 1820). Er erkennt klar die ärztliche Zuständigkeit zu
psychiatrischer Forschung (S. 108), verwirft die »ethisch-theologische« Wendung
des Krankheitsbegriffs (S. 110) mit feinem Spott, betont den symptomatologischen
Charakter der gefundenen psychischen »Krankheitseinheiten« (S. 154ff., immer
zit. nach der 2. Aufl. 1837) und die somatisch-pathogenetische Basis derselben,
und durchdringt dennoch die psychische Symptomatik mit dem ganzen Scharf-
sinn des psychologischen Denkers.
2) Pathol. u. Therapie der psychischen Krankheiten. Braunschweig 1861, zit,
3. Aufl. 1871, I.Abschnitt.
3) Archiv f. Psychiatrie. Bd. I. 1868.
^) Es ist — unter der Herrschaft dieses reinen Klinizismus — noch verständ-
lich, wenn z.B. Isserlin (Aschaffenburgs Handbuch. 1913. A 2. S. 112ff.) die
Notwendigkeit der Anwendung psychologischer Methoden für die klinische For-
schung nicht ohne weiteres anerkennt, sondern zum Problem macht - — welches
er übrigens naturgemäß bejahend löst. Daß aber ein Denker seines Ranges diesen
Primat des Klinizismus selber in all seiner Verschwommenheit zum Angelpunkt
seiner Fragestellungen zu machen für selbstverständlich und fraglos hält, über-
steigt mein Verständnis. Bei Kraepelin selber ließe eine solche Einstellung sich
allenfalls begreifen !
Die jtll<4**iiiiMii(- l'.yohiatrii' un<l dii- iisythüitriKcIf < •• ~ ■nttfor^' iiung. 241
Dieses stumme Verlmrieii der Psyehiali ic iil> einer autoch-
I honen VVissenscluift, i^elit so weit, tlaii sie selbst auf das Auffinden
eigener, für sie wesensspezifisclier wissenscliaftlit her Möglich-
keiten iKjinahc verzichtet zu haben scheint und jeden Fortschritt
der Erkenntnis lediglich von solchen äuüeren Anstößen erwartet.
JSo ist in den letzten Jahrzehnten die Anwendung serologischer und
biochemischer Forschungen, Ix'souders in der Erkenntnis der endo-
krinen Drüsenfunktionen, gleichsam die neue Zukunftslioffnung ge-
worden, von der auch die Psychiatrie wissenscliaft liehen Fortschritt
erwartet.
Es wird nicht etwa hier bestritten, daß der Psychiatrie durch
diese Abhängigkeit von den verschiedensten heterologen wissen-
schaftlichen Disziplinen allererst wissenschaftliches Leben. Wachstum,
Vertiefung und (Jrölie, Einsicht und Fortschreiten gewährleistet ist.
Diese Abhängigkeit als solche wird hier vielmehr als Faktum be-
hauptet und für die Psychiatrie in ihrem bisherigen wissenschaft-
lichen Oiiarakter als wesentlich bezeichnet. Die sogenannte spezielle
Psychiatrie hat auch niemals mehr sein \vf)llen, als eine praktisch
brauchbare, dem jeweiligen Stande der Einzclerkenntnis entsprechende
Darstellung des unter diesen heterologen Ck'sichtspunkten bearljeiteten
Gegcbenheitsmaterials nach den Kegeln der Klinik, des ärztlichen
Tuns. Die forensische Psychiatrie wandelte dann, mit meist nicht
einmal sehr viel Talent, die medizinischen Leitmaximen in logische
Kompromiühildungen zwischen medizinischen und kriminologischen
Lehrlx'griffen um.
Einzig die allgemeine Psychiatrie erstrebte von jeher eine sj'ste-
matisch-sachliche Darstellung des Gegebenheitsmaterials unter Ge-
sichtspunkten der Zusammenstellung und Ordnung, welche ihrerseits
vom praktisch-klinischen Zweck sich in gewisser Weise loszulösen
suchten. Aber die Gesichtspunkte dieses Verfahrens blieben auch
dann noch heterologische. So werden z. B. in der allgemeinen Psy-
chiatrie zwar keine Krankheitsbilder nach mehr oder weniger groben
Analogien zu körperlich-medizinischen Krankheitsbildern aufgestellt;
aber das grundlegende allgemeine Problem wissenschaftlichen Den-
kens, ob und in welchen verschiedenen Bedeutungen der medizinisch-
somatischo Krankheitsbegriff auf die Gegel)enheitsreihen iler Psy-
chiatrie übertragbar ist, in welchen Beziehungen Symptom und
Krankheit dort zueinander stehen, bildete für die bisherige allgemeine
Psychiatrie nicht einmal eine Fragestellung. Wie in der speziellen
Psychiatrie, so wurden auch in der allgemeinen die .Materialien der
Psychiatrie gleichsam in ein KeiXTtoriuni gebracht. Die Drdnungs-
gesichtspunkte dieses Ke)KMtt»riun\s sind nun zwar andere als die
klinischen der speziellen Psychiatrie, aber auch sie sind höchst an-
fochtbarer Art. Entweder nämlich stammen sie aus einer willkür-
lichen, subjektiv hypostasierten psychophysischcn,hirnpathologij*chen.
biologisihen otler normativen Theorie, welche der betreffende Autor
gerade für besonders wichtig hält, sind also dogmatisch und damit
Krunfold. l>!<}>-hi«tri-<rh>' Krkenntai*. lU
242 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
unwissenschaftlich. Oder, im günstigeren Falle, sind die Ordnungs-
gesichtspunkte der Tatsachensammlung wahllose, unkritisch über-
nommene, ungeordnet nebeneinander gereihte Maximen jener hete-
rologischen Hilfsdisziplinen, die oben aufgezählt wurden. Ihre Funda-
mente und Geltung werden ebenso vorausgesetzt, wie ihre Übertragung
und Anwendung in der allgemeinen Psychiatrie selbstverständlich und
problemfrei erscheint. Eine systematische Beziehung derselben in
die Form einer Einheit findet nicht statt.
Dies jedoch ist gerade die Aufgabe und das Problem für eine
allgemeine Psychiatrie, welche als reine Wissenschaft auftreten will.
Ein bloßes Sammeln aller möglichen heterogenen Tatsachen und
Meinungen ohne inneres Gesetz und ohne tieferen Sinn, nach irgend-
welchen zufälligen und ganz unbewiesenen Gesichtspunkten der Wahl
— ein Repertorium solcher Art ist überflüssig. Es trägt der wissen-
schaftlichen Aufgabe in keiner Weise Rechnung, welche der all-
gemeinen Psychiatrie gesetzt ist. Die allgemeine Psychiatrie soll
kein Repertorium sein, sie darf dies ruhig der speziellen überlassen.
Sie müßte gerade zur Aufgabe haben, die oben angeschnittenen Fragen
einer Klärung zuzuführen. In ihrer bisherigen Form bleibt die all-
gemeine Psychiatrie genau so äußerlich und in ihrer Berechtigung als
Wissenschaft unbewiesen, wie es die Repertorien der speziellen Psy-
chiatrie sind. Die letztere hat nur wenigstens den praktisch ärzt-
lichen Zweck zur Begründung ihres Verfahrens für sich; sie ist an-
gewandte Wissenschaft: die allgemeine Psychiatrie soll strenge
Wissenschaft sein^).
Die allgemeine Psychiatrie, wie sie sein müßte und zu
fordern ist, hat den wissenschaftlichen Charakter psy-
chiatrischer Forschung darzutun, zu beschreiben, zu
rechtfertigen, zu begründen und zu begrenzen. Nicht auf
die systematisch sachliche Tatsachensammlung läuft sie
hinaus, sondern auf die methodische und theoretische
Sicherung einer solchen Tatsachensammlung als einer
Ordnung und Wissenschaft, die dann in der speziellen
und klinischen Psychiatrie ihre Anwendung und Bewäh-
rung findet. Sie hat in diesem Sinne Logik und Theorie
der Psychiatrie überhaupt zu sein und zu enthalten.
Der theoretische Charakter der allgemeinen Psychiatrie.
Wir haben gesagt, es sei die Aufgabe der allgemeinen Psychiatrie,
die Logik und Theorie der Psychiatrie überhaupt zu begründen und
zu entwickeln.
Dieses Postulat gilt für jeden Fall, auch für den — logisch immer-
1) Lediglich der geistvolle He 11p ach empfand die hier bestehende Aporie
und suchte ihr in seiner Weise abzuhelfen. Vgl. Hellpach, Grundgedanken zur
Wissenschaftslehre der Psychopathologie. I. Archiv f. d. ges. Psychologie. VII.
S. 143—226.
Der theorctiaclic Charakter der allgcineiuen l'Kychiatrie. 243
lun dtMjkbtUfii — , duü oino Psychiatrie ul.s Wissenschaft sich al* iin-
iiiöglidi, als imrealisierbar erweisen soihe. Ein solclier Nachweis
könnte nnr auf CJrund der Ergebnisse der geforderten Untersuchungen
über den Wissenschaftscliarakter der Psycliiatrie erbracht werden.
Auch zu seiner Erbringung also werden derartige Untersuchungen
bereits vorausgesetzt ,
Ebenso gilt unser Postulat auch dann, wenn zwar nicht der Wissen-
schaftscharakter der Psychiatrie überhaupt, wohl aljcr ihre Möglich-
keit als autüchthone Wissenschaft, als Wissenschaft eigenen Wesens,
eigener Fundamente, Methodik und Struktur in Frage steht und zum
Problem gemacht wird. Dieses Problem besteht de facto, und es
besteht auch zu Recht. Ihm ist ein großer Teil der folgenden Unter-
suchungen gewidmet. Es könnte nun dieses Problem verneinend
entschieden werden; aber auch dann ist es notwendig, die Möglich-
keiten, die Tragweite und die Grenzen der Anwendung anderer Wissen-
schaften, ihrer Fundamente, Maximen und Metiioden in der Psy-
chiatrie wissenschaftlich zu untersuchen und ihr gegenseitiges Ver-
hältnis, ihre Ordnung und Rangordnung in der Einheit des psychia-
trischen Materialgebietes logisch und theoretiscii darzutun. In
diesem Sinne hat jede allgemeine Psychiatrie theoretische
Psychiatrie zu sein — oder sie wird eine unwesentliche Zusammen-
stellung von Tatsachen, deren wissenschaftliche Dignität und Be-
deutsamkeit dogmatisch hingenommen, ungeklärt belassen oder
heteronom begründet erscheint.
Indem wir diese Aufgabe einer allgemeinen Psychiatrie als theo-
retischer Psycliiatrie, als Klärung der Grundlagen und Möglichkeiten
der Psychiatrie als Wissenschaft, behaupten, sind wir uns bewußt,
daß die Mehrzahl der Psychiater selber eine derartige Aufgabestcllung
so grundlegender Art mit erstauntem Mißtrauen, ja mit Widerstreben
hinnehmen wird. Der Begriff des Theoretischen in der Psychiatrie
ist mit einem gewissen Odium behaftet. Theoretische Untersuchungen
gelten als unzeitgemäß, ja, als bedenkliche Verirrungen. Und das ist
nach mancherlei schlechten Erfahrungen gerade in der Psychiatrie
nicht frei von einer gewissen Berechtigung. Sogleich wird sich daher
auch diesmal woiil der Einwand erheben, was wohl theoretische Er-
örterungen zu bedeuten haben und nützen können gegenüber einer
im äußersten Fortschritt Ijcgriffenen, mit allen Mitteln moderner
Forschung arbeitenden praktischen Disziplin. War doch bisher
psychiatrische Theorie meist nicht viel anderes als ein zweckloses
Schwelgen in unerfreulichen Terminologien ohne Wert für den Fort-
schritt dos Erkennons. Ja diese Theorien haben vielfach gerade den
wahren Fortschritt der Psychiatrie — den ihr erst die Anwendung
und der Ausbau naturwissenschaftlicher Verfahrensweisen gebracht
haben, in der älteren Ära der psychiatrischen Forschung lange Jahr-
zehnte hintangehalten, bis Griesinger als erster Psychiatrie auf die
moderne praktisch-klinische Basis zu stellen vermochte. Vielleicht
wird mancher Forscher in dem bloßen Versuch einer Wiedereinführiuig
16»
244 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
theoretischer Bestimmungen und Besinnungen in die Psychiatrie
bereits ein erneutes Auftauchen des seit jener Ära erloschenen An-
spruchs befürchten, den die Geisteswissenschaft mit Kanti) an die
Seelenkrankheitskunde gestellt hatte und der sie nur in Irrweg und
Gestrüpp festhielt, bis große Naturforscher sie mühsam befreiten.
So ist vorauszusehen, daß die Mehrzahl der Forscher die hier ge-
stellte Aufgabe einer allgemeinen Psychiatrie als theoretischer
Grundlegung der Psychiatrie als Wissenschaft nur wie ein
abseitiges Kuriosum betrachten wird. Sie wird zu ihren Mikroskopen
und Meerschweinchen, zu ihren Ergostaten und rotierenden Trommeln,
zu der erprobten klinischen Empirie der gerade beliebten Schule
zurückkehren. Das läßt sich nicht ändern. Der Anspruch aber
der Probleme selber aber bleibt bestehen; sie lassen sich
nichts abdingen.
Das Odium alles Theoretischen in unserer Wissenschaft erfordert
von vornherein die Abwehr von Mißverständnissen gegenüber unserer
Aufgabenstellung. Und so sei sogleich betont : die Aufgabe von Unter-
suchungen zur allgemeinen Psychiatrie kann und soll es nicht sein,
der Fülle dogmatischer Theorien des Psychischen oder des Psycho-
tischen eine »bessere« oder »richtigere« hinzufügen. Den Unwert
aller derartiger Theorien sollen und werden sie vielmehr klar erweisen.
Ebenso beabsichtigen sie nicht, Psychiatrie als Naturwissenschaft
und ihre verschiedenen so erfolgreichen Verfahrensweisen in ihrem
Werte herabzusetzen, oder den Anspruch dieser Verfahrensweisen an
die Bearbeitung psychiatrischer Probleme irgendwie, sei es grund-
sätzlich oder im einzelnen, auch nur im mindesten einzuschränken
oder anzuzweifeln. Aber allerdings gehen sie von der Überzeugung
aus, daß die systemlose und unkritische Anwendung jener Methoden
trotz aller durch sie erzielten Einzelergebnisse nicht genügt, um
Psychiatrie aus dem Stande bloßen Wissens in den der
Wissenschaft zu erheben. Und sie sehen in dieser Ordnung der
1) Die berühmte Stelle (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 1799.
S. 152ff.) ist übrigens nicht so radikal in dieser Hinsicht, als die medizinischen
und psychiatrischen Zitatoren sie auffassen. Sie enthält sogar ein Gran attischen
Salzes, das noch heute nicht taub geworden ist. Sie lautet in ihrem vollständigen
Zusammenhang: »Wenn jemand vorsetzlich ein Unglück angerichtet hat und . . .
ausgemacht werden muß, ob er damals verrückt gewesen sey oder nicht, so kann
das Gericht ihn nicht an die medizinische, sondern müßte ihn an die philosophische
Facultät verweisen. Dann die Frage: ob der Angeklagte bey seiner Tat im Besitz
seines natürlichen Verstandes- und Beurteilungsvermögens gewesen sey, ist
gänzlich psychologisch und, obgleich körperliche Verschrobenheit der Seelen-
organen vielleicht wohl bisweilen die Ursache einer unnatürlichen Übertretung
des (jedem Menschen beywohnenden) Pflichtgesetzes seyn möchte, so sind die
Aerzte und Physiologen überhaupt doch noch nicht so weit, um das Maschinen-
wesen im Menschen so tief einzusehen, daß sie die Anwandlung zu einer solchen
Gräueltat daraus erklären, oder ... sie vorher sehen könnten . . . « Kant vermißt
also die Erkenntnis der somatisch-pathogenetischen Basis psychischer Krank-
heiten bei den Medizinern, und innerhalb der rein psychologischen Sphäre durch-
schaut er klar das Metaphorische des Krankheitsbegriffes. So kommt er zu seiner
Stellungnahme.
Arguuu-iite für d. [iinki. .\uU.iii lin.uitl. Liilti.-jin.ii. i. d. ullg. i'.sy< luairi" . 240
disjecta meinbni unseres W'isseii.s zu einer sy.ste ni:it ischen Kin-
lieit, die ilire Kechtsgründo und ihren Aufbau in »ich
aelber zu rechtfertigen vermag, einen wesentlichen Fortschritt
dos Erkeiniens für unsere Wissenschaft nicht weniger als für alle
Einzelwissenschaften.
Hierin erblicken sie iiue Aufgabe, und diese ist metliodologischer,
logischer und theoretischer Xatur.
Argumente für den praktischen Nutzen theoretischer
Untersuchungen in der allgemeinen Psychiatrie.
Dem Zweifel an der Zweckmäßigkeit einer Untersuchung, wie sie
hier in Angriff genommen wird, möchten wir noch weiter entgegen-
kommen. Bevor wir die immanente Notwendigkeit der In-
angriffnahme des uns gestellten Problemgebietes dartun und so den
kritischen Zugang zu seiner Lösung erarbeiten, möchten wii; gerade
den praktischen Zwcckgcsichtspunkt solcher Arbeit betonen.
Kv ergibt sich zwanglos aus einem kurzen Rundblick ülx?r die gegen-
wärtige Lage der psychiatrischen Forschung, so wie er an früherer
»Stelle dieses Buches gegeben wurde ^); und die aus ihr hervorgehende,
offen zutage liegende Zweckmäßigkeit eines solchen theoretischen
l^instellungsversuches auf die in der Psychiatrie wesentlichen Fragen
dient als vorläufige Argumentatio ad hominem für die
Nützlichkeit dieses Unterfangens. Es wird hierzu kein Ge-
sichtspunkt benötigt, der nicht in gewöhnlichen Tagesgesprächen der
Psychiatrie immer wieder zutage träte.
Da ist zunächst die nicht aus der Welt zu schaffende Tatsache,
daß die gegenwärtig geübten Bearbeitungsweisen unseres Gebietes
zurzeit nicht gerade von glänzenden Erfolgen gekrönt zu sein scheinen.
Dies Urteil soll wahrhaftig nicht den gewaltigen Fortschritt ver-
kleinern, den die Menschlichkeit und Fürsorge des Arztes in der Be-
handlung und Pflege der Geisteskranken innerhalb woniger Gene-
lationcn geschaffen hat, und den uns neuerdings Krn^'pelin-) wieder
vor Augen gestellt hat. Noch weniger entspringt diese Meinung aus
einem Mangel an Kenntnis oder Achtung des wissenschaftlichen
Gebäudes, welches unsere großen Forschor aus den Bausteinen der
Histopathologie und Lokalisationslehre, der Biologie, Serologie und
Chemie, der Psychologie und des klinischen Erfahrungsreichtums
zusammongemauert haben. Daß diese Bearbeitungsweisen der
Psychiatrie notwendig und wesentlich zu eigen sind und die Träger
und Grundmauern ihier bisherigen Erfolge, dies zu leugnen wäre
verbohrt, es dankbar anzuerkennen und sich in praktischer Eigen-
arbeit dieser Wege zu bedienen, ist selbstverständlich. Was aber
das wissenschaftliche Ganze der Psychiatrie und den Fortschritt des
>) Vgl.: Ein Rundblick übrr dt>n gegenwärtigen Stand iimv. S. i»7ff.
2) Hundert Juhre Psychifttrio. 1918.
246 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
Erkennens darin anbetrifft, so besteht in ihrem gegenwärtigen Stande
ikein sichtbarer Ausweg vor der beklemmenden Tatsache, daß diese
genannten Methoden sich allmählich in der Fülle ihrer Ergiebigkeit
zu erschöpfen drohen, daß eine gewisse Sterilität der Forschung
herannaht, die in einem oft schwer empfundenen Mißverhältnis zu
der Fülle, der Mühseligkeit, dem Scharfsinn und der Selbstlosigkeit
der geleisteten Arbeit steht. Und was bedenklicher ist — es ist nach
Lage der Sache auf absehbare Zeit hierin keine wesentliche Änderung
zu erwarten. Um zu einem solchen Schlüsse zu kommen, ist es freilich
geboten, den Blick nur auf grundsätzliche Errungenschaften zu
richten, sich aber nicht täuschen zu lassen durch die wohl zu er-
wartenden Einzelergebnisse im Fluß befindlicher Forschungsweisen,
welche grundlegend Neues, Weiterführendes nicht aus sich zu er-
zeugen vermögen. Wie sich dieser Stand unseres erkenntnismäßigen
Fortschreitens in unserer Disziplin ändern ließe, darüber sind uns nur
unsichere Zukunftsvermutungen möglich. Immer liegen diese Aus-
sichten gleichsam auf Nebenkriegsschauplätzen; immer wirken sie
als äußere Ausflüsse fremder Disziplinen. Die Psychiatrie selber
muß sich tatlos gedulden, bis vielleicht die physikalische Chemie
und chemische Biologie der inneren Sekretion zii grundlegenden
neueren Entwickelungen gelangt, die dann auch auf unsere Disziplin
anwendbar wären. Kurzum fremde Hilfswissenschaften sind es,
auf die wir zur Legung neuer Wege und zur Urbarmachung von
Neuland hilflos angewiesen zu bleiben scheinen. Erst wenn sie dazu
führen sollten, uns etwa die Befunde der Morphologie des Zentral-
nervensystems biologisch oder physikalisch chemisch begreifen zu
lassen, rücken auch wir wieder einen Schritt vorwärts. Von allem
dem war schon an früherer Stelle ausführlich die Rede; und bereits
dort hat es uns zu der Frage geführt : soll die Psychiatrie in tatloser
Abhängigkeit auf diesen Tag warten, und bis dahin Kärrnerarbeit
zu ihrem alleinigen Gegenstande machen?
Wer diese Frage bejaht, für den besteht das Problem nicht, ob
Psychiatrie als autologe Wissenschaft möglich und gefordert ist.
Dies wäre nun an sich noch nicht unstatthaft ; denn eine dahin zielende
Untersuchung könnte ja zu dem Ergebnis führen, daß die Möglichkeit
der 'Psychiatrie als Sonderwissenschaft zu verneinen wäre. Ge-
wöhnlich aber enthält die Bejahung unserer Frage noch etwas anderes,
nämlich das Bekenntnis zu der Überzeugung, daß die einzige wissen-
schaftliche Möglichkeit für die Psychiatrie von der Seite der phy-
sischen Forschung her zu erwarten sei und sein dürfe. Nun wissen
wir ja, daß die Sonderstellung der Psychiatrie, welche ihre Eigenart,
ihre Schwierigkeiten und ihr wissenschaftliches Zurückbleiben hinter
anderen Forschungsweisen bedingt, auf der Tatsache beruht, daß
ihr physische und psychische Gegebenheiten gleichzeitig als
Material und Ausgangspunkt dienen. Die Inkommensurabilität
dieser beiden Gegebenheitsreihen scheint es mit prinzipieller Not-
wendigkeit verhindern zu müssen, das Wissen von ihrem Neben-
Abwehr d. AusdchließLchkeit somatolog. EmstcUung i. d. allg. l'Hjchiatric. 247
einander und Mitc-iiinnder in die Form einer ülK-rgeordneton wisHen-
8cliaftlichen Kinlu-it zu bringen, deren Inliulte exakt Ije.stiniinbar
wären. Jedocli wenn wir auch das Verhältnis des P.sychi.sclien und
Pliyaischen nicht zum Range exakt bestimmbarer Erkenntnis zu
erheben vermögen, so folgt daraus noch nicht, daß nicht dennoch
eine wissenschaftliche Disziplin systematisch einheitlicher Art möglich
wäre, die beiden (Jegebenheitsreiiien in logisch adäquater Weise gleich
gerecht zu werden vennöi-hte. Man hat hiernach nur nicht
genügend gesucht. Man hat sich an das Greifbare gehalten aus
Bequemlichkeit oder Resignation: und dies Greifbare, dessen Durch-
führung den naheliegenden Erfolg verhieß, das methodisch und sach-
lich leichter durchführbar war, bestand eben in der Bcarlxjitung der
quantifizierbaren, extensiven, durch immer zu wiederholende Ver-
anschaulichung kontrollierbaren pliysischen Gegebenheitsreihe. Na-
türlich ist die somatologisclio Forschung in der Psychiatrie von un-
geheurer Bedeutsamkeit. Maß und Tragweite dersellx-n bilden aber
ein wissenschaftskritisches Problem. Für die praktische Arbeit
braucht dieses Problem freilich nicht zu bestehen. Und selbst gegen
die Ausschließlichkeit somatologischer Forschungsgesichtspunktc in
der Psychiatrie wäre nichts einzuwenden, selbst wenn es sich um das
wissenschaftliche Ganze der Psychiatrie und ilirer künftigen psycho-
physischen Systemeinheit handelt — mag diese auch in ein unlicht -
bares Dunkel gehüllt sein — wofern nur bei allen Forschern die klare
Erkenntnis besteht, daß die somatologische Orientierung nur
ein vorläufiger heuristischer Arbeitsgesichtspunkt wäre
und nicht zum systematischen Dogma erstarrt. Jeder Er-
folg spräche für Recht und Bedeutung dieses Arbeitsgesichtspunktes.
Abwehr der Ausschlicßlichkeit somatologisclxer Einstel-
lung in der allgemeinen Psychiatrie.
a) Vom Standjpunkte der Psychologie aus.
Dem ist aber nicht so. Für viele einflußreiche Forscher ist der
fomatologische Gesichtspunkt in der Psychiatrie keine praktische
Arbeitsmaxime, sondern eine unerschütterliche Grundülxjrzeugung*).
»Schon die Einstellung auf diejenigen Disziplinen, von deren eigenen
Fortschritten die Psychiatrie in ihrem künftigen Ausbau vorhin als
*) E.s wird oft go.s»igt, dio.sor Staiuli>unkt soi »längst üborwundon «. Dem ist
aber irrig. So bezeichnrt noch giinz lu-iiordingH .lu.st.schenko sein Roportoriun«
binlogiseh-cheiniseher l'nt<Tsuehungfn in der l'syehiiitrie mit dem Titel: »Das
Wesen «Irr (Icistrskrankheiten «, und sehreibt: »Der tJnindgedanke der Vor-
lesungen ist dt-r, daß di-m Wesen der (JeisteMrkrankungen Stömngen des Stoff-
weehsels. Krseheinungen der S«'lbstvergiftung und aiuiero Stünmgen der bio-
chemis«^'hen l*n)zesse zugninde liegen« (Dn'S«len n. L<'ipzig 11)18). Sieht er denn
nieht, daß, wenn sieh Dcrartigrs naehweis«'n läßt, die Probleme der Psychiatrie
nicht gelost sind, sondern die Fragen nach dem Wesen der Goistesstörungfn en«-t
in ihrer ganzen Schwere beginnen?
248 Prolegomena zur c^Ugemeiiien Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
abhängig dargestellt wurde, schon diese Einstellung beweist das.
Indes wäre dies nur ein Irrtum von Personen; und er brauchte die
nützliche Arbeit nicht zii stören und zu hemmen. Schwieriger und
bedenklicher ist aber das tatsächliche Hemmnis, welches der Ps}^-
chiatrie als Ganzem aus ihrer Unterstellung unter somatologische
Gesichtspunkte und Problemstellungen allmählich erwuchs. Miii-
destens sollte man erwarten, daß die heterologische Kausalisieruug
des Psychischen durch das Somatische — wenn dies das letzte Ziel
somatologischer Ordnung in der Psychiatrie sein soll — erst in An-
griff genommen werden darf und kann, Avenn das seelische Ge-
schehen seinerseits so autologisch durchgearbeitet ist,
daß es überall bis auf seine letzten, autologisch irreduziblen Eigen-
charaktere zurückführbar geworden ist. Außerdem müssen alle
Zusammenhänge, Koordinationen und Abhängigkeiten des zere-
bralen Systems in ihrer morphologischen und funktionellen Eigen-
gesetzlichkeit bekannt und systematisiert sein. Erst dann kann
iuit wissenschaftlicher Sicherheit der Versuch gemacht werden, diese
systematischen Erkenntnisse zu dominierenden zu machen und den
psychischen überzuordnen. Was geschieht aber an Stelle dessen
tatsächlich ? Man geht in einseitiger Weise, ohne sich um das psy-
chische Material mehr als ganz oberflächlich zu kümmern, vom ana-
tomischen Präparat aus; und zwar mit Vorliebe vom bequemen, zu
groben Analogieschlüssen verlockenden, nivellierenden Markfaser-
bild. Von der Forschung in diesen Gebieten bis zu der dadurch
nahegelegten Übernahme von Konzeptionen aus der Physik, der
Elektrizitätslehre, ist nur etwas Veranschaulichungsbedürfnis nötig.
»Verbindung«, »Zentrum«, »Hemmung«, »Bahnen «und »Leitungen«,
»Widerstand« usw.! Diese ursprünglich analogisch gebildeten Leit-
vorstellungen werden im anatomisch physiologischen Erkennen bald
als ernsthafte Realitäten bewertet; und zu deren weiterer Über-
tragung auf das als abhängig gedachte Seelische ist nur ein kleiner
Schritt. Seelisches verknüpft sich ja auch miteinander: warum sollen
nicht die morphologischen Verknüpfungen auch die psychologischen
darstellen? Letztere werden dann also anschaulich-morphologisch
beschreibbar, und das Seelische selbst muß dann in dem »verbundenen «
Hirnteilen, den Assoziationsfeldern »sitzen«. Die Lehre von der
sensomotorischen Projektion und ihr Erfolg wird diesem Verfahren
zur mächtigen Stütze. Es fehlt nur die Aufforderung, die verschiede-
nen Zelltypen ordentlich auf das Psychische »in« ihnen durchzu-
suchen! Natürlich wird diese Forderung nicht mit solcher Drastik
ausgesprochen; tatsächlich aber wird selbst heute noch oftmals, mehr
oder weniger naiv, nach ihrer Erfüllung gestrebt. Von allen Einzel-
fehlern abgesehen hat dieses Verfahren einen grundsätzlichen Mangel:
die Eigenstruktur psychischen Geschehens bleibt außer
Spiel. Sein Ablaufen erfolgt nicht nach eigenem Gesetz,
sondern als das zufällige Produkt einer vorgestellten
physiologischen assoziativen Dynamik; es wird zu dem toten
Abwehr d. Ausschlioßlichkfit somatolug. Einstellung i. d. allg. l*hy< iimiri<-. 24'J
Mechanismus eines iiithl durch sich selbst Ixjdingten \acheinanders;
damit wird der Reichtum seiner Inhalte, Formen und Strukturen
völlig wesenlos und gleichgültig; zu seinem Verständnis genügt da»
dieser Hirnphysiologio entlehnte roho Schema. Wobei diese Art von
Hirnphysiologio nur vergißt, daß sie ihr P^igengesetz wiederum erst
aus der Ix'liro vom Bau elektrischer Telefone entlehnt hat! Das
Psychische besteht dann aus Klementarteilen, die man nach ihrer
physiologisch angenommenen Topik ganz willkürlich herausabstrahieri
und als gleich setzt. Und diese sind verbunden — nicht auf Grund ihres
psychischen Soseins und Bedoutens, sondern auf Grund der dynami-
schen Aktualität jener angeblichen hirnphysiologischen Verbindungen.
Durcli diese allein entstehen die psychischen Inhalte und Gebilde. So
wird das Seelische zum wesenlo.^ien Epij)hünonien ukateriellei Abläufe.
Diese heterologische Vereinfachung des Seelischen ist aber
keine Wissenschaft, sondern das Zerrbild einer solchen.
Das psychische Problemgebiet wird nicht geklärt, sondern verge-
waltigt, in dürre Schenuitismen hineingepreßt und besten Falles
völlig unbestimmt gelassen. Dieser Vergewaltigung alx'r macht sich
keineswegs nur der »rohe« und dogmatische Assoziationspsychologe
schuldig. Auch wer als Tribut besserer eigener psychologischer
Einsicht etwa den Apperzeptionsbegriff mit in sein Schema auf-
nimmt, schließt nur ein Kompromiß, in der Hoffnung, auch dieser
werde sich wohl noch physiologisch interpretieren und unterbringen
lassen. Ja, ein Forscher wie Berze hat es jüngst sogar fertig ge-
bracht, die Intentionalität, diesen Grundbegriff phänomenologischer
Analyse des seelischen Geschehens, infolge davon, daß er diese Ana-
lyse und diesen Begriff nicht völlig richtig verwertet hat, mit Hilfe
von unbeabsichtigten Bedeutungsverschiebungen und Verwaschungen
lokalisatorisch zu plazieren und mit dem alten Schema zu verbinden!*)
Man würde das alles noch erträglich finden, wenn man damit
nur weiter käme! Nun aber haben wir uns aber bei unserem früheren
Rundblick davon ül:)erzeugen müssen, daß selbst mit dieser Fülle
von gewissensbedrückenden Konzessionen an die Somatologie eine
Periode der Stockung einzutreten droht, daß wir trotz konsequenter
Durchfüiirung jener Leitideen am Gestade unbekannten Meeres zu
verweilen gezwungen sind ohne ein weiterführendes Schiff.
Fortsetzung der Argumentation.
b) Vom St and ]) unkt der Klinik aus.
Eine ähnliche Erwägung gegen die Ausschließlichkeit somato-
logischer Forschungseinstellung läßt sich auch, noch bevor überhaupt
theoretische und psychologische Fragestellungen entschieden sind,
') Die Insuffizienz der j).«ychisehon Aktivität. U)\4. S. l^^9if. Wiliens-xtörungen
eind danach »eine Hyiwfunktion des subkortikalen Tonu.xzentrums«; dort rt^iicrt
eich »der Tonus der intentionalen Spbän*, der Bewußtseinstonus«.
250 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
aus der klinischen Praxis heraus führen. Und es ist uns hier
eine erfreuHche Stütze, daß diese Erwägung gerade in neuerer Zeit
von Meistern der klinischen Forschung selber des öfteren angestellt
worden ist. Keiner hat sie wohl geistvoller und zwingender und
zugleich früher durchgeführt als vor einem Menschenalter Rieger i).
Und wir können nichts besseres tun, als seine Ausführung einfach
zu der unsrigen zu machen. Rieger spricht von abnormen Seelen-
zuständen im allgemeinen und sagt : »Die Versuche, solche abnormen
Zustände . . . physiologisch und streng naturwissenschaftlich durch
ein Zurückgehen auf . . . Veränderungen im Gehirn zu erklären,
sind wertlos und bisher stets mißlungen. Wollten wir z. B. die jeder
direkten Stütze entbehrende theoretische Annahme machen, das
Bedingende seien* hier Zirkulationsstörungen im Gehirn, etwa teil-
weise Blutleere, so würde ixns das zur Förderung unseres Verständ-
nisses der Symptome gar nicht helfen. Denn wir wissen nichts kon-
stantes und zuverlässiges darüber, was die Anämie des Gehirns für
psychologische Symptome hervorruft. Dürften wir uns . . . auf
einen physiologischen Standpunkt stellen, so müßte der Satz auch
umgekehrt werden und wir müßten die Behauptung vertreten können,
daß, wie die und die Prozedur Anämie des Gehirns und damit die und
die Symptome hervorruft, so nun auch eine aus ganz anderen Ursachen,
etwa starkem Blutverluste, hervorgegangene Anämie des Hirnes die
gleichen Symptome hervorruft. Hiervon kann aber nach irren-
ärztlicher Erfahrung nicht im entferntesten die Rede sein. Wir
können bei Betrachtung solcher Zustände uns nicht auf den Stand-
punkt derjenigen Anschauung stellen, nach der wir zu begreifen
suchen, wie aus sichtbaren Veränderungen im Hirn veränderte psy-
chische Symptome hervorgehen müssen. Selbst diejenigen Geistes-
krankheiten, in denen wir auf Grund reicher Erfahrungen den patho-
logisch-anatomischen Standpunkt zum maßgebenden machen dürfen,
gestatten uns durchaus keine befriedigende Einsicht in den Zusammen-
hang desjenigen, was wir am Hirn der Leiche beobachten, mit den
Symptomen, die der betreffende Kranke während des Lebens ge-
boten hatte.« Rieger weist auf das Beispiel der Paralyse hin, bei
welcher ein annähernd konstanter morphologischer Hirnbefund von
den mannigfaltigsten psychischen Syndromen begleitet sein kann.
Er fährt dann fort : »Während aufs Entschiedenste verlangt werden
muß, daß dem anatomischen Standpunkt da stets Rechnung ge-,
tragen wird, wo wir eine solide, erfahrungsgemäße und naturwissen-
schaftliche Basis für ihn haben, so ist andererseits aufs entschiedenste
dagegen Verwahrung einzulegen, daß man bloß auf ganz schwa-
chen Analogien sinnlich wahrnehmbare Veränderungen
da theoretisch postuliert, wo sie unsere Sinne uns noch
nie gezeigt haben. Es ist absolut wertloses Gerede, wenn
man glaubt, die Zustände mancher Verrückter dadurch klar zu
1) Rieger, Der Hypnotismiis. 1881. S. 37— 48 ff.
Abwehr d. Ausschlioßlichkeit ßomatolog. Einstellung i. tl. allg. PHychiatrie. 251
machen, daß man ihre Hirnganglienzellen als verändert
darzuHtellen versucht. Hiervon wissen wir nichts. Eh ist nicht
nur deswegen, weil unsere Kenntnisse mancher feinerer Verände-
rungen des Nervensystems noch nicht so entwickeU sind, als sie es
noch werden könnton, sondern wir werden uns darüber end-
lich klar werden müssen, daß ein sehr großer Teil aller
Geisteskrankheiten auf Veränderungen rein funktioneller Natur
beruht, die stets nur der psychologischen Analyse zugäng-
lich sein werden. Aus diesem Grunde darf auch der heutzutage
fast zum psychiatrischen Dogma erhobene .Satz: »Alle Geistes-
krankheiten sind Hirnkrankheiten« — nur cum grano salis ver-
standen werden. Er ist zwar insofern ganz richtig, als wir wissen,
daß wir mit dem Hirn denken, und daß deshalb })ei einem pervers
denkenden Menschen das Hirn nicht in Ordnung sein kann. Der
Satz ist alx?r falsch, wenn man unter dem Worte »Krankheit« Ver-
änderungen vorsteht, die sich früher oder später, je nach der Ent-
wickelung miserer Untersuchungsmethoden, als unseren Sinnen zu-
gängliche dokumentieren müßten. Diejenigen Kranken, die bei
völliger Intaktheit ihrer übrigen Funktionen . . . durch ihre psychi-
sche Störung nicht im mindesten eine Beeinträchtigung iluer Lelx'ns-
dauer erfahren . . . sind nur in dem Sinne hirnkrank, daß die Ver-
knüpfungen in ihrem Hirn abweichen von der Norm . . .« (Rieger
versteht hierunter nicht etwa nur die Psychopathen, sondern, wie
er ausdrücklich sagt, vor allem auch die chronisch Verrückten.)
»Die Vorgänge an und für sich aber sind ganz die gleichen wie bei
allen anderen.« . . . »An welche veränderten Bewegungsvorgänge
im Hirn diese Veränderungen der psychischen Äußerungen geknüpft
sind, davon wissen wir, wie schon gesagt, nichts. Hypothesen
darüber zu ersinnen, hat keinen Wert. Nur soviel ist sicher,
daß es nicht etwa andere Hirnteilo sein können, unter deren Ver-
mittlung im normalen und abnormen Zustand gehandelt und ge-
sprochen wird. Wem dieser Satz nicht unmittelbar aus den an-
geführton Tatsachen evident ist, für den wäre auch jede weitere
Beweisführung verloren. Da wir uns alles natürliche Geschehen
bekanntlich nur luich dem Schema der Kausalität vorstellen können
und diese Vorstellung schließlich in räumlich zeitlicher Ordnung
auf den Begriff der Bewegung führt, .so können wir uns auch die
Vorgänge im Hirn innerhalb der Schranken unseres Vorstollung^-
vermögens in letzter Instanz immer nur als Bewegung denken. Diese
Vorstellung hat Wert zur Erklärung nu\ncher Dinge, für Betrach-
tung psychischer Vorgänge hilft sie uns sehr wenig. Ich
bin keiu Freund vom Analogisicren organischer oder gar psychischer
Dinge mit Saclien der l'hysik oder Chemie: einen Vergleich aber will
ich doch hier anführen, den ich Unterredungen mit einem großen
Naturforscher verdanke, und der, einfach und schlagend wie er ist.
jedernu\nn sofort klar machen muß. um welchen Gegensatz es .sich
bandelt. Wenn ein Stück Eisen magnetisch wird, woran erkennt mau
252 Prolegomcna zur cxllgemeüieu Psychiatric als strenger Wissenschaft.
dessen veränderten Zustand? An seinen Wirkungen. Was eigent-
lich im Eisen vorgegangen ist, fällt keinem Physiker ein durch Mi-
kroskop oder Reagens erkennen zu wollen. Dem Physiker kann es
nur opportun erscheinen, sich wenigstens Hypothesen zu bilden
über veränderte Molekularverhältnisse des Eisens, weil er es eben
mit einem einfachen physikalischen Objekt zu tun hat. Sehr wenig
Wert haben aber solche Hypothesen in Anwendung auf das mensch-
liche Hirn, dem wir doch viel besser beikommen von innen heraus,
da wir selbst gleichsam darinstecken. Und darin besteht
ja wieder der größte Vorteil des Psychologen vor dem Phy-
siker. Daß alle psychischen Vorgänge an materielle Veränderungen
im Hirn geknüpft sind, das ist freilich deswegen selbstverständlich,
weil wir nicht anders als in dieser ims naturnotwendig innewohnenden
kausal-mechanischen Weise denken können, soweit wir uns einem
Natur Vorgang gegenüberstellen. Nur können wir mit dieser ganz
allgemeinen Vorstellung dem psychischen Geschehen gegenüber nichts
anfangen, weil sie viel zu leer und inhaltlos ist. Und da wir uns
zum Glück in einer viel besseren Situation befinden als
der Physiker seinem Objekt gegenüber, weil uns die betreffenden
Phänomene auch durch unsere innere subjektive Anschau-
ung zugänlich sind, so ist jedes Wort, das auf Hypothesen jener
Art verschwendet wird, ein Zeitverlust. Wenn man bedenkt, wie
reich das psychische Leben in seiner Erscheinung ist, welch
unerschöpfliche Fundgrube es der Betrachtung und Analyse bietet,
so kommen einem die Versuche, gerade das Entlegenste, Allgemeinste
und darum Inhaltärmste sich zum Zielpunkt zu nehmen, vor, wie
etwa die Bestrebungen eines Menschen, der glaubte, die Betrachtung
der Venus von Milo in besonderem Maße zu fördern durch eine Ana-
lyse ihres Marmors, und wir können bei der Sixtinischen Madonna
jenem Forscher bereitwillig einräumen, daß Raffael ohne Farben
nicht hätte malen können.
Damit glaube ich deutlich genug gesagt zu haben, was ich unter
einer psychologischen Auffassung verstehe und wohin ich meine,
daß diese passe, im Gegensatz zu einer physiologischen, die an ihren
Platz gehört. Erstere ist für die Betrachtung psychischer Vorgänge
nicht nur deshalb vorzuziehen, weil sie die reichere und fruchtbarere
ist, sondern aus dem noph viel einfacheren Grunde, weil
sie innerhalb der Schranken unserer menschlichen In-
telligenz auch die einzig mögliche ist. Für denjenigen
wenigstens, der vor bloß schematischen Vorstellungen und schab-
lonenhaft konstruierten Möglichkeiten den gründlichen Abscheu
hegt, ohne den der Sinn für Naturrealität nicht bestehen kann.«
Und damit kehren wir zu dem eigentlichen Zweck unseres Rund-
blicks als einer Argumentatio ad hominem zurück, von welchem wir
ausgegangen waren. Wir wollten durch ihn die praktische Nütz-
lichkeit theoretischer Überlegungen für den Fortschritt der Psy-
chiatrie nahelegen, ehe wir die immanente Notwendigkeit wissen-
Alnvfhr d. Aussrhiioßlichkeit soinatolog. Einstellung i. d. uilg. PMychiatrie. 2Ö3
Schaft licluM- Tlicoretik als Orundlagc der Mögliclikcit einer allge-
meinen Psychiatrie als Wissenschaft aufweisen.
Wir fragen närnlicli jetzt, im H inMick auf diesen Zweck: Hollte
unserer Forschung in der geschilderten Lage nicht der Aidaß zu
einer kritischen Selbstbesinnung erwachsen ? Es wird von dioner
Selbst besiiniung hier nicht mehr gefordert, als die vorläufige Be-
freiung von einem Vorurteil, \icht dali der physiologische TJesichts-
punkt in der psychiatrischen Methodik falsch sei, oder auch nur
jemals in seinem F]rkliirungswert und seinen Arl)eitsansprüchen
beschränkt werden dürfe, wird hier gefolgert; sondern nur: es dürfe
nicht vergessen werden, dali seine restlose und ausschließliche Geltung
das Verhältnis von Körperlichem und Seelischem als in allen Einzel-
heiten beider Geschehensreihen erkenntnismäßig bestimmbar voraus-
setzt, daß aber eben diese Voraussetzung ein Problem
bildet. Die Alleinherrschaft des physischen Gesichtspunktes läßt
außer acht, daß die Forschungsmaterialien der Psychiatrie aus zwei
Reihen von Gegebenheiten bestehen; nämlich aus der physischen
\ind aus der psychischen*) — unter letztere lassen sich auch
die soziologischen, kriminologischen, und selbst normativen Ele-
mente, welche in sie hineinragen, letzthin irgendwie subsumieren.
Psychiatrie vermag schon hiernach niemals allein soma-
tische Wissenschaft zu sein; so wenig wie sie allein Seelen -
Wissenschaft zu sein vermag. Wir lassen die Frage vorläufig
noch offen, ob und inwieweit das psychische Ausgangsmaterial
in einer erkenntnismäßigea Bearbeitung Psychiatiie als Wissenschaft
7Ai konstituieren oder auch nur zu fördern geeignet sei. Wir ]>e-
haupten hier zunächst nur, daß auch diese Frage ein Problem
enthält; und wir behaupten weiter, daß die Lösung dieses Problems,
nämlich der Aufbau der Psychopathologie als Wissenschaft, den
i'rimat wenigstens für den Beginn einer Grundlegung wissen-
schaftlicher Psj'^chiatrie überhaupt zu beanspruchen hat. Mit dieser
1) Isscrlin (Aschaffonburgs Handbuch. lOl.'J. A2. S. 111) meint ganz richtig,
diese Feststellung allein genüge nicht zur Begründung der Forderung, der psychi-
schen Reihe »:ils .solcher ein eindringlicheres Int<Tesse zu widmen«; es reiche
niöglieherweise aus, »sie nur äußerlich als Handh.ibe zur Erfassung ganz anders-
artiger Erseheinungsreihen zu benützen und auf eine Einsieht in ihre besonderen
ihnen eigentümlichen Gesetzmäßigkeiten zu verzichten«. Aber wie will Isserlin
diese »CJegenf rage « beantworten, ohne die Tragweite der Erkenntnismöglichkeit
psychischer Daten auch im Hinblick darauf, eine solche »Handhabe« zu bieten,
vorher theoretisch festgelegt zu haben? Die »Handhabe« soll offenbar der
Klinik dienen, und da genügt ja auch Isserlin selber der »vorwissensrhaftliche«
Charakter p.sychologi.seher Uearbeitungen zu diesem Zwecke nicht mehr. Sollte
nicht die .Aufgabe, welibi- Isserlin selber sieh stellt, auch im Interesse der Klinik
über diese Vorläufigkeit i)sychologi.s<her Erkenntnis liinauszukommen. durch die
sehließlieh nicht von dem unbfirrte.sten Kliniker zu leugnende Tat.si\che ihn^
Reehtsgriinde »rhalten. daß wir eine Wissenschaft Psychiatrie wollen und
brauchen, daß sonst all<s (Jeretie und (Jeschreibe ein müßiger S|x>rt bleibt? Solche
Einwendungen, zumal wenn sie von einem so feinen I\velu>logen wie Isserlin
ausgehen, können mit ihn-r sinnlosen Tendenz, den Anspruch psychologischer
Erkenntnis zu beschränken, der Fonvhiing selber geradezu verhängnisvoll werden.
254 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
Feststellung freilich wissen wir noch nicht, was für eine erkenntnis-
mäßige Arbeit an dem psychischen Material möglich und gefordert ist,
was für eine Psychopathologie zur wissenschaftlichen Aufgabe zu
werden hat; wir wissen noch nichts über ihre Tragweite für die sozio-
logischen und kriminologischen Anwendungen, wissen noch nichts über
ihren Einfluß auf die Gestaltung somatologischer Forschung. Alles
dies sind Grundfragen der allgemeinen Psychiatrie als
Wissenschaft; sie müssen in einer solchen ihreBearbeitung
finden. Hier folgern wir nur, daß eine solche Psychopathologie
für den wissenschaftlichen Aufbau der Psychiatrie ein genau
ebenso berechtigter Arbeitsgesichtspunkt ist, wie das für
den phj'^sischen in seinen anatomischen und biologischen Anwendungen
mit Erfolg anerkannt wird. Daß diese Behauptung trivial und nicht
neu sei, kann aber gerade die bisherige Psychopathologie
selber mit gutem Gewissen nicht von sich sagen. Wer den Stand
der Dinge und der Arbeit genauer kennt, hat immer aufs Neue die
enttäuschende Erfahrung machen müssen, daß bis auf vereinzelte
Ausnahmen im Gebiete der Psychopathologie absolut nicht der
strenge Maßstab der Wissenschaft, der exakten Beobachtung
und eindeutigen begrifflichen und urteilsmäßigen Bearbeitung
herrscht, welcher auf der anderen Seite, der somatologischen, selbst-
verständliches Allgemeingut ist. Vielmehr liegt in der Psycho-
pathologie, um es einmal scharf zu sagen, ein in jeder Weise will-
kürliches, ungezwungenes oft anekdotisches Gerede vor, vielfach
vermengt mit versteckten normativen Merkmalen, welche für die
mangelnde Klarheit der Beschreibung einstehen müssen; es besteht
ein breites Kennertum, das der Tiefe ermangelt; die Erfassung see-
lischer Zusammenhänge schwankt bei den einzelnen Persönlich-
keiten von vulgarisierender Trivialität bis zu literarisch aufgemachter
ästhetisierender Phantastik, welche letztere in unsicherem Gleich-
gewicht gehalten wird von den seelenlosen Schematismen hetero-
logischer Herkunft aus physiologischen Gesichtspunkten. Das ist
selbst bei den bedeutendsten gegenwärtigen Klinikern der Psychiatrie
so. Man lese nur — um von anderen ganz zu schweigen — etwa
Kraepelinsche Symptomatologieen et welcher klinischer »Krank-
heitsformen«: Systemlose, redselige Breite, jeder präzisen begriff-
lichen Scheidung und Vertiefung abhold, für »Anschaulichkeit« aus-
gebend, was bloß ein bequemer Verzicht auf Denken ist. Wahr-
haftig, die Aufgabe, Psychopathologie zur Grundlage eines Aufbaus
der Psychiatrie als strenger Wissenschaft zu machen, ist noch weit
von ihrer Lösung! Dies ist nicht Schuld eines einzelnen; ein Krae-
pelin war berufen, andere Probleme in Angriff zu nehmen und dei'
Lösung zuzuführen; es liegt im Stande unserer Wissenschaft über-
haupt. Die wissenschaftliche Fundierung der Psycho-
pathologie selber steht noch in Frage.
Wir ersehen also bereits jetzt, noch bevor wir uns in irgendwelche
Untersuchungen systematischer und begrifflicher Art begeben haben,
Die allgcin. Ptsychiatrie als L^^gik uiid WiabcoöchaftölL-lire der l'.-ychiatrie. 255
lediglich aus jenem Kiiiulblick über den .Stand der gegenwärtigen
psychiatrischen Foisrhun^, dalJ eine theoretische Besinnung auch
für das Fortschreiten dieser Forschung von größter Fruchtbarkeit
werden niüUte, ■welche sich auf zwei grundlegende Probleme erstreckt.
Nämlich erstens auf die grundsätzliche Frage, welche Stellung
und welcher Erkenntniswert somatologischen Bestim-
mungen im ganzen der Psychiatrie zukommt; und zweitens
auf die Frage, ob und wieweit Psychopathologie als strenge
systematische Wissenschaft sich ermöglichen läßt.
Diese beiden Fragen sind nur Teilfragen des methodologischen
Grundproblems der allgemeinen Psychiatrie, wie sie hier
verstanden wird, überhaupt; des Problems: wie ist Pfjychiatrie
als Wissenschaft möglich?
Die allgemeine Psychiatric als Logik und Wissenschafts -
lehre der Psychiatrie.
Wenn wir nun diese Frage zum Ausgangsproblem einer allge-
meinen Psychiatrie machen wollen, so haben wir ihre Berechtigung
nicht, wie wir das bisher getan liaben, aus praktischen oder metho-
dischen Schwierigkeiten in der Bearbeitung psychiatrischer Einzel-
gebiete herzuleiten. Wir müssen vielmehr, da diese Frage das Ganze
der Psychiatric ins Auge faßt, ihre Berechtigung darin erweisen, daß
wir den Blick unbefangen auf psychiatrisches Denken und Handeln
richten, so wie wir es tatsächlich vorfinden und ausüben. Und wir
müssen utis angesichts dessen fragen: Ist dieses Denken und
Handeln Wissenschaft? Kann es zur Wissenschaft werden?
Ist es notwendig, daß es zur Wissenschaft wird? Und erst
wenn wir uns über diese Vorfragen eine vorläufige Klarheit geschaffen
haben, können wir uns weiter fragen: Wie kann es zur Wissen-
schaft werden? Bis zu welchem Grade von synthetischer
und systematischer Einheit kann diese Wissenschaft
ausgebaut werden, welche Stellung nehmen die einzelnen
Teile und Methoden der Bearbeitung zueinander und im
ganzen dieser Wissenschaft logisch und theoretisch ein?
Die Antwort auf diese Frage ist die erste Aufgabe der allgemeinen
Psychiatrie, der Ausbau der so gewonnenen Wissenschaft ist ihre
zweite. Die erste Aufgabe der allgemeinen Psychiatrie ließe sich
vielleicht klar und zweckmäßig als Logik der Psychiatrie um-
schreiben. Allein es ließ sich bereits in den wissensciiaftst beeret ischcn
Studien zeigen, daß es sich hierbei nicht lediglich um formale Logik
handelt, daß die Umgrenzung dieses Fragekreises eine weitere ist.
Es handelt sich um einen Untorsuciiungsbereich, den wir nach dem
Vorgang großer Denker auf anderen allgemeineren Erkennt nis-
gebicten als Wissenschaftslehro bezeichnen möchten. Und zwar
findet diese Wi.'^senachaftslehre Anwendung auf ein nicht leicht be-
grenzbares und heterogenes Gegenstandsgobiet. welches wir eben-
256 Prolegoniena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
falls erst noch l3egrifflich zu bestimmen und in seinem Einheits-
charakter aufzuweisen und zu begrenzen haben werden. Man be-
denke nur, was alles in diesem Gegenstandsgebiet an Fragen und
Materialien für das forschende Erkennen zusammenkommt: Die
Formen geistigen Siechtums und Reichtums, die Spielarten des Wahn-
sinns, die Abartungen nervöser und seelischer Minderwertigkeit, das
Verbrechen, die Verzerrungen der Charaktere, merkwürdige und noch
unerklärte seelische Sonderfähigkeiten, Hellsehen vmd Genialität,
Prophetie und Märtyrertum, die Erleuchtung des Apostolats und des
schöpferischen Künstlers, die Extasen der Religiosität und ihre ver-
zerrten Abwandlungen bei krankhaften Geisteszuständen, Krampf
und Lähmung, Sprachtaubheit und Rindenblindheit; die Gehirn-
schnitte und Blut Untersuchungen, die lokalisatorischen Tierversuche
und die Kriminalstatistik, der Reaktionstaster, das Chronoskop,
die Jugendfürsorge, die Psychologie der Massen und die Religions-
wissenschaft . . . und des Aufzählens ist kein Ende! Welches ist
das geistige Band, das alle diese Dinge verbindet, Avelches
ist die übergeordnete Einheit, in die sie alle als Glieder
einer Rangordnung eingehen? Tatsächlich ist hier alles noch
dunkel. Und wenn es auch naheliegt, zu sagen, es seien die Vorgänge
und Abläufe des geistigen Geschehens, und wenn auf diese Weise
ein ursprünglicher Primat des Psychischen vor dem Phy-
sischen im weitesten Sinne einleuchtend erscheint, wenigstens für
den Anfang des Forschens und seiner Maximenbildung, so erheben
sich doch sogleich weitere Fragen. Vor allem die Frage nach der
Abgrenzung unseres Sondergebietes von dem der Psychologie.
Warum ist neben dieser allgemeinen Psychologie noch eine Psycho-
pathologie notwendig, und inwiefern spielt diese die Rolle einer selb-
ständigen Wissenschaft? Wodurch unterscheidet sich prinzipiell
und den Grinidlagen nach die Gegebenheitsfülle, die wir an fremden
Ichen als Seelenkrankheitsmerkmale und -ausflüsse bezeichnen, von
dem Gegenstandsgebiet der Psychologie ? Was ermöglicht die Unter-
stellung eines einzelnen seelischen Ablaufs, was die einer seelischen
Gesamtpersönlichkeit unter den ersten oder zweiten Bereich des Er-
kennens? Wie verhalten sich beide Erkenntnisbereiche methodisch
zueinander ?
Ähnliche Fragen, in etwas anderer Formulierung, haben wir schon
im Eingangskapitel unserer Untersuchung über die Wissenschafts -
theorie des Psychischen aufgeworfen. Die Schwierigkeit ihrer Lösung
liegt darin, daß ihre logische Stringenz nur verbürgt wird, wenn man
sich völlig frei macht von allen Krankheitsbegriffen und Vorstellungen,
welche man gleichsam von außen her an die Materie heranbringt.
Man ist genötigt, sich ganz an den einzelnen Vollzug psychischen
Geschehens zu halten, so wie er phänomenal gegeben ist. Die Kri-
terien dafür, ob dieser einzelne psychische Vollzug dem einen oder
dem anderen Weg der Erkenntnis zugehörig ist, müssen völlig in
ihm selber liegen. Diesem Grundsatz entsprechend urteilt auch in
Di.- üllgoiu. Pny.^hiatri'.' ah fx>gik und VVissenschaftslelire (Wr Psychiatrie. 257
der Tat — zwar nicht die bislioiige Wissenschaft, wohl aber da«
psychologische Verständnis gefühlshaftor Art, mit welchem der un-
voreingenommene Mensch sich zu irgendeinem einzelnen psychi-
schen Geschehen stellt. Nur vermag er das Kriterium nicht zu formu-
lieren, nach welchem er urteilt. Es würde sich etwa so aussprechen
lassen: Psyeluschos Geschehen muß, vom Ich des Erlebenden aus,
dem einen oder dem anderen Erkenntnisgebiet unterstellt werden.
Psychologie umfaßt Miejonigen Erlebnisse und Abläufe, welche
diesem Ich gemäß sind, und durch irgendein psychologisches Selbst -
orkenntnisvorfahrcn oinfüiilend und analogisierbar erfaßt zu werden
vermögen. Der Psychiatrie bliebe die Erkenntnis derjenigen seeli-
schen Pliänomone und Verknüpfungen vorbehalten, welche ihrem Sein
und ihrem Sosein nach nicht »ichgemäß« in diesem genannten Sinne
sind, sondern denen das Ich des Erlebenden als etwas Fremdem,
außer ihm Stehendem, in ihm nicht VoUziohbarem gegenüber steht.
Dies Kriterium ist nun aber weit davon entfernt, logisch und
psychologisch einwandfrei formuliert zu sein. Es enthält in sich die
Aufgabe für eine allgemeine Psychiatrie, ihm diese einwandfreie
Prüfung zuteil werden zu lassen. Nun kommt noch hinzu, daß auch
bei solchen Menschen, in welchen »ichfremde« Erlebnisse und Ab-
läufe beobachtbar werden, diese Ichfremdheit keineswegs dem ganzen
Ablauf anhaftet, sondei-n reduzierbar ist auf einzelne besondere
Strukturen, welche herauszuarbeiten sind. An ihnen muß sich unser
Kriterium allgemein ableiten lassen. Und ferner sind derartige ich-
fremde Abläufe immer nur einzeln und eingebettet in den (Jesamt-
atrom des psychischen Geschehens, welches sie durchsetzen, das aber
trotz seiner engen Verflochtenheit und Wechselwirkung mit diesen
ichfremdon Elementen an sich nicht ichfremd ist. Aus dieser Wech-
selwirkung ergeben sich die »sekundären« Symptome des seeliscli
Kranken; und eine genaue Abgrenzung des Ichzugehörigen, des
originär Ichfremden und des Sekundären, sei es strukturell oder
inhaltlich aus Beidem Verflochtenen, sei es endlich der »reaktiven
Momente« auf ein ichfremdes Erleben») (bei denen wieder das Unter-
problem entsteht, womit reagiert wird: mit ichzugehörigen oder
ichfremden Erlebniswoisen) ist anscheinend unmöglich. Man darf
auch nicht übersehen, daß, so sehr diese Trennung echtem psycho-
logischen Verständnis entspricht, sie im Grunde unsere Frage doch
nur auf ein methodisches Geleise verschiebt: Die Frage kehrt in der
neaen Formulierung zurück, wo die Grenzen der Erlobensfähigkeit
für ein Ich liegen, und welches somit die Kriterien dieser lohgemäß-
lieit und ihres Gegenteils auf seelischem Gebiete sind.
Aber man muß noch weiter fragen: Die Voraussetzung der Mög-
lichkeit eines derartigen Kriteriums ist offenbar, daß das Ich dos
Erlebenden berechtigt ist, Angelpunkt und normatives Kriterium
*) Wir gebrauchon den Torminu.s »sekundär« hier wie Wornicko in soiaor
Paranoialohrc, den Terminus »reaktiv« wie Bloul'"- 'n I'T Schir.ophreniedar-
stellang.
Kronfeld, P»vrhUtrUclio KrkcantnU. 17
258 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
der Unterscheidung beider seelischen Klassen — derjenigen, welche
psychologisch, und derjenigen, welche psychiatrisch subsumiert wird,
zu setzen. Ist diese Voraussetzung begründet ? Hier liegen Probleme
von ungeheuerlicher Tragweite und ungeahnten Schwierigkeiten!
Wir werden diese Dinge, deren Problemnatur wir hier nur aufzeigen
wollten, später im einzelnen verfolgen. — Dies sind nur einige wenige
Beispiele für die vor jeder Abgrenzung unseres Gebiets zu lösenden
Vorfragen; vorerst, vor jeder sicheren Umgrenzung, kennen wir das
fragliche Gegenstandsgebiet nur seinem ungefähren Umfange nach
aus der Praxis unserer seelenärztlichen Arbeit; seine Einzigartigkeit
vermögen wir nur gefühlsmäßig zu vermuten; hilflos stehen wir vor
seiner anscheinenden Unbegrenzbarkeit und wesenhaften Hetero-
genität. Wenn ein Vergleich der oben genannten grundsätzlichen
Ausgangsprobleme, welche wir einer allgemeinen Psychiatrie gestellt
haben, mit einem anderen Gebiete geistiger Arbeit gestattet ist, so
verhält sich die allgemeine Psychiatrie zur Psychiatrie überhaupt
und ihrem Denken und Handeln etwa ebenso, wie sich Logik und
Erkenntnislehre zur Philosophie verhält. Insofern weisen wir den
perhorreszierten Gedanken nicht von uns, mit derartigen Unter-
suchungen nicht nur eine Logik, sondern sogar eine Philo-
sophie der Psychiatrie zu intendieren. Freilich verstehen wir
unter Philosophie nicht irgendeinen dämonologischen Luftbau wie
der alte Heinroth, noch sonst irgendein dem Inhalte nach mysti-
sches Begriffsgespinst. Wir hoffen vielmehr durch die Tat zu be-
weisen, daß wir überall in enger Beziehung zum festen Boden tat-
sächlicher Gegebenheiten verbleiben und ihn nur formal und be-
grifflich in eindeutigen Regressen in seiner ganzen Fülle vom Wesen
' des Gesetzes und der systematischen Ganzheit umspannen lassen.
Wir werden keineTheorie, sondern eine Theoretik der Psychiatrie
zu geben haben, welche allererst den Grund der Möglichkeit sämt-
licher formalen und begrifflichen Bestimmungen, sämtlicher Ge-
setzesbildungen sichert, diese mit den nichtgegenständlichen Kri-
terien des Richtigen und Falschen versieht und in ihrer gegenseitigen
Ordnung abgrenzt. Wenn man den Begriff des Logischen über das
formale Apriori hinaus ins Synthetische erweitern will, wenn man
auch die formalen Grundlagen werttheoretischer Unterscheidungen
und dynamischer Verknüpfungen zu ihm hinzunimmt, so hat man
das Recht, diese Untersuchungen immerhin als Logik der Psy-
chiatrie zu bezeichnen. Dann darf man sagen: Den ersten
Hauptteil der allgemeinen Psychiatrie hat ihre Logik
zu bilden.
Indem wir diesen Sa.tz aufstellen, nehmen wir für die geforderte
»Logik« oder »Philosophie« psychiatrischen Denkens nicht etwa
einen besonderen modalischen Rang, eine besondere Geltuzigsbasis
höherer Art in Anspruch. Wir konstruieren kein wissenschaftliches
System a priori. Vielmehr stehen wir fest zu der seit Bacon und
Kant über allen Zweifel hinausgehobenen methodologischen Er-
Die allg»-ni. Psychiatrie alb Logik und Wissenschaftsieh n- fl'-r P.sychi»tne. 259
kenutniß, die erst jüngst noch von Marty — bei (.'inein dem unseren
gleichen Unternehmen im Gebiete der Sprachwis.senscbaft — so
formuliert worden ist'): »Erfahrung und logische Keflexion haben
zur (jieuüge gezeigt, daß die richtige Methode zur Erforschung der
die Naturvorgänge beherrschenden (besetze die empirische ist. Ea
kann daneben für uns niclit noch eine zweite, nicht empirische geben,
die gleichfalls zum Ziel, ja zu ticferliegenden Resultaten führte. Wenn
die empirische Methode die richtige ist, um zur Erkenntnis des Details
der Erscheinungen und von diesem schrittweise zu den allgemeinen
Gesetzen vorzudringen, so kann es daneben für uns nicht noch eine
andere geben, die ebenso gut oder etwa gar noch besser zum selben
Ziel führt.«
Was bezweckt dann aber unsere Forderung einer Logik der Psy-
chiatrie als einer neben der empirischen Einzelforschung einher-
laufenden, diese regulierenden und systematisierenden Disziplin?
Kann es zwei Wissenschaften vom gleichen Gegenstande geben?
Wir folgen wiederum Marty: »Dem Einwand gegenüber, daß doch
beide, wenn sie verschieden sein sollen, nicht vom selben Gegenstand
nach derselben Methode handeln könnten, wäid man mit einer Ant-
wort nicht in Verlegenheit sein. Denn vom selben Gegenstaud kann
ja unter verschiedenen Gesichtspunkten gehandelt werden; ver-
schiedene Wissensdisziplinen können verschiedene Teile und Seiten
an ihm ins Auge fassen und einen verschiedenen Kreis von Fragen
über ihn zur Lösung zu bringen suchen.« Und wenn wir das Wesen
der hier geforderten forschenden Einstellung auf die Gegenstände
der Psychiatrie mit einem Schlagwort bezeichnen wollen, welches
ihren »philosophischen« Charakter ins Licht setzt, so wird es uns
wiederum durch Marty nahegelegt: »Philosophisch sind die
Untersuchungen des Psychologen und aller auf das Allgemeine
und Gesetzmäßige gerichteten Forschungen, die sich auf jene stützen
und an sie anlehnen müssen, derart, daß es im Interesse einer zweck-
mäßigen Arbeitsteilung gefordert ist, sie mit den psychologischen in
einer Hand zu vereinigen.«
Lehnt man auch den mitklingenden psychologist ischen Stand-
punkt unseres Führers weit ab, so sind dennoch die in dieser For-
mulierung gegebenen Gesichts- und Grenzlinien für das Wesen einer
allgemeinen Psychiatrie, so wie sie das folgende Unternehmen in
Angriff nimmt, von maßgeblicher Geltung. Ja es ist nicht einmal
möglich, sich eine allgemeine Psychiatrie als Wissenschaft vorzu-
stellen, die nicht in diesem Sinne Martys eine philosophische
Disziplin wäre.
Hierüber wird weiter unten mehr und Ausführlicheres dargetan
werden. So wird das Gespenst einer geisteswissenschaftlichen Dis-
ziplin in der Psychiatrie, deren Schaffung im Anschluß an die von
*) Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Oramraatik und Sprach-
philosophie. S. 4 ff. Halle 1908.
260 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
uns widerlegten Rickert sehen Gedankengänge ein Scheinleben zu
fristen versucht, uns nicht schrecken: Auch die philosophische Dis-
ziplin einer allgemeinen Psychiatrie ist Logik und Theorie der Natur -
forschung; und soweit sie Psychologie ist, ist sie selber Natur-
wissenschaft, ohne deshalb ihren »philosophischen« Anspruch im
obigen Sinne aufzugeben. Vorerst handelt es sich uns aber noch nicht
um das Wie dieser psychiatrischen Logik und Theoretik, sondern
lediglich um ihren Anspruch auf Geltung und Bedeutung überhaupt.
Die praktischen Aufgaben der Psychiatrie und der Nach-
weis der immanenten Notwendigkeit ihres Wissenschafta-
charakters.
Wir kommen damit zur Aufweisung der immanenten Notwendig-
keit der allgemeinen Psychiatrie als systematischer Wissenschaft.
Und da müssen wir sogleich betonen, daß der direkte Nachweis
dieser Notwendigkeit mit dem ihrer Möglichkeit zusammenfällt.
Warum dies so ist, wird sicli im Gesamtverlauf dieses Werkes aus
all seinen Einzeluntersuchungen ergeben. Ferner aber läßt es sich
auf indirektem Wege, durch Ausschluß aller anderen Möglichkeiten,
dartun, daß, wenn Psychiatrie als strenge Wissenschaft überhaupt
möglich ist, auch die Notwendigkeit ihrer Verwirklichung gebieterisch
besteht. Und dies folgt, wie wir schon sagten, aus einer unbefangenen
Würdigung des psychiatrischen Denkens und Handelns in seiner
Tatsächlichkeit .
Man kann nämlich die Frage aufwerfen : Wozu derartige Rekurse
auf systematische Wissenschaf 1 1 Ist nicht Psychiatrie ein prak-
tisches Denken und Tun, und in der Praxis seiner Zwecke begrenzt
und klar, gleichviel, ob dabei den Anforderungen und Kriterien des
Wissenschaftlichen Genüge getan wird? Wir haben die Kranken
vor uns und unserer Obhut anvertraut. Sie und ihr Leiden sollen
wir verstehen und ihnen helfen. Ist es dafür nicht gleichgültig, zu
wissen, in welchen Grenzen der Umfang des Begriffes ihrer Krankheit
sich bewegt, welche Inhalte konstitutiv auf ihn bezogen werden
können, und ähnliches mehr? Können wir überhaupt, um einen
nur allzu beliebt gewordenen Gesichtspunkt Sim meischen und
Bergsonschen Betrachtens hierher zu übertragen, den Kranken,
diese lebendige Einheit der Persönlichkeit, in den Rahmen formaler
Begriffe, Gesetze und Strukturen hineinzwängen, ohne das Lebens-
volle, für ihn Spezifische, das funktionale Strömen in seiner Kon-
tinuität, zu ertöten, ohne den Fluß des Werdens und Geschehens in
ihm zur Erstarrung zu bringen? Können wir das lebendige Inein-
ander durch begriffliche Formulierung und Auflösung in festen
starren Schematismen uns wirklich klarer machen, als uns das durch
jene Art von unbefangenem, praktischen, ganz auf das Individuelle
gestelltem Versenken gelingt? Und selbst wenn wir es könnten:
Wäre es nötig und gefordert, das zu tun?
Üb«r die Reclo von <icr Psychiatrif al« KuiiBt. 261
Wir scheiden hier dan in diesem Einwand mitcnthaltene Problem
einer Wissenschaft vom Individuellen, siKJzicll einer Psychologie de«
Individuüllon, ganz aus. Die Diskussion der Möglichkeit einer In-
dividualpsychologio als Wissenschaft liegt Ijereits hinter uiih»); auch
jene Gedankengänge Bergsons, Simmeis, der historiischen Psycho-
logie, und inslicaondere der »Geisteswissenschaft« im Sinne Rickerts
und Webers haben wir grundsätzlich abgetan. Der Aufbau der
Individualpsychologie auf Gnnid jener wisscnschaftstheoretisclien
Fundierungen lohnt aber erst, wenn die Notwendigkeit der Psychiatrie
als Wissenschaft schon feststeht, und nur der Sondercharakter
eben dieser Wissenschaft noch den Gegenstand des Fragens bildet.
Mit dem oben gemachten Einwand aber ist gerade der Zweifel zu
Worte gekommen, ob Psychiatric, insbesondere Psychopathologie,
als Wissenschaft üborliaupt irgendeine wesentliche Bedeutung neben
dem praktischen Denken und Tun des Psychiaters und für dasselbe
beanspruchen könne.
Über die Rede von der Psychiatrie als Kunst. Fortsetzung
des Nachweises der immanenten Notwendigkeit ihres
Wissenschaftscharakters.
Es werdeJi damit Einwände laut, welche den Ausdruck des Staud-
punktes bilden, Psychiatrie als Kunst der Menschenbehandlung
lind als nichts weiter aufzufassen. Man ist von vielen Seiten und mit
den verschiedensten Argumenten zu diesem Standpunkte gelaugt.
Meist wTirdo aus der Möglichkeit und Notwendigkeit praktischen
psychiatrischen Tuns einerseits, aus den anscheinend bis zur Un-
möglichkeit gesteigerten Schwierigkeiten stichhaltiger theoreti.scher
Fui\dierung dieses praktischen Tuns andererseits der Schluß gezogen:
auf diese theoretische Fundierung komme es nicht an; eben jene
Praxis stehe im Vordergrunde und könne sich für ihre Zwecke mit
vorläufigen, in ihrer Richtigkeit durchaus anfechtbaren Arbeitn-
hypothesen und Konventionen begnügen. .tVllcs käme auf den prak-
tischen Erfolg an. Noch jüngst wurde das Argument gebraucht,
Psychiatrie könne zur Wissenschaft nicht werden: für den Soelonarzt
bestehe der wesentliche Ausgangspunkt all seines Handelns und
Eingreifens, ja bereits all seines Verständnisses und Begreifens dessen,
was in seinen Kranken vorgehe, in der subjektiven Fähigkeit, sich in
dieselben seelisch zu versenken imd einzufühlen. Es gebe aber kein
Kriterium objektiver Art dafür, ob da.s, was der Scelcuarzt mit sub-
jektiven Mitteln in seine Kranken eingefülilt habe, ein Gebilde der
Wirklichkeit sei oder nicht, richtig sei oder falsch. Dieses letztere
Argument nun betrifft schon nicht mehr die Frage, ob Psychiatrie
als Wissenschaft notwendig und gefordert sei; es geht lisüi^lich auf
d.i'^ Problem ob Psychiatrie als Wi.srionseiiaft möglich sei oder
') Vul. vori^t• Abhandl . Kap. VII und VIII.
262 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
nicht. Und diese Frage ist einer theoretischen Untersuchung zu-
gänglich. Sie kann durch eine Analyse und Kritik dessen, was sich
bei den »Einfühlung« genannten Vorgängen abspielt, entschieden
werden. Wir werden sie daher an der ihr in diesem Werk zukommen-
den Stelle wieder aufzunehmen haben. Wir stehen vorerst noch bei
der Vorfrage, ob derartige theoretische Untersuchungen über die
Möglichkeit wissenschaftlicher Feststellungen in der Psychiatrie sich
überhaupt verlohnen, d. h. für die Praxis wesentlich seien und sein
könnten. So zweifellos es ist, daß, wenn theoretische Untersuchungen
diese wissenschaftliche Möglichkeit der Psychiatrie verneinen würden,
dann immer noch die Bedürfnisse der Praxis bestehen bleiben und
sich in diesem Falle eben auf zweckmäßige Konventionen und Hypo-
thesen zu beschränken haben würden, sobald die reine Subjektivität
des künstlerischen Erfassens versagt, — so einleuchtend ist auf der
anderen Seite, daß die Ablehnung der Möglichkeit wissenschaftlicher
Psychiatrie erst erfolgen darf, wenn jene theoretische Untersuchung
darüber endgültig verneinend entschieden ist. Dieses Argument
darf also erst nach der Inangriffnahme dieser theoretischen Unter-
suchung über die Möglichkeit der Psychiatrie als Wissenschaft ge-
braucht werden, und dies auch nur dann, wenn diese Untersuchung
erfolglos bleibt. Hiervon unberührt bleibt allerdings jenes andere
Beweismittel, welches von der Praxis der Psychiatrie und ihren Be-
dürfnissen ausgeht, und begriffliche Bestimmungsstücke nur insoweit
für zulässig erklärt, als es diese Praxis unbedingt geboten erscheinen
läßt, und nicht weiter.
Nun ist in der Tat Psychiatrie als ausübendes Handeln wie als
verstehendes Sichversenken in fremde Seelen etwas der künstlerischen
Betätigung in gewisser Weise Nahestehendes. Ihre Betätigung ist
in sehr viel höherem Grade an subjektive Faktoren der ärztlichen
Persönlichkeit gebunden, als die Betätigung anderer, besonders
theoretischer, wissenschaftlicher Disziplinen. Und dennoch muß hier,
bei aller Bewunderung für das Ideal des rein auf seine erfassende und
heilende Menschlichkeit gestellten Seelenarztes, betont werden, daß
die bloße Bindung einer Betätigung an subjektive Persönlichkeits -
faktoren nicht den künstlerischen, sondern höchstens den
unwissenschaftlichen Charakter der psychiatrischen Praxis dar-
tut. Das wesentliche Merkmal der künstlerischen Betätigung, die
schöpferische Potenz, das Herausstellen objektiv wertvoller Gebilde
aus reiner Intuition, fehlt der psychiatrischen Betätigung. Darüber
sollte Berufsstolz, praktischer Erfolg und persönliche Eitelkeit nicht
hinwegtäuschen. Psychiatrie als praktisches Handeln ist
noch keine Kunst, bloß weil sie keine Wissenschaft ist;
so wenig wie kaufmännische, banktechnische, wirtschaftspoli tische
Betätigung etwa um deswillen eine Kunst sein^ müßte, weil sie er-
folgreich ist. Insofern sie an besondere Fähigkeiten vmd Anlagen
der Persönlichkeit des Ausübenden gebunden ist, die weder über-
tragbar noch gar lehrbar sind, fordert sie von ihm eine geistige Artung
über die Rede von der Psychiatrie aln Kunnt. 263
von besonderem qualitativen Reichtum, besonderer Differenzierung
und Bewußtheit; und setzt diese Eigenschaften in um so höheren Grade
voraus, je erfolgreicher sie wird. Aber das ist in keinem der genannton
geistigen Berufe anders. Das Wesentliche bleibt das freie und sub-
jektive Spiel individueller Geistoskräfte, in ihrer Anwendung auf l>e-
stimmte praktisch vorgesetzte Zwecke. Diese Zwecke aber, und die
Mittel zu ihrer Verwirklichung müssen erkannt werden; es bedarf
der Reflexion, um sie sich ins Bewuüts *in zu bringen. Und so schreitet
bereits an dieser .Stelle jegliches praktisches Verfahren in der Psy-
chiatrie über die Grenzen bloßer subjektiver Willkür \jnd Zufälligkeil
ins Objektive hinüber. Wie liegen denn die Dinge? Zur Auffindung
und zum CJcbrauch der Mittel, welche diese Zwecke verwirklichen
sollen und können, haben sich im Laufe der Zeit Regeln heraus-
gebildet. Diese Regeln sind aus persönlichen Einzelerfahrungen
abgehoben, Verallgemeinerungen, welche jeweils auf die Verwirk-
lichung der Zwecke, denen sie dienen sollen, zugeschnitten sind; sie
sind lelirbar und Gemeingut. Das ist ebenso in allen jenen anderen
praktisch-geistigen Berufen, welche wir vorhin zum Vergleich heran-
gezogen haben. An sich kommt diesen Regeln außer ihrem kon-
ventionellen und heuristischen Wert im Hinblick auf den jeweils
vorgesetzten Zweck kein dauernder Bestand oder p]igenwert zu.
Sie entsprechen dem, was in der Kunst die Regeln des »Handwerk-
lichen«, die Gesetze des Materials und seiner Bearbeitung, sowie der
Darstellungsmöglichkeit bedeuten. Für die Kunst besteht daneben,
unabhängig von diesen konventionellen Regeln praktischer Art, noch
das Gesetz der objektiven, ästhetischen Wert normen, welches für
ihre Betätigung, wo nicht zur leitenden Maxime, so doch zum bc-
Bchränkenden Kriterium des Künstlerischen an einer Leistung wird.
Für die praktisch wissenschaftlichen Berufe, zu denen in erster Linie
neben den technischen Fächern die Medizin gehört, schweben aber
jene Regeln nicht zusammenhangslos und bedeutungsarm in der
Luft; sie orientieren sich vielmehr an einem Grundstock systema-
tischer wissenschaftlicher Feststellungen; und diese Feststellungen
behalten wissenschaftlichen Rang und (ieltung auch \inabhängig von
der Tatsache, daß sie praktisch angewendet und verwertet werden
können.
Die Frage ist nun, ob für die Psychiatrie eine derartige Orien-
tierung der aus praktischen Bedürfnissen geborenen Regeln an einem
wissenschaftlichen (Grundstock an sich gült iger Feststellungen
faktisch ebenfalls besteht und unvermeidlich ist. Über das Wie
dieser Orientierung wird hier noch nichts vorausgesetzt. Diese Frage
Mtellon heißt sie bejahen, wenn anders Psychiatrie überhaupt alfi
ein Teil ärztlichen Denkens und Tuns eingegliedert wird. Um die
Absurdität des (Jegenteils klar einzusehen, braucht man lediglich
zu bedenken, daß ohne diese Orientierung die Psychiatrie mit allen
ihren Einzelheiten völlig blind und uneinsichtig fundiert wäre, daß
sie völlig der Subjektivität des einzelnen ülK'rlassen l>liel>e. welcher
264 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie ala strenger Wissenschaft.
sie zufällig ausübt, daß sie nicht lehrbar wäre, daß es kein Kriterium
des^Richtigen oder Falschen in ihr gäbe, daß jede Meinung neben der
anderen zu gleichem Recht bestünde. Nichts unterschiede mehr den
Scharlatan von dem Forscher; Fortschritt und Lehre wären ebenso
vernichtet wie die Aussicht, unseren Kranken jemals wirklich helfen
zu können. Psychiatrie bliebe eine Art mystischer Gabe einzelner
Persönlichkeiten. Tatsächlich hat noch kein Psychiater, auch wenn
er von der Bedeutung der Persönlichkeit des Seelenarztes für die
Praxis der Berufsausübung noch so durchdrungen war, jemals diese
Orientierung psychiatrischen Denkens und Tuns an den Normen
und Kriterien der Wissenschaft — sei es welcher Disziplin immer —
als unnütz von vornherein abgewiesen. Überall, wo Einsichten in
Krankheitsabläufe oder Zustandsbilder gewonnen werden, wo soma-
tologische Feststellungen getroffen werden, welche Anspruch auf
eine mehr als zufällige Einzelgültigkeit in sich tragen, wird diese
Orientierung an wissenschaftlichen Grundlagen irgendwelcher Art
tatsächlich vollzogen.
Auch historisch läßt sich der ungeheure Fortschritt nachweisen,
welchen die Einnahme dieses Standpunktes in der Psychiatrie über
die vor Griesingers Zeit herrschende »künstlerisch ((-intuitiv speku-
lierende Willkür darstellte, welche die Formen, Inhalte, Zustände,
Verläufe und selbst Wesenheiten geistiger Störung aus der Sünde,
dem Dämonismus, der »gewucherten Leidenschaften« ursächKch her-
zuleiten und zu bestimmen suchte. Wobei denn alles, selbst der
Ursachenbegriff, in mystischem Nebel verschwamm.
Damit fällt aber die Rede von der Psychiatrie als Kunst in sich
zusammen; die Unumgänglichkeit und damit die immanente Not-
wendigkeit ihrer wissenschaftlichen Orientierung ist de facto erwiesen.
Die Frage bleibt hiernach vielmehr ausschließlich die: Wie weit soll
diese Orientierung gehen, wie weit kann sie gehen? Hierbei ist zu-
nächst das eine klar, daß sie weit über die Anlehnung der künstlerischen
Betätigung an die objektive Norm des ästhetischen Gesetzes hinaus-
geht. Die letztere liefert lediglich Kriterien des Künstlerischen an
Schöpfungen. Der Psychiater aber verlangt von der Orientierung
seines Handelns an der Wissenschaft positive Bestimmungsgründe
für die Vorgänge in seinen Kranken, sowie für das Wie und Warum
seines ärztlichen Handelns. Er verfährt dabei eben grundsätzlich
nicht anders als der Arzt überhaupt. Nur ist es ihm bisher versagt,
diese wissenschaftliche Anlehnung ebenso sicher und weitgehend
durchzuführen, wie der körperliche Arzt. Die Gründe hierfür liegen
sowohl in der geringeren Ausbildung der heuristischen Regeln psy-
chiatrischer Praxis als auch in dem Ausbildungsstande der diese Regeln
fundierenden wissenschaftlichen Geltung. Der Spielraum des Sub-
jektiven ist nur die Tugend seiner Not, deren Ursprung in diesen
Unzulänglichkeiten liegt. Aus ihm sollte also nicht mit gar so viel
Stolz eine Sonderstellung psychiatrischer Betätigung wie etwas
Rühmenswertes hergeleitet werden. Die Bezeichnung der Psychiatrie
Einführung in dio Problematik des Wissenschaft sbcgriffce. 265
als Kunst ist nur oino rocht durcliHichtigo Bcschwiclitigungsformel
für das schlechte wissenschaftliche Gewissen.
Mit diesen Ausführungen wäre das Ziel unseres indirclvlcn Argu-
menticrens für dio immanente Notwendigkeit einer allgemeinen Psy-
chiatrie als strenger systematischer Wissenschaft erreicht. Wir haben
die Frage, ob Psychiatrie als Wissenschaft notwendig ist, entscheidend
bejahen müssen unter dem Vorbehalte ihrer Möglichkeit. Wenn
diese Möglichkeit besteht, so wird es zur gebieterischen Aufgabe für
den wahren Fortschritt der Psychiatrie, sie zur Wirklichkeit werden
zu lassen, gerade auch um der Praxis der Psychiatric und
ihrer Arbeitsbedingungen willen. Es besteht die Aufgabe,
jene an sich bedeutungslosen konventionellen Zweckregeln, jene vor-
läufigen Surrogate wissenschaftlicher Feststellungen und Gesetze
entweder durch ihre Verankerung an einem wissenschaftlichen Grund-
stock an sich gültiger Feststellungen zu sichern und auszubauen,
oder sie fallen zu lassen und durch solche Gesetze zu ersetzen, deren
Auffindung schon ein an sich wertvoller und bleibender Geistes-
gewinn wäre. Wenn dies geschehen ist, wenn die Sicherung und der
Ausbau jener Konventionen der psychiatrischen Praxis zur System-
einheit einer Gesetzeswissenschaft erfolgt ist, dann ist die Aufgabe
der allgemeinen Psychiatrie gelöst. Erweist sie sich als unlösbar,
so mag man dio getroffenen psychopathologischen und klinischen
Konventionen provisorisch beibehalten — aber nur im Bewußtsein
ihres Vorläufigkeitscharakters. Diese Alternative hängt gänz-
lich ab von der wissenschaftlichen Möglichkeit der Psy-
chiatrie.
Diese wird damit zum Grundthema des ganzen vorliegenden Unter-
nehmens und aller seiner logischen und theoretischen Untersuchungen.
Sie ist das Verbindende, welches als leitende Maxime alle Erörterung
der Einzelfragen beherrscht und stets, auch wo es nicht sichtbar ist,
hinter ihnen steht.
Einführung in die Problematik des Wissenschaftsbegriffes.
Wie ist Psychiatrie als Wissenschaft möglich? In dieser Frage-
stellung steckt nocli ein weiteres Problem: nämlich das Problem
dessen, was unter Wissenschaft zu verstehen ist. Was meinen wir
mit dem Bogriff Wissenschaft, wenn wir den Aufbau unserer Er-
kenntnis vom Gegonstandsgebiet der Psychiatrie zu einer Wissen-
schaft als Ziel ins Auge fassen? Dio Problematisierung des Wissen-
schaftsbegriffes und alle hier anknüpfenden Untersuchungen haben
iiire Lösung zu finden in jenen Disziplinen, welche wir als Erkenntnis-
kritik, Logik und Wissonsehaftstheorie (Metaphysik) kennen. Die
Ergebnisse dieser Disziplinen müssen für unseren Zweck übernommen
werden; unsere Aufgabe ist es lediglich, diese Ergebnisse auf unser
(Gegenstands bereich anzuwenden und sie hierfür fruchtbar zu
266 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
machen!). Es überschreitet den Rahmen unserer Aufgabe und
unserer Ansprüche, die Fragen des Begriffs und der Möglichkeit von
Wissenschaft überha-upt hier zu erörtern und einer Lösung zu-
zuführen. Nun ist es uns auf der anderen Seite wohl bekannt, daß
auch in jenen Zweigen der Erkenntnis, denen diese Aufgabe besonders
obliegt, keineswegs Übereinstimmung unter den Denkern herrscht.
Nirgends vielmehr sind die Gegensätze der Meinungen, die Wider-
sprüche in den geistigen Errungenschaften, die grundsätzlichen
Zweifel und die methodischen Fehden heftiger als gerade im Gebiet
der philosophischen und logischen Erkenntnislehre. Den Gründen,
warum dies so ist, brauchen wir hier nicht nachzugehen; und noch
weniger haben wir Anlaß, unsere Kompetenz zu überschreiten, indem
wir uns als Mitstreiter in dieses Kampffeld hineinbegeben.
Und doch können und dürfen wir ihm nicht völlig fern bleiben,
wenn anders wir unsere Fragestellung, was wir unter Psychiatrie
als Wissenschaft zu verstehen wünschen, zur notwendigen Klarheit
zu erheben in der Lage sein wollen. Wir müssen uns vielmehr klar
und eindeutig zu einem Standpunkt bekennen; müssen sagen,
was uns Wissenschaft bedeutet — auf die Gefahr hin, daß diese Be-
deutung seitens anderer philosophischer Schulen nicht anerkannt,
sondern verworfen und befehdet wird. Handelt es sich doch hier
gleichsam um den Mittelpunkt allen Strebens nach Erkenntnis, um
den Punkt, an welchem das materiale Einzelerkennen und sein An-
spruch eintritt in den größeren Kreis der Weltanschauung, welche
dem Erkennenden zu eigen ist ; verknüpft sich doch hier der schlichte
und sachliche Wissenschaftsgedanke mit den transgredienten Grund-
lagen geistigen Strebens und geistiger Haltung überhaupt, mit den
tiefsten Wurzeln der geistigen Persönlichkeit und ihres Welt-
bildes. Erkenntnislehre wird hier zum Exponenten der gesamten
philosophischen Auffassung, deren Tragik und deren Größe es aus-
macht, daß sie nicht nur ein Erkennen, sondern auch ein Bekennen
ist. Und so sehen wir uns in der Lage, gerade hier Partei ergreifen
und einen Standpunkt einnehmen zu müssen, ohne ihn an dieser Stelle
anders begründen zu können, als mit dem Hinweis auf die geistigen
Führer, als deren Nachfahren wir ihn verfechten.
Der erkenntniskritische Standpunkt, den wir unseren Auffassungen
von Wissen und Wissenschaft, vom Erkenntnisvermögen, seinen
Quellen und seinen Gültigkeitsgrundlagen im folgenden zugrunde
legen, ist der des Kantischon transzendentalen Idealismus,
wie ihn große Philosophen der folgenden Generation von anhaftenden
Irrtümern gereinigt, strenger formuliert und systematisch ausgebaut
haben. In erster Linie ist imser philosophischer Führer Jakob
Friedrich Fries, dessen weiterführenden Ausbau Kantischer
Erkenntnislehre in den letzten Jahrzehnten Nelson und die neue
1) Vgl. hierzu und zum folgenden die gesamte vorhergehende Abhandlung
»Über die wissenschaftstheoretiechen Grundlagen der Psychologie« usw., S. 113ff.
dieses Buches.
Einführung in dir Problematik dea W'itt«cn*jhuft«U,*griffc«. 267
Friessche »Schule wieder ans Licht geholt und erneut haben. Eh
ist kein Zeichen mangelnder Objektivität, wenn wir unnere Zugehörig-
keit zu diesem philosophischen kStandj)unkt immer erneut betonen,
und dementsprechend alle gerade in der Psychiatrie herrschenden
Empirismen und mehr oder minder verschleierte »enorgotischo« Ma-
terialismen ebenso abweisen wie jenen »kulturphilosophischen«
eklektischen Transzendentalismus, welcher sich neuerdings in einigen
Werken psychiatrischer Art einzunisten versucht hat. Klarstes und
eindeutigstes Bekonnortum und Parteiergreifen ist vielmehr gerade
ein Zeichen dos Strebons nach Objektivität, insofern man darunter
Klarheit, Bestimmtheit und Einsinuigkeit versteht. Würden wir
unsern kStand})unkt hinter vorschwimmenden Allgemeinbegriffen und
historischen Abwägungen verschleiern, so würden wir eine Schein-
objektivität vortäuschen, welche der Unklarheit alle Wege offen
ließe und dennoch nicht objektiver wäre, als dieses Bekenntnis.
Das schließt nicht aus, daß wir die Feststellung dessen, was
wir im allgemeinsten Umriß unter Wissenschaft verstanden wissen
wollen, möglichst befreit von allen vorweggenommenen Voraus-
setzungen aus denjenigen Merkmalen des Wissens und der Wissen-
schaft ableiten, über welche vor allem Streit der Meinungen ein
consonsus omniura besteht. Alle Einzolproblomo der Erkenntnis-
quellen wie der Methodonlehre finden ihre Lösung dann entweder
innerhalb der Kant-Friesschcn Erkenntnislehre selber, von -wo sie
hierher einfach übernommen werden, oder in besonderen Erörte-
rungen an denjenigen Punkten der materialen Einzeluntersuchung,
wo ihre Aufwerfung notwendig wird. In den folgenden kurzen Sätzen
geben wir, ohne Hinweis auf die literaiischen Quellen, eine Zusam-
menfassung der allgemeinsten Aussagen über den Charakter dea
VVissens und der Wissenschaft, von dem Ausgangspunkte an, über
welchen allgemeine Übereinstimmung herrscht, bis zu denjenigen
Punkten, die uns zur vorläufigen Kennzeichnung unserer Absicht
für dies vorliegende Unternehmen genügend erscheinen. Das Pole-
mische in ihnen dient lediglich der Abwehr grundsätzlich anderer
Möglichk(,Mten, ohne deren prinzipielle Grundlagen erschöpfend be-
kämpfen zu wollen; es hat also nur den Zweck, unseren Standpunkt
roiner hervortreten zu lassen. Leitgedanke ist \ins hierl)ei. daß
gerade der Psycrhiater gut daran tut, einen sehr klaren Begriff vom
Wesen seiner Wissenschaft und der in ihr erforderten Denkvollzüge
an die Einzelforschung mitzubringen. Nur so kann das konventio-
nelle, imbeglaubigtc und verschwommene Gerede, welches immer
noch in ihr herrscht, zum Schweigen gebracht werden.
Zum Begriff des Wissens.'
Wishcn i.st eine Art der Erkenntnis, und zwar eine solche,
welche dem reflektierenden Bewußtsein angehört. Jede begriff-
liche Bearbeitung, welche von» Besonderen zum .\llgemeinen
268 Pi'olegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissensohal't.
führt, jede Verallgemeinerung von Anschauungen, Wahrneh-
mungen und Beobachtungen, jedes Urteil über solche Wahrneh-
mungen und Beobachtungen, jedes Vergleichen und Unterschei-
den nennen wir Wissen. Die Bewußtseinsprozesse, durch welche die
einzelnen Ergebnisse derartigen Wissens entstehen, sind in sich ver-
schiedener Art. Gemeinsam ist ihnen allein ihr Anspruch auf
G'eltung und tatsächliche Richtigkeit.
So wie wir faktisch das Wissen über irgendein Gegenstandsgebiet,
vorfinden, stehen seine Ergebnisse, die Erfahrungen, zunächst
noch diskret und ungeordnet nebeneinander. Die Art, wie sie ge-
macht werden, ist anfangs weder methodisch einheitlich noch in
gleicher Weise gegen Irrtum gesichert. Auch die Kriterien ihrer
Richtigkeit sind von Fall zu Fall andere. Es bedarf einer besonderen
Untersuchung, um diese Ki-iterien und ihr Prinzip für jedes Wissen-
schaftsgebiet erst besonders zu entwickeln, und ebenso unterliegt
bei fortschreitendem Wissen die Berechtigung und die Anwend-
barkeit der zu ihm führenden Methoden besonderen Rechtsnach-
weisen. Ferner steht zunächst niemals fest, ob das Gegenstandsgebiet
irgendeiner solchen denkenden Bearbeitung in seinem ganzen Umfang
von ihr getroffen wurde oder nicht. Die besonderen Untersuchungen
über alle diese Fragen gehören der Kritik an. Jedoch ist es tat-
sächlich beim Erwerb dieses Wissens so, daß der Geist sich seine
einzelnen Erkenntnisse als külmer Pionier im Reiclie der unbekannten
chaotischen Gegenständlichkeit zuerst ohne alle Rücksicht auf der-
artige Bedenken der Kritik schafft. Daher ist dieses sein Wissen
über irgendwelche Gegenstände anfangs noch mit allen Irrtums -
möglichkeiten des Subjektiven behaftet, ein ständiges Fließen, und
ebenso leicht wie es auszubauen ist, auch wieder zu stürzen. Und
doch hebt auf der Basis dieses Wissens der Begriff der Wissen-
schaft sich allmählich stufenweise empor.
Hier zeigt sich bereits der Spielraum und die Breite der Zone
von Denk Vollzügen, deren Inbegriff wir »Wissen« nennen. Diese
Zone, die von den ersten vorläufigen Unterscheidungen bis zum
einheitlich festen System des Erkennens reicht, besteht auch für das
Gegenstandsgebiet der Psychiatrie. Jede Bearbeitung der unab-
sehbar strömenden Fülle unseres seelischen und physischen Materials,
welche in ihm einzelne Punkte festlegt, herausgreift, welche irgend-
wie Ordnung oder auch nur Orientierung in ihm sucht, trägt bereits
den Charakter des Wissens und gehört in diese Zone, wie subjektiv
und vorläufig sie im übrigen auch sei. Wenn wir auf einen bereits
vorher geäußerten Einwand zurückgreifen, so geht aus diesen vor-
läufigen ersten Konstatierungen schon hervor, daß das Wissen seinem
eigentlichen Wesen nach, als denkende Verarbeitung, bereits immer
ein Fixieren des Strömenden ist, ein Trennen der Kontinuität, ein
Erstarren des lebendigen Geschehens, ein Festlegen und Ordnen
der sonst unübersehbaren Mannigfaltigkeit. Es ist dem mensch-
lichen Geist wesenhaft zu eigen, Geschehen nicht anders denkend
Zviin Bügriff (\<--a WissoiiH. 2G9
einlangon zu können als in solchen orstariondon, ordnenden ProzoHrfon.
Und das ist ganz unabhängig von dem Gegonstandslxjreich, welche»
dieser Bearl>oitung unterliegt, und gilt vom PäychiHchen genau so
wie vom Physischen. Es geht also auch innerhalb der Psychologie
dem ganz persönlichen Sichversonken hierin nicht anders, soweit
sein Ergebnis auf Richtigkeit Anspruch erhebt, als es strenger, be-
grifflicher Formulierung ergehen würde: Jeder Versuch der Er-
fjissung von Seelischem, auch der des in freier Subjektivität sich in
die Seele seiner Objekte Versenkenden, ist bereits ein solcher Ord-
nungsprozeü, und darum gar nicht prinzipiell und methodisch von
dem »ertötenden Wissend geschieden, vor welchem er so viel voraus-
zuhaben vorgibt. Nicht erst das begriffliche Fortschreiten vom
Individuellen zum Allgemeinen, sondern bereits das Festlegen
des einzelnen biingt, in seinem Ordnuugscharakter, Schnitte durch
die (ianzheit des seelischen Lebenskontinuums mit sich; so ist ea
einem Erstarrungs- und Kristallisierungsvorgang vergleichbar. Jener
Einwand, welcher vorher gegen die Psychiatrie als Wissenschaft ge-
richtet war, erweist sich also schon bei oberflächlichem Zusehen als
ein solcher gegen jede geistige Bearbeitung der psychologischen
Materie überhaupt; wobei gleichgültig ist, ob diese Bearbeitung bis
zur Wissenschaft fortschreitet, oder ob sie in den rudimentären An-
fängen ungeordneten Einzelcrfahrens von vielleicht noch begriffloser
Art stehen bleibt. Diese Erstarrung des Lebensstromes in Begriffen
und Regeln ist immer unvermeidlich, wo der denkende Geist einem
Gegenstands boreich gegonübertritt. Die genauen Gründe dafür
liaben wir in unseren wissenschaftstheoretischen Grundlegungen ge-
geben. Dem ist nun einmal so, und so ist nicht einzusehen, warum
dieses unvermeidliche Verhalten gerade in der Psychologie mehr
Schaden stiften sollte, als in irgendeiner anderen Disziplin. Jener
Einwand ist wirklich nur ästhetischer und sentimentaler Natur,
wenn er sich auch metaphysisch zu verkleiden liebt . Wert und Wesen
des Wissens berührt er gar nicht.
Warum aber verhält sich dies so? Warum ist Wissen zugleich
uumer eine Entfremdung der immittelbaren Auffassung erlebter
Gegenständlichkeil? Die Antwort hierauf gibt die jisychologische
Erkenntnislehre. Ein jedes Gebiet von Gegenständen des Erfahrene
ist uns zunächst in irgendeiner vor allen anderen Weisen des Be-
wußtseins ausgezeichneten Weise unmittelbar gegenwärtig ge-
geben, in einer Kontinuität, in der wir es als verflochten in eine
räumliche Gesamtheit oder in ein zeilliches Geschehen erleben. Wir
nennen die seelische Funktionsklasse, vermittels dessen uns die Gegen-
stände in dieser Weise unmittelbar gegenwärtig gegeben sind, An-
schauung.
Alles Wissen von Gegenständen der Außenwelt und des Seelen-
lebens ist nur eine allgemeingültige Wiederholung dieses ursprüng-
lichen, anschaulichen Bewußtseins von jenen Gegenständen; d. h.
ea gilt unabhängig von der Zufälligkeit ihres Erlebtwerdens und
270 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
herausgelöst aus ihrer Zufallsbeziehung zu anderen Gegenständen
der Erlebniskontinuität, in der sie gegeben waren. Es ist eine will-
kürliche und mittelbare Wiederbewußtmachung. Diese vollzieht
sich in der Sphäre des Denkens. Den Denk Vollzügen selber haftet
nichts von den anschaulichen Charakteren mehr an, welche die un-
mittelbare Gegebenheit gekennzeichnet hatten. Sie vollziehen sich
durch Begriffe und Urteile. Durch welche psychischen Funk-
tionen Begriffe sich bilden, und wie bei ihrer Bildung die anschau-
lichen Momente zur allmählichen Ausschaltung gelangen, ist eine
psychologische Sonderfrage der Erkenntnislehre, die uns hier nichts
angeht; und ebenso ist das Problem der Bildung von Urteilen,
ihrer Formen, Gültigkeiten und Grundlagen hier nebensächlich. Es
genügt hier, daß die Eindeutigkeit und Herauslösung des Gewußter»
eben nur um den Preis der Entanschaulichung erkauft werden kann.
Wissen und Wissenschaft.
Wissen nun, das den Anspruch auf Richtigkeit als Zug seines
Wesens trägt, vollzieht sich niemals allein in Begriffen, sondern
stets in Urteilen. Beides sind willkürliche Schöpfungen des Ver-
standes ; der Begriff aber ist problematisch, eine denkend vollzogene
Kombination von Merkmalen, in welcher kein Anspruch auf Existenz
und Realität enthalten ist. Demgegenüber liegt es im Wesen des
Urteils, einen Gegenstand oder Tatbestand zu beurteilen, eine Aus-
sage darüber zu versichern, eine Beziehung vorzustellen und als
gültig zu behaupten. Auch jede Verwerfung ist ihrem Wesen nach
die Behauptung eines Geltens.i) Im Wesen eines Urteils liegt also
der Anspruch auf die Richtigkeit dessen, was es aussagt. Und soweit
ein Urteil sich auf Gegenstände und Tatbestände der Außenwelt und
des Seelenlebens erstreckt, ist dieses Gelten, dessen Behauptung das
Wesen eines Urteils ausmacht, fundiert durch jene unmittelbar
gegenwärtige Anschauung des Gegenstandes oder Tatbestandes, von
deren anschaulicher Gegebenheit das Urteil ein irgendwie abgeleitetes,
reflektiertes Bewußtsein ist. Die Anschauung ist also der Grund der
Geltung aller einzelnen Erfahrungen, wie sie sich in Urteilen des
einzelnen Wissens niederschlägt; diese Urteile des Einzelwissens sind
ja letztlich nichts anderes, als eine Wiederholung der angeschauten
Wirklichkeit. Die Reflexion ist an sich leer, sie vermag Wissen aus
sich heraus nicht zu erzeugen; sie vermag lediglich die einzelnen An-
schauungen zusammenfassend und willkürlich ordnend wieder bewußt
zu machen. Hierin aber kann sie auch irren; und das Kriterium hierfür
ist immer die Anschauung, deren Abbild zu geben sie berufen ist.
1) Ob die Bestimmung von Beziehungen als gültig in jedem Falle, wo sie
im Urteil ausgesagt wird, logisch auf die Behauptung einer Existenz zurückgeführt
werden muß, ob die synthetischen Urteile auf thetische reduziert werden müssen,
wie Brentano will, bildet ein besonderes Problem. Vgl. hierzu meine Ausführungen
im Arch. f. d. ges. Psychol. 29. Lit.-Ber. S. 5ff.
WiBscn und Wissenschaft. 271
Nun können Beziehungen von Dingen zueinander nicht angeschaut,
sondern nur gedacht werden. Und wenn die Geltung derartiger Be-
ziehungen als notwendig und allgemein gedacht wird, unabhängig von
der vereinzelten Zufall.scxi.stenz des anschaulichen Material.s, an wel-
cher sie jeweil.s erfaßbar werden, so beruht dies auf Grundformen
denkender Erkenntnis überliaupt, welche der Form jeder möglichen
Erkenntnis bestimmter Art zugrunde liegen. Diese Erkenntnisgrund-
formen erscheinen in den logischen Urteilsformen; wir nennen sie
mit Kant Kategorien. Wie sich diese kategorialen Formen der Er-
kenntnis mit dem anschaulichen Schema ihrer bestimmten Anwend-
barkeit auf die Erfahrung zu den logischen Urteilsformen verbinden,
und wie hierdurcii denkende Bestimmungen gültiger Art an der An-
schauungsmatcrie sich ermöglichen, diese Probleme haben uns —
für das psychisciie Gebiet — bereits ausführlich in der VVissenschafts-
theorie des Psychischen beschäftigt. Dort haben wir auch gezeigt,
wie Realrelationen durch sie bestimmt erkannt werden. Und wir
haben im Anscliluß daran den Gedanken der Theorie in ihren
verschiedenen Formen entwickelt. Auf alles dies sei hier nur noch
einmal verwiesen.
Was dadurch erreicht wird, daß die Reflexion die anschaulichen
Gegebenheiten in Begriffe bringt und beurteilt, das ist die Über-
windung der zufälligen Zusammensetzung und Verknüpfung des
reflexionell bearbeiteten Anschauungsmaterials, seine Befreiung vom
Hie et Nunc seines Daseins. Es ermöglicht sich auf diese Weise eine
Beschreibung des Tatsächlichen auf Grund seiner qualitativen
Merkmale unter Absehung von dem ihnen Unwesentlichen. Es er-
möglicht sich die Klassifikation des Beschriebenen unter allge-
meineren Begriffen, welche durch Absehen von verschiedenartigen
Merkmalen und Hervorhebung gleicher Züge an ähnlichen Gegen-
ständen und Abläufen gebildet werden. Wir haben hier keinen
Anlaß, die logischen Prozesse des Klassifiziercns irgendwie näher zu
verfolgen. Ihr Endziel ist eine Systematik begrifflicher Ordnung,
bei welcher die individuelle Mannigfaltigkeit in ihrem Einzclsein
stufenweise eingeht in eine Rangordnung allgemeinerer und allge-
meinster Klassenbegriffe und Abgrenzungen, vermitteb deren sie
eindeutig inbezug auf ihre Stellung im Ganzen des Wissens bezeichnet
werden kann. Die Beschreibung des einzelnen Gescln hens und Seins
in irgendeinem (^regenstandsgebiet nacli seinen wesentlichen Eigen-
arten, unter Absehen von seiner zufälligen Einzelverfloohtenheit,
durch die Merkmale der Klassifikation wird so zu einem Gewinn
wissenschaftlichen Durchdenkens.
Aber jede Klassifikation bleibt an sich willkürlich und proble-
matisch, wenn sie nicht an irgendwelchen Kriterien orientiert ist,
die ihre Berechtigung (xler zum mindesten ihre besondere Zweck-
mäßigkeit dartuu. Diese Kriterien nun können nicht aus den Be-
griffen selber stammen; denn bei der Kontinuität des Mannigfaltigen
und alles Anschaulichen ist das Herausheben von Einzelnem, das
272 Pfologomona zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
Absehen von anderem Einzelnem ein Verfahren, das seinen Rschts-
gruud nicht in sich selbst trägt. Der Gesichtspunkt, unter welchem
dieser willkürliche Vollzug von Begriffsbildungen geschieht, muß
vielmehr seinerseits in irgendeiner Grundlage Wurzel geschlagen
haben, die außerhalb der Abstraktion selber liegt und diese erst
über ein bloßes Spiel der Willkür und Problematik hinaushebt.
Hierfür, für diese leitenden Gesichtspiunkte des Abstrahierens und der
Klassifikation, kann es die mannigfachsten Motive und Zweckmäßig-
keitsgründe geben. Klassifikation ist nie Selbstzweck, wissen-
schaftlich bedeutsam wird sie, wenn ihr leitender Gesichtspunkt
einem Rechtsgrund entspringt, der selber wieder durch das Wesen
der Wissenschaft geboten ist. Und hiermit kommen wir zum Sinne
der klassifikatorischen Ordnung. Der Sinn und Zweck der Begriffs-
bildung, die an sich willkürlich und problematisch ist, ist das Urteil,
welches bejaht und verwirft, Verknüpfungen als bestehend anerkennt
und auffindet, welches gilt, welches Wahres aussagt. Dar Sinn und
Zweck allgemeiner Begriffe ist das allgemeine Urteil, welches
Regeln aufstellt, welches den Zufall durch die Notwendigkeit, das
Chaos durch das Gesetz besiegt. Dar Sinn der Klassifikation in Be-
griffen ist systematische Erkenntnis von Gesetzen der Not-
wendigkeit des empirischen Geschehens, auf das sie sich beziehen.
Das Ziel des Erkennens ist das Gesetz des Geschehens.
Das Wesen des Gesetzes ist allgemeine und notwendige Geltung
der in ihm ausgesagten Verknüpfungen des Geschehens. Für alle
in empirischen Anschauungen gegebene Gegenständlichkeit voll-
zieht sich die Auffindung von Gesetzen aus einzelnen Erfahrungs-
urteilen im Wege des Induktion genannten Schlußverfahrens,
dessen Geltung für alle Naturwissenschaft wir bereits vorausgesetzt
haben. Dem Wesen der Induktion gehen wir hier nicht nach. Für
die physische Gegenständlichkeit, welche in raumzeitlicher An-
schauung gegeben ist, hieße ein solches Unterfangen Eulen nach
Athen tragen, nachdem Baco, Locke, Hume, Kant, Whewell,
Apelt, "iMill, Helmholtz, Boltzmann, Poincar6 und andere
erlauchte Geister dieses Problemgebiet methodologisch geklärt haben.
Für das Gebiet des Psychischen ist hier freilich noch viel zu tun;
aber das wird an derjenigen Stelle dieses Buches nachzuholen ver-
sucht werden, wo es erforderlich wird^). Hier verweisen wir aus-
drücklich auf diesen Abschnitt. Vorerst genüge hier die Behauptung,
daß die Induktion wie im Bereich des Physischen so auch in dem des
Psychischen die Methode zur Auffindung von Gesetzen zu sein hat,
und daß dies das Ziel wissenschaftlicher Bearbeitung der psychischen
Reihe zu bilden hat: Beherrschung ihrer kontinuierlichen Mannig-
faltigkeit durch die abstraktiven Ordnungsbegriffe der Klassi-
fikation zum Zweck der Aufstellung von notwendig geltenden Ge-
setzen des Psychischen im Wege der Induktion. Wir werden diese
1) Vgl. S. 386 ff. dieses Buches.
Der Wisacnac-hafUbfgriff dtr raychiatrie. 278
iicluiuptung gegen mancherlei Einwände nocli zu recht fort igen halx*n
niid ihre positive Begründung im Laufe des Buche« nicht schuldig
bleiben. Hier lx)kennen wir uns, unserem Vorwatz getreu, einfach
zu ilir.
Das Wesen der Wissenschaft liegt also für uns in d(>i P^rkenntni«
notwendiger Gesetze. Diese Erkenntnis ist da.s Ziel aller Tatsachen-
beschreibung. Ihre Methode, die Abstraktion, erfolgt unter dem
Zweckgesichtspunkt der Ermöglichung von Induktion. Vermittels
der Abstraktion beschreiben wir, vermittels der Induktion er-
klaren wir die Tatsachen und Zusammenhänge. Beides macht
uns das Wesen des Wissens aus.
Der Wissenschaftsbegriff der Psychiatrie.
Wissenschaft ist nichts anderes als der Inbegriff der voll-
endeten systematischen Einheit allen Einzelwis.-^ens über ein
Gegenstandsgcbiet. Die Ergebnisse dieses Einzelwissens sollen sich
in der Wissenschaft neben- und untereinander, je nach dem Umfang
und der Tragweite ihres Gegenstandsgebiets, ordnen; so sollen Regeln
und Gesetze klarer heraustreten, ihren Geltungsbereich deutlicher
erkennen lassen und ihr gegenseitiges logisches und reales Verhältnis
bestimmbar machen. Und dieser Prozeß der geistigen Durchbildung
und Bearbeitung alles Gewußten auf irgendeinem Gebiet soll zu
einem logischen Aufbau eindeutiger Art führen, in welchem jedes
Wissen wie in einem ungeheuren Rahmen Ort und Stelle findet, die
niclit vom Zufall, sondern vom Verhältnis des Teilwissens zum Ganzen
bestimmt wird. Dieser Aufbau führt von der Basis des einzelnen
Tatsachenwissens in der Einheit eines Systems bis zu der Spitze all-
gemeinster Geltungen. Unter diese ordnen sich, nach der Tragweite
ihres Gegenstandsgebiets und nach ihrem logischen Rang, die Grund-
gesetze, und von diesen hängen ebenfalls wieder in eindeutiger Weii^e
engere Gesetze und Regeln ab, und so fort bis zur Basis des Einzel-
wissens hinunter. Diese Darstellung soll nur eine unbegriffliche,
gleichsam bildhafte Idee dessen geben, was das Wesen der Wissen-
schaft ausmacht. Mehr braucht an dieser Stelle hierüber nicht ge-
sagt zu werden. So viel ist schon hieraus klar, daß, wenn es ein eigene!?
System gibt, aus diesem in vielfacher Hinsicht Gewinn und Sicher-
heit für den Fortsehritt des Wissens gezogen werden kaiui. Es wird
aus ilim herleitbar sein, was gewußt werden kann. Tragweite und
(Jeltungsbereich gewonnener Erkenntnisse werden durch Einordnunu
in da.s genannte Gebäude durchsichtiger erkennbar. Irrtümer und
Vorläufigkeiten werden deutlich und lassen sich l)ezeichnen. Und es
werden Kriterien gewonnen, um den Erk«nntnisanspruch neuer Fest-
stellungen und ihre Irrtumsmögliehkeiten leichter zu erfassen. Letzto-
res gilt besonders von solchen noch problematischen Erkennt nis,«5en,
welche allgemeiiu»rer Natur sind, z. B. von theoretischer Konstruk-
tion, und von Hypothesen. E« zeigen sich Wege, auf denen die
Kronfeld, PsychUtrUchc Erkcoutal« 18
274 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
Forschung weiter schreiten, auf denen sie neue Erkenntnisse den
alten eingliedern kann. Dies kommt dadurch zustande, daß das
systematische Ordnungsbedürfnis, in seiner logischen Bestimmtheit
durch den bereits vorhandenen Rahmen des Systems, zur leitenden
Maxime weiterer Forschung wird, daß aus ihm Arbeitsgesichts-
punkte und Hilfshypothesen abgefolgert werden. Endlich er-
gaben sich aus der systematischen Ordnung überhaupt die Gesichts-
punkte für die notwendige und weiterführende Verarbeitung noch
ungeordneter Wissensmaterialien : Es bilden sich nämlich an der Hand
dieser leitenden Maximen neue Methoden aus, die nicht nur dem
Gregenstandsbereich, das in Frage steht, sondern auch dem Bedürfnis
dieses wissenschaftlichen Einbezogenwerdens in das systematische
Ganze angemessen sind.
Überblicken wir diese Vorstellung von Wissenschaft, so wird uns
auch klar, auf welche Weise jene früher erwähnten heuristisch-prak-
tischen Regeln und Zweckgesichtspunkte beginnender denkender
Bearbeitung, wie sie das systemlo e Wissen und die Konvenienz auf
ihr Gegenstandsbereich anwendet, durch die vom System der Wissen»
Schaft her gewonnenen Leitmaximen des Denkens ihre formale Ord-
nung und Rangbestimmung, ihre Sicherung und Bewährung zu emp-
fangen vermögen, — kurz, wie es möglich wird, aus diesen Konven-
tionen bleibendes wissenschaftliches Gut von eigenem Werte zu
schaffen. Zugleich wird klar — und das ist uns höchst wichtig — ,
wie andererseits die bloße Idee wissenschaftlicher Systematik zu
einem Wertkriterium jener praktischen Konventionen und Regeln
zu werden vermag.
Wenden wir diese Vorstellung von Wissenschaft — ohne vorerst
weitere Klärung im einzelnen notwendig zu haben — auf unser Gegen-
standsbereich, die Psychiatrie, an, so ergibt sich als grundlegender
Inhalt unserer Aufgabe: Psychiatrie als Wissenschaft erfordert die
Beschreibung und Erklärung der Tatsachen des psychiatrischen
Gegenstandsgebiets im Rahmen einer systematischen Einheit. Die
allgemeine Psychiatrie hat die Möglichkeit der Lösung
dieser Aufgabe kritisch zu untersuchen, die Grundlagen
der systematischen Einheit, soweit eine solche hier mög-
lich wird, hinsichtlich ihrer gegenständlichen und ihrer
nichtgegenständlichen, formalen Voraussetzungen zu prü-
fen und die Methoden zu ihrer Aufstellung festzustellen
und zu begründen.
Einige Schwierigkeiten der Anwendung des Wissenschafts -
begriffes auf die psychiatrische Materie.
Mit dieser Feststellung haben wir zwar unsere Aufgabe bezeichnet,
wie sie uns in ungeheurer Tragweite als Vorwurf einer allgemeinen
Psychiatrie vorschwebt. Allein, gestehen wir es uns ruhig ein; Mit
der bloßen Konzeption dieser Aufgabe allein ist noch nichts gewonnen .
Einige SohwierigkeiU'ti der Aitweiuiung des WiMt-niichaf t*f ^j • " 275
Hinter derselben steht wie ein großes Fragezeichen das Problem der
Mittel, mit wtlclien vh diene Aufgabe zu bewältigen gilt. Niclit« wäre
verfeiilter und mehr wider den eigentlichen Sinn und Ik-griff von
WiflflenHchaft gerichtet, als nunmehr alle Materialien, Inventionen
und Ergebnisse des Einzelwissens unter Vergewaltigung und V'cr-
biegung ihres ursprüngliclien Adäquat heitscharakters gewaltsam in
den llahmen eines Systems zwingen zu wollen, bloß deshalb, weil die
Idee der systematischen Einheit als Leitstern über aller wissenschaft-
lichen Forschung schwebt. Was Ix'i einem derartigen Unterfangen
herauskommt, das zeigen uns im Gebiete der Psychiatrie gerade die
früher erwähnten somatologischen Systembildungen, welche einen
Teil der für die Psychiatrie zum Ausgangspunkt dienenden Gegeben-
heiten, nämlich die psychische Reihe, mit völlig unangemessenen
Erkenntnismitteln gewaltsam unter somatologische Systembegriffe
und Maximen zu pressen unternahmen und so zum Verdorren brach-
ten, welche anstatt wirklicher und leicht gewinnbarer Erkenntnis
auf diesem Gebiet nur das Zerrbild einer solchen zu produzieren ver-
mochten. Abgeschlossene systematische Einheit der Erkenntnis
kann nur in natürlicher Entfaltung aus den Erkenntnisdaten und
Erkenntaismitteln adäquat und organisch herauswachsen, nie kann
sie ihnen von außen her aufgezwungen werden. Und so bleibt die
Möglichkeit der Anwendung unseres Wissenschaftsgedankens auf die
psychiatrische Materie nach wie vor eine dunkle Frage, deren Lös-
barkeit abhängt und bedingt ist von den eben genannten beiden
Faktoren: den Erkenntnisdaten und den Erkenntnismitteln.
Was die letzteren anlangt, so haben wir bis jetzt nur für die Psycho-
logie im allgemeinen und ohne Rücksicht auf spezielle psychiatrische
Ziele unser wissenschaftstheoretisches und logisches Arsenal prüfen
können. Und bei genauerer Prüfung ergibt sich da, daß auch die
Erkenntnismittel in ihrer Angemessenheit an die Erkenntnisdaten
noch einer großen Reihe von Schwierigkeiten und Zweifehl unter-
liegen. Diese ist freilich ihrerseits nicht logischer, sondern mate-
rialer Art, soweit es sich um die physischen Gegebenheiten handelt.
Pur die physischen Gegebenheiten ist die Logik der Erkenntnis -
Vollzüge bis zum Aufbau einheitlicher Wissenschaft klar und ein-
deutig gelöst. Kritik der Erkenntnismittel, Methodenkritik ist
hier immer sachlich bedingt, aber auch sachlich geboten. Für diese
kann die allgemeine Psychiatrie sich an bewährte Vorbilder halten.
Die Methodenkritik der allgemeinen Psychiatrie, soweit sie an die
Verarl)eitung der pliysischen Reihe anknüpft, ist Einzelarbeit unter
tl«'n (Jesichtspunkten, die für alle pliysi.sche Naturwissenschaft all-
genu'inliin gelten. Wir haben hitr, boi der Aufzeichnung des vor-
läufigen Grundrisses zu einem Bauplan, grundsätzliche Schwierig-
keiten nicht zu Ix'fürchten. Ganz anders wird dies, sobald wir der
psychischen R^'ihe gedenken. Und die Schwierigkeiten häufen sich
in dem Augenblick, wo wir uns bt>wußt werden, daß srlbst nach
einer Lösung systematischer Möglichkeiten für die psychische Reihe
18*
276 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wisaenachaft.
der Erkenntnismaterialien unserer Wissenschaft das Restproblem
bestellen bleibt, die Ergebnisse beider Reihen, der physischen
und der psychischen, in ihrer ungeheuren wesenhaften Gegen-
sätzlichkeit nebeneinander zu stellen und die Erkenntnis jeder
dieser beiden Reihen in der Form einer gemeinsamen Dis-
ziplin vereinheitlicht zum System zu erheben. Dies scheint
eine Aufgabe zu sein von solcher Schwierigkeit, daß dem mensch-
lichen Geist ihre Lösung überhaupt nicht beschieden wird. Was
man bisher unter Psychophysik zu verstehen pflegte, dieses selt-
same Sondergebilde eines genialen und abseitigen Einzelgeistes, wie
Fechner es war, und vieler ideenloser Nachtreter, füllt diesen Platz
jedenfalls ganz gewiß nicht aus.
Wir sind auch weit entfernt davon, hinsichtlich des letztgenannten
Problems der Möglichkeit einer systematischen psychophysischen
Wissenschaft uns in verfehlten Hoffnungen zu wiegen. Aber es wird
schon viel gewonnen sein, wenn man überhaupt erst einmal feststellt,
was denn auf diesem Gebiete wißbar ist. Die Schwierig-
keiten und selbst die möglicherweise sich ergebende Unlösbarkeit
der Aufgabe systematischen Wissens auf psychophysischem Gebiet
dürfen uns jedenfalls nicht veranlassen, die Wissenschaftsidee als
solche fallen zu lassen und Psychiatrie im. Beharrungszustande system-
loser Einzelsammelei von Erkenntnissen zu belassen. Es ist nicht
richtig, wenn Jaspers aus der von ihm von vornherein behaupteten
Unmöglichkeit einer objektiven Systemeinheit auf deren Überflüssig-
keit, ja Gefährlichkeit schließt. Gewiß hat er darin recht, daß die
bisherigen Versuche von Systembildungen auf diesem Gebiet kaum
mehr waren als konstruktive Verranntheiten einzelner. Aber es
hieße das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man nun daraus
das Recht ableiten wollte, auf den Leitgedanken wissenschaftlicher
Systemeinheit als die Idee vollendeten psychiatrischen Wissens, dem
es zuzustreben gilt, und in dessen Dienst alles wissenschaftliche Ar-
beiten der Psychiatrie irgendwie zu stehen hat, zu verzichten. Jas -
pers selbst tut dies auch gar nicht, wenngleich er vorgibt es zu tun.
In allem demjenigen, was er an Erörterungen der Gesichtspunkte
und Methoden, der Tatsachengruppierung und der Erkenntnisförde-
rung geleistet hat, tritt für jeden ein objektives inneres Zentrum klar
zutage, wenn er dessen Existenz auch gewissermaßen offiziell be-
streitet und zu verschleiern sucht; und dieses Zentrum ist nichts
anderes als die Idee der wissenschaftlichen Einheit psychiatrischer
Forschung, deren Vollendung auch durch seine Untersuchungen zu
verwirklichen versucht wird. Es mag vorsichtig sein, diese Idee
nicht auszusprechen, um sich scheinbar die Vorurteilslosigkeit des
Arbeitens zu wahren und nicht in konstruktive Fehler zu ver-
fallen; wir befolgen diese Vorsicht nicht, sondern sagen was wir
wollen.
rrobh-rnc (Ich WiBaenK um S«-flii»chin. '_'77
Probleinr de» Wissenb um Seeliücheu.
Aber können wir die^*(•s Wollen realiBieren? Die Schwierigkeiten
liegen in erHter Linie bei denjenigen Erkeuntnisniaterialien, welche
beim Studium GeiHteskranker zu allererst gegeben sind: der psychi-
schen Keilu'. Fassen wir diese Schwierigkeiten noch genauer in« Auge.
Es kommt uns dabei zunächst durchaus nicht darauf an, etwa
bezeichnen zu wollen, was denn nun das Psychische vom Physischen
grundsälzlicli unterscheidet. Es ist uns nicht wichtig, das Gebiet
des Psychischen von dem des Physischen prinzipiell abzugrenzen.
Über die Möglichkeit dieser grundsätzlichen Abgrenzung ist viel
geschrieben worden, seit dem Nachweis Brentanos, daß das Merk-
mal der Ausdclmung nicht auf alles Physische zutrifft, und dement-
sprechend den Unterschied beider Gegebenheitsreihen nicht konsti-
tuiert. Diese Frage erscheint uns eine müßige Frage jenes unechten
Theoretisierens, das fruchtlos und zwecklos bleibt. Wir begnügen
uns mit der Tatsache, daß die Ausdehnungslosigkeit zweifellos ein
Merkmal alles Psychischen ist, welches wir aber nicht brauchen, um
Psychisches als solches zu erkennen. Wir begnügen uns damit, daß
wir alles Psychische aus seinem Gegebenheitscharakter heraus un-
mittelbar als solches erkennen und von Nicht psychischem zu \inter-
scheidcn vermögen — gleiclivicl, worauf diese Sonderart des unmittel-
baren Gegebenseins zurückführbar sein möchte^). Wir definieren
auch nicht etwa die Sonderart der Gegebenheit vom Psychischen,
wie dies in schulmäßiger Starre oftmals von vornherein geschieht,
durch das Bewußtsein oder durch das Ich oder durch Sonderqualitäten
seiner eigentümlichen Anschaulichkeit, oder durch das unwiederhol-
bare Einzelsein seines Gegebenwerdens; wir haben gar keinen Grund,
uns auf derartige konstruktive Voreiligkeiten festzulegen. Es genügt
uns, unmittelbar zu wissen, daß Psychisches in besonderer und vom
Physischen prinzipiell unterscheidbarer Weise gegeben und erkennbar
ist. Die Schwierigkeiten im Erkenntnischarakter des Psychischen
und seiner Verarbeitung zur Einheit einer Wissenschaft werden nicht
durch Definitionen des Psychischen und Unterscheidungsmerkmale
vom Physischen aus der Welt gcscliafft ; oder wenn sie es werden,
so sind das konstruktive Scheinbarkeiten.
Diese Schwierigkeiten liegen vielmehr darin, daß die Art des
Gegebenseins vom Psychischen es auszuschließen scheint, eine sj'ste-
matiacho konstruktive Erkenntnis nach Art der Naturwissenschaften
von ihm zu haben. Die Bestimnning zu Gesetz und Kegel, welche
der Naturforscher an den Anschauungen der äußeren Welt ah Ziel
seines Forschens betrachtet und mittels der Induktionen auch voll-
zieht, sind im Psychischen wo nicht unmöglich, so doch außerordent-
lich erschwert. Denn diese Bestimmung zu Gesetz und Kegel ist bei
1) Vgl. hierzu im übrigen unsiro wiHson»chuftnkritiPchen Erörterungen du')««
Buchoa.
278 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
physischen Abläufen allererst ermöglicht durch die Anwendung der
Mathematik. Die raumzeitliche Gegebenheit des Physischen er-
möglicht die Ausbildung mathematischer Bestimmungen an ihm;
sie macht diese notwendig. Die Mannigfaltigkeit der Qualitäten
wird durch sie meßbar und in Quantitäten überführbar; und nur so
gelingt es, die durch die raumzeitliche Gegebenheit des Physischen
ihm zugrunde liegenden Notwendigkeiten seines Ablauf ens zu be-
stimmen und in ihrer allgemeinen Gültigkeit herauszustellen.
Warum das so ist, haben wir oben in der psychologischen Wissen-
schaftstheorie bereits gestreift i). Aber eben mit der völlig anders-
artigen Gegebenheit des Psychischen fällt die Anwendbarkeit der
Mathematik und damit die Möglichkeit, die Dynamik seines Ge-
schehens quantifizierbar zu machen, fort; es fällt die oberste Aufgabe
aller induktiven Forschung damit in sich zusammen. Jene kon-
struktive Theoretik, welche den Inbegriff systematischer Natur-
forschung an physischen Dingen bildet, erscheint in ihrer mathe-
matischen Bestimmtheit bei psychischen Abläufen ausgeschlossen.
Zwar haben auch die psychischen Qualitäten Intensität, und das
Prinzip der Stetigkeit, nach welchem diese Intensitäten abstufbare
Grade durchlaufen, ist in ihnen wirksam. Aber in der methodischen
Anwendung dieser Gesichtspunkte ermöglichte sich lediglich die
Messung dieser Intensitäten in mathematisch bestimmbarer Weise,
und das ist für die Erkenntnis des Psychischen eine recht neben-
sächliche Aufgabe. Kant sagt einmal, daß es fraglich sei, ob sich eine
psychologische Naturtheorie zu einem höheren Grade werde ausbilden
lassen als die Scheidekunst 2). Der Grund dieses Zweifels liegt in der
Unmöglichkeit der Einführung mathematischer Bestimmungsstücke
in die psychische Djoiamik. Nun hat ja Kant auch von der »Scheide -
kunst« und ihrer Ausbildbarkeit zu einer systematischen Wissen-
schaft eine zu geringe Meinung gehabt. Aber wenn die moderne
Entwicklung derselben in theoretische Tiefen, von denen Kant
nichts voraussehen konnte, möglich war, so geschah dies eben da-
durch, daß sie doch in ganz anderer Weise nach Analogie der Physik
der mathematischen Behandlung zugänglich wurde, als ihr früherer
Stand dies ahnen ließ. War hier Kants Zweifel auch nur vergleichs-
weise berechtigt, so trifft dies für die Induktionen der Psychologie
nicht zu. Es ist hier nicht so, daß irgendeinmal eine erweiterte Er-
kenntnis imstande wäre, mathematische Bestimmungsstücke an die
psychologischen Induktionen heranzubringen, wo wir dies heute
noch nicht vermögen. Vielmehr ist es auf Grund der besonderen
Gegeben heits weise des Psychischen, insbesondere des Ausschlusses
der Räumlichkeit und des extensiven Nebeneinanders der Teile,
grundsätzlich ganz ausgeschlossen, daß die mathematisch-
dynamische Bestimmung der geltenden Gesetze, daß die Umwand-
1) S. 129ff.
2) Metaphys. Anfangsgründe d.. Naturwissenschaft. S. 172 (Dürrsche Ausgabe).
l'robleme deä WiBaenfl um Seelisclu-a. 279
lung der Qualitäten in Quantitäten innerhalb den Priychiächen jemab
sich crmöglirlien lieÜc.
Wir haben bereits frülier angedeutet, daß es sich für uns alwo um
die Frage zu handeln hat, vermittela welcher logisch-theoretiijcher
Krsatzmechanismen sich trotz dieses Mangeb die Ausbildung von
Induktionen für die psychischen Materialien sollte ermöglichen lassen.
Wir werden diese Frage, die wir liier nur als ein Problem registrieren,
welches in der Logik der Psychiatrie eine besondere Holle zu spielen
berufen ist, noch mit der Ausführlichkeit im weiteren VY'rlaufe
dieses Buches zu untersuchen haben, die ihr gebührt. W'ir dürfen
jedenfalls sagen, daß die Verwirklichung unserer Aufgabe, Psychiatrie
nls systematisclie Wissenschaft auszubilden, von der Ixisung dieses
Problems in erster Linie mit abhängt.
Aber auch diese Schwierigkeit meinen wir nicht, wenn wir von den
Zweifeln sprechen, welche der Lösung unserer Aufgalx; entgegen-
stehen. Denn so wichtig die Ausbildung der Induktion im Psychi-
schen sein muß, um Psychiatrie als Wissenschaft zu ermöglichen, so
können wir doch mit einiger Ruhe den logischen Untersuchungen
entgegensehen, die uns diese Arbeit leisten werden. Diese Ruhe ist
berechtigt: denn die Tatsache, daß es psychologisches Wissen
gibt, daß wir es haben und täglicli von ihm Gebrauch machen, be-
weist doch, daß dieses Wissen mehr als Einzelwissen ist, daß es allge-
meine und notwendige Geltung beansprucht, und folglich, wenn es
überhaupt nach Art naturwisscnschaftliciier Erkenntnis gewonnen
wurde, den Ciiarakter der Induktion an sich trägt. Sind wir uns
dessen auch nicht bewußt geworden, so muß es logischer Reflexion
doch gelingen, die Induktionscharaktere hieran herauszulösen imd
methodologisch zu prüfen. Da wir hier nicht konstruktives Bauen
ins Blaue hinein betreiben wollen, sondern von der Tatsache des
Wissens auszugehen haben, um demselben methodische Reinheit zu
sichern, so ist es klar, daß irgendeine Art von Induktion tatsächlich
auch im Psychischen geübt wird und vollziehbar ist. Das Gebäude
der Psychologie als Wissenschaft ist also durch die Notwendigkeit
der Ausbildung psychologischer Induktionen nicht grundsätzlich
gefährdet, ihm fehlt vorläufig das schützende CJerüst derselben. Und
dies wird sicli vorsichtig einl)auen lassen, zumal das wissenschafts-
theoretische Fundament bereits fest gegründet steht.
Die Schwierigkeit im Ausbau der Psychologie als Wissenschaft
liegt vielmehr noch tiefer. W^ir haben uns in einem früheren Absatz
dieser Erörterungen auf das Wort Martys berufen, welches eine Zu-
8ammenfassui\g alles guten systematischen Denkens in einer natur-
wissenschaftlich zu ordnenden Empirie ist : daß die Erkenntnis-
vollzüge im psychischen Gebiet, um richtig zu sein, um zu einer
Wissenschaft zu führen, keine anderen zu sein haben als die aller
empirischen Erkenntnis. Unsere Schwierigkeit beginnt nvm in dem
Augenblick, wo wir dieses Prinzip des psychologischen Er-
kennens grundsätzlich in Frage zu stellen haben.
280 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
Und wir sind gezwungen, es in Frage zu stellen, es nicht von
vornherein hinzunehmen wie etwas Gewisses. Wir müssen
hier prinzipiellen Bedenken und Zweifeln Raum geben ; um so besser,
wenn es kritischer Einsicht gelingt, sie zu verflüchtigen. Wider den
naturwissenschaftlichen Charakter psychologischer Erkenntnis wendet
sich eine Gruppe neuerer Denker aus den verschiedensten Lagern
mit Gründen von solcher Bedeutsamkeit, daß wir ihnen Raum zu
geben haben. Können wir diesen Gründen auch nicht beipflichten,
so zeigen sie uns doch Fragestellungen an, denen wir auf unserem
Wege zur Systemeinheit der Psychiatrie unbedingt zu genügen
haben werden, wenn anders wir unserer Aufgabe gerecht werden
wollen.
In der Tat ist es von vorherein gar nicht gesagt, daß psychologisches
Erkennen nach Art einer Naturwissenschaft erworben werde, und
erworben werden müsse. Die Annahme einer modalischen Gleich-
heit alles Empirischen kann bestritten werden. Und auch wenn sie
nicht bestritten wird, so braucht dann noch nicht zu folgen, daß die
für die physische Natur geltenden Erkenntnismittel, logische und
kritische Wege und Ziele, auch auf das ganz andersartige psychische
Gegebenheitsgebiet anwendbar sein müßten. Läßt man die Tat-
sachen entscheiden, so zeigen sie ja gerade die Willkür und Ergebnis-
armut der naturwissenschaftlich ausgebildeten konstruktiven Psy-
chologie. Mehr noch: Stellt man ihnen unser tatsächhches Wissen
vom Seelischen gegenüber, so scheint sich zu zeigen, daß dieses Wissen
vom seelischen Geschehen auch tatsächlich ein toto genere anders-
artiges ist, als jedes naturwissenschaftliches Wissen. Es richtet sich
auf individuelle Gegebenheiten und Geschehnisse; es setzt sich
nicht zum Ziel, diese unter quantitativen Regeln und Gesetzen in
ihrer allgemeinen Gültigkeit zu erkennen, sondern sie gerade um-
gekehrt in ihrer individuellen Besonderheit und Bedeut-
samkeit erfassend zu begreifen; nicht ihre Typik, sondern gerade
ihre Einmaligkeit ist anscheinend das Ziel psychologischer Erkenntnis -
einst eilung. Von ihnen aus die Totalität des individuellen Bewußt-
seins, der sie entstammen, zu erfassen, erscheint als Preis psycho-
logischen Erkennens. Dieses Bewußtsein aber ist jedesmal ein ein-
maliges, eine einzelne Persönlichkeit. Wirklich gegeben ist dem
Erkennenden auf diesem Gebiet aber nur eine einzige Persönlichkeit,
nämlich seine eigene ; und auch diese nur in demjenigen momentanen
Querschnitt ihrer Zeitkontinuität, in dem er sich jedesmal gerade
auf sie einstellt. Zu jedem Zeitpunkt ist selbst diese identische Per-
sönlichkeit in ihrer Gegebenheitskomplexion eine andere; daß ihre
Identität gewußt wird, ist etwas Rätselhaftes. Von dieser Individuali-
tät aus aber versteht er durch irgendein problematisches »einfühlen-
des« Analogisierungsverfahren seelischer Art auch die anderen Indi-
vidualitäten, mit denen er sich erkennend befaßt; er versteht sie
nach Art seines eigenen Ich und doch gerade in ihrem besonde-
ren Anderssein. Die Vollendung dieses Verständnisses zu un-
Probleme des WiMcn« um SecliBcheH 2ftl
beirrbarer Sicherheit gerade im Erfassen des individuell-
Idealen sclifiiit diis Ziel wiilirhufter psychologiHcher Erkennt nis.
Unter dieser Einstellung der psychologisehen (Grundfrage öffnen
sich neue Rätsel: Was ist das für eine Art von Erkennen dea
Individuellen, die hier geübt wird? Wie weiß ich um die
Identität und Kontinuität des Ich bei verschiedenen seelischen
Zuständen? Wodurch unterscheidet sich die materiale Ge-
gebenheit des eigenen Ich von den niaterialcn Gegebenheiten
fremder Iche? Wie weiß ich um den Iclicharakter fremder
Iche? Wie weiß icli ül>erhaupt um die Zusammengehörigkeit de»
jetzigen seelischen Soseins mit irgendwelchen jetzt erinnerten
früheren Zustünden von Anderssein, die mir als »in mir« gegeben
unmittelbar bewußt sind? Mit welchem Recht wende ich eine äh.n-
liche Identifizierung zeitlich verschiedener Geschehnisse als in einer
Persönlichkeit ablaufend auf andere Leiber an, in denen ich
seelisches Geschehen voraussetze? Was sind das für Methoden,
vermittels deren ich das seelische Geschehen in fremden
Ichen begreife? Mit welchen Erkenntnismitteln kann ich den
psychologischen Widersinn, welcher in den Begriffen »Fremd«
und »Ich« liegt, bei meiner seelischen Erkenntnis anderer Pei-
sönlichkeiten überwinden? Wie ist es möglich, das Individuelle
in seinem Einzelsein zum Gegenstand allgemeiner und not-
wendig geltender Erkenntnis zu machen? Wie sind allgemeine
Gesetze vom Individuellen möglich? Was bedeutet unter allen
diesen Bedenken überhaupt noch der Begriff des seelischen
Gegebenseins? Wo liegt die Gewißheit des Tatsächlichen
des Seelischen, welches mir jetzt und früher in völlig verschiedenen
Umständen gegeben ist? Gemeint ist hier sowohl die Realität selber
als auch besonders die Bestimmung dessen, was als Tatsache im
Psychischen zu gelten Anspruch hat. Und endlich: Wie weit
läßt sich die Erkenntnis des Fremdich ausdehnen? Wie
weit geht die Vorausset zungs berecht igung der seelischen Homo-
logien? Ist die Gebundenheit an den menschlichen Leib,
ein außerpsychisches Kriterium, sind die Ausdrucksbewegungen
genügende Rechtsgründe zu dieser Voraussetzung? Diese Frage
wird sich erst nach Untersuchung der psychologischen Analo-
gisierungsmechanismen aufklären lassen, welche das Ich in
fremden Ichen wiederfinden und dennoch von ihnen abheben —
jene Vorgänge, welche triviale Simplifizierung mit den Deckworten
»Einfühlung«, »Verstehen « usw. zu erledigen glaubt. Die Breite
der Homologien, oder wenn man will Homopsychien : Wo findet sie
ihre (Jrenze ? Beim Menschen? Bei den Tieren? Im Bereich des
Lebendigen ? Ist diese Gemeinsamkeit des Lebendigen durch diese
Homologctik unmittelbar gegeben? — Oder ist umgekehrt die Ge-
bundenheit psychischen Gegebenseins durch den Umkreis des Lebens
überhaupt manifestiert? Diese Fragen sind für die Psychiatrie
deshalb so besonders wichtig, weil in denjenigen fremden Ichen, um
2 82 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
deren seelisches Erfassen es sieh gerade für sie handelt, ja seitens der
Medizin irgendein gemeinsames Merkmal mit dem Begriff des Kran-
ken oder Krankhaften analogisch bezeichnet worden ist; wir wissen
hier noch nichts von diesem Merkmal, welches wir erst viel später
an die Dinge heranzutragen für berechtigt halten dürfen; es sagt hier
nicht mehr aus als das Negative, daß diese Menschen eben in irgend-
einem Punkt ihrer seelischen Komplexion nicht nach Analogie
anderer Fremdiche erfaßbar sind. Wie verhält sich jene ge-
heimnisvolle Analogisierungstendenz, welche uns hier das Wesen
seelischen Erfassens anderer Persönlichkeiten auszumachen schien,
diesen besonderen Ichen gegenüber? Wie wird hier psycho-
logische Erkenntnis von »Geisteskranken«?
Psychiatrie als Geisteswissenschaft — eine mögliche
Fragestellung?
Die Häufung dieser Fragen hat etwas Erschreckendes. Gerade
weil sie nicht von der schönen logischen Bestimmtheit und Über-
sichtlichkeit sind, die der Naturforscher in seiner Materie zu stellen
gewohnt ist, gerade weil sie etwas von dem dunklen und verschwom-
men-geheimnisvollen Charakter haben, den das Licht empirischer
Naturforschung vor allem zu vertreiben und zu durchleuchten be-
stimmt ist, darum — müssen sie aufgeworfen werden. Sie bestreiten
der Naturforschung im Prinzip die Möglichkeit, sie beantworten zu
können, ja sie nur zu sehen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder
diese Fragen sind mit denselben Methoden auflösbar und beantwort-
bar, welche wir bisher als die Wege zum Ziel systematischen Wissens
von empirischen Dingen bezeichnet haben, also mit denen der Natur-
wissenschaft. Dann ist es unsere Pflicht, sie nicht zu verschleiern
und beiseite zu schieben, wie dies bisher stets geschah, sondern gerade
zu zeigen, wie diese Einfügung ihrer Lösung in den systematischen
Rahmen des Ganzen sich vollziehen läßt. Das wäre dann nicht nur
die Pflicht, sondern auch das Recht und der Triumph der Natur-
wissenschaft auf einem Gebiete, wo man ihre Zuständigkeit aufs
stärkste bezweifelt und zu untergraben gemeint hat. Oder — und
dies ist die andere Möglichkeit: Die Naturforschung in dem von uns
verstandenen Sinne ist in der Tat nicht berufen und befähigt, diese
Fragen beantworten zu können. Dann wird nicht die Berechtigung
dieser Fragen erschüttert, sondern die sachliche Ausschließ-
lichkeit naturwissenschaftlicher Bearbeitungsweisen in
der Psychologie wird zu verneinen sein. Dann aber haben wir die
Pflicht, diesen Fragen jenseits der naturwissenschaftlichen Be-
arbeitungsweisen eine Lösung zu suchen, eine Sonderwissensohaft
von ihren Lösungen zu intendieren.
Nun sind diese Fragen in der vollständigen Explizitheit, wie sie
oben gestellt wurden, tatsächlich bisher noch nirgends gestellt worden.
Aber das ihnen wesentliche Gemeinsame findet sich doch schon in
Psychiatrie alä ticistcswissonBchaft — eine mögliche FragttitelJungT 283
sehr durchdachter Form bei zahlreichen und hervorragenden Geistern.
Und diese haben aucli Antworten auf die ihnen wichtige Heraus-
Bonderung einzehier Fragestellungen dieser Art jeweila ge.sucht und
zu finden vermeint. All diesen Antworten, so verschieden sie in sich
sind, ist das Eine gemeinsam, daß sie in bewußten Gegensatz traten
zu denjenigen Erkenntnisweisen, welche wir bisher als für alle Er-
fahrung gültig vorausgesetzt haben, zur Induktion, zur Naturwissen-
schaft. Psychologie als Geisteswissenschaft wird von ihnen
gefordert und metliodisch auszubilden versucht. Hätten diese
Denker recht, so würde auch in der Psychiatrie neben eine Psychiatrie
als Naturwissenschaft, eine Psychiatrie als Geisteswissenschaft
zu treten haben. Diese würde zum mindesten ein Teilgebiet der
Psychologie umfassen müssen. Es kann natürlich nicht unsere Auf-
gabe sein, anstatt daß wir zu positiver eigener Arbeit kommen, uns
zuvor mit jedem einzelnen der hierher gehörigen literarischen Doku-
mente kritisch zu befassen. Des ehrwürdigen Dilthey beschrei-
bende Individualpsychologie — oder vielmehr der schwache Ver-
such, den er zu einer solchen unternimmt — wird im ersten Teil
unserer psychologischen Untersuchungen selber behandelt. Der
spielerische Geißtreichtum Simmeis in seiner systemlosen Einfalls-
mäßigkeit gerade zu diesen Problemen erscheint uns kritischer Vor-
untersuchung nicht bedürftig: Ihm fehlt die Lebenskraft, um das
Gebäude der Psyciiologie, wie es bisher war, ernstlich zu erschüttern.
Ähnlich stehen wir zu Bergsons hierher gehörigen Ausführungen.
Wir haben uns als vorbildlichen Denker dieser Gruppe einen Mann
gewählt, mit welchem uns das Streben nach systematischer Voll-
endung und der wissenschaftliche Ernst eines inneren Zentrums
ebenso verbindet, wie die klare Stellung zum Problem naturwissen-
schaftlicher Erkenntnis; einen Mann, der zugleich der erste Anreger
des größten Teiles dieser Fragestellungen war und der klarste Ex-
ponent ihrer geisteswissenschaftlichen Beantwortungsmöglichkeiten
ist: Heinrich Rickert. An seinen Ausführungen haben wir bereits
genau untersucht, wie es um diese Probleme der Psychologie als
Geisteswissenschaft bestellt ist^). Eine letzte hierher gehörige Gruppe
der Denker, die Phänomenologen der Husser Ischen Schule, ins-
besondere Husserl und Scheler, aber auch Geiger, Pfänder usw.
nehmen zu allen diesen Dingen und Problemen noch eine Sonder-
stellung ein. Diese ist aber prinzipiell ganz andersartig; ihre Be-
handlung erfordert besondere Voraussetzungen. Zu den genannten
Denkern treten nun noch eine Reihe von Verfechtern bestimmter
theoretischer P^inzelmoinungon über das Wesen psychologischer Er-
kenntnis, welche auf Grund besonderer systematischer Standpunkte
gewoinien worden sind. Hier seien nur Natorp, Meinong, Lipps.
Münstorberg, Max Weber genannt.
Im allgemeinen kann man drei große Gruppen von Antworten
1) Vgl. S, 195ff.
284 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
unterscheiden, welche in einem von der naturwissenschaftlichen
Psychologie abweichenden Sinne gegeben werden. Die erste dieser
drei Gruppen weist der psychologischen Erkenntnis eine besondere
Evidenz im Gegensatz zur physischen Erkenntnis zu, wenngleich
sie deren empirischen und damit naturwissenschaftlichen Charakter
in gewisser Weise aufrecht erhält. Durch diese Evidenz werden
viele Fragen, die wir oben aufgeworfen, beseitigt und als nicht vor-
handen erklärt. Die zweite Gruppe stellt die psychologische Er-
kenntnis, soweit sie aufs Individuelle und »Historische« geht, als
eine Grundform geisteswissenschaftlicher Erkenntnis in Gegen-
satz zu aller Naturwissenschaft. Eine dritte Gruppe hebt die Be-
trachtung rein qualitativer Momente, des reinen phänomenalen
Bestandes, jenseits aller Existenz- und Realitätsfragen, als ein
besonderes Gebiet reiner Intuition über alle Empirie und damit
alle Naturwissenschaft hinüber ins Gebiet der apriorischen idealen
Einsicht. Es ist ihr hierbei gleichgültig, ob es sich um ein physisches
oder psychisches Gegenstandsgebiet handelt. Die zweite, wichtigste
Gruppe haben wir bereits in unserer psychologischen Wissenschafts -
lehre abgetan. Die grundlegenden Gedankengänge der ersten
und der dritten Gruppe aber gilt es bei der Grundlegung der Phäno-
menologie noch zu verfolgen und zu prüfen, um sich über das
Problem einer nicht naturwissenschaftlichen Psychologie ganz
endgültig klar zu werden. Aus dieser Prüfung müssen sich die Lö-
sungen der genannten Fragen ergeben, welche allein ein systema-
tisches Wissen vom Seelischen als möglich oder unmöglich erkennen
lassen. Die allgemeine Psychiatrie ist zur Ermöglichung ihres eigenen
Aufbaus befugt und berufen, die Lösung dieser Fragen als eine ihrer
Vorarbeiten in Angriff zu nehmen. Wir halten es für notwendig,
diese ihre Aufgaben schon hier besonders zu bezeichnen.
Allgemeiner Rahmen für die vorliegenden Untersuchungen.
Mit allen diesen Ausführungen haben wir nunmehr den Kreis
der Grundfragen und Voruntersuchungen, welcher das Problem der
Psychiatrie als Wissenschaft umgibt, abgesteckt. Die Möglichkeit
der Psychiatrie als Wissenschaft aber war uns der Vorwurf für eine
allgemeine Psychiatrie. Die folgenden Untersuchungen sollen nur
der Aufgabe gewidmet sein, auf der Basis der Lösung des oben ab-
gesteckten Problemkreises das Gebäude einer allgemeinen Psychiatrie
in seinen Grundmauern zu errichten. Wir können nicht versprechen,
daß die Aufrichtung dieses wissenschaftlichen Gebäudes in gänzlich
voraussetzungsloser Weise erfolgt. Voraussetzungslose Wissenschaft
gibt es nicht. Aber dies eine können wir sagen : Wir werden zur Aus-
führung unserer Aufgabe weniger voraussetzen, als irgendeine wissen-
schaftliche Bearbeitung der Psychiatrie bisher vorauszusetzen ver-
mocht hat. Nicht einmal die Voraussetzung werden wir machen,
daß Psychiatrie nur eine Naturwissenschaft sei und lediglich nach
AJlgfmoiner Rühmen für die vorliegenden UnttTHUchungen. 285
natuiwissenschuftliclier Mctliude ausgebildet werden dürfe. Die*
Mittel, mit welchen wir Psychiatrie als Wissenschaft durch unsere
allgemeine Psychiatrie sichern wollen, sollen lediglich von der for-
malen Logik, von den niaterialen apriorischen Voraussetzungen jeder
möglichen wissenschaftlichen Erkenntnis — welche wir in unserer
Wissenschaftstheorie gerechtfertigt haben — und von den Bedin-
gungen geliefert werden, welche dem Gegenstandsgebiet der Psy-
chiatrie methodisch und heuristisch immanent sind. Nichts soll
gesagt werden, was nicht mit diesen angegebenen Mitteln gedacht
zu werden vermag. Da nun die formale Logik und die materialen
Voraussetzungen jeder möglichen wissenschaftlichen Erkenntnis in
gleicher Weise für alle Gegenstände Geltung haben, so kann eine
Einteilung des Werkes zwanglos nur nach eben den Gegenstandsge-
bieten erfolgen, welche das Material und die Ausgangspunkte psy-
chiatrischer Forschung sind: den unmittelbaren Gegebenheiten
seelischer und somatischer Art. Freilich werden wir selbst diese
Gegebenheiten, so sehr sie den Anfang aller Forschung bilden, nicht
ohne weiteres hinzunehmen haben: Vielmehr gilt es selbst, nach
ihrem Gegebenheitscharakter das besondere Wesen ihrer Tat-
sächlichkeit zu problematisieren. Hierzu zwingt uns die
schon gekennzeichnete Heterogenio beider GiJgebeuheitsreihen, der
physischen und der psychischen; »Tatsache« bedeutet im Physischen
etwas Eindeutiges und durch die Weise ihres anschaulichen Gegeben-
seins Bestimmtes; hier liegt keine Unklarheit vor. »Tatsache« aber
im Psychischen — was ist dies? Hier gilt es erst noch die Proble-
matik des »Bewußtseins«, des »inneren Sinns« und aller jener Fragen
zu klären, die wir bei Erwähnung der geisteswissenschaftlichen Psy-
chologie berührt haben. Wir werden über diese Fragen nicht mit
schönen und wohlgesetzten Worten hinwegkommen; bedeuten sie
doch für uns den Schlüssel zur Verwirklichung unserer Arbeit, und
da fühlen wir die ganze Schwere der Verantwortung, die an ihrer
Bearbeitung hängt. Aber aucli die physischen Tatsachen sind in
sich von ungleichem Cliarakter: Hirnbefunde, Biochemismen, Pu-
pillensymptome, Bewegungsanomalien, Ausdrucksphänomene und
Konstitutionsdaten — alle diese einzelnen Kla.'^sen. und noch manche
andere, sind von verschiedener wissenschaftlicher Dignität und von
verschiedenem systematischen Range. Auch hier gilt es für eine
allgemeine Psychiatrie, zu klären und abzugrenzen.
Indem wir auf diese eise die Gegebenheiten unserer Gegenstands-
gebiete zur Grundlage unseres Aufbaus machen, gedenken wir so zu
verfahren, daß bei der Einzelarbeit die bestehenden Feststellungen
bisheriger Forschung zunächst hingenommen werden, und nur so
weit sieh eine immanente Kritik notwendig nuuht, formal durch-
gebildet werden. Diese Durchbildung soll immer an der Hand der
bestehenden Forschung erfolgen und in ständigem Fortschreiten mit
immer stärkerer begrifflicher Präzision bis zu Feststellungen von
grundsätzlicher Geltung und formalem Charakter gelangen. Auf
286 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger WisBenschaft.
diese Weise immanenter Weiterbildung wird beim Einzelaufbau
überall an Bestehendes angeknüpft, alle Konstruktionen und Theorien
werden zugunsten der geforderten immanenten Theoretik ab-
gewiesen. So beginnen wir, um nur ein einzelnes Beispiel für viele
zu nennen, bei der Erörterung des Wesens geistiger Erkrankung
nicht, wie dies selbst in manchen Lehrbüchern heute noch beliebt ist,
mit irgendeiner Behauptung darüber, was Kjankheit im Psychischem
sei, nicht mit irgendeiner willkürlichen Definition oder Deduktion
eines Krankheits begriff es — weil ein solches Verfahren mit Not-
wendigkeit zu steriler Dogmatik führen müßte. Wir übernehmen
vielmehr fürs erste die bisherige unbegriffliche Geltung der Be-
zeichnung Krankheit, ohne Abgrenzung ihres gegenständlichen Um-
fanges und ihrer Merkmale. Wir suchen uns darüber klar zu werden,
in welchen logisch verschiedenen Bedeutungen diese Bezeichnung
Krankheit in der psychiatrischen Forschung auftritt. Die einzelnen
materialen Bestimmungsstücke und Kriterien aber entwickeln wir
für diese Bedeutungen erst ganz allmählich bei der Klärung der
materialen Einzelfragen psychiatrischer Forschung, bis wir ange-
sichts des vollendeten Gesamtsystems der allgemeinen Psychiatrie
glauben dürfen, uns auch des Krankheits begriff es oder vielmehr der
Krankheitsbegriffe derselben wissenschaftlich versichert zu haben.
Und so wird bei allen für das systematische Ganze der Psychiatrie
wesentlichen Begriffen verfahren werden.
Wir behandeln in diesem Werke zunächst allein die
psychische Reihe und die Möglichkeit, aus ihr Erkenntnis
zu gewinnen. Wir untersuchen die Kriterien und Geltungsgrund-
lagen dieser Erkenntnis und ihrer Bearbeitungsmöglichkeiten. In
unseren wissenschaftstheoretischen Grundlagen haben wir bereits
ausgeführt, aus welchen Hauptabschnitten eine derartige Unter-
suchung zu bestehen hat. Es war zunächst die Wissenschafts -
theorie psychischer Erkenntnis selber, welche wir als das Funda-
ment jeder möglichen Erkenntnis des Seelischen von allgemeiner
und notwendiger Geltung auffaßten und in einem besonderen Teil
dieses Buches durchgebildet haben. Ihr schließt sich die Phäno-
menologie und deskriptive oder ontologische Theorie des
Psychischen an. In ihr werden die Probleme geklärt, wie uns
Psychisches als ein Wirkliches gegeben ist, sei es im eigenen, sei es
im fremden Ich, und wie diese Gegebenheit des Psychischen zur Er-
kenntnis desselben wird. Hierüber wird der folgende Teil dieses
Buches ausführlich handeln. Der zweite Band dieses Werkes wird,
auf Grund dieser phänomenologischen Grundlagen, das psychisch -
pathologische Material, so wie es als symptomatisch wesentlich vor-
gefunden wird, zunächst zergliedernd zur phänomenologisch-theo-
reitschen Darstellung bringen. Als nächster Teil in einer allgemeinen
Psychiatrie muß die genetische Theorie seelischen Zusammen-
hanges und Auseinandervorgehens entwickelt werden. Wir fassen
diese genetische Theorie, kraft unserer wissenschaftstheoretischen
Allgemeiner Ralimcn für die vorliegenden Untersuchungen. 287
ytatuierungen, als eine dynamische Erklärung des psychischen
Geschehens auf. Diese Psychodynamik ist nun für das Gegen-
standsgebiet der Psychiatrie eine wesentlich andere als für das der
gewöhnlichen Psychologie. Aus diesem Grunde entwickeln wir iliren
Aufbau — abgesehen von den ersten Fundamenten, welclie die Wiii.sen-
schaftstheorie bereits für ihn festlegte — nicht mehr in diesem Bande,
sondern erst in dem zweiten Bande dieses Werkes im Anschluß an
die phänomenologische Symptomatik. Dort wird auch die Lehre
Freuds, Adlers und ihrer Scliüler, als der einzige grundlegende
Versuch einer Psychodynamik, der bisher überhaupt unternommen
worden ist, gewürdigt und in das Ganze einer psychodynamischen
Theorie hineinverarbeitet werden. — Einen Teil der genetischen
Theorie des Psychischen muß auch die Psychophysik bilden. Und
zwar nicht in ihrem ganzen Umfange — welcher erst bei der Durch-
arbeitung der physischen Reihe bloßgelegt werden kann, sondern
nur insofern als sich physische Zwischenglieder in die Kette dyna-
mischer Verknüpfungen von Psychischem tatsächlich eingeschaltet
finden. Darauf soll hier noch nicht näher eingegangen werden. Eia
weiterer Hauptabschnitt hat sich mit der Frage zu beschäftigen, wie
sich die Ergebnisse der bisher geannnten Grundlegungen zu einer
Typenlehre, zu einer Charakterologie und Persönlichkeits-
psychologie verbinden lassen. Es wird sich hier zeigen, daß ihrer
theoretischen Struktur nach verschiedene Arten von Typenbildungen
psychischer Ganzheiten vorkommen. Es finden sich statisch -
deskriptive Typen, bei welchen ein bestimmtes Nebeneinander
und Übereinander von funktionalen Dispositionen in gleichbleibender
Weise für die Beschreibung erfaßbar wird und die Persönlichkeit be-
stimmt. Es finden sich dynamische Typen, bei welchen nicht so
sehr die Dispositionen selber, als vielmehr die besondere Anord-
nung in den dynamischen Beziehungen derselben es ist, welche
das innere Gesetz dieser Typen ausmacht (Lügner, Phantast usw.,
reaktive Psyciiopathen). Es finden sich ferner Kombinationen
beider Gruppen miteinander zu komplizierteren Charakteren. Es
findet sich endlich eine logische Beziehung dieser im weitesten Sinne
noch deskriptiven theoretischen Grundlagen zu Wertbegriffen »
sei es sozialer, sei es sonstiger (»biologischer«) Art, welche gerade in
der Psychiatrie vielfach ganz ungeklärt angewendet werden. Die
Probleme der Entartung und des Degenerativen und andere ähnliche
haben hier ihre psychologische Stelle. Alle diese Fragen werden
gleichfalls erst im folgenden Bande dieses Werkes systematisch dar-
jiestellt werden. In diesem Bande aber wird es zweckmäßig sein,
wenigstens noch dasjenige theoretische Problem der Typenlelire vor-
wegzunehmen, welches für sie von einer gewissen prinzipiellen Be-
deutung ist : nämlich das Problem der theoretischen Struktur des
Typus überhaupt. Insbesondere wird hier die Tragweite und das Gel-
tungslxjreich von Wertbestimmungen, Normen und Normalitäten im
wissenschaftlichen Ganzen der Psychiatric untersucht werden müssen.
288 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
Zur Typenforschung gehört auch die experimentelle Psycho-
pathologie, welche nur eine besondere Methodik der differentiellen
Psychologie des Pathologischen ist. Auch sie soll im folgenden Bande
gewürdigt werden.
Mit dieser Einteilung ist die allgemeine Psychiatrie, soweit sie in
diesem Werke zur Darstellung gelangen soll, erschöpft. Nicht aber
ist damit schon das Gebiet der allgemeinen Psychiatrie überhaupt
völlig umgrenzt. Es hätte sich vielmehr an diese theoretische Dar-
stellung der psychischen Reihe die der physischen Reihe anzu-
schließen. Hier wäre es notwendig, Grundfragen psychophysischer
Theoretik überhaupt einmal grundsätzlich nach allen Seiten zu klären,
um aus dem ungelösten Dilemma : Parallelismus oder Wechselwirkung
— zu einer logischen und theoretischen Entscheidung zu gelangen.
Ferner wäre es notwendig, jene psychophysischen Arbeitshypothesen
der Lokalisationslehre und Nervenphysiologie zur Darstellung zu
bringen, welche sich für die bisherige psychiatrische Forschung als
so überaus fruchtbares Arbeitsprinzip erwiesen haben. Endlich
müßte in dem Rahmen dieser Psychophysik eine Ordnung der somato-
logischen Daten erfolgen, von den Hirnbefunden an bis zu den bio-
logischen Gesichtspunkten der Entartung, von den psychophysischen
Begleitsymptomen der Motilität und der reflektorischen Erregbar-
keiten bis zu den Ausdrucksbewegungen. Hierbei müßte auch die
Rolle des körperlichen Symptoms bei Geistesstörungen in jener theo-
retischen Verschiedenwertigkeit, welche etwa ein Pupillensymptom,
ein Stoffwechselbefund, eine Liquorreaktion und eine Veränderung
der Muskelspannung exemplifizieren, ihre Begründung erfahren. Aus
einer derartigen Untersuchung würde als wertvollster allgemeiner
Gewinn die Klärung der pathogenetischen und ätiologischen
Fragestellungen in der Psychiatrie hervorgehen.
So wäre die klinische Heuristik der speziellen Psychia-
trie und ihrer Forschungs weisen systematisch vorbereitet.
In diesem Werke wird der vorgezeichnete Weg nur für die psy-
chische Reihe eingeschlagen werden. Für diese ist eine allgemeine
Psychiatrie auch von dringendster Notwendigkeit: Die abgeklärte,
methodisch und sachlich zielsichere Forschung in der physischen
Datenreihe bedarf keiner neuen systematisch-kritischen Fundierung
— zum mindesten nicht in dem Maße wie die psychische Seite der
Forschung. Für diese gilt als unmittelbare Gegenwartsforderung,
daß sie herausgelöst werden muß aus den konventionellen Regeln
und Schematismen, welche zurzeit in ihr verschwommen herum-
gehen. Ebenso muß sie aber herausgehoben werden aus der klinischen
Schilderei und der willkürlichen Abgrenzung von »Krankheiten«,
»Krankheitseinheiten«, »Symptomverkupplungen« und der dog-
matischen Statuierung von Symptomen; sie muß herausgehoben
werden aus dem Wust unbeglaubigter normativer Typenbildungen
mit scheindeskriptiver Fassade, welche unsere klinische Arbeit bisher
durchsetzen und zersetzen.
Anhaiig. 289
Anliuiig:
Bemerkungen über ininiunente theoretische Kritik an kon-
struktiven Hypothesen in der Psychologie.
Ich schließe hier einige Bemerkungen an, welche mit den bisher
behandelten Themen in innigem Zusammenhang stehen; und die ich
daher nicht unterdrücken wollte, obwohl der äußere Anlaß zu ihnen
ein scheinbar abseitiger ist. Ich wies schon darauf hin, daß im zweiten
Bande dieses Werkes ein systematischer Grundriß der psychi-
schen Dynamik gegeben werden soll, und daß ich dort aucii den
Lehren Freuds und seiner Schule gerecht zu werden hoffen dürfe.
Mit diesen Lehren habe ich mich bereits einmal ausführlicher be-
schäftigt, und zwar hinsichtlich ihrer theoretischen Voraussetzungen i).
Den materialen Bestand der Freudschen Entdeckungen habe ich
damals nicht zum Gegenstand einer Kritik gemacht, und zwar aus
Mangel an eigener Erfahrung und eigener Kenntnis. Ich habe aller-
dings betont, daß der Freudsche und Bleulersche Begriff von
Tatsachen den Erwerb der Kenntnis von solchen Tatsachen, völlig
getrennt von jenen theoretischen Präsumtionen, außerordentlich
erschwere. Ich bin der Überzeugung, und werde diese in einem
späteren Abschnitt dieses Buches begründen, daß diese Schwierig-
keit nicht nur an Freuds oder Bleulers Ansicht von dem liegt,
was eine Tatsache im Psychischen sei, sondern daß sie auch im Wesen
der psychischen Tatsächlichkeit überhaupt begründet ist.
Meine Untersuchung über die Theoretik Freuds hat nun unter
seinen Schülren eine Reihe von Gegenschriften gezeitigt, als deren
bedeutsamste ich hier die Abhandlungen von Rosenstein *),
Stärcke^) und Bleuler*) betrachte. Außerhalb der Freudschen
Schule hat sich Lewandowsky^) ausführlicher zu meiner Arbeit
geäußert. Wenn meine folgenden Bemerkungen an Ausführungen
dieser Kritiker anknüpfen, so ist dies für den Inhalt dessen, was ich
sagen will, gewissermaßen zufällig. Meine Absicht ist vielmehr die.
am Beispiel einer Überlegung an der Hand dieser kritischen Ein-
wendungen das Wesen einer immanenten Kritik an irgend-
welchen Arbeitshypothesen im allgemeinen darzulegen, und zu zeigen.
daß die Immanenz einer Kritik mit ihrem theoretischen
Charakter durchaus vereinbar ist. Diese Feststellung ist
*) Kronfeld, ('ber die psycholopischen Theorien Freuds und verwandte
Anschauungen. Archiv f. d. ge.s. Psychol. Bd. 22. Heft 2/3. Auch als Buch
Leipzig 1912.
-) Jalirbuch f. pgychoanalyt. Forschung. Bd. IV. S. 741 — 798.
3) Psychoanalyse vom theoretischen Standpunkt. Psych, en Neur. Bladon
1912. No. 3. Dies ist die beste Arbeit über Freuds Lehre, welche überhaupt
aus seiner Schule hervorging. Sie hat meine Stellung in vieler Hinsicht entscheidend
beeinflußt.
*) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 23.
*) Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Referate. 1913.
Kronfeld, PsycblatrUchc Erkenntnis. 19
290 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft. '
nämlich auch für den Wert der kritischen Untersuchung des ganzen
vorliegenden Buches von einschneidender Bedeutung. Der hier zu
erbringende Nachweis tut dar, daß die Bestrebungen dieses Buches
nicht etwa eine abseitige Eigenbrödelei oder ein philosophisches
Spintisieren sind, daß sie keine Standpunktsfrage sind und ihre An-
nahme oder Ablehnung nicht in das Belieben des einzelnen gestellt
ist, sondern daß sie sachlich der Psychiatrie immanent sind, unbe-
schadet ihres theoretischen Charakters. Diese Immanenz ist eine
grundsätzliche und notwendige; und damit werden die Untersuchun-
gen dieses Buches zu einen brennenden praktischen Postulat der
psychiatrischen Forschung.
Nur so weit als ich diesen Nachweis hier noch einmal erbringen
will — eigentlich steckt er schon in allem bisher Gesagten immer
wieder drin — , nur so weit besteht für mich ein äußerer Anlaß zur
Anknüpfung an die Äußerungen meiner Kritiker und zu einer Polemik
gegen dieselben. Bezüglich meiner Stellung zu Freud selber und
seinen Forschungen will ich aber, zur Vermeidung von Mißverständ-
nissen, nochmals ausdrücklich bemerken: Über seine Theorie habe
ich hinsichtlich ihres Wertes als Theorie in meiner Arbeit gesagt,
was damals zu sagen war. Der negativen Aufgabe jener Kritik will
ich im zweiten Bande dieses Buches die positive folgen lassen,
jene Theorien, deren Richtigkeit ich angefochten habe, einwandfrei
umzugestalten und so durchzubilden, daß die bisherigen logischen
und theoretischen Widersprüche, die ich aufwies, in Fortfall geraten.
Dies wird möglich durch Einordnung der Freud sehen Lehren in
den Gesamtrahmen der psychologischen Theoretik. Natürlich besteht
diese Möglichkeit nur so weit, als auch eine materiale Überein-
stimmung meiner Auffassungen mit denen Freuds und seiner Schule
besteht. Diese aber besteht in wesentlich weiterem Umfange, als
meine Ki'itiker merkwürdigerweise voraussetzen. Hierüber verweise
ich an die zuständigen Stellen des zweiten Bandes.
Ich möchte vor allem an die recht leidenschaftliche Arbeit Rosen -
Steins anknüpfen. Dieser Autor ist überzeugt, trotz meinem »großen
Aufwände an logischen, psychologischen und philosophischen Argu-
menten« i) die »Unsachlichkeit « meiner Kritik der Theorien bildung
Freuds »genügend gekennzeichnet zu- haben «2). Er äußert die
Absicht, nach der Abrechnung mit mir »wieder zur geordneten Arbeit
überzugehen «2), scheint also für seine eigene Kritik den Anspruch
auf das Prädikat einer »geordneten Arbeit« nicht zu erheben. Ich
finde diese Schärfe unangebracht. Persönlich neige ich nicht dazu,
die Achtung vor dem sachlichen Wollen eines anderen zu negieren,
mit welchem ich gemeinsame Probleme bearbeite — mag auch der
Standpunkt ein verschiedener sein. Ich werde mich also Rosen -
Steins Urteil über seine Arbeit nicht anschließen, obwohl ich seine
1) S. 741.
2) S. 798.
Anhang. 2'Jl
Argumente und die Art, wie er sie vorbringt, nicht für l>erechtigt
halte. Der alte Lotze sagt einmal^): »Den Verstimmungen der
Gefühle halten wir im täglichen Leben viele Unarten und Ungerechtig-
keiten zugute.« Rosen.steins Kritik i.sl mir sachlich wertvoller,
als sehr viele zustimmende Kritiken, welche mein Freudbuch erfuhr
und welche, zuweilen in recht unkritischer Weise, meine Absicht
völlig mißverstehend, die Meinung vertreten, als sei n\inmehr die
Freudsche Lehre und das Freud problem definitiv erledigt und
aus der Welt geschafft. Wie wenig das meiner eigenen Meinung ent-
spricht, geht aus verschiedenen Stellen meines Freudbuches 2) klar
hervor, und ich habe es auch schon betont.
Beide Seiten sind eben voreingenommen; und beide halten mich
für voreingenommen. Nun war Voreingenommenheit bisher
überhaupt derjenige Vorwurf, welchen Anhänger und Gegner der
Freud sehen Lehren einander am häufigsten machten, und fast
immer mit Recht. Beispiele für diese tatsächliche Voreingenommen-
heit auf beiden Seiten, und ebenso für die Verbitterung, die sie er-
zeugte, sind zu lebhaft im allgemeinen Gedächtnis, als daß man an
dieser Stelle nochmals auf sie zurückgreifen müßte. Das Wort Vor-
eingenommenheit hat aber einen doppelten psychologischen Sinn.
Die eine, die umfänglich weitere seiner Bedeutungen, enthält eine
unentrinnbare, subjektiv notwendige Stellungnahme des in be-
stimmter Weise disponierten Menschen zu allen Gegebenheiten und
Problemen. Sie ist eine Teilerscheinung der Determiniertheit alles
Psychischen, der unausschaltbaren, gefühlsmäßigen und intellek-
tuellen Begrenztheit jedes einzelnen psychischen Subjekts. Zu ihr
sich offen zu bekennen und ihr unvermeidbares Wirken nicht hinter
dem Schein einer historischen oder relativistischen »Objektivität a
zu verschleiern, ist ein Gebot wissenschaftlicher Ehrlichkeit. Sie ist
in der psychologischen Forschung genau so eine subjektive Fehler-
konstante, wie dies bei pliysikalischen und astronomischen Versuchen
etwa der subjektive Beobachtungsfehler ist. Nur der Unterschied
besteht, daß letzterer berechenbar ist, ersterer aber nicht. In ihr
liegt auch der tatsächliche Grund dafür, daß sich die Bearbeiter des
gleichen psychologischen Problems in Anhänger und Gegner bestimm-
ter Lösungs versuche spalten. Man soll sie sich gerade bei kritischer
Arbeit stets vor Augen halten, und schon deshalb empfinde ich es
als sinnlos, in meiner Kritik der Freudschen Theorienbildung etwa
eine positive Erledigung der Probleme zu erblicken, deren Lösung
Freud sich zur Aufgabe gestellt hat.
Eine ganz andere Bewertung muß dagegen die zweite Bedeutung
des Wortes Voreingenommenheit erfahren. So stark jeder einzelne
diircli seine affektiven Präokkupationen, sein geistiges Niveau und
überhaupt die Besonderheiten seines seelischen Habitus in bestimmten
1) Mo(l. Psychol. 1852. S. G.'^O.
«) z. B. S. 134, 136, 222 u. a. m.
19*
292 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
Richtungen und Weisen begrenzt ist: Seine Reflexion wird grund-
sätzlich von Irrtümern durch Gründe überzeugbar bleiben, wofern
Wille zur Wahrheit besteht und über ein gleiches Tatsachengebiet
unter gleichen rationalen Voraussetzungen geforscht wird. Diese
Überzeugbarkeit durch in der Sache selbst gelegene Gründe kann
einen Kampf kosten. Aber sie ist prinzipiell psychologisch möglich ;^
und diese Möglichkeit hängt mit der allgemeinen Stellung der reflek-
tierenden Funktionen, ihrer Grundlagen und ihrer Ausbildungs-
fähigkeit innerhalb des Ganzen der Psyche zusammen, die wir in
einem späteren Bande dieses Werkes zur Darstellung bringen
werden. Und sie ist in solchem Grade die erste Voraussetzung und
sittliche Norm wissenschaftlichen Arbeitens, daß ihr Fehlen mit Recht
einen moralischen Einwand darstellt. Dennoch begegnet man ihr
in der Praxis wissenschaftlicher Arbeit aller Orten. Heftige Gegen-
gefühle gegen bestimmte Annahmen, oder das Sichfestgelegthaben
auf eine bestimmte Meinung, das nicht Unrechtbehalten wollen
überhaupt, alle sthenischen egozentrischen Affekte, Stolz, Eitelkeit
und jenes Überlegenheitsbestreben, welches oft nur ein Ressentiment
gegen die eigene innere Schwäche und Leere ist, gesteigerte Empfind-
lichkeit und Reizbarkeit gegen Andersdenkende, jener Zustand des
Nichthörenwollens, des Parteigängertums, und manche andere
psychische Situationen, endlich vor allem auch die Rücksicht auf die
Meinung der Umwelt, auf die eigene soziale oder wissenschaftlich-
offizielle Stellung und ihre Verantwortlichkeiten : Alle diese Faktoren
schränken das Prinzip der überzeugbarkeit durch Gründe ein. Sie
schaffen jene Voreingenommenheit im zweiten Sinne, die den Gang
der Forschung aufhält, persönliche reaktive Verbitterung schafft,
das Verständnis der Streitenden mehr und mehr erschwert und
Foreis hübsches Wort von den »alten Negativisten « rechtfertigt,
welches Stärcke zitiert i).
Die Einräumung der Möglichkeit einer positiv fördernden Kritik,
also das Zugeständnis der Möglichkeit eigenen Irrtums, und der
Wille, sich durch Gründe überzeugen zu lassen, ebenso wie durch
Gründe überzeugen zu wollen : Diese Dokumente der ethischen Norm
wissenschaftlichen Arbeitens schließen Voreingenommenheit in diesem
zweiten Sinne aus. Natürlich aber sind die Bekenner einer bestimm-
ten Theorie, und mehr noch die Schöpfer derselben, voreingenommen
in der ersten Wortbedeutung, genau ebenso wie es ihre Kritiker in
entgegengesetztem Sinne sind. Jedoch damit, und nur damit, ist
der Wille zur Sachlichkeit, ist sachliche Arbeit an dem umstrittenen
Problem vereinbar.
Es ist fast beschämend, daß es notwendig ist — aber es ist tat-
sächlich nötig, sich dies alles einmal besonders zu vergegenwärtigen.
Denn so bereit ein jeder Forscher ist, diesen Willen zur Sachlichkeit
in abstracto als etwas Selbstverständliches anzuerkennen, so oft wird
1) S. 104.
^Vnhang. 29S
wider Beine konkrete Betätigung verstoßen. Ich will nicht in Abrede
stellen, daß wir hier alle gleich schuldig sind.
Eine Konsequenz aus diesen Darlegungen wäre folgende : Es
lierrsclie über gewisse Themen Uneinigkeit. Damit folgt allein
aus dieser Uneinigkeit, daß die betreffenden Themen Probleme
darstellen. Der einzelne Forscher mag die Bedeutung ihrer Lösung
für die eigene Arbeit so gering bemessen, wie er wolle: Für das syste-
matische Ganze bleiben ungeklärte Probleme diskussionsbedürftig.
Kein Forscher hat also das Recht, eine derartige Dis-
kussion als überflüssig abzulehnen. Mithin hat auch kein
Forscher das Recht, die logische Analyse der Lösungsraöglichkeiten
eines psychologischen Problems als überflüssig abzulehnen, weil er
mit bestimmten heuristischen Arbeitshypothesen auf diesem Gebiet,
gleichviel ob sie richtig seien oder falsch, Positives leiste. Nichts
anderes tut aber Bleuler, wenn er derartige Analysen ala »Theorie«
oder »Philosophie« oder dgl. ablehnt. Jene Analyse wird freilich
möglicherweise seinen heuristischen Arbeitsmaximen, aber niemals
seinen positiven Leistungen gefährlich werden können, wenn ihm
jene Hypothesen wirklich nur provisorische Hilfen sind. Jemand,
welcher gegen die theoretische Kritik einer Hypothese den gering-
schätzigen P^inwand der »Philosophie« oder der »Scholastik« macht,
beweist damit nur, daß er sich seinen Hypothesen mit Haut
und Haar zu verschreiben gewillt ist, und es nicht verträgt,
wenn ihre Unzulänglichkeit von innen heraus erschüttert wird. Statt
»eine positiven Leistungen möglichst schroff von seinen Arbeits-
liilfen abzusondern, kettet er sie zweckloserweise fester an dieselben
und setzt, was sonst von größter wissenschaftlicher Bedeutung sein
könnte, der Gefahr der Zerstörung aus. So ist die Behauptung und
der Nachweis einer Dynamik der psychischen Inhalte durch Freud
und ihr Ausbau im einzelnen eine große wissenschaftliche Leistung.
Ihre grundsätzliche Verc^uickung aber mit seinen falschen Hypo-
thesen gefälirdet sie nicht bloß in ihrer Anerkennung durch andere,
sondern auch in ihrem wissenschaftlichen Bestände. Theoretische
Kritik nützt der Freud sehen Leistung hier gegen den Willen ihres
Schöpfers.
Eine weitere Konsequenz aus unseren Erwägungen über Vor-
eingenommenheit läßt sich negativ als das Vermeiden eines vor-
gefaßten Standpunktes, nie positiv als Forderung immanenter
Kritik bezeichnen. Dasjenige, was durch diese Forderung aus-
geschlossen werten soll, ist pben ein Sonderfall jener Voreingenom-
menheit, der sich gerade beim Gewinn psychologisclier Erfahrungen
»ind Erkenntnisse besonders häufig herausbildet.
Wir wiescji bereits darauf hin, wie es im Wesen der psychologi-
schen Erfalirnng liegt, von aller naturwissenschaftlichen Empirie
in einem Punkte unterschieden zu sein; und wir werden darauf noch
bei der Analyse der Gegebenheit im Psychischen zurückkommen.
Der Unterschied liegt darin, daß nicht nur wahrnehmende, wie bei
294 Prolegomena zur aUgemeineu Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
den äußeren Naturwissenschaften, sondern zugleich viele andere
psychische Funktionen am Werden von psychologischen Erfahrungen
beteiligt sind: daß psychologische Wahrnehmungen immer zugleich
innere Erlebnisse sind, gebunden an das psychische Ganze des
Subjekts mit all seinen determinierenden und konstellierenden Ten-
denzen. Unsere Forderung wird hier erfüllt, wenn jeder Teil sich
bemüht, das psychologische Material, welches die Grundlage für die
Arbeit des anderen Teiles bildet, von diesen inneren Voraus-
setzungen aus begrifflich hinzunehmen, sich also, wie man sagt,
in den anderen einzufühlen. Genaueres über die Mechanismen, welche
hierbei ins Spiel kommen, wird an späterer Stelle gesagt werden.
Aber diese Forui der Immanenz ist die weniger wichtige. Psycho-
logie als Wissenschaft beginnt erst danach, da, wo Gesetze, wo System
und Lehre aus dem gewonnenen Material .gebildet wird. Hierbei
nun wird die Methode der immanenten Kritik besonders wichtig
sein. In meinem Freudbuch habe ich diese Methode angedeutet i):
»Außer der Geltung der formalen Logik, sowie der materialen Grund-
lagen unserer wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt wird sie
nichts voraussetzen, was es ihr versagte, sich den Prämissen und
dem Schluß verfahren der jeweils zu beurteilenden Materie anzupassen. «
In bezug auf diese Anpassung des Kritikers an die Voraussetzungen,
Schlußweisen und Absichten der Kritisierten herrscht nun zwar eben-
falls grundsätzliche Einigkeit ; praktisch aber wird sie oft nicht geübt.
Wenn man z. B. meine Ausführungen im Freudbuch über die Trag-
weite der Rückassoziation beim psychoanalytischen Verfahren auf-
merksam verfolgt, und wenn man dann liest, was Rosenstein als
meine Ausführungen zusammenfaßt und bekämpft, so wird man leicht
erkennen, daß er sich meinen Gedankengängen nicht angepaßt hat.
Sein polemischer Versuch nimmt eine Entstellung meiner Darlegungen
zum Gegenstand, anstatt meiner Darlegungen selber.
So einig man sich über die Forderung einer immanenten Kritik
ist, so weitgehende Differenzen bestehen in der Frage, wie die Gren-
zen dieser Immanenz zu bestimmen seien, wie weit die Anpassung
des Kritikers an die Voraussetzungen und Schlüsse des Kritisierten
zu gehen habe. Bleuler, Rosenstein und Lewandowsky wenden
mir ein, meine Kritik an Freud sei durchaus nicht immer dem Vorsatz
der Immanenz treu geblieben. Stärcke hingegen hat gerade hier-
über keinerlei Einwände zu machen, obwohl, — oder besser weil —
seine Ausführungen an Gründlichkeit und eindringendem Verständnis
in bezug auf meine Absichten alle anderen Ki'itiken weit überragen.
Bleuler meint, ich berücksichtige nicht, daß von den führenden
Freudianern jeder »eine andere Psychologie habe «. Aber von diesen
kann doch höchstens eine die richtige sein! Rosenstein hält mir^)
die Benützung eines Gedankenganges von Husserl als »größten
1) S. 188.
2) S. 794.
Anhang. 295
Fehler einer immanenten Kritik« vor. Lewandowsky meint, es
ließe sich nicht einsehen, warum nicht der forschende Empiriker sicli
seine Begriffe und Gesetze beliebig nach den Erfordernissen der zu
bearbeitenden Materie und nach seinem Kenntnisstande derselben
sollte bilden dürfen, unabhängig von irgendwelchen Voraussetzungen
theoretischer Ai't. Diese Auffassungen decken sich zum Teil mit
Bleulers Forderung, philosophische Gesichtspunkte aus den empi-
rischen Arbeiten auszuschalten. Dieser Einwand bedarf der Klärung :
er könnte sonst gegen die genannte Absicht des vorliegenden Werkes
ebenso ausgesprochen werden, wie er gegen mein Freud buch aus-
gesprochen worden ist.
Aller Streit in der Wissenschaft, soweit er nicht ein Streit um
Tatsachen ist — und auch soweit er ein Streit um Tatsachen ist —
kommt immer wieder auf allgemeinste methodische und logisch-
kritische Dissense hinaus; und es ist für die zukünftige Sicherung
des Wertvollen und Bleibenden einer jeden beliebigen Lehrmeinung
gut, wenn man bemüht ist, sie diesem Streit ein für allemal zu ent-
rücken. Besonders muß dies ein jeder empfinden, der dies Wert-
volle und Bleibende nicht lediglich in den neuen Tatsachen, sondern
vielmehr in den neuen Zusammenhängen und Gesetzen seelischen
Lebens erblickt, welche den einzelnen Lehrmeinungen zu verdanken
sind.
Die ideale Lösung dieser Aufgabe, und zugleich einer der Haupt-
zwecke des vorliegenden Werkes wäre es, der Forschung die Kri-
terien für die Gültigkeit aller möglichen theoretischen
Konzeptionen, welche irgendwie gemacht werden könnten,
an die Hand zu geben Dies schließt den Nachweis in sich, daß diese
Kriterien jeder möglichen derartigen Konzeption de facto und de
jure immanent sind. Der Gedanke freilich, daß es derartige Kri-
terien für jede mögliche Konzeption geben könne, ist den meisten
Forschern selber ungewohnt und unbequem. Es muß aber gegen
den trägen Relativismus Front gemacht werden, welchen sich Le-
wandowsky zu eigen macht, wenn er eine »anderartige philo-
sophische Vorbildung« oder Ansicht^) in Fragen logischer und theo-
retischer Richtigkeit für gleichberechtigt mit seiner eigenen oder
einer sonstigen hält.
Derartige Kriterien lassen sich nur entwickeln als psychologische
Theorie: Wir haben dies in der Wissenschaftslehre des Psychischen
getan; und wir haben dabei die Voraussetzung gemacht, daß die
Form aller empirischen Theorie auch für die psychologische Empirie
notwendig und verbindlich ist. Unsere wissenschaftstheoretische
Aufgabe bestand in der Prüfung ihrer Anwendbarkeit auf Psychisches.
Diese Voraussetzung einigt uns völlig mit Freud und seiner
Forschung. Daß sie aber berechtigt ist, muß erst besonders erwiesen
werden. Es gibt Forscher, welche dieses Recht zum mindesten ein-
') S. 833.
296 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
schränken oder teilweise bestreiten. Einige, wie Rickert. haben
wir schon widerlegt. Andere werden wir anläßlich der Erörterungen
der Gegebenheit des Psychischen, seiner Seinsweisen und Erfahr-
barkeit, zu beurteilen haben.
Nehmen wir an, jene Voraussetzung psychologischer Theorie sei
in verbindlicher Weise erwiesen. Was ist dann das Wesen der Kritik?
Kritik hat zu untersuchen, ob die von ihr zu prüfenden Be-
hauptungen und Lehren richtige Erkenntnis oder Irrtümer sind.
Das Ergebnis dieser Prüfung hat sie zu begründen. Die Kriterien
für Richtig und Falsch werden also, ihrer grundsätzlichen Geltung
und Bestimmung nach, für das Geschäft dieser Kritik nicht erst
abgeleitet und entwickelt, sondern bereits als gültig vorausgesetzt.
Ihre Ableitung und Entwicklung ist die Aufgabe der Wissenschafts -
theorie und Methodologie. Die Leistung, welche die Kritik an einer
bestimmten Lehrmeinung vollzieht, besteht darin, die Inhalte dieser
Lehrmeinung auf die durch die vorausgesetzten Kriterien bestimmten
Gültigkeitsgrundlagen zurückzuführen .
Diese Kriterien nun sind für die immanente Kritik einer wissen-
schaftlichen Lehrmeinung genau die gleichen, wie sie für die Auf-
stellung dieser Lehrmeinung sind. Die Forderung der immanenten
Kritik ist verwirklicht bei voller Gleichheit ihrer Kriterien
mit denen, unter welchen diese Lehrmeinung gebildet wurde. Der
Unterschied liegt nur darin, daß der Schöpfer einer Lehrmeinung
sich ihrer Kjiterien nicht immer bewußt zu sein braucht, ja sich ihrer
in der Regel durchaus nicht mit Vollständigkeit bewußt sein wird,
während die Voraussetzung der Kritik das Wissen um diese Kri-
terien ist. Daß der Schöpfer einer Lehre sich dieser Kriterien nicht
abstrakt bewußt ist, liegt einmal an der schöpferischen Persönlich-
keit selber, deren synthetische Fähigkeiten das Zugleichbestehen
kritischer Momente in ihrer Reflexionsweise nur zu ihrem eigenen
Schaden zu dulden scheinen. Ferner liegt es aber auch in der Neuheit
und dem ungeformten Zustande des schöpferisch erschlossenen Ge-
bietes. Der Kritiker, welcher es dank der schöpferischen Arbeit des
Entdeckers in fertiger Form vorfindet, hat es viel leichter, es in das
Wissenschaftsganze einzuordnen und durchzuprüfen. Nennt der
Kritiker dem Schöpfer einer Lehre nun seine Kriterien und begründet
die Notwendigkeit sie anzuwenden, so kann der Fall eintreten, daß
der Schaffende eines dieser Kriterien zurückweist. Dann wäre es
zunächst kein immanentes Kriterium in dem Sinne, daß der Schöpfer
der Lehre es bei deren Bildung angewendet hätte und angewendet
wissen wollte. Dennoch könnte es ein immanentes Kriterium in
einem anderen Sinne sein. Der Bildner der Theorie könnte nämlich
zu seiner Ablehnung des Kriteriums durch einen Irrtum gelangen, in
welchem er sich über die Gültigkeitsgrundlage seiner Lehre befindet.
Natürlich könnte auch der Kritiker irren. Eine Entscheidung wird
hier stets nur durch ein regressives Verfahren, einen Rückgang zu
den allgemeinsten Grundlagen der Gültigkeit der betreffenden Lehre
Anhang. 297
und ihrer systematischen Aufweisung herbeigeführt werden. Erweist
sich hierbei das Kriterium als eine weder notwendige noch hinreichende
Bestimmung der Gültigkeit dieser Lehre, so ist es in der Tat keia
immanentes Kriterium, obwohl es an sich nicht falsch zu sein braucht,
sondern für ein anderes Erkentnisgebiet richtig sein kann. Erweist
es sich aber als eine solche Bestimmung, so ist es ein Kriterium für
die Gültigkeit der betreffenden Lehre: nicht immanent in defia
»Sinne, daß es unter den Kriterien, deren der .Schöpfer jener Lehre
sich bewußt war, niclit vorkommt, dennoch aber immanent in
dem Sinne, daß es eine notwendige und hinreichende Bestimmung
für die Grundlagen der Geltung dieser Lehre abgibt.
Nur in diesem letzteren, objektiven Sinne sollte man von der
Immanenz einer Kritik sprechen. Ich habe also, wenn ich irgendeine
psychologische Hypothese oder Konstruktion, z. B. die Lehre von
Freud, kritisch prüfen will, die Aufgabe, diejenigen Kriterien, welche
ich dieser Lehre für immanent erachte, also als hinreichende und not-
wendige Bestimmungen der Grundlage ihrer Geltung ansehe, als die
Voraussetzungen meiner Kritik anzugeben. Bezweifeln die Ver-
fechter dieser Lehre die Berechtigung von einem oder dem anderen
dieser Kriterien, so habe ich dessen tatsächliche Immanenz, dessen
faktisches Zugrundeliegen für die Lehre nachzuweisen. Dabei ist
noch die weitere Frage ganz außer Spiel, ob irgendein Rechts -
grund für die Zugrundelegung dieser Kriterien besteht. Ich habe
nur die tatsächliche Notwendigkeit darzutun, es auf den betreffen-
den Fall anzuwenden.
Ich habe nun in meinem Freudbuch zwei Reihen dieser Kriterien
genannt: die formale Logik, und die materialen Grundlagen wissen-
schaftlicher Erkenntnis überhaupt. Als weitere Kriterien habe ich
nur solche angedeutet, welche bereits bei der Konzeption der Lehre
den Forschern selber als Kriterien vorgeschwebt haben. Den Rechts-
anspruch dieser Kriterien habe ich nicht begründet, ganz entsprechend
den obigen Darlegungen. Diese beiden Reihen von Kriterien, die
formale Logik und die materialen Grundlagen wissenschaftlicher
Erkenntnis überhaupt, sind nun die immanenten Kriterien für jede
im Bereich der Psychologie überhaupt mögliche Theorie, Konstruk-
tion und Hypothese. Ihr theoretischer Charakter ist mit dieser tat-
sächlichen Immanenz absolut vereinbar. Keine Theorie, welche
diesen Kriterien nicht genügt, kann richtig sein. Die Begründung
des Rechtsanspruchs dieser Kriterien braucht nicht in der Kritik
beliebiger Theorien selber zu erfolgen; in diesem Werke ist sie in der
Wissenschaftstheorie erfolgt; den Nachweis ihres tatsächlichen Im-
manenzcharakters für jede psychologische Theorie erbringt zugleich
die Begründung ihres Rechtsanspruchs.
Aus den Gegenschriften gegen mein Freudbuch habe ich ersehen
müssen, daß dieser Standpunkt nicht überall geteilt wird. Die kriti-
sierten Forscher waren nicht einmal alle mit der formalen Logik als
immanentem Kriterium einverstanden. Vollends ist ihnen der Be-
298 Prolegomena zur allgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
griff der »materialen Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis
überhaupt« nicht deutlich geworden. Was sie unter dem letzteren
verstanden haben, lehnen sie mit großem Rechte ab. So Rosen -
stein, welcher im Ernst meint, ich bezeichne damit »Konzeptionen
der Bewußtseinspsychologie «, »besten Falles so viel, als die Schul-
psychologie Kenntnisse zu vermitteln vermag «i). Dafür behaupten
sie andererseits, ich dürfe mich nur derjenigen Kriterien bedienen,
welche sie selber mit Bewußtsein beim Aufbau der Lehre verwendet
hätten; ich müsse berücksichtigen, daß jeder Forscher seine eigene
Psychologie, seine eigenen Arbeitshypothesen habe.
Ein Teil der hierin liegenden Mißverständnisse dürfte bereits ge-
klärt sein. Im übrigen ist folgendes zu sagen:
Eine jede empirische Theorie, also auch die psychologische Lehre
Freuds usw., steht unter zwei Arten von Kriterien ihrer Gültigkeit:
gegenständlichen und methodischen.
Was die gegenständlichen Kriterien anbetrifft, so ist es selbst-
verständlich, und ich habe es auch in meiner Freud -Kritik^) mehr-
mals betont, daß in erster Linie das Material der zu prüfenden
Schlußweisen, also das was jene Forscher die Tatsachen nennen, Kri-
terien der Gültigkeit einer hierüber aufgestellten Lehre abgibt s).
Das ist eine Binsenwahrheit; und Rosenstein irrt, wenn er glaubt,
ich lehnte das Studium der Tatsachen für meine Kritik an Freud
»prinzipiell« ab*). Ich stelle mir vielmehr ausdrücklich die Auf-
gabe^), »zu erörtern, wie weit eine Verifizierung oder Kritik der Tat-
sachen Freuds möglich sei«. Erst eine methodische Untersuchung
über die Art der Gewinnung und Darstellung der Tatsachen 0) bei
Freud führt mich zu der Überzeugung, daß man »die Tatsachen im
Wege von Freuds und Bleulers Verfahren weder zu bestätigen
noch zu widerlegen vermag«. Ob diese Überzeugung und ihre Be-
gründung in meiner Arbeit richtig ist oder nicht, ist eine andere
Frage; daß man aber auch die Tatsachen nach Art ihrer Gewinnung
und Beobachtung kritisch prüfen kann, wird man mir wohl zugeben.
Daß man es sogar tun muß, werde ich noch in demjenigen Abschnitt
dieses Buches nachweisen, in welchem vom Wesen der Tatsache im
Psychischen und ihrer Stellung zur psychologischen Theorie die Rede
ist. In meinem Freudbuch sage ich ausdrücklich, wir müßten uns,
»wohl oder übel« an die Theorie halten'), da aus den Tatsachen
selber — auf Grund genau begründeter kritischer Erwägungen —
der Kritiker Einsicht über die Gültigkeit oder Ungültigkeit Freud -
scher Lehre nicht zu gewinnen veimag. Ich bestreite also die Tat-
1) S. 754.
2) Vgl. Freudbuch. S. 135, 193.
3) a. a. O. 135, 136, 193.
4) S. 742.
5) s. um.
6) S. 190-197.
7) S. 197.
Anhang. 299
Sachen uicht, noch »verschmähe ich die Wahrnehmung«»), ich stehe
lediglich auf dem Standpunkt, den Stärcke mir mit Recht zuweist:
daß in einer Kritik allerdings »für Phantasie kein Platz «2) iHt. Ich
lehne freilich andererseits durchaus ah, was Stärcke mir zutraut,
der schöpferischen Persönlichkeit, dem Entdecker von wissenschaft-
lichem Neuland das Recht an diese »Phantasie« zu schmälern, welche
ich gerade bei der Gewinnung und Verwertung seiner Tatsachen für
sein wertvollstes geistiges Werkzeug halte. Dieser Unterschied
scheint mir gerade die notwendige Ergänzung von Neuschöpfung
und kritischer Selbstbesinnung in der wissenschaftlichen Forschung
schlagend auszudrücken»).
Hier ist mir nur dies wichtig: daß ich in meinem Freudbuch, an-
gesichts der Ergebnisse meiner damaligen Prüfung der Tatsächlichkeit
psychischer Tatsachen, ausdrücklich nur als einen Notbehelf die
methodischen Kriterien und die Theorie herangezogen habe. Wie
deutlich ich mir der begrenzten Tragweite einer solchen auf das Theo-
retische eingeengten Kritik bewußt war, zeigt der Satz meines Buches,
welchen alle meine Kritiker vernachlässigt haben: »Eine Kritik an
dem systematischen Aufbau eines Lehrgebäudes vermag nur zu
prüfen, ob die Formulierung und der Zusammenhang seiner einzelnen
Inhalte den Forderungen der Logik und der Theorie des Erkennens
Genüge tut oder nicht. Die tatsächlichen Ausgangspunkte könnten
trotz aller Fehler in den daraus gewonnenen Gesetzen ganz richtig
sein«*). Ich glaube, die mir von Rosenstein usw.*) angemutete
»prinzipielle Gegnerschaft« gegen Freud fällt nach diesem einen
Satze schon ebenso in sich zusammen, wie meine »prinzipielle« Be-
streitung der Tatsachen.
Eine weitere Frage ist, ob neben den »Tatsachen« noch irgendein
anderes Kriterium zu Recht besteht. Bleuler scheint das, wenn ich
seine Polemiken gegen Isserlin und mich und seine sonstigen Äuße-
rungen richtig auffasse, überhaupt zu bestreiten. Rosenstein
billigt wenigstens noch die formale Logik als ein solches Kriterium.
Nun sagte ich bereits : die Immanenz der formalen Logik wie der
materialen Grundlagen möglicher wissenschaftlicher Erkenntnis über-
haupt besteht für jede mögliche psychologische Theorie, also auch
für die Freudsche. Beide Kriterienreihen gehören zu den metho-
dischen Kriterien im weitesten Sinne.
Jede empirische Theorie verbindet die Tatsachen, welche ihr Ma-
terial bilden, zu Gesetzen. Das Auffinden dieser Gesetze vollzieht
sich durch Schlußweisen. Die Schlußweisen, die zu diesen Gesetzen
geführt haben, durchyuprüfen, ist die Aufgabe der formalen Logüc.
*) Rosenstein 749.
2) S. 70.
3) Daß ich den Schöpfern tltr Freud.-chcn Lehre dieses Recht lasse, geht
aus vielen Stellen meines Freudbuches hervor: so 8. 13.?, 213, 247, 248.
*) S. 136.
5) S. 756.
300 Prolegomena zur aUgemeinen Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
Diese formale Logik wird von der Kritik als faktisch immanent und
als gültig vorausgesetzt. Ihren Rechtsgrund besonders darzutun
ist nicht Aufgabe der Einzelkritik. Sie braucht mithin Bleulers
Satz nicht zu widerlegen, daß »die Formen unserer Logik nur die durch
die Erfahrung gegebenen Assoziationen wiederholen oder Analogien
dazu bilden«^); und kann dennoch behaupten, Kriterium auch für
diese imsinnige Auffassung Bleulers von Logik zu sein. Lediglich
die faktische Immanenz der formalen Logik für jede mögliche psycho-
logische Theorie ist noch nachzuweisen. Sie folgt aus der Tatsache,
daß es ebenso möglich ist, sich in den Formen der Begriffsbildung,
der Unterordnung und des Schließens, kurz der denkenden Bearbeitung
zu irren, wie man sich in den Tatsachen zu irren vermag. Die Mög-
lichkeit des Irrtums setzt aber bereits voraus, daß es hier ein Richtig
und ein Falsch und eine mögliche Entscheidung darüber gibt. Die
formale Logik hat diese Entscheidungen über richtiges und falsches
Denken, soweit sie die Form des Denkens betreffen, bereits grund-
sätzlich getroffen. Bleulers besonderes Verfahren für den Einzel-
fall seiner Theorie ist also nur ein spezieller Anwendungsfall dieser
generellen Entscheidungen; und diese letzteren sind mithin ein im-
manentes Kriterium für seine Schlußweisen.
Über die zweite Reihe von Kriterien, welche wir als materiale
Voraussetzung wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt bezeichnet
haben, genügen nach den Ausführungen des wissenschaftstheoretischen
Teiles dieses Buches wenige kurze Worte. Die Notwendigkeit dieses
Kriteriums folgt aus dem Wesen der wissenschaftlich ausgebildeten
Naturtheorie. Auch fällt die Begründung dieses Kriteriums hinsicht-
lich seines Rechtsanspruchs nicht mehr in den Rahmen der Kritik
einer einzelnen Lehrmeinung selber hinein. Nur die tatsächliche
Immanenz dieses Kriteriums für jede mögliche empirische Theorie
muß nachgewiesen werden. Dieser Nachweis aber ist durch die tat-
sächliche Feststellung erbracht, daß es sich bei den Lehren Freuds
und Bleulers wirklich um Naturtheorie handelt. Diese Feststellung
habe ich in meinem Freudbuch gemacht 2) ; ich habe dort den induk-
tiven Charakter des Schlußverfahrens jener Forscher nachgewiesen
und dabei die völlige logische Korrektheit ihrer induktiven Gebilde
bestätigt. Daß aber allen Induktionen, sie mögen über ein Gebiet
angestellt werden, welches es sei, nicht bloß formal-logische Voraus-
setzungen, sondern auch materiale Voraussetzungen wissenschaft-
licher Erkenntnis überhaupt zugrunde liegen, dies wird in der Wissen-
schaftstheorie und in der Theorie der Induktion nachgewiesen. Es
handelt sich um dasjenige nichtlogische Notwendige, welches im
Inhalte des Obersatzes jeder möglichen richtigen, vollständigen In-
duktion enthalten ist, und daraus durch ein regressives Verfahren
aufgefunden werden kann. Das Schema der Induktion ist ein Schluß-
1) Dementia praecox. Leipzig 1911. S. 292.
2) S. 188—190.
4
Anhang. 301
verfahren, in dessen Untersatz das empirische Material, in dessen
Obersatz die Existenz einer gesetzesmäßigen Verknüpfungsform über-
haupt steht. Diese gesetzmäßige Verknüpfungsform findet sich in
demjenigen Schema der Anwendungsart schematisiert, welches für
die Erfahrungsweisen des betreffenden Tatsachengebiets gilt. Die
Konsequenz aus beiden Prämissen, der induktive Schluß selber, ver-
bindet die empirische Mannigfaltigkeit des Untersatzes mit der
apriorischen Notwendigkeit, mit der Gesetzesform des Obersatzes.
Das System dieser apriorischen Notwendigkeiten, befreit von jeder
empirischen Bestimmung, ist die materiale Voraussetzungsreihe jeder
möglichen wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt. Es gehört nicht
der formalen Logik an, denn es hat sjmthetischen Charakter, während
die Logik nur analytische Urteile aus sich erzeugt. Es sind jene
synthetischen Grundsätze a priori aus Begriffen, welche wir seit
Kant als »Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung«, »Ana-
logien der Erfahrung« und »Postulate des empirischen Denkens
überhaupt« bezeichnen^). Sie geben jeder möglichen wissenschaft-
lichen Erfahrung das Fundament. Hiergegen meint Rosenstein:
»Gegen Bleuler wird Kant mobilisiert «2), Das ist natürlich nicht
richtig. Bleuler und Kant stehen sich nicht als gleichberechtigte
Gegner in einer Einzelfrage der Naturwissenschaft gegenüber. Viel-
mehr verfehlen sich Bleulersche Einzelbehauptungen gegen die
Grundlagen jeder möglichen Naturtheorie überhaupt. Denn jede
mögliche Naturtheorie muß die genannten Grundsätze bereits als
gültig voraussetzen, so gut wie sie die Formen der Logik voraus-
setzen muß, um gültig zu sein. Möge doch Bleuler selbst einmal
entscheiden, ob ein Widerspruch seiner Lehre möglich ist oder gar
angestrebt wird zu Gesetzen wie: Alle Qualitäten sind von stetig
abstufbarer Intensität; jede Veränderung der Erscheinung ist die
Wirkung einer Ursache — oder: das Kriterium der Wirklichkeit ist
das Dasein zu einer bestimmten Zeit. Nicht darin liegt irgendein
dogmatisches Hinausschreiten über das Prinzip der Immanenz, daß
man diese Sätze als faktische Inhalte des Obersatzes jeder möglichen
Naturtheorie anerkennt. Denn dieses tatsächliche Zugrundeliegen
derselben wird lediglich durch formale Logik, durch Regreß aus be-
liebigen empirischen Sätzen jederzeit aufgewiesen, also durch eine
Methodik, über welche Rosenstein und ich einig sind. Der Ein-
wand, das Prinzip der Immanenz würde überschritten, könnte irgend-
einen Sinn überhaupt nur dadurch erhalten, daß er bemängeln will,
daß ich einen bestimmten richtigen Grund der Gültigkeit für ejne
Grundsätze anerkenne, welcher ein anderer ist als der, den Bleuler
anerkennen würde. Allein genau so lag die Sache doch schon bei der
formalen Logik. Die Begründung des Rechtsanspruchs dieser Kri-
terien geht weder dem Schöpfer noch dem Kritiker einer empirischen
1) Kritik rl. r. Vernunft. I. Ausgabt-. 5>. 187 ff.
2) S. TOS.
302 Prolegomena zur allgemeineu Psychiatrie als strenger Wissenschaft.
Theorie etwas an: beide interessiert nur der Nachweis ihrer tatsäch-
lichen Immanenz für diese Theorie. Über die Rechtsgründe und
Ursprünge jener allgemeinsten materialen Grundsätze mögen Bleuler
und ich gerade so verschiedener Meinung bleiben, wie über die Rechts-
gründe der Geltung formaler Logik: Über das Faktum der Geltung
sind wir uns Jedenfalls einig. Und nur dieses Faktum entscheidet
über die Immanenz unserer wissenschaftstheoretischen Grundsätze,
so wie wir sie in diesem Buche entwickelt haben, als Kriterien für
jede mögliche psychologische Theorie.
Grundlinien der Pliänonienologie und deskriptiven
Theorie des Psychisehen.
Zur Einführung.
In den bisherigen Darlegungen hatten wir die Frage erörtert, ob
und inwieweit eine erkenntnismäßige Bearbeitung des psychischen
Materials Psychiatrie als Wissenschaf t zu konstituieren oder zu fördern
vermöge. Wir hatten diese Frage vorerst noch offen gelassen und als
Problem aufgestellt. Wir hatten auch die herrschende Meinung
nicht unbesehen hinzunehmen empfohlen, nach welcher die erkenntnis-
mäßige Bearbeitung des psychischen Materials den naturwissen-
schaftlichen Methoden und der Psychologie ohne weiteres zu über-
lassen sei. Allerdings hatten wir die naturwissenschaftliche Metho-
dologie und Fundierung der Psychologie gegen die grundsätzlichen
individualpsychologischen und historisch-geisteswissenschaftlichen An-
sprüche Rickerts und seiner Schule wohl behaupten können und durch
genaue wissenschaftstheoretische Untersuchung gesichert. Was hier-
nach allein noch problematisch bleibt, ist lediglich die Ausschließ-
lichkeit, mit der die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie
für die psychologische Erkenntnis überhaupt maßgeblich sein soll.
Denn die Widerlegung Rickerts ist noch nicht eine solche jeder an-
deren Mögliclikeit.
Daß hierin ein Problem bestehe, wird den wenigsten einleuchten.
Und doch hat sich auf die Frage nach der Methode, dem Erkennt-
nisanspruch und dem wissenschaftlichen Charakter der
Psychologie bisher noch niemals eine ebenso eindeutige und allge-
mein aiieikennende Antwort gefunden, wie dies hinsichtlich der
gleichen Frage für die physischen Gegenstandsgebiete beinahe mit
Selbst verständliclikeit der Fall war. Es bestünde nun zwar die
Möglichkeit, durch eine systematische Erkennt nislehre der Psyciio-
logie die Antwort auf diese Frage zu suchen. Und diesen Weg sind
wir in der Wissenschaftstheorie auch gegangen. Jedoch eine solche
Loslösung der Arbeit aus der Kontinuität des wissenschaftlichen
Denkens und Forschens scheint uns allein nicht völlig ausreicliend.
Sie entspräche auch dem Vorsatz nicht, den wir in unseren pro^ram-
matischen Ausführungen kundgetan haben: uns überall bei unseren
kritischen und fortnalen Untersuchungen an das Bestehende zu
halten und dieses logisch bis zu strengeren Fassungen weiter durch-
304 ^ Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
zubilden. Wir werden also auch in der Phänomenologie an die be-
stehenden Ansichten und Lehren, Methoden und Grundlegungen
hinsichtlich der Gegebenheit und der Erkenntnisweisen vom Psy-
chischen anknüpfen, so wie wir sie — in jeweils verschiedener Klärung
und theoretisch verschiedener Bedingtheit — nebeneinander vor-
finden. Daß wir vom kranken Seelenleben handeln, davon müssen
wir freilich zuerst absehen; denn es ist vorerst und im Prinzip nicht
anderen Erkenntnisquellen zugänglich, als das nicht »kranke«
Seelenleben.
Das eingangs angedeutete Problem des naturwissenschaftlichen
Charakters der Erkenntnis vom Seelischen ist nun in der Tat in der
gegenwärtigen Zeit durch das Auftreten einer neuen Erkenntnis -
methode, die sich als spezifisch phänomenologisch ausgibt, in den
Vordergrund der Erörterungen gerückt worden. Und wir werden
gut tun, an den Entwicklungsgang dieser Methode anzuknüpfen,
um von hier aus kritische Klarheit über die Möglichkeit wissenschaft-
licher Psychologie und Psychopathologie zu gewinnen. Die phäno-
menologische Methode — unter der früher nur die naturwissen-
schaftliche Beschreibung des Beobachteten verstanden wurde —
ist in der letzten Zeit von ihren hervorragendsten Vertretern nach
ganz anderer Richtung entwickelt und ausgebaut worden, mit dem
Anspruch, eine geisteswissenschaftliche Methode, ja gleichsam die
Vorwissenschaft aller geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu sein.
Ob dieser Anspruch zu Recht besteht, bedarf einer Untersuchung.
Ihr wird im folgenden die ihr zustehende Stellung angewiesen werden.
Dabei wird noch einmal geprüft werden, ob es möglicherweise über-
haupt berechtigt ist, einen solchen Unterschied der Wesensart von
Natur- und Geisteswissenschaften anzuerkennen. Wir lassen den
Anspruch der Phänomenologie, eine Geisteswissenschaft zu sein,
vorerst ganz außer acht. Wir nehmen es hin, daß ihr auch das Gegen-
standsgebiet des psychologischen inneren Lebens zufallen soll. Und
indem wir ihren Entwicklungen vorerst folgen, stellen wir nicht etwa
Psychologie als Geisteswissenschaft in den triumphierenden Gegen-
satz über eine entthronte Naturwissenschaft. Nichts liegt uns ferner:
Wir betrachten diesen Gedanken vielmehr zunächst als einen mög-
lichen geistigen Weg, der uns von der TTQiorri (pikooocpia, von den
ersten unmittelbarsten und wahrhaftesten Selbstbestimmungen des
eigentätigen Geistes hinüberleiten soll zum Verstehen und Begreifen
aller Einzelzüge im Innenleben des fremden Ich, auch und gerade da,
wo wir es »krank« nennen. Wir prüfen diesen Weg nur hinsichtlich
unserer Forderung, ob er die Form strenger Wissenschaft anzunehmen
vermag und gewährleistet, die wir an Stelle der bisherigen Subjek-
tivität einfühlenden Zu falls verstehens und symptomatologischer Kon-
venienzen zu setzen wünschen. — Denn — dieses Erkenntnis und
dieses Bekenntnis hat eine jede Psychologie sich immer wieder zu
erneuern — wir wollen über der Hirnforschung und der Serologie,
dem Reihenexperiment und dem Assoziationsschema nicht wieder
Zur Einführung. 305
vergessen: der menschliehe Geist ist es, die Seele, doH Ich, dessen
Äußerungen auch dort vorliegen, wo wir von Krankheit und Z«*r-
rüttung reden. Ihre Reduktion auf Faktoren außerhalb dieses Ich,
auf Gehirn und innere Sekretion, auf Xervenbaiin und quantifizier-
bare extensive Funktion ist für den unbefangenen Blick zunächst
ein Umweg, ein Zeugnis unserer geistigen Hilflosigkeit vor dem Wesen
der Phänomene selber. Die Aufgabe wäre, diese Phänomene durch
sich selber in ihrer eigenen Ganziieit und eigenen Struktur begrifflicli
zu erfassen. Es muß also an diesen Pliänomenen untersuclit worden,
worauf diese seltsame Konstellation unseres Wissens und Nicht-
wissens bisher beruht hat, und ob es da nicht jenen behaupteten
Weg jenseits der Naturwissenschaft, einen direkten, wesenhaften
imd zum Wesen führenden Weg gibt, Als solcher bietet die phäno-
menologische Methode sich an. Wir werden zu prüfen iiaben, ob
und inwieweit er gangbar ist ; wie er die bisherigen psychopatho-
logischen Errungenschaften, jene der Psychologie nach natur-
wissenschaftlicher Methode, stützt und vertieft; und inwieweit
diese zu ihrer eigenen Möglichkeit der Phänomenologie bedürfe und
nicht entraten könne. Wir werden sciiließlich den modalischen
Grund dieser neuen Methode unter dem besonderen Gesichtspunkt
betrachten, ob da wirklich ein Gegensatz zur naturwissenschaftlichen
Psychologie schon in den Fundamenten des Erkennens besteht. Was
in der einen Erkenntnismethode als richtig erkannt ist, kann in der
anderen nicht falsch sein. Die Frage, ob das paradoxe Nebenein-
anderstehen zweier Erkenntniswissenschaften vom Psychischen hier
wirklich angenommen werden muß, oder ob ein Verhältnis gegen-
seitiger Über- und Unterordnvmg beider Erkenntniswissenschaften
vorliegt, und welcher Art dieses Verhältnis ist, werden wir zu ent-
scheiden haben. Damit wird sich uns der Weg zum Aufbau der
Seelenerkenntnis als strenger Wissenschaft, den die psychologische
Wissenschaft st lieorie begonnen hat, auch für das Gebiet der Psycho-
pathologie vollenden.
Diese Untersuchungen selber sind keine systematische Pliäno-
menologie des Psychischen. Sie sind überhaupt nocli keine
Phänomenologie. Vielmehr legen sie überall erst den
Grund zu einer solchen und klären ihre Positionen. Diese
Grundlegung ist ihrerseits in Wesen und Methode naturgemäß etwas
außerhalb der phänomenologischen Forschung liegendes,
soll doch diese Forschung auf der hier errichteten Basis innerhalb
des wissenschaftlichen Ganzen erst möglich und gesichert werden.
Sie ist ein logisches und theoretisches, von empirischen
Tatbeständen ausgehendes und sich in regressiven Ab-
straktionen bewegendes Verfahren. Dies sei besonders betont,
um fehlgreifende Erwartungen nicht zu enttäuschen.
Bevor nun im folgenden auf die Sache selber eingegangen wird,
seien noch einige Worte über den Gang der Untersuchung vorauf-
geschickt. Es wird zunächst, in dem Abschnitt »Erlebnis und
Eroafcld, Psychiatrische Erkenntnis. 20
306 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
seelische Funktionen«, der Entwicklungsgang phänomenolo-
gischer Fragestellungen heuristisch und an Beispielen ihrer hervor-
ragendsten Vertreter entwickelt, und die Hauptprobleme gleichsam
auf ihrem Werdegang begleitet und beleuchtet, bis sie zuletzt in
ihrer gegenwärtigen Ungelöstheit verlassen weiden. In einem kurzen
weiteren Abschnitt prüfen wir, was uns bisherige Forschung über
die Gründe unseres »Wissens vom fremden Ich« gelehrt zu
haben behauptet. Auch hier verlassen wir den Gegenstand, sobald
wir seine gegenwärtige Problematik beleuchtet haben. Sodann wird
in einer ergänzenden Gedankenreihe »die Gegebenheit des Psy-
chischen und der Gang ihrer Erkenntnis« wenigstens in den
Grundzügen durch eine von Differenzen, Mehrdeutigkeiten und
Unklarheiten möglichst gereinigte Entwicklung dargelegt. Hier
sollen die ungelöst stehengebliebenen Fragen ihre Auflösung finden.
Insbesondere zwei Darlegungen waren bisher mit großen Schwierig-
keiten behaftet, und dies sind gerade die Fragestellungen, die für
das Problem der theoretischen Psychiatrie von größter Bedeutung
sind: die Stellung der Phänomenologie zur Psychologie, und ihre
Beziehung zu logischen und theoretischen Bearbeitungen. Eine
kritische Prüfung des vorliegenden Materials hat mich dazu geführt,
in beiden Fragen einen Standpunkt zu vertreten, der vom herrschen-
den der Hus serischen Richtung sich wesentlich entfernt. Ich sehe
den Sondercharakter der phänomenologischen Einstellung nicht in
apriorischen Intuitionen, deren modalische Reinheit es sei, welche die
Wesenserfassung der Phänomene verbürge, sondern bei aller Wür-
digung des »grundwissenschaftlichen« Charakters phänomenologischer
Einstellungen für die psychologische Forschung vermag ich ihre Be-
sonderheit nicht auf eine modalische Ungleichheit mit letzterer
zu reduzieren. Damit wird Phänomenologie wieder, was sie vor
Errichtung des Husserlschen Lehrgebäudes war, die Ausgangs-
und Vorwissenschaft der Psychologie und in ein bestimmtes
eindeutiges Verhältnis zu dieser gebracht. Verlassene Lippssche
Standpunkte werden damit, von den Irrungen einzelner Behaup-
tungen und grundsätzlichen Psychologisierens befreit, wieder auf-
genommen. Es sind vor allem unwiderlegliche Argumente Nelsons,
die mich zu diesem Standpunkt bringen. Es bedarf keiner Worte
darüber, daß schon die Ehrfurcht vor dem gewaltigen Werke Hus-
serls es erforderlich macht, diese Abweichung zu rechtfertigen.
Ebenso schwierig liegt das andere Problem: Die Stellung der
Phänomenologie zu den logischen und insofern bereits theoretischen
Weisen des formalen, bestimmten adäquaten Erfassens. Ist ein
unmittelbar reines phänomenologisches Erfassen seelischer Tat-
bestände vor jeder Begrenzung, Unterscheidung, Bestimmung durch
formale und damit ihrerseits nicht mehr »unmittelbare«, sondern
schon der Reflexion und damit der Theorie zugehörige Faktoren
möglich? Eine genauere Untersuchung dieser Frage führt zu ihrer
Verneinung, schon aus dem Wesen des »seelischen Tatbestandes «
Zur Eiofiihrung. 307
und seiner nur rcflekliven Bcgrenzungöinöglichkeit, sowie aus den
Grundfunktionen des Vergleichens und Unterscheidcns in ihrer An-
wendung auf Seelisches heraus, welche bereits am phänomenologischen
Erfassungsprozeß konstitutiv beteiligt sind, und Brückenbögen von
intuitiven zu abstraktiven Funktionen darstellen. Auch dieses
Problem, welches in dem der »inneren Wahrnehmung« aufgeht,
verlangt eine sorgfältige Prüfung, denn seine Lösung hat für das
ganze vorliegende Unternehmen eine weitreicliende Konsequenz.
Nicht in ihrer Trennung von Reflektion und Theorie,
sondern in ihrer Verbindung wird Phänomenologie als
Wissenschaft erst möglich. Dies wurde ja an früherer Stelle
dieses Buches schon dargetan. Natürlich bedarf diese Konsequenz
genauer Begründung. Weisen und Formen, Siclierheiten, Ansprüche
und Kriterien für die Tragfähigkeit dieser Bindung — welche durch
das Vorwiegen und die Fehlbarkeit der reflektiven Vollzüge in der
phänomenologischen Einstellung, so wie sie hier begründet werden
wird, besonders dringlich gefordert werden — müssen genau fest-
gelegt werden. So kommt diese Untersuchung zu einer manchem
gegenwärtigen Intuivisten paradox und ketzerisch klingenden phä-
nomenologischen Theoretik. Und diese Theoretik führt zu
Theorien, welche, in innigster Anlehnung an die Phänomene des
Seelischen, in denen sie Ausgangspunkt, Grund und Sicherheit ge-
winnen, weit über die Phänomenalität des Seelischen in seine dunklen
formalen und strukturellen Quellen abstraktiv und sjTithetisch-
induktiv hineinfinden. Hier schließt sich die Kette zwischen Wissen-
Bchaftstheoric und Phänomenologie. Es sei wiederholt : diese ganzen
theoretischen Grundlegungen erzeugen nicht neue, willkürliche Theo-
rien der Psyche o4cr des Psychotischen. Sie sind vielmehr die logi-
schen und materialen Voraussetzungen jedweder möglichen
Erkenntnisse dieser Gegenstandsgebiete, welche mit dem An-
spruch auf Wissenschaftlichkeit auftreten. Sie geben die Kriterien
des Richtigen und Falschen in der psychopathologischen Arbeit,
soweit diese Begriffe bildet und Hypothesen aufstellt. Sie sind gleich-
sam der Kanon des geistigen Rüstzeuges, welches über die »Beob-
achtung« der Tatsachen hinaus — die ihrerseits in der phänomeno-
logischen Einstellung ihre Methoden und Korrektive findet — zur
Errichtung der Psychopathologie als Wissenschaft erfordert wird.
Im zweiten Bande dieses Werkes soll dann gleich eingangs ein
Grundriß vom funktionalen Aufbau des seelischen Ge-
schehens selber gezeichnet werden, wie er sich als erstes Ergebnis
systematischer phänomenologischer Theoretik in dem hier begründe-
ten Sinne darstellt. Aus ihm folgen entscheidende Gesichtspunkte
für die Untersuchungen der pathologischen Symptomatik in den spä-
teren Studien dieses Werkes.
20«
308 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
1. Erlebnis und seelische Funktionen (heuristische Entwick-
lung der phänomenologischen Grundbegriffe).
Vorbegriffliche Umschreibung der phäziomenologischen
Einstellungs weise.
Wir treten unseren kritischen Weg, der uns zur Psychologie als
Wissenschaft führen soll, in einem Augenblick an, wo bedeutende
Vorgänger bereits begonnen haben ihn ihrerseits zu beschreiten.
Nicht nur das Gegenstandsbereich des Psychotischen, auch das des
Psychischen wollen sie mit einer neuen Erkenntnismethode der
wissenschaftlichen Bearbeitung in einem ganz anderen Umfang zu-
gänglich machen, als dies bisher geschehen ist. Und wir können
vorerst nichts Besseres tun, als uns diesen Wegebahnern beobachtend
anzuschließen, um die neuen Bereicherungen des Wissens und Wissen-
könnens, die sie ja zu verwirklichen behaupten, luisererseits auf-
zunehmen bis zu dem Punkte, wo wir sie in Irrtum und schädliche
Übertreibungen verfallen sehen. Hier werden wir, immer das Ganze
der Wissenschaft vor Augen und eingedenk der positiven Errungen-
schaften, die wir in der Wissenschaftstheorie gesichert haben, mit
besonderer Vorsicht vmd Genauigkeit Fruchtbares und Unfrucht-
bares scheiden. Die Methode des phänomenologischen Er-
fassens und Erschauens stellt in der Tat den Anspruch, in dem
ganzen Arbeitsfelde der Wissenschaft den forschenden Geist in bisher
ungekannte Tiefen zu führen und mit dem Reichtum neuen Lichtes
zu übi^strahlen. Ursprünglich ausgebildet als eine besondere Weise
der Einstellung auf Seelisches, und in dieser Einstellung zunächst
noch mit Bewußtsein psychologische Disziplin, hat sie in jüngster
Zeit ihr Gegenstandsgebiet wie ihren Erkenntnisanspruch über alle
Grenzen ausgedehnt. Gegenständlich genommen ist sie zu einer
besonderen Weise des Wissens von allen Dingen geworden, und in
der besonderen W^eise ihres Erkenntnischarakters vermeint sie, die
Grund- und Vorwissenschaft zu sein, welche die Quelle des begriff-
lichen Erkennens und seiner formalen Struktixren im Rückgang auf
letzte Evidenzen ebenso erhellt, wie die Seins weisen des Seelischen
vor und unabhängig von seiner empirischen Gebundenheit an das
einzelne zufällige Ich,
Für den in der Schule strenger, gegenständlich und methodisch
begrenzter Empirie erzogenen Forscher klingt in der Ankündigung
so fantastischer und in ihrem Umfang ebenso ungeheuerlicher wie
unbestimmter Ansprüche einer geisteswissenschaftlichen Forschungs-
richtung immer ein bedenkenerregender Unterton mit, den er leicht
in Ablehnung umsetzt. Noch ist ihm das Zeitalter Schellingscher
Naturphilosophie eine Erinnerung, allem, was sich als geisteswissen-
schaftliche Errungenschaft für die Naturerkenntnis ausgibt, in der
methodisch gesicherten Tatsachenforschung von vornherein aus dem
Erloblüä und seeÜBche Funktionen uew. 301i
Wege zu gehen. Wenn wir aber andererseits hervorragende Denker
unter den Aiibahnern dieser Forschungsrichtung walirnehmen, frei-
lich einen jeden auf einer anderen Stufe der Ausbildung und des
Erkenntnisanspruehes dieser Disziplin — , so werden wir nicht ohne
weiteres geneigt sein, diese Methode oline Prüfung von vorniierein
abzulehnen. Betrachten wir den gegenwärtigen Stand der Psycho-
logie und der Psychopathologie, so werden wir gewiß eine jede Be-
fruchtung dieser Disziplinen durch psychologische Neuerungen für
wünschenswert erachten. Wir l>rauchen bloß die Frage aufzuwerfen:
Sind diese beiden Disziplinen bei dem bisiierigen Stande ihrer Aus-
bildung in das Wesen des Seelischen, seine Strukturen und Gesetze
auch nur über die äußersten Außenflächen eingedrungen? In das
Seelische, nicht nur wie wir es an einem Zipfel seiner äußeren Hülle
packen, messen und quantifizieren, sondern so, wie wir aus ganz
unwissenschaftlicher Quelle wissen, daß es eigentlich und wirk-
lich ist — in dem ganzen Reichtum seiner inneren Entfaltungen,
der Mannigfaltigkeit seiner Differenzierungen, der inneren Ver-
wicklung seiner Abläufe und Erscheinungsweisen, der Dunkelheit
seines schöpferischen Leistens, der scheinbar unauflöslichen Schwie-
rigkeiten seiner Bewußtwerdungen und ihrer Bestimmtheit in
Formen und Strukturen, der immer wieder besonderen Djniamik
seiner inneren Zusammenhänge: kurz in allem dem, was in uns als
Besonderheit und Wesen der Persönlichkeit zum Erfassen
gelangt, werten wir sie nun als »gesund« oder »krank«. Weiß die
Wissenschaft davon? Wohnt ihr die Fähigkeit inne, gerade über
dieses eigentliche Wesen des Seelischen begründbare Aussagen mit
dem Anspruch wissenschaftlicher Geltung und Lehrbarkeit zu machen ?
Diese Frage für die gegenwärtige Psychologie stellen, heißt sie
verneinen. Und es geht auch nicht an, dieses unbequeme Einge-
ständnis mit dem riclitigen und doch fehlgleitcnden Gegengrund zu
erledigen, daß vom Individuellen nun einmal eine Wissenschaft nicht
möglich sei, da Wissen immer den Charakter des Allgemeinen trage.
Wo haben wir denn bisher auch nur ein heuristisches Unterscheidungs-
merkmal für das gehabt, was von dem seelischen Ablaufen und Sein
der genannten Phänomene individuell sei und was nicht — wobei
überdies individuell und gesetzlos noch zwei völlig verschiedene
Begriffe sind!^) Das Allgemeine des Wissens bezieht sich auf sein
Gelten, nicht auf seinen Gegenstand. Auch das Vereinzelte vermag
Gegenstand allgemeingültigen Wissens zu werden. Bisher wurden
derartige Unterscheidungen des Wißbaren und nicht Wißbaren vor-
wiegend unter konventionellen, abstrakt iven Gesiehtspunkten ge-
troffen, oder mit Rücksicht auf irgendwelche vorgebildeten theore-
tischen Lehrmeinungen, oder auf psychoplij-sische oder didaktisch-
schematische oder klinische Zweckgesichtspunkte, oder gar auf philo-
sophische Annahmen. Wir waren dies so gewohnt, daß wir es schon
1) Vgl. dicsea Buch, S. 225ff.
310 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
gar nicht mehr bemerkten. Aber es ist Tatsache, daß wir aus dem
Strom des Psychischen herausgreifen, was uns unter irgendeinem
dieser Gesichtspunkte verarbeitbar erscheint; dies wird zu verein-
fachten, schematischen festen Formen von allgemeiner Anwendung,
die sich mit Vergnügen immer wieder finden lassen; der Rest wird
als »individuell « für die Wissenschaft vernachlässigt. Diese Kenn-
zeichnung des methodischen Charakters der herkömmlichen Psycho-
logie gerade auch des kranken Seelenlebens mag übertrieben sein,
aber den hier in Frage stehenden Gesichtspunkt ihrer Schwierig-
keiten, an das eigentliche Seelische in seinem mannigfaltig ver-
wickelten Sein exakt heranzukommen — diesen Gesichtspunkt über-
treibt sie wahrhaftig nicht. Man denke nur an Theorie und Praxis
unserer psychopathologischen Arbeit, Von der eigentlichen und
wesentlichen inneren Leistung des Psychopathologen, dem verständ-
nisvollen Erfassen des seelischen Geschehens und seiner Erschei-
nungsweisen in den Kranken, vermag man in die theoretischen
Formulierungen und Bildungen nur recht wenig mit hinüber zu
nehmen.
Indem wir die methodologische Bedürftigkeit des Ausbaues der
psychologischen Disziplinen nach dieser Richtung hin anerkennen
müssen, sind wir weit davon entfernt, die schärfste und genaueste
Kritik an jeder neuen Methode, und somit auch an der phänomeno-
logischen, beeinträchtigen zu wollen.
In det" Geschichte aller empirischen Wissenschaften treten mit
einer Art von Notwendigkeit Zeitpunkte ein, in welchen der stetige
Weg zur Gewinnung neuer Tatsachen und Gesetzeserkenntnisse
unterbrochen werden muß durch eine methodologische Be-
sinnung über das bisher Erreichte, über die Ziele der Forschung
und die möglichen Mittel, sich diesen Zielen weiter anzunähern, als
es bis dahin möglich war; oder doch wenigstens neue Gesichtspunkte
ihrer Betrachtung zu gewinnen. Und fast niemals sind diese Unter-
brechungen bisher begangener Wege eine bloße Verzögerung der
Arbeit und ohne allen Gewinn. Historisch läßt sich beobachten,
daß sie zumeist es sind, in welchen die neuen Fragestellungen
entstehen; und diese neuen Fragestellungen erzeugen aus sich heraus
mit Unausweichlichkeit die neuen konformen Methoden. Insofern
aber die neuen Methoden zum Wissen um neue Tatsachen hinleiten,
insofern sie die Forschung neu beleben und bereichern: insofern
sind jene Momente methodenkritischer Besinnung nicht zwecklose
Ruhepunkte oder Abwege, wie dies der reine Tatsachenforscher
gern glaubt; sondern sie erzeugen gerade die Leitideen neuen Fort-
schreitens und werden so ebenfalls zu fördernden Momenten wissen-
schaftlicher Arbeit.
Stellen wir auf diese Weise die Psychologie und die Psycho-
pathologie ihren eigentlichen Zielen, so wie sie soeben kurz und ohne
begriffliche Klarheit angedeutet wurden, gegenüber: der Erfassung,
und zwar der wissenschaftlichen Erfassung, des wesentlich und
Erlebnis und ßeeliflche Funktionen usw. Sil
spezifisch Seelischen, nicht in den abgeleiteten Schematismen
einer vergewaltigenden Vereinfachung und nicht in den willkür-
liehen Bildern literarischer Aufmachung, sondern gemäß den un-
mittelbaren Weisen seines Erscheinens und Soseins — , so ergibt
diese Gegenüberstellung den Anlaü zu jener Forderung methodis^chcr
Besinnung, von der allein die Seelenkunde in neuen Wegen weiter
entwickelt werden kann. Und nun ist es interessant, daß überall,
wo im Verlaufe der letzten Jahrzehnte unsere großen Forscher auf
diesen Gebieten Anlaß zu solcher methodologischen Selbst l)e8innung
nahmen, die Geburt s stunde der Phänomenologie schlug —
nicht als Wissenschaft, verschiedenartig und verschiedenwertig in
ihrem methodischen Gehalt, aber überall gleich als neuartige Weise
des Sichcinstellens auf das seelische Gegenstandsgebiet, Daß diese
neue Einstellung ihr ursprüngliches seelisches Gegenstandsgebiet
dann später weit überschritt, ist eine Sache für sich; und darüber
wie über ihre Grenzen und ihre methodische Fassung wird noch zu
sprechen sein, ebenso wie über ihren von mancher Seite geltend ge-
machten Anspruch auf ihre Stellung unter den Geisteswissenschaften.
Aber soviel möchte hier klargestellt sein: nicht aus Neuerungssucht,
weil gerade irgendein aktuelles Verfahren auftaucht und sich unter
vielleicht angemaßten Ansprüchen als den wahren Fortschritt der
Wissenschaft anpreist, nicht darum soll Phänomenologie gewaltsam
in den Gesichtskreis des Seelenforschers gezogen werden. Sondt-iu
der historische und heuristische Gang der Entwicklung phänomeno-
logischer Einstellungen in der Seelenkunde ist gerade der umgekehrte
gewesen: aus einer Lücke, einem Mangel des methodologischen Rüst-
zeuges unserer Disziplin iliren Zielen gegenüber entstanden mit
innerer Notwendigkeit jene methodischen Neuerungen, die sich noch
nicht irrtumsfrei und restlos konsolidiert haben, in ihren Ansprüchen
und Grundlagen aneinander noch vielfach widerstreiten, aber doch
schon sichtbar das Antlitz innerer Einheit und Zusammengehörigkeit
tragen, und sich unter dem Begriffe der phänomenologischen Ein-
stellung zusammenfassen lassen. Aus ihr soll Phänomenologie als
Wissenschaft hervorgehen.
Natürlich ist hiermit bloß ein Sachverhalt angedeutet, und weder
seine Berechtigung dargetan, noch seine Bedeutung umrissen. Ja.
es ist mit der Andeutung dieses Sachverhaltes noch niclit einmal die
Möglichkeit gewährleistet, klar und eindeutig zu sagen, was denn
nun phänomenologische Einstellung, was Phänomenologie sei und
sein solle.
Und diese Frage ist sehr viel schwieriger zu beantworten, als es
den Anschein erweckt. Das liegt an der Vieldeutigkeit der Bezeich-
nung Phänomenologie und ihrer Anwendung in verschiedenem Sinni-.
Die Phänomenologie des Hegeischen Philosophems ist etwas völlig
anderes als der Begriff Phänomenologie in der physikalischen Theorie,
die phänomenologische Eidetik Husserls ist völlig verschieden von
der psychischen Phänomenologie Lipps'; nirgends decken sich völlig
312 Grundlinien der Pliänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Gegenstandsgebiet und Methodik dieser mit gleichem Namen be-
zeichneten Forschungsrichtungen. Wir können uns der begrifflichen
Bestimmung dessen, was in diesen Bedeutungen nicht nur das Ge-
meinsame, sondern schließlich und vor allem auch das Richtige ist,
nur schrittweise annähern, und wir weiden nicht eher präzise und
aussagbar wissen, was Phänomenologie für uns bedeute, als in dem
Augenblick, wo wir ihre Grundlagen systematisch geklärt und ge-
sichert haben.
Auf diesen Weg der heuristischen Annäherung begeben wir uns
jetzt. Und damit uns zugleich mit dem Wesen auch die innere Be-
rechtigung der phänomenologischen Einstellung und ihr Erfordernis
für die Seelenkunde einleuchte — oder wenn nicht einleuchte, so
doch zu kritischer Stellungnahme Gelegenheit biete — so knüpfen
wir am zweckmäßigsten ohne jede eigene Vorwegnahme an jene
Anlässe zu methodologischer Besinnung an, von denen wir oben
sprachen, und die den Gedanken der phänomenologischen Einstellung
aus sich haben hervorgehen lassen. Tatsächlich ist in diesen An-
lässen zunächst noch das allein gemeinsame Ausgangs- und Erzeu-
gungsmoment gelegen, aus dem die auseinanderstrebenden Tendenzen
und Einstellungen der Phänomenologie hervorgehen, und welches
uns vor aller Klärung ihres Gehaltes und ihrer Widersprüche erlaubt,
von der Phänomenologie als einer im Wesen einheitlichen Forschungs-
richtung zu sprechen. Nun trafen jene Vorboten methodologischer
Klärung freilich nicht zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt
aufeinander. Wohl aber bilden sie eine Einheit in dem Sinne, daß
aus dem Werdegang der Psychologie in bestimmten Momenten eine
Reihe von Schwierigkeiten sich ergeben mußte, wie wir- sie bereits
oben angedeutet haben; und diese Gleichförmigkeit der heu-
ristischen Situation in der Seelenkunde soll der Ausgangspunkt
und die erste gemeinsame, wenn auch vor der Hand negative Eigenart
der phänomenologischen Einstellung und Fragestellung für mis sein.
Hieraus folgt für uns sogleich, daß wir mit der Darstellung der
phänomenologischen Grundlinien da beginnen, wo sie sich aus den-
jenigen Disziplinen herausbilden, die sich mit dem seelischen
Geschehen beschäftigen. Wir wissen noch nicht, ob dieser Genese
für das Wesen der Phänomenologie koiistitutiv oder nur zufällig ist.
Nur das eine wissen wir schon, daß sie für die Psychologie nicht
zufällig, sondern an einem bestimmten Punkte ihrer Entwicklung-
notwendig ist. Demnach wird sich für unseren Ausgangspunkt
Phänomenologie als eine besondere und ihrem Anspruch nach neu-
artige Weise darstellen, Seelisches zu erfassen. Somit wäre die nächste
allgemeine Aussage, die sich von diesem Ausgangspunkte aus über
die Bedeutung der Phänomenologie machen läßt, diese: Phäno-
menologie ist die reine Beschreibung des Seelischen gemäß
seinen Seinsweisen.
Diese Aussage sieht zunächst recht harmlos aus, und nichts von
so prinzipieller Neuheit und Bedeutung scheint ihr anzuhaften, daß
Erlebnis und Bcelißcho Funktionen uhw. 313
ßio den Anspruch auf eine fundunientale Neuerung in den seelen-
wissenschaft liehen Methoden zu rechtfertigen vermöchte. Dennoch
involviert sie eine gar nicht zu ahnende Fülle von Problemen von
teilweise großer Schwierigkeit und Dunkcllieit, denen wir noch
Schritt für »Schritt begegnen werden. Hier sei zuvörderst auf zwei
Momente hingewiesen, welche jene allgemeine Aussage mit einem
programmatischen Gegensatz zu belasten scheinen gegen die grund-
legenden Methoden, die sonst ausschlieülich die Psychologie beherr-
schen. Auch hierbei unteisuciien wir nocli nicht das Recht dieser
Entgegensetzung, sondern stellen sie fest: in der Aufnahme des
Begriffes reiner Beschreibung liegt die Ablehnung aller konstruk-
tiven Psychologie; in der Bestimmung des Seelischen gemäß seinen
Seinsweisen liegt die Ablehnung der »objektiven« Psj-chologie
und ihrer experimentellen Methodik. Wir verfolgen den Gedanken-
gang über das, was mit dieser Entgegensetzung gemeint ist, und
dringen so genauer in die heuristische Situation ein, aus welcher die
phänomenologische Forschung hervorgeht.
Da ist zunächst klar, daß beide Ablehnungen herrschender Me-
thoden nicht etwa für die Psychologie schlechthin, sondern lediglich
für die besonderen Ziele gellen sollen, deren Erreichung die phäno-
menologische Einstellung als angepaßtere Methode zu erstreben
gedenkt. Daß die Phänomenologie, sowie sie bis jetzt bestimmt
wurde, sich zunächst in diesen beiden Ablehnungen als einzigen Be-
stimmungsstücken konsolidiert, hat den einfachen und fast naiven
Gedanken zum Grunde, daß sowohl die konstruktive als auch die
objektive experimentelle Methodik der Erfüllung bestimmter wesent-
licher Aufgaben in der Seelcnforschung nicht gewachsen sind. Beiden
methodischen Formen, so wird dieser Gedanke etwa ausgedrückt, ist es
gemeinsam, das seelische Fließen gleichsam von außen zu betrachten,
als bloßes Ablaufen und ohne die Rücksicht daiauf, wie es dem »Ich ^
erscheint, in welchem es erfolgt. Sie betrachten seinen Bewußtseins-
bestand nicht anders als seinen objektiven Effekt : nach dem Ge-
sichtspunkte, was durch ihn bewirkt oder verändert wird, was für
eine Leistung sich in ihm vollzieht. Es ist kein Wunder, daß dem
so ist; sondern es liegt das im Wesen ihrer Aufgaben und ihrer Ziele.
Der Gesichtspunkt der naturwissenschaftlichen Forschung ist es, der
in ihnen herrscht, und dessen Anwendung auch auf das Seelische,
als einen Teil des empirischen naturgegenständlichen Gebietes, zur
Quantifizierung, zur kausalen und konditionalen Mechanisierung
hindrängt. Maß, Größe, Zahl und Wirkung bilden die Bausteine
zu dem Ganzen der Naturforschung. Unter diesen Gesichtspunkten
wird auch der seelische Ablauf beobaelitet und durchforscht ; der
Zeit verlauf seines Zustandekommens, die Bedingungen seines Ein-
tretens, seine Phasen, Komponenten, seine Intensitätsschwellc werden
gemessen und experimentell isoliert. Qualitäten des Seelischen, die
ihrem Wesen nach nicht wie die der extensiven Natur in Quantitäten
auf löslich sind, werden nur hinsichtlich des einzig Meßbaren an ihnen.
314 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
ihrer Intensitätsgrade, als Material in diesen Arbeitsrichtungen ver-
wertet; Inhalte nur soweit sie zählbar und beliebig reproduzierbar
sind; ihre Beziehungen zum »Ich«, ihre Bedeutsamkeit für das Ich,
ihre Stellung im und zum »Bewußtsein« fallen unter den Tisch.
Vom Bewußtsein redet die bisherige psychologische Forschung, als
von etwas, das ihr immer wieder unangreif liehen Trotz bietet, über-
haupt nicht gerne. Sie vermeidet auch, das willenshafte Eingreifen
des Ich in seine seelischen Vollzüge so ganz ernst zu nehmen. Lieber
löst sie es in »Gefühlen« auf; nur kein irreduzibles Aktualitäts-
moment, das schematischer Zergliederung trotzen könnte! So macht
sie sich — und das ist ebenso begreiflich wie es erfolgreich
war — ein schematisches Bild des seelischen Ablaufens nach Ana-
logie physikalischer oder physiologischer Annahmen, wonach das
Psychische konstruierbar wird aus einer begrenzten Zahl isoliert
faßlicher materialer Bausteine von grundsätzlich gleicher Wesensart,
an denen alles, bis auf die quantitativ nicht auf löslichen elemen-
taren Qualitäten, die sozusagen das seelische Molekül darstellen,
in Größen- und Maßbeziehungen aufgelöst werden kann. Aus diesen
wird, vermittels einer Reihe von quantitativ bestimmbaren Mecha-
nismen, das seelische Ablaufen in seinen Formen und Strukturen
konstruktiv nachgeschaffen. Die Ergebnisse dieser Quantifizierung
bilden das Gesetz jeweiligen seelischen Leistens -und sich Veränderns,
als einer Bewirktwerdung, für dasjenige Teilgebiet, welches gerade
durchforscht wird. Und dieses Gesetz enthält, nach Analogie physi-
kalischer und physiologischer Gesetze, die konstruktiven Bedin-
gungen und Bestimmungsstücke des kausalen Mechanismus, der
dieser seelischen Leistung zugrunde gelegt wird. So ist ja seit langem
die Wahrnehmung, Auffassung, Reproduktion und Übung usw.
quantifiziert und gesetzmäßig bestimmt worden.
Das alles ist nicht falsch und kein Irrweg, und die Ergebnisfülle
dieses Verfahrens wird hier nicht verkleinert. Aber es läßt eine Seite
des Seelischen, die auch zu ihm gehört, außer acht. Diese Seite nun
vermeint die phänomenologische Einstellung zu treffen, wenn sie,
ohne sich durch theoretische Präsumtionen und konstruktive
Schematisierungen festzulegen, ohne nach Möglichkeit künstliche
Trennungen und Isolierungen in dem Strom des Seelischen vorzu-
nehmen, zur Aufgabe stellt, den ganzen phänomenalen Bestand
eines seelischen Ablaufes in reiner Beschreibung zu erschöpfen, und
zwar von der Seite her, wie er unmittelbar da und für die Erfassung
gegeben ist, seinem immanenten Wesennach. (Über Husserls andere
Formulierung der reinen Phänomenologie wird später besonders
gesprochen.)
Das ist vorerst nur eine, und nicht einmal sehr klar ausgedrückte
Forderung. Wie sie uns deutlicher wird, wie ihre Verwirklichung
versucht wird, wieweit sie überhaupt durchführbar ist, und wohin
sie führt, davon sollen die folgenden Abschnitte handeln. .
Erlebais und seelische Funktionen osw. 315
Die Konzeption des Erlebnisbegrif fcs bei Uilthey.
Die Forderung, die wir am Schluß der bisherigen Darlegungen
wiedergegeben haben, ist im Grunde nichts anderes, als eine Wieder-
aufnahme der Einwände, welche von Seiten der Historiker und der
transzendentalistischen Philosophen von jeher gegen eine an der
naturwissenschaftlichen Methode orientierte Psychologie vorge-
bracht worden waren. Einen Schritt über diese unfruchtbaren Nega-
tionen hinaus führte aber erst eine Arbeit Diltheys aus dem Jahre
1894. Damals herrschte die konstruktive und quantifizierende
Richtung der Elementarpsychologie und des Reihenexperimentes
fast unbeschränkt. Der Schritt, den Diltheys betrachtende Be-
sinnung in dieser heuristischen Situation tat, führte noch zu keiner
methodischen Klärung, wohl aber brachte er doch schon einen Hin-
weis auf neue Arbeitsmöglichkeiten an die Seelenforschung heran;
und mit der Fassung des Erlebnisbegriffs, der im Mittelpunkt
seiner Arbeit steht i), fand eine Konzeption ihren Ausdruck, die in
der späteren Entfaltung der Phänomenologie maßgebend werden
sollte.
Der Inhalt der kritischen Besinnungen Diltheys, welche ihn
in jene heuristische Situation drängten, aus der diese Konzeption
einen Ausweg sucht, dieser Inhalt geht über die vorher angedeutete
Kritik der bisherigen Seelenkunde nicht wesentlich hinaus. Die
erklärende Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode, so
führt er etwa aus, sieht ihr Ziel in der »Unterordnung der seelischen
Erscheinungen unter Kausalzusammenhänge«. Sie verfährt dabei,
wie wir schon vorher sagten, konstruktiv und hjrpothetisch, und
ihre einzelnen Hypothesen lassen sich zu Systemen kombinieren.
Aber diese Hypothesen sind weder restlos stringent, noch unver-
meidlich, nocli wesentlich. Denn sie erfordern zu ihrer Ermög-
lichung Hilfsbegriffe, welche ihrer Art nach unpsychologisch sind;
mag es sich nun um spezielle psychologische Erklärungsgesichts-
punkte oder, allgemeiner, um das alte Kantsche Stetigkeitsprinzip
handeln, welches zur Begründung von quantitativen Fragestellungen
überhaupt und aller Messung im Psychischen herhalten muß: nir-
gends wird mit allem diesen das Wesen des Seelischen selber getroffen.
Ferner lassen sich diese Hypothesen in verschiedenen Systemen
zusammenfassen, ohne daß diese verschiedenen Zusammenfassungen
einander ausschließen. Soll aber auf diese Art echte systematische
Erkenntnis zustande kommen, so muß ein System richtig, die an-
deren falsch sein; logische und sachliche Verträglichkeit ist das
Zeichen und Eingeständnis dafür, wie unzulänglich diese ganze Art
von konstruktiven Hypothesen hinsichtlich ihres systematischen
Erkenntniswertes ist. Und ebenso weist Dilthcy auf die Gewalt-
samkeit hin, mit welcher die elementare Psychologie verfahren muß.
*) Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Sittungs-
berichte der Pmiß. Aknd. d. Wiss., philow.-hist. Klas-se. 1894. S. 309ff.
316 Grundlinien der Phänomenologie ii. deskriptiven Theorie des Psychischen.
um die seelischen Tatbestände aus jenen von ihr unterstellten »Ele-
menten« von gleicher Art und begrenzter Zahl konstruktiv nachzu-
schaffen. Dilthey hält diese Unzulänglichkeiten nicht für zufällige
Mängel, vielmehr sieht er in ihnen nur den notwendigen Ausdruck
des grundsätzlichen Irrtums, der darin liegt, Seelisches wie ein Natur-
geschehen erkennen zu wollen. Die Erkenntnis des Seelischen, so
wie es wirklich sei, sei eine generisch völlig andere. Er prägt dafür
die Formel: »die Natur erklären wir, das Seelenleben ver-
stehen wir«. Wir verstehen es »als einen ursprünglich gegebenen,
lebendigen Zusammenhang«. Und dieser Zusammenhang ist uns
wesenhaft und ausschließlich »im Erlebnis« gegeben.
Diesen lebendigen Zusammenhang gilt es wissenschaftlich zu er-
fassen. Die zu fordernde »beschreibende Psychologie« hat somit zur
Aufgabe »die Darstellung der in jedem menschlichen Seelenleben
gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, so wie
sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzu-
gedacht, oder erschlossen, sondern erlebt ist«.
Wie läßt sich nun diese neue, und angeblich von der Naturwissen-
schaft grundlegend verschiedene Weise des Wissens um Seelisches
verwirklichen? Dilthey spricht sich hierüber nicht klar aus. Er
sagt: »Jeder Zusammenhang muß durch innere Wahrnehmung ein-
deutig verifiziert werden können«. Die Mittel hierzu seien »alle
Hilfsmittel künstlerischer Vergegenwärtigung«. Man mag dies zu-
nächst hinnehmen; aber es drängt sich die Frage auf, wie aus diesem
ästhetischen Erfassen ein Wissen um Seelisches, eine Wissenschaft
werden soll. Dilthey begnügt sich mit der bloßen Andeutung:
»die volle Wirklichkeit des Seelenlebens muß zur Darstellung und
tunlichst zur Analysis gelangen«. Hiermit könnte man ganz ein-
verstanden sein. Nur scheint die Forderung, daß der Gang der Be-
schreibung ein analytischer zu sein habe, nicht ohne weiteres die
scharfe Stellungnahme zu rechtfertigen, welche Dilthey in solcher
Grundsätzlichkeit gegen die bisherige wissenschaftliche Psychologie
eingenommen hat. Aber auch diese Forderung selber ist auf keine
ersichtliche Weise mit Diltheys eigenem Programm in Einklang zu
bringen. Dilthey erklärt, die Gegebenheitsweise des Seelischen ist
»eine völlig andere als von Naturobjekten«. »Die innere Wahr-
nehmung ist ein unmittelbares Innewerden, ein Erleben.« Das Er-
lebte wird erlebt »als ein unteilbares Einfaches«; »diese Einfachheit
und Unteilbarkeit haftet auch an den Funktionen«, ja sogar an den
Funktionszusammenhängen; »so erleben wir ständig Verbindungen,
Zusammenhänge in uns . . . Was wir so erleben, können wir vor dem
Verstände niemals klar machen. « Daß in diesen Sätzen ein richtiger
und großer Gedanke steckt, empfindet man unmittelbar bei ihrem
Innewerden; ebenso aber empfindet man die Unzulänglichkeit und
Fehlerhaftigkeit seiner Formulierung. Sie ist daran schuld, daß
Dilthey uns die auf Grundfrage: wie er von dieser Basis zu seiner
beschreibenden Psychologie als Wissenschaft denn nun eigentlich
Erlebnis und Bcelische Funktionen usw. 3l7
kommen will, — keine rechte Antwort zu geben vermag. Die von ihm
beliauptete Einfachheit und Unteilbarkeit des Innewerden.s von
Seelischem widerspricht jeder diskursiven Erkenntnisweise, und daher
bleibt es völlig unklar, wie analytische Beschreibung, also abstraklive
Denkvollzüge, als wissenschaftliche Verarbeitung eines so gearteten
»Innewerdcns« von Seelischem überhaupt möglich sein sollten.
Dennoch ist dies die Meinung Diltheys: die Sonderungen der Ab-
läufe und Zusaminenhänge müßten sich abstraktiv vollziehen lassen.
Dali wir tatsächlich die Abstraktionen vornehmen können und vor-
nehmen, ist richtig aber nicht neu. Die Schwierigkeit liegt nur da,
diese fast triviale Feststellung mit seinem neugeforderten Vermögen
einer inneren Evidenz durch Erleben in Einklang zu bringen.
Nun spricht Dilthey im Laufe seiner Untersuchungen der inneren
Wahrnehmung, deren Stellung zum Erleben er nirgends klärt, »eine
Mitwirkung der elementaren logischen Funktionen« zu. Er spricht
ganz im Sinne von Locke ^) von einer Intellektualität der inneren
Wahrnehmung. Liest man diese Feststellungen, so fragt man sich
vergebens, inwiefern denn nun die Gegebenlieitsweise des Seelischen
eine völlig andere als die von Naturobjekten sei — wie Dilthey
anfangs behauptet hatte. Man fragt sich, ob nicht schon durch diese,
als unumgänglich erkannte Nötigung zu abstraktiver Zergliederung
der angeblich grundsätzliche Unterschied der Diltheyschea be-
schreibenden Psychologie von der bisherigen Psychologie ins Wanken
komme. In der Tat scheint hiernach das Schwergewicht der Tren-
nung der neuen Psychologie von der alten nur in dem Überwiegen
des für sie bezeichnenden Gesichtspunktes zu liegen, wonach der
beschreibende Psychologe einfach das Tatsachenmaterial, so wie es
unmittelbar gegeben ist, ohne theoretische Befangenheit möglichst
vollständig beobachtet, während der konstruktive Psychologe ver-
sucht, in die Mannigfaltigkeit des Beobachteten das Gesetz ihres
Werdens hineinzutragen. Dann wäre Diltheys Verdienst eigentlich
dies, daß er die Unzulänglichkeit des reinen Beobachtens in der bis-
herigen Psychologie aufgedeckt hätte, ihre Befreiung von vorgefaßten
konstruktiven Dogmen gefordert hätte, und auf das unmittelbare
Gegebensein der seelischen Abläufe für eine genauere beobachtende
Durchforschung und abstraktive Zergliederung hingewiesen hätte.
Und es ließe sich nicht einschen, inwiefern diese Psychologie einen
grundsätzlichen Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Psychologie
bilden sollte. Dilthey ist aber keineswegs dieser Meinung. Er
})eharrt darauf, seine beschreibende Psychologie von der bisherigen
grundsätzlich abzutrennen. Auch sein Zergliederungs verfahren be-
hält grundsätzlichen Sondercharakter; und dieser wurzelt in seiner
»Verbindung mit dem Erlebnis«, aus dem es entsteht und in
das es noch gewi.ssermaßen hineingehört. Dies Erleben des Seelischen
als einer Ganzheit »bleibt das ursprünglich Gegebene; es bestimmt
*) Essay on human undcrtit. Buch 2. Kap. I. § 4 ff.
318 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
die Interpretation des einzelnen«. Die Gesichtspunkte dieser Inter-
pretation und des Abstrahierens sind ebenfalls nicht theoretisch er-
fordert, sondern dem Erlebnis immanent; denn die einzelnen seeli-
schen Vorgänge treten mit einem verschiedenen Bewußtsein ihres
Wertes für den Erlebenden auf; und hiernach hebt sich Wesentliches
\ind Unwesentliches im Erlebnis selber ab.
Für die Wissenschaft müßte die hieraus folgende Fragestellung
eine doppelte sein: nach dem psychologischen Unterbau dieses
Erlebens als einer unmittelbaren Erkenntnisquelle — und nach dem
Charakter und der Art des Wissens um dieses Erleben, des Ver-
ßtehens, wie Dilthey es nennt. Gerade über diese beiden Fragen
aber spricht sich Dilthey nur höchst summarisch aus. Vom Er-
leben sagt er nicht mehr, als wir bisher erwähnt haben. Und vom
Verstehen des Erlebens : es komme zustande »durch das Zusammen-
wirken aller Gemütskräfte in der Auffassung«. Hiermit ist wenig
anzufangen. Er betont wiederholt, daß die verstehende Einstellung
weder zur Erkenntnis von kausalen Zusammenhängen noch zur
widerspruchsfreien Klarheit begrifflicher Formulierung geführt zu
werden vermöge. Beides sei im Verstehen aber auch nicht ange-
strebt. Damit wird wieder die Frage, wie eine beschreibende Wissen-
schaft auf dieser Erkenntnis quelle aufgebaut werden sollte, zum
unlösbaren Problem. Dilthey hätte mit seinen Feststellungen
vielmehr bloß die Psychologie ent wissenschaftlicht, soweit sie
nicht nach naturwissenschaftlichen Methoden konstruktiv betrieben
wird, und zu einer Kunst, einem Gebiet ästhetischen Erfassens,
gemacht.
Allein diese iimeren Widersprüche dürfen uns nicht Wert und
Bedeutung der Diltheyschen Anregungen verwischen. Sie fordern
zum ersten Male eine wissenschaftliche Durchdringung des Erlebens
der Seele als Kern aller Seelen Wissenschaft. So sind sie der erste
Versuch einer Grundlegung der phänomenologischen Forschung. Seien
wir uns auch darüber klar, daß, so ärmlich und verworren diese
Grundlegung sein mag, sie praktisch durchaus genügt um anwendbar
zu sein. Dilthey selber hat sie dazu geschaffen, um die Grund-
legung für eine soziologische und historische, eine individuelle Psy-
chologie zu geben. Ihre Mängel aber werden, wie wir im folgenden
sehen werden, gar bald in entscheidender Weise behoben werden.
Die Entwicklung des Erlebnisbegriffs bei Lipps.
Diltheys Arbeit blieb in den Kreisen der Psychologen zunächst
ohne größeren Einfluß. Aber die heuristische Situation, aus welcher
sie entstanden war, erzeugte sich immer wieder neu. Es waren zwei
Entwicklungsreihen in der Psychologie, welche den von Dilthey
angeregten Ideen zu weiterer Durchbildung verhalfen. Diese zwei
Entwicklungsreihen, so wenig sie gemeinsam zu haben scheinen,
tragen den Stempel des gleichen äußeren Bildungsanstoßes : des
Erlebnie und aeelische FunktioDcn usw. 319
grundsätzlichen Gegensatzes zum Lehrgebäude Wundts. Sie sind:
erstens der Entwicklungsgang der jwychologischen Lehre von Lipps
und seinen iSchülern, welchem die Phänomenologie die Klärung de«
Erlebnisbegriffes verdankt; und zweitens der Sieg der analytischen
Psychologie Brentanos und seiner Schule über die künstlichen
assoziativen Synthesen der seelischen Strukturen aus ebenso künst-
lichen Elementen. Dieser Richtung verdankt die Phänomenologie
die Durchbildung des Funktionsbegriffes, Beide Richtungen
fanden ihre kritische Klärung und Vereinigung in dem Gedanken-
werke Husserls. Der Funktionsbegriff wurde ferner auch für die
experimentelle Psychologie von Bedeutung J), indem er sie ent-
scheidend weiterführte zur Ausbildung der sogenannten Denkpsycho-
logie, die einen Teil ihrer Vertreter unter Wundts eigenen Schülern
fand. Hierbei eifuhr dann nucli die Stellung des Experimentes selber
eine grundlegende Änderung, wovon bereits an anderer Stelle dieses
Buches die Rede war.
Lipps hatte noch 1890 in seiner Arbeit zur Psychologie der Kau-
salität 2) sich völlig in assoziationstheoretischen Lehren bewegt.
Zwei Jahre nach Diltheys Arbeit trat er zum ersten Male in eine
Polemik gegen Wundt in bestimmten Fragen der Psychologie der
Gefühle*). Dasjenige, was ihn in diese Polemik trieb, ganz abgesehen
von ihrem äußeren Gegenstand und Anlaß, war eine tiefere Kenntnis
des Reichtums seelischer Strukturen und Abläufe, als sie das Wundt -
sehe System einzufangen und zu ordnen vermochte, als sie die experi-
mentellen Methoden herausheben konnten. Da war ja alles nur
assoziatives oder apperzeptivcs Gebilde, und hatte seine intensiven
und zeitlichen Merkmale und seine physischen Begleitzustände und
war nach ihnen genugsam bestimmt. Lipps hat sich in der Folge
konsequent von diesem Standpunkt fortentwickelt; seine experi-
mentellen Arbeiten wurden seltener und hörten bald ganz auf. Sein
Interesse galt vor allem noch dem grundlegenden Problem: was
ist mir seelisch gegeben, und wie weiß ich um dieses Ge-
gebensein? Wir erkennen hier dieselbe Frage wieder, deren Be-
antwortungsversuch Dilthey zu den Konzeptionen des Erlebens
und des Verstehcns geführt hat.
Was ist mir seelisch gegeben ? An dieser Frage lassen sich wieder-
um zwei Seiten unterscheiden. Die erste Seite bezieht sich auf das
objektive W'as dieses Gegebenseins; sie betrifft den Gegenstand
des psychischen Gegebenseins. Die zweite Seite geht auf das Wesen
der seelischen Gegebenheit, insofern diese Gegebenheit ein letzter
subjektiver Tatbestand ist, welcher seiner wesenhaften Artung nach
nicht auf weitere seelische Tatbestände zurückführbar, sondern nur
künstlich und begrifflich aufzuspalten ist. Auch Lipps nennt diesen
1) Vgl. hierzu S, 103 £f. dieses Buche«.
«) Ztschr. f. Psychol. Bd. 1. 1890.
') Zur Lehre von den Gefühlen, insbesondere den Ssthetiachen Elenient&r-
gefühlen. Ztschr. f. l'sychol. Bd. 8. 8. 321 ff.
320 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Tatbestand Erlebnis. Und als er 1905 in seiner Arbeit über Bewußt-
sein vind Gegenstände seine Lösung dieser zwei Fragen systematisch
darstellte 1), hatte er den Erlebnisbegriff in wertvoller Weise vertieft
und psychische Phänomenologie^), wie er selber sagt, als Dis-
ziplin der Psychologie ausdrücklich gefordert. Der erstgenannten
Seite unserer Grundfrage, dem Problem des Gegenstands für das
Erleben, hat er freilich nach unserer Meinung eine gültige Lösung
nicht geschaffen. Dafür hatte er aber auch die zweite Frage, die
wir oben stellten, die Frage nach dem Grunde und der Art des Wissens
um Psychisches, sowohl um das eigene als um das fremde, weiter-
geführt als bisher.
Seinen Gedankengängen liegen etwa folgende Überlegungen zu-
grunde. Unter dem Worte Erkenntnis verstehen wir etwas Doppeltes :
erstens den Akt, den Vorgang des Erkennens, zweitens das in
diesem Vorgang Erkannte oder den Inhalt des Erkennens. Er-
kenntnis ist nur ein Teilphänomen des Seelischen überhaupt, eine
besondere Art des Erlebens von Etwas. Die gleiche doppelte Be-
deutung haftet aber an allem Seelischen, sofern dasselbe ein Bewußt-
sein von Etwas ist. Wir nennen dieses Bewußtsein von Etwas das
Erleben des Etwas. Man muß also demgemäß im Psychischen, im
Erleben unterscheiden den Inhalt und das Haben dieses Inhaltes
als sein Erleben. Inhaltsein ist Erlebt werden. Inhalt vmd Erleben
sind zwei Seiten des gleichen seelischen Ganzen: die objektive und
die subjektive Seite. — Es sei bereits hier kurz auf den Irrtum hin-
gewiesen, welcher im Li pps sehen Begriff des Inhaltes steckt. Wenn
ich ein Bewußtsein 3) von Etwas habe, so ist dieses Etwas nicht der
Inhalt des Bewußtseins, sondern es ist der Gegenstand des Be-
wußtseins, das ich von ihm habe. Der Inhalt des Bewußtseins ist
vielmehr die besondere jeweilige seelische Mannigfaltigkeit und Ge-
staltung des Bewußtseins, das ich von diesem Etwas habe. Der
Baum etwa ist nicht Inhalt, sondern Gegenstand meiner Wahr-
nehmung; Inhalt meiner Wahrnehmung ist, kurz und unscharf ge-
sagt, die diese Wahrnehmung zusammensetzende seelische Mannig-
faltigkeit. Diese Trennung des Inhalts vom Gegenstand des Be-
wußtseins ist nicht etwa eine erkenntniskritische Unterscheidung,
sondern gilt bereits vor allen Realitätsfragen für meine eigene un-
befangene Selbstbeobachtung. Der Irrtum von Lipps, welcher
auch die verborgene Wurzel seiner erkenntniskritischen Irrtümer,
seines Psychologismus und seines ästhetischen Subjektivismus ist,
trägt schon hier in der Psychologie seine Früchte; nämlich sowie
Lipps nähere Aussagen über die Art des Bewußtseins um Er-
lebtes machen will. Er sagt da mit Recht, daß auch das Erleben
von Etwas seinerseits erlebt werden kann, also Gegenstand — oder
1) Psychol. Untersuchungen. Bd. 1. 1905.
2) a. a. O. S. 8.
3) Wir übernehmen diesen Begriff hier noch ganz ungeklärt und unkritisch
so, wie wir ihn bei Lipps vorfinden.
Erlebnis und aeelische Funktionen uxw. 321
nach Lipps Inhalt — eines besonderen Krkl)ens zu werden vermag.
Das Erleben des Erlebens ist nun nach Lipps nicht ein phänonional
besonderes Geschehen, sondern steckt bereits im Erlebnis von Etwab
mit drin. Man erlebt hiernach sowohl Etwas, als auch das Erleben
dieses Etwa.s in einem und demselben ßewuÜtseinsakt. Das »Sein
dieses Erlebens, sagt Lipps, ist einfaches Dasein oder Stattfinden
vor dem Bewußtsein. Hier sondert sich nicht mehr Erlebtes und
Erleben : »das Erlebte selbst ist das Erleben «.
Lipps nennt das Erleben des Erlebnisses »Vorstellen«. Das ist
aber vieldeutig. Denn das Vorstellen bezieht sich nicht auf das Er-
lebnis, sondern auf den Gegenstand des Erlebnisses. Wenn ich mir
den wahrgenommenen Baum vorstelle, so ist nicht mein Erleben
des Baumes, sondern der Baum der Gegenstand meiner Vorstell-
lung. Wenn aber Lipps vom Erleben des Erlebens spricht, so ist
seine Behauptung, dies beides vollziehe sich in einem und demselben
Bewußtseinsakt, irrig. Denn das Erleben des Erlebens kann doch
seinerseits wiederum erlebt werden, d. h. Gegenstand eines Bewußt-
seinsaktes sein, usw. Schon daraus geht hervor, daß es sich nicht
um einen identischen Bewußtseinsvollzug handeln kann. Wir er-
halten hier einen wichtigen Anhaltspunkt für die später zu begrün-
dende Tatsache, daß jeder Bewußtseinsvollzug, je nach
seinem Gegenstand, ein phänomenologisch besonderer
ist. Diese Erkenntnis, die wir in ihrer allgemeinen Formulierung
zuerst bei Aristoteles finden, ist zur vollen Bedeutung für die Aus-
bildung der von uns erstrebten Wissenschaft vom Seelischen erst
durch Brentanos und Husserls Lehre gekommen^).
Wenn wir — um der prinzipiellen Bedeutung dieser Frage zu
genügen — noch einen Moment bei dem Lippsschen Gedanken
verweilen, so erscheint uns von der größten Bedeutung dabei die
Trennung des Bewußtseinsvollzuges in eine objektive und eine
subjektive Seite, zugleich mit der klaren Erkenntnis, daß es im
Wesen eine Einheit ist, was man so trennt. Es ist dasselbe Ge-
1) Brentano (Psychologie. S. 166ff.) ist freilich, was das »Erleben dos Er-
lebens« anlangt, ganz derselben Meinung wie Lipps: daß »Vorstellung und Vor-
stellung von einer Vorstellung in einem und demselben Akte vollzogen werde«.
Man dürfe nicht nach den Gegenständen die Zahl und Verschiedenheit der Vor-
stellungen bestimmen; denn dann würden in der Tat für diesen Fall zwei ver-
schiedene Vorstellungen angenommen werden müssen: die Vorstellung des Objekts
und die Vorstellung von dieser V^orsteliung. Man müsse vielmehr nach der Zahl
der psychischen Akte fragen, die hier aufträten; und da »scheine die innere Er-
fahning unzweifelhaft zu zeigen« (S. HiT), daß nur ein Akt bestehe, oder besser,
daß das Bestehen d<'r einen Vorstellung »zum Sein der anderen innerlich beiträgt«.
Letzteres bestreitet nun zwar niemand; wohl aber die Identität beider »Vor-
stellungen«; und zwar solange, als die sonnenklare Tatsache zweier differontor
Objekte besteht und der Gnindsjitz gilt, daß jedes gegebene Objekt durvh einen
besonderen auf es gerichteten -\kt zur Gegeb<>nh«'it gilangt. Brentano kommt,
wie Lipps, zu seiner irrigen Meinung nur dadurch, daß er fort%rähr»^nd Inhalt
und Gegenstand der V()rst<>llungen verwechselt, wa« übrigens auch aus dem Wort-
laut seiner Darlegungen hervorgeht.
Kronfcld, Psychiiitri.orhe Krkouutnl* 21
322 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Tiieorie des psychischen.
schehen, welches sich einmal als ein objektiver Ablauf darstellt,
andererseits als subjektive Gegebenheit in mir erfahren wird. Und
hierbei ist dieses subjektive Erfahren unmittelbarer und ursprüng-
licher ein Gregenstand für mein Wissen, als es sein objektiver Verlauf
sein kann. Dies liegt an der von Lipps betonten irreduziblen Un-
mittelbarkeit des Erlebens. Das Wissen um den objektiven Ablauf
ist etwas Abgeleitetes, Späteres; ursprünglich allein und unmittelbar
ist das subjektive seelische Werden und Sein, das Erleben, dessen
verschiedene Weisen es zu erfassen gilt, um überhaupt auf die ob-
jektiven Gebilde des Ablauf ens zurückgreifen zu können. Diese
Feststellung ist für die Erkenntnis der Stellung der Phänomenologie
im Ganzen der Psychologie schon jetzt von Wichtigkeit.
Lipps beschäftigt sich weiterhin in mehreren Arbeiten i) mit der
Untersuchung, wie dieses unmittelbare psychische Sein zu den ab-
geleiteten Arten des Bewußtseins steht, wie ich es wahrnehme, wie
ich um es weiß, und wie ich dabei um mich, den Erlebenden weiß.
Auch zu der weiteren Frage hat er und seine Schule Beiträge ge-
liefert, wie der Grund meines Wissens vom fremden Ich und seinem
Erleben beschaffen sei. Diese letzte Frage, welche für die Psy-
chiatrie von großer Wichtigkeit ist, aber fast niemals gründlich von
ihr untersucht wurde, wird uns später noch beschäftigen. Wir ver-
bleiben zunächst bei dem Problem des Verhältnisses vom Erleben
und Erlebendem, so wie es sich für Lipps darstellt.
Erlebnisse, lehrt Lipps, werden unmittelbar als meine erlebt.
Dies gilt schon von den Empfindungsinhalten: Stets erlebe ich mich
gleichzeitig mit, als den, welcher den Empfindungsinhalt hat. Dieses
unmittelbar erlebte Ich, das Bewußtseinsich, steckt mit in allem
Erleben, und zwar nicht in jedem einzeln und diskontinuierlich,
sondern in allem als ein einziges. Es ist seinerseits psychologisch
irreduzibel.
Der Weg des Erlebten in der Seele geht nun nach Lipps vom
Haben des Inhaltes weiter zur Konstituierung des Gegenstandes und
zur Anerkennung seiner dinglichen Realität.
Wir sagten schon, daß dieser Standpunkt von Lipps irrig ist.
Es kommt uns hier aber nicht auf die erkenntniskritischen Fragen
der Objektivation, der Realität und ihrer Assertion an, welche wir
in diesem Werke schon anderen Ortes geklärt haben, sondern auf die
dem Erleben folgenden psychischen Vollzüge,
Das Erlebnis — sowohl das darin Erlebte als auch das Erleben
desselben — kann nämlich nach Lipps noch in besonderer Weise
Gegenstand meines Bewußtseins sein. Das geschieht, indem ich es
durch ein »Innerlich ins Auge fassen« mir gegenüberstelle oder auch
mich ihm gegenüberstelle. Dasjenige, dem ich mich gegenüberstelle
wird dadurch für mich zum Gegenstand. Wenn ich etwa zunächst
1) Bewußtsein und Gej^enstände, a. a. O., Kap. 2, 3, 4. Ferner: Die Erschei-
nungen, a. a. 0. S. 523 ff. Das Ich und die Gefühle, a. a. O. S. 641 ff. Das Wissen
vom fremden Ich, a. a. O. S. 684 ff. Ferner Leitfaden. 1906 pasa.
ErlebniK und seelische Funktionen umw. 323
nur den Empfindung-sinhalt blau habe, so wird blau durch die»ett
Gegenübersielleu oline qualitative Änderung zum Gegenstand meines
Bewußtseins. Der Inhalt ist im Bewußtsein, der Gegenstand für
das Bewußtsein da. Jene geistige Tat, durch welche so für mein
Bewußtsein Gegenstände entstehen, ist ein »Aufmerksamkeits-
phänomen«. Lipps findet zur Begründung dieses gewagten Ge-
dankensprunges den Vergleich mit unserem Blick auf die Bühne
eines Theaters: Die Vorgänge auf der Bühne sind (Gegenstand meines
Bewußtseins, alles übrige im Theater ist nur chaotischer Empfin-
dungsinhalt.
Nun muß man unterscheiden die Zuwendung der Aufmerksam-
keit — die Auffassungstätigkeit — und deren Erfolg. Dan Ent-
stehen des Gegenstandes bezeichnet das Wesen dieses Erfolges, es
bezeichnet das Wesen des Denkaktes. Die im Denkakt vollzogene
Setzung des Gegenstandes geschieht durch die Tätigkeit der Auf-
merksamkeitszuwendung, ist aber nichts neu zu ihr Hinzutretendes,
sondern ihr natürliches Ergebnis; sie ist nicht selbst eine Tätigkeit,
sondern etwas aus einer solchen Entspringendes. Die gegenständ-
liche Setzung, der Akt, veriiält sich zur Auffassungstätigkeit »wie
das Einschnappen der Klinge eines Taschenmessers zu der voran-
gegangenen Scliließbewegung«. Der Denkakt, das Einschnappen der
Kiinge, hat sozusagen ein punktförmiges Dasein: Der Gegenstand
ist mit einem Male da.
Wenn aber durch diesen Denkakt der (Gegenstand blau aus dem
Inhalt blau gleichsam herausgelöst wird, so muß er von vornherein
darin enthalten gewesen sein. D. h. also der Inhalt des Bewußtseins
repräsentiert mir den Gegenstand, er ist mir Hinweis oder Symbol
für denselben. Der Gegenstand ist mit dem Symbol des inhaltlich
Erlebten »gemeint«. Nicht jeder Inhalt braucht einen Gegenstand
zu repräsentieren, wohl aber muß jeder Gegenstand durch einen
Inhalt repräsentiert sein. Diese Repräsentation braucht aber durch-
aus keine bildhafte zu sein. Zu ihr tritt der Glaube an die dingliche
Realität des Gegenstandes »mit ursprünglicher und instinktiver Not-
wendigkeit « beim Entstt-Iien desselben hinzu.
Diese gesamten Darlegungen von Lipps stellen eine verfehlte
Lösung des Phänomenalitätsproblems in mehrerer Hinsicht dar:
Dem psychischen Grescheheu fehlt jedes immanente Kriterium dafür,
was denn nun Gegenstand sei und was nicht; und die Assertion der
Dingliclikeit, der Angelpunkt der ganzen Realitätsfrage, wird gar
nicht psychologisch aufgelöst, sondern tritt wie ein deus ex machina
»mit instinktiver Notwendigkeit« hinzu. Diese beiden Fehler gehen
auf den Grundfehler der Lippsschen Gegenstandstheorie zurück,
welchen wir schon bezeichnet haben und welcher sich besonders
schön in jenem Gredankensprunge zeigt, vermittels dessen ein Auf-
raerksainkeitsakt den (regenstand ans dem »Inhalt « herauslösen soll.
Für die Phänomenologie aber iiandelt es sich nicht um diese Irr-
tümer. Für sie steht vielcmhr einzig und allein in Frage, ob durch
21 •
324 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
seelische Vollzüge der angedeuteten Art neue Weisen der Bewußt -
seinsgegebenheit konstituiert zu werden vermögen, und diese Frage
ist zu bejahen. Diese Vollzüge sind freilich nichts anderes als der alte
Begriff des »inneren Sinnes« in der Fassung Lockes, der reflection.
Aber Lipps bildet ihn doch in einer Weise weiter, daß dadurch er-
klärbar wird, wie ein Wissen um Erlebnisse zustande kommen kann,
wie das Erlebnis zum Wissen wird. »Die innere Wahrnehmung ist
jederzeit ein Denken«, sagt Lipps. Sie ist ein Bewußtsein der
Wirklichkeit des Erlebnisses und zugleich meiner Wirklichkeit.
Sie ist stets rückschauende Betrachtung; ihr Gegenstand ist die Er-
innerung an ein Erleben. Es handelt sich hierbei nicht um eine
»mittelbare Wiedererzeugung« des schon Entschwundenen, sondern
um ein »unmittelbares Festhalten« des gerade Erlebten. Aber auch
dieses ist Reproduktion. Das gleiche gilt auch vom Wissen um mich
selbst. Betrachte ich mich selbst, so stehe ich, der Gedachte, mir
dem Bewußtseinsich gegenüber. Beides kann nicht dem gleichen
Moment angehören. Das Objektich ist also nach Lipps ein re-
produziertes Bewußtseinsich. Das gegenwärtige Ich kann nie Ob-
jekt sein.
Hier würde sich die Frage auf werf en : Woher weiß ich denn dann
um die Identität des »Objektich« mit dem »Bewußtseinsich«? Lipps
beantwortet diese Frage nicht. Er sagt: ich weiß mich nicht, ich
»fühle« mich mit dem Objektich identisch. Und dieses Identitäts-
bewußtsein des gegenwärtigen mit dem vergangenen Bewußtsein ist
etwas phänomenologisch nicht weiter Auflösliches und Zurückführ-
bares. Die Identität wird erlebt, unmittelbar erfaßt, und ist ihrer
Seins weise nach etwas Letztes. Das Denken dieser Identität ist die
Erinnerung. Ist sie volle und intensive Betrachtung, so wird sie
zum Nacherleben. Dieses Nacherleben ist ein Sichhineinversetzen,
eine Art Einfühlung meiner Selbst, des Bewußtseinsich, in das Ob-
jektich.
Auch hier muß man wieder fragen, woher Lipps denn das weiß
und wissen will, ohne sein Bewußtseinsich schon zum Objekt-
ich gemacht zu haben. Seine Aussage über sein einfühlendes
Bewußtseinsich ist doch bereits ein «Gedanke«, und in diesem kann
das Bewußtseinsich ex definitione gar nicht mehr gegenwärtig sein.
Kann es doch angeblich gar nicht zum Objekt werden! Wir sind
einem ähnlichen Gedanken bereits bei Rickert in ganz anderem
Zusammenhange begegnet i) und haben ihn als Irrtum erwiesen.
Lipps versucht sich der logischen Unmöglichkeit seiner Statuierung
zu entziehen: Die Identifizierung beider Seinsweisen des Ich kann
er nicht »wissen«, sondern nur »fühlen«; und dieses Gefühl sei etwas
psychologisch Letztes, einfach Hinzunehmendes. Damit ist der
wissenschaftlichen Auffassung der Selbstbeobachtung und des inne-
ren Sinnes wenig gedient. Aber wir wollen diese Schwierigkeiten
i) Vgl. S. 208 ff. dieses Buches.
Erlebnis und Kceliüche Funktionen usw. 325
hier außer acht lassen. Nach Lipps besteht in der ScHjsteinfülüung
alle Kunst der »Sell)stbeol)iichtung, und letztere hat in der Objekti-
vation des unmittelbar erlebten Ich ihre zweite, wissenschaftlieh be-
deutsamste Seite. iSo erkennt die innere Wahrnehmung, was daa
unmittelbare Bewußtsein erlebt.
Einige Korrekturen am Erlebnisbegriff.
Was ist an den bisherigen noch wenig geklärten und vorläufigen
Darlegungen unanfechtbarer Besitzstand? Ich glaube, vor allem
dies, daß die Phänomenologie hier als psychologische Disziplin
gefordert wird, im (Jegensatz zu der apriorischen Geltung und dem
unabgrenzbarcn Gegenstandsgebiet der Husscrlschen Konzeption.
Dies wird später noch zu begründen sein. Sodann, daß die Phäno-
menologie bei Lipps zwar eine vortheoretische Beschreibung des
im Bewußtsein unmittelbar Aufgefundenen sein soll, aber die theo-
retische Bearbeitung unter keinem Gesichtspunkte ausschließt, sondern
vielmehr als notwendige Ergänzung fordert. Die phänomenologische
Beschreibung liefert nicht mehr als das tatsächliche Material, aus-
einandergefaltet und in allen Beziehungen verdeutlicht und auf un-
mittelbare Ausgangsphänomene soweit als möglich zurückgeführt.
Dies Material erfordert die Verarbeitung, sowohl eine rein abstraktive
als auch, wenn notwendig, eine konstruktive. So wird durch Lipps*
Darlegungen in glücklicher Weise eine Entgegensetzung von natur-
wissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Seelenlehre ver-
mieden, ohne daß durch konstruktive Schemata dem Reichtum und
der Kompliziertheit seelischen Geschehens G<?walt angetan werden
müßte.
Für unsere Zwecke wesentlich ist ferner Lipps' Entwicklung des
Erlebnisbegriffs und der Stellung des Ich im und zum Erleben; so
wie die Trennung der unmittelbaren Bewußt Seinsgegebenheiten von
ihrem inneren Wahrgenommenwerden. Freilieh erschöpft Lipps
keines dieser Probleme. W^ir gebrauchen hier vorerst noch den Ter-
minus Bewußtsein im Lippsschen Sinne: als die allgemeine Form
der Gegebenheit von Gegenständen. Dann kann man Lipps zweierlei
einwenden: Es ist tatsächlich nicht im.mer richtig, wenn gesagt wird,
jedes inhaltliche Bewußtsein enthielte implizite eine lehkomponente.
Das unmittelbare Bt-wußtsein blau (Mithält z. B. gar nichts von mir.
Erst wenn das Empfinden des Blau, der seelische \'ollzug. zum Gegen-
stand meines Bewußt.seins wird, erscheint implizite das Bewußtsein,
daß dieses Empfinden mein Empfinden ist. Lipps trennt zwar
im unmittelbaren Bewußtsein Vollzug und Inhalt scharf, und doch
setzt er fälsehlieh Empfinden als Bt-wußtseinsbestand. als inhaltlicho
Maimigfaltigkeit , und Kiiipfiindtius gleich; er identifiziert Erlebnis,
zwar nicht als seelischen X'oll/ug, wohl aber als dessen inhaltlich
konstituierende Mannigfalt igk«it . und Erlebnisgcgenstand. Wir
haben auf diese Verwechslung von Inhalt und Gegenstand schon
326 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
hingewiesen. Daher ist bei ihm das Bewußtsein des Erlebens und
des Ich überall auch unmittelbar in den Erlebnissen mit enthalten.
Tatsächlich aber kommt es für diese Frage darauf an, was gerade
der Gegenstand des Bewußtseins ist. Ist es ein Ablauf in mir,
so ist das Ich in seinem Bewußtsein mit enthalten; sonst aber ist
der Baum, das Haus, blau in meinem Bewußtsein ohne alle Ver-
tretung des Ich. Der zweite Einwand gegen Lipps betrifft seine
Fassung des Erlebnisbegriffes. Bei ihm ist schließlich alles seelische
Sein Erlebnis, welches nicht schon Verarbeitung ist. Dies mag ja
schließlich eine äußerliche Frage der Bezeichnung sein, aber man
wird den Phänomenen besser gerecht, wenn man noch genauer trennt.
So muß man zunächst unterscheiden das Bewußtsein um äußere
Gegenstände von dem Bewußtsein innerer Abläufe. In dem Be-
wußtsein äußerer Gegenstände oder dem Bewußtsein einer Beziehung
solcher Gegenstände aufeinander ist keinerlei Ichbewußtsein mit-
gegeben. Um zu erkennen, daß dieses Bewußtsein auf Vorgängen
in mir beruht, bedarf es einer besonderen Einstellung auf den Vor-
gang meines Wahrnehmens und Urteilens über diese Gegenstände.
Diese Einstellung auf den Vorgang meines Wahrnehmens und Ur-
teilens ist — wie schon Kant und Comte zeigten — ■ etwas Künst-
liches. Denn gewöhnlich ist das Subjekt auf den Gegenstand
dieser Vollzüge eingestellt. Aber sowie die »Aufmerksamkeit« von
diesen Gegenständen fort und auf die Vollzüge selber gelenkt wird,
tritt das Bewußtsein ihrer Ichzugehörigkeit auf. Ich erlebe mich
Avahrnehmend und urteilend. So entsteht tatsächlich das Bewußt-
sein des Ich bei der Wahrnehmung subjektiver Tätigkeit.
So liegt die Sache bei der äußeren Wahrnehmung. Bei den Gegen-
ständen innerer Wahrnehmung ist diese absichtliche Einstellung der
Aufmerksamkeit nicht erst nötig. Daß ich handele oder denke
oder einen Schmerz spüre, ist ein Urteil aus innerer Wahrnehmung,
dessen Subjekt nur möglich ist, weil das Ich sich dieser Vorgänge
in ihrer Ichbezogenheit unmittelbar bewußt ist. Worin dieser Tat-
bestand seinen notwendigen Grund hat, haben unsere wissenschafts-
theoretischen Untersuchungen über die zugrunde liegende Form des
reinen Selbstbewußtseins für alles Psychische gezeigt.
Von den Gegenständen innerer Wahrnehmung habe ich somit
unmittelbar ein Bewußtsein des Ich. Sie sind meine inneren Vor-
gänge und sind mir zugleich mit ihrem Gegebensein als meine gegeben.
Diese unmittelbar bewußte Ichbeziehung haftet nicht nur an den
Gegenständen inneren Wahrnehmens, sondern auch am Vollzuge des
inneren Wahrnehmens als subjektiver Tätigkeit. Er gleicht darin
völlig dem äußeren Wahrnehmen, sobald mir dieses als Ablauf be-
wußt wird.
Was ist nun Gegenstand innerer Wahrnehmung? Wir sind hier
ganz mit Lipps in Übereinstimmung, wenn wir sagen: alles Seelische,
auf welches die Aufmerksamkeit sich einzustellen vermag. Wir
finden also ebenfalls, daß das innere Wahrnehmen in einem Auf-
Erlebnis und seelische Funktionen u>w. 327
merksamkoitspliänomeu besteht. Und wir finden, daß durch dieses
innere Siclirichten das seelische Geschehen in einer besonderen Weise
deutlich bewußt wird. Wir wollen diese besondere Weise deut liehen
B wußtseins als »bemerkt« bezeichnen. Dies Bemerken ist sicher-
lich ein phänomenologiscli besonderer und besonders zu untersuchen-
der Akt. Er ist aber kein reiner Denkakt, wie Lipps will; diese
Auffassung hieße die anschaulichen und nicht reflektierten Züge des
B^'raorkens verkennen. Freilich können andere Weisen der Zu-
wendung des Ich zu seinem inneren Gcsdiehen mit diesem Bemerken
versclimolzen sein, es sind dies wohl immer vorhandene gefühls-
mäßige und wertende, aber auch reflektierende Einstellungen.
Nicht bemerktes Seelisches braucht aber deshalb noch nicht
unbewußt zu sein. Es gibt vielmehr eine Reihe innerer Abläufe,
welche ganz unabhängig davon, daß sie wie alles Psychische Gegen-
stand innerer Walirnehmung und also bemerkt sein kann, an sich
schon als unmittelbar bewußt gegeben ist. Es handelt sich hier
nicht etwa um einfache Empfindungsqualitäten. Für diese gilt
zwar die Unmittelbarkeit des Bewui3tseins ilxrer Gegebenheit auch,
jedoch ermangeln sie des wesentlichen Merkmales, welches wir in-
neren Abläufen zuschreiben: der Gleichzeitigkeit des unmittelbaren
B- wußtseins des Ich mit dem Bewußtsein ihrer Gegebenheit. Und
nur von solchen inneren Abläufen reden wir hier. Diejenigen inneren
Abläufe, welche diesem Kriterium des unmittelbaren Bewußtseins
ihrer Gegebenheit ohne besonderes Bemerkt sein genügen,' diese
nennen wir in ausschließlichem Sinne Erlebnisse. Als Beispiele von
ihnen nennen wir die verschiedenen Arten von Vorstellungen und
Gefühlen und Komplexen beider und anderen diesem Kriterium ge-
nügenden seelischen Strukturen. V'on diesen weiß ich unmittelbar,
daß sie die meinigen sind, auch ohne besonders bemerkt zu sein.
Es ist mithin phänomenologisch deutlieh, daß mit dem Bewußt-
sein aller derartigen inneren Vorgänge gleichzeitig und in unmittel-
barer WVise das Bi-wußtsein gegeben ist, daß diese inneren Vorgänge
in mir ablaufen. Sie enthalten offenbar eine unmittelbare Beziehung
auf das Ich, die überall die eine und gleiche ist und zu den Voraus-
setzungen der Möglichkeit dieser inneren Vorgänge gehört. "
Innerhalb dieser Klasse innerer Phänomene, welche dem obigen
Kriterium genügt, stehen nun die Erlebnisse. Phänomenologisch
unterscheiden sich Erlebnisse von inneren Vorgängen überhaupt
dadurch, daß ihnen die Unmittelbarkeit ihrer Bewußtseinsge-
grbenheit wesentlich ist. Dies gilt für diejenigen inneren Abläufe,
denen der Erlebnischaraktcr fehlt, nicht. Von diesen Nichterieb-
nissen kommt ein Teil nur als Gegenstand inneren Wahrnehmens
oder Bemerkens, ein anderer durch Reflexion zum Bewußtsein oder
B'-merktsein. Dies gehört aber zu ihrem Wesen nicht hinzu. Es
kann sogar sein, daß ein Teil von ihnen überhaupt nicht zum Bewußt-
sein zu gelangen fällig, also weder phänomenologisch noch wahr-
iiehmungsmäßig verifizierbar, sondern nur theoretisch konstruktiv
328 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen-
postulierbar ist^). Ein anderer Teil hat zwar eine unmittelbare
Bewußtseinsvertretung, unabhängig vom Bemerktwerden, ist aber
doch kein reines Erlebnis. Hierher gehören z.B. die Willens Vorgänge.
Erlebnisse nämlich erschöpfen ihr Wesen in der Art ihrer
unmittelbaren Bewußtseinsgegebenheit. Diese phänome-
nale Weise ihrer unmittelbaren Bewußtseinsgegebenheit ist nicht nur
ihr notwendiges, sondern auch ihr hinreichendes Merkmal. Für die
Qualität und den Ablauf der bewußtseinsrepräsentierten Nicht-
erlebnisse, z. B. der Willens Vorgänge, ist ihre Bewußtseins Vertretung,
ihre phänomenologische Seite, nicht konstitutiv hinreichend. Wir
sprechen dann von phänomenologischen Momenten an ihnen.
Wir definieren also die Erlebnisse nicht durch die Art ihres Wahr-
genommenwerdens oder Bemerkt Werdens, weil dieses Bemerken
selbst ein sekundäres Phänomen ist. Die Bewußtseinstatbestände
sollen aber ohne Rücksicht auf solche sekundären Modifikationen
gemäß den unmittelbaren Weisen ihres Soseins unterschieden werden.
Andererseits hat es nur Sinn, von Erlebnissen zu reden, wenn das
Erlebnis sein Wesen darin erschöpft, daß es ein Erlebtes ist. Nur
diese Bestimmung kann es rechtfertigen, das Erleben zum Objekt
einer besonderen Betrachtungsweise zu machen, welche seinen Er-
lebnischarakter als sein Wesen nimmt, und dessen phänomenalen
Bestand beschreibt. Durch diese Aufgabe aber ist Phänomenologie
als besondere Disziplin gegenständlich definiert,
Stellen wir nochmals in Kürze die drei Begriffe des Gegebenseins,
des Bewußtseins und des Erlebens gegeneinander, so weit es uns
bisher möglich gewesen ist, sie abzugrenzen. Das Gegebensein oder
die Phänomenalität aller Objekte ist durch bestimmte voneinander
verschiedene Weisen psychologisch charakterisierbar. Die allge-
meine Form dieser verschiedenen Weisen verstehen wir unter dem
Begriff des Bewußtseins. Dies Bewußtsein kann je nach der beson-
deren Weise des Gegebenseins ein unmittelbares oder abgeleitetes
sein. Dies gilt von allen Objekten. Beschränken wir uns nunmehr
auf die psychischen Gregenstände, so nennen wir Erlebnisse solche
psychischen Gegebenheiten, welche unmittelbar bewußt gegeben
sind und für welche diese unmittelbare Bewußtseinsgegebenheit ein
konstitutives Merkmal bildet. Alle anderen psychischen Gegeben-
heiten sind nicht Erlebnisse, gleichviel ob sie unmittelbar bewußt
oder abgeleitet bewußt gegeben sind. Unbewußtes Psychisches ist
hiernach theoretisch postulierbar; um jedoch Gegebenheitscharakter
1) Vgl. Unbewußtes, dieses Buch, S. 169 ff.. Natürlich ist ihr Angenommen-
werden auf Grund hypothetischer Konstruktionen schließlich ebenfalls ein Be-
wußtsein von ihnen, nämlich ein reflektiertes; und insofern besteht auch für sie
die allgemeinste Form der Gegebenheit überhaupt, das Bewußtsein, und somit
ihr phänomenaler Charakter. Allein wie akzidentell ist dieser zu ihrer psycho-
logischen ratio essendi ! Hier wird es ganz deutlich, daß der Bewußtseinscharakter
zwar ein allgemeines Kriterium von Phänomenalität sein kann, ohne aber für das
Wesen des Psychischen konstitutiv zu sein — so wie wir dies bereits auf
S. 177 ff. ausgeführt haben. Meist aber wird beides verwechselt.
Erlebnis und soolische Funktionen usw. 329
/.u gewinnen, muß es mindestens gedacht werden, d. h. Gegenstand
abgeleiteten Bewußtseins srin können- Der Bewußtseinscharakter
ist für psycliische Gegenstände etwas Aktzidentcllcs; ob er als
allgemeine Form dtr Gegebenheit überhaupt ein Kriterium der
Phänomenalitiit bildet, ist eine Frage, welche weit über den Kalimeu
der Psychologie hinausgelit; die Sonderart der psychischen Phäno-
menalität ist in bezug auf dies Kriterium jedenfalls nicht gegenüber
der nichtpsychischen charaktcrisierbar. Insofern aber Gegeben-
heit immer eine solciie für ein Subjekt ist, ist das Bewußtseins-
probli'ui restlos ein Problem der Psychologie.
Von Phänomenologie könnt i> man iiiernach in zwei Bedeutungen
sprechen: einmal insofern ihr Problem die Gegebenheitsweise
irgendwelcher möglicher Gegenstände wäre. Diese Fassung
ist uns zu allgemein, da sie die gesamte Erkenntnislehre und Logik
mit umfassen müßte. Auch unterliegt diese Fassung mit Notwendig-
keit der inneren Unmöglichkeit, die wir für jedes Erkenntnistheorera
bewiesen ^). Dieser Begriff von Phänomenologie könnte freilich auch
die Frage zu entscheiden haben, inwiefern das Bewußtsein als all-
gemeinste Form aller Gegebenheit von Gegenständen überhaupt
ein konstitutives Merkmal der Phänomenalität bildet. In dieser
Fassung der Frage erkennen wir aber das Problem wieder, welches
sich die psychologische Erkenntniskritik, wie sie durch Fries be-
gründet wurde, gesetzt hat. Und aus dem Terminus Bewußtsein
läßt sieh ihr psychologischer Charakter besonders deutlich ablesen.
Die zweite Fassung des Begriffs von Phänomenologie wäre eine
weit engere. Sie setzt den akzidentellen Charakter des Bewußtseins
für das Wesen des Psychischen voraus, und hält sicli an dasjenige
Psychische, für welches der Bewußtseinscharaktcr, und zwar der
unmittelbare Bewußt seinscharakter, zum konstitutiven und er-
schöpfenden Kriterium wird. Dieses ausgezeichnete Psychische,
welches wir Erleben nennen , wird der Gegenstand ihrer Bear-
beitung. In diesem engeren Sinne wollen wir von Phänomenologie
sprechen.
Zweierlei ist schon nier ersichtlich: erstens daß dieser Begriff
von Phänomenologie sie in ein ganz bestimmtes Verhältnis zur Psycho-
logie überhaupt stellen muß, — wovon noch zu sprechen sein wird.
Jedenfalls aber ist Psychologie hiernacli das weitere Gebiet, Phäno-
menologie das engere. Zweitens hat hiernach auf dem Wege von
Dilthey bis zu unseren Erwägungen die besondere Bedeutung von
Pliänomenologie einen Wandel erfahren. Gedacht war sie als reine
vortheoretische Beschreibung des Psychischen. Es hat sich bereits
in der Wis.sensehaftstlu'orie, und ferner auch in den Arbeiten von
Dilthey und Lipps gezeigt, daß reine Beschreibung ohne theo-
rt-tisehe Präsumtionen unm()glieh ist, solange als Begriffe und
Denken auch in der Beschreibunj' nicht entbehrt werden können. An
1) Vgl. S. 22 ff. dieses Buches.
330 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie dea Psychischen.
Stelle einer Aufgabe, welche zwei logisch unvereinbare Forderungen —
die Beschreibung und das Vortheoretische — methodisch vereinigen
sollte, ist hier nunmehr die gegenständliche Abgrenzung der
Phänomenologie als Wissenschaft getreten. Warum aber die ana-
lytische Theorie der Erlebnisse innerhalb der Psychologie eine Sonder-
stellung einnimmt und einnehmen soll, dies beantwortet am besten
der Sinn des Begriffes Erlebnis selber, so wir ihn definiert haben.
Es ist ganz klar, daß von Nichteriebnissen eine analytische Theorie
gar nicht möglich ist; für diese kann es sich immer nur um konstruk-
tive Hypostasierungen handeln. Denn nur Erlebnisse ermöglichen
die immanente Analyse vermöge der besonderen Weise ihrer Wesens
merkmale, die in ihrem konstitutiven Bewußtseinscharakter gründen.
Ferner aber sind es die Weisen des Erlebens, welche für das Ganze
der Seele in ursprünglicher Weise besonders bedeutsam sind. Beide
Gesichtspunkte rechtfert'igen die Stellung der Phänomenologie an
die Spitze aller Wissenschaft von psychischer Phänomenalität über-
haupt.
Mit den Erörterungen dieses Absatzes haben wir unsere eigene
Ansicht über eine Reihe von Problemen vorweggenommen, deren
ausführliche Begründung wir zum Teil erst später geben werden.
Dies war notwendig, um in dem Chaos unscharfer Begriffe, in welches
wir zu geraten drohten, einige feste Leitlinien zu ziehen. Wir haben
jedenfalls einen vorläufigen Standpunkt gewonnen, aus welchem
sich ergibt:
die Forderung einer psychischen Phänomenologie als psycho-
logischer Disziplin,
die Umgrenzung einer seelischen Geschehensklasse, des Erlebens,
als ihren Gegenstand,
die Untersuchung der Beziehungen des Erlebens zum Ich, zum
Bewußtsein, zu den Formen seelischer Abläufe, und darunter auch
zur inneren Wahrnehmung.
Allgemeines über assoziative Strukturen.
Die Frage, deren Erörterung uns über das bisher Festgestellte
hinausführen muß, wird nun die nach der Struktur der Erleb-
nisse sein. Wir haben gesehen, daß das Erlebnis etwas psycho-
logisch als Ganzheit Letztes und nicht weiter in andere Ganzheiten
Zurückführbares ist und nur künstlich aufspaltbar ist durch Begriffs-
bildungen, denen allein jeweils keine seelische Realität entspricht.
Dennoch ist eine solche künstliche Aufspaltung notwendig, wenn
wir überhaupt dahin kommen wollen, Erlebnisse in der jeweils be-
sonderen Art ihres Soseins zu beschreiben. Ohne sie ist eine formu-
lierte diskursive Bestimmung der Erlebnisse durch Merkmale, ist
ihre Vergleichung, Unterscheidung und Ordnung gar nicht möglich.
Daher gehört dieses Geschäft der Aufspaltung wesentlich zur Phäno-
menologie hinzu, ja es macht ihr eigentliches Wesen aus. Schon
Erlebni.s und seelische Funktiouen uaw. 331
zur Heraushebung doa Klassoncbarakters der Erlebnisse gegenüber
dem seelischen Geschehen überhaupt dienten uns ja bisher Merkmale,
welche an sich ebenfalls keine seelische Realität besitzen, sondern
Abstraktionen sind. Aber diese Abstraktionen bezeichnen eine be-
sondere Art der Beziehung der Teile des Erlebnisses zueinander und
zum Ganzen desselben. Und diese Beziehung, so wenig davon die
Rede sein kann, daß sie an sich als psychisches Datum auftritt, ist
mit dem Ganzen des Erlebnisses, sobald dieses Realität annimmt,
immanent gegeben und dann von impliziter Realität. Es wird sich
also bei der Untersuchung der Struktur der Klasse Erlebnis um nichts
anderes handeln, als um das Aufsuchen von Merkmalen seiner je-
weiligen Besonderheit, welche den bisherigen Merkmalsbedingungen
an logischer Dignität gleichstehen. Dem einzelnen Merkmal ent-
spricht keine an sich vorkommende Realität, wolil aber ein Wirk-
lichkeitscharakter von immanenter Natur des Erlebnisganzen,
den wir in künstlicher Abstraktion hcrausspalten, aus Gründen und
unter Gesichtspunkten, über die wir an anderer Stelle Rechenschaft
ablegen. Der allgemeine Gesichtspunkt unserer Abstraktionen ist
kein anderer, als der für die Abstraktion — ohne Ansehen ihrer
psychologischen Artung — in der Logik überhaupt geltende, der
zur Auffindung des Genus und der Differentia specifica anleitet.
Es soll festgestellt werden, weiche Merkmale das Erlebnis in eine
logisch übergeordnete Klasse seelischer Strukturen hineinstellen;
welche Merkmale es in seinem Sondercharakter von ihr unterscheiden;
welche Unterteilungen in ihm die Erlebnisarten ermöglichen^).
Wenn wir bei diesem Geschäft von Erlebnis reden, so meinen wir
zunächst das seelisch nicht weiter zurückführbare Ganze. Aber
in ihm haben wir ja bereits mit Lipps eine (künstliche) Unterschei-
dung getroffen: zwischen dem Haben des Erlebnisses, dem Vollzuge,
dem seelischen Ablaufen desselben — , und seinem Erfolge, dem durch
dieses Ablaufen sich konstituierenden Erlebnisganzen einerseits, und
der gegenständlichen Gegebenheit desselben andererseits. Uns
interessiert zunächst die Struktur des Ablaufes, des Vollzuges, des
Erlebens, aus dieser Struktur muß ihr Erfolg, das Erlebnis ver-
vollständigt werden können.
Fragen der Struktur sind erstens Fragen der Bedingungen ihres
Zustandekommens — aber mit der Beantwortung solciier Fragen
gingen wir über die rein logische Zergliederung hinaus; und zwei-
tens Fragen des Verhältnisses der Teile zueinander und zum Ganzen
des beobachteten Vollzuges.
In diesem Sinne sind Fragen der Struktur von Seelischem Fragen
des Zusammenhanges von Seelischem. Fragen des Zusammen-
i) Die i)sychologi.scho Natur der Vollzüge, welche wir Abstruktion nennen
und die besonders von Cornelius und Meinong studiert worden ist, hat mit
den logischen Kriterien gar nichts zu tun; diese allein gehen uns hier an. Vgl.
Lipps, Leitfaden. Kap. IX. Cornelius, Ztäclir. f. Psvchol. Bd. 24. S. 117.,
Meinong desgl. Bd. ü. S. 340£f.
332 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
hanges von Seelischem gibt es nun in doppeltem Sinne. Erstens
versteht man unter der Frage, wie Seelisches zusammenhänge, die
Bestimmung der zeitlichen Reihenfolge seines Ablaufes, sein Nach-
einander, sofern es ein Auseinander ist, die Bestimmung dessen, wie
Seelisches aus anderem Seelischen hervorgeht, sich mit anderem
Seelischen verflicht. Auch hier ist klar, daß die Beantwortung dieser
Frage aus bloß logischen Gesichtspunkten hinaus und in eine dyna-
mische Theoretik des Seelischen hineinführt, deren Erörterung wir
anderen Abschnitten dieses Werkes vorbehalten haben. Zweitens
aber versteht man unter den Problemen des Zusammenhanges von
Seelischem eben die Frage nach der Struktur, und wie wir oben
Struktur definiert haben, bedeutet diese Frage eine solche, welche
in analytischer Beschreibung beantwortet zu werden vermag,
d. h. den rein logischen Mitteln reiner Abstraktionen zugänglich ist.
In diesem letzteren Sinne — der Struktur — ist das Problem
des seelischen Zusammenhanges hier gemeint; und soweit es sich
dabei um Erlebnisse handelt, verbleiben wir bei seiner Lösung ganz
im Bereich der Phänomenologie stehen.
Es wird sich zeigen, daß Aussagen über das Wesen dieses Zu-
sammenhanges ihrem Gehalte nach unmittelbar abhängig sind von
der Beantwortung des Gegenstandsproblems und der Beziehung von
Gegenstand und Erlebnis — einer Fage, die wir schon aus der Dar-
stellung der Lippsschen Lehre kennen. Wir wollen zunächst sehen,
wie dieses Problem des Zusammenhanges von Seelischem in der
bisherigen Psychologie beantwortet oder behandelt worden ist. Da
finden wir, daß man die beiden von uns getrennten Bedingungen des
Begriffes Zusammenhang, die zeitlich-dynamische und die logische
strukturelle, bisher nicht prinzipiell getrennt hat. Man erklärte
vielmehr das Wesen alles seelischen Zusammenhängens durch
Assoziation.
Über diesen Begriff von Assoziation und seine Anwendung im
Psychischen müssen wir hier einige weitere Aussagen allgemeiner
Art machen, nachdem wir bereits in der Wissenschaftslehre damit
begonnen haben i); in eine eigentliche Erörterung der speziellen
Assoziationslehre brauchen wir nicht einzutreten, diese erfolgt in
der psychologischen Dynamik. Hier handelt es sich nur darum,
die logischen Möglichkeiten des durch Assoziation Erklärbaren auf-
zustellen.
Assoziation kann drei verschiedene Bedeutungen haben:
Erstens kann damit gesagt sein, alle psychischen Inhalte seien
verbunden. Ihre zeitliche Folge sei kein äußerer Zufall, sondern
entspreche einem Gesetz ihrer Zusammengehörigkeit. Gegen diesen
allgemeinsten Sinn von Assoziation bestehen weder logische noch
psychologische Bedenken. Das liegt daran, daß er überaus nichts-
sagend ist. Er sagt eigentlich nur aus, daß das seelische Geschehen
1) S. 187 ff. dieses Buches.
Erlebnis und seeli.schc Funktionen ühw. 333
nicht regellos überhaupt, sondern nach dem Gesetz einer Zusammen-
gehörigkeit verlaufe; welches aber dieses Gesetz ist, darüber besagt
er nichts. Er ist also keine Antwort, keine Erklärung des Problems
des seelischen Zusammenhängens; er ist ein neuer Ausdruck für dieses
Problem selber. Denn daß das seelische Geschehen Gesetzen des
Zusammenhanges gehorcht, dies ist ja die Voraussetzung jeder wissen-
schaftlichen Psychologie. Für diese ist es ja gerade die Aufgabe,
zu bestimmen, welche Gesetze es sind, die das seelische Geschehen
regeln. Darauf gibt uns der erste Sinn von Assoziation keine Ant-
wort, er setzt dafür nur das inhaltleere Wort.
Der zweite, am häufigsten gemeinte Sinn von Assoziation gibt
den assoziativen Verbindungen wenigstens das eine negative Merk-
mal, daß sie keine vom Willen oder vom Nachdenken des Subjekts
gestifteten, sondern selbsttätig erfolgende sind: Hierbei ist denn die
Frage, welches die positiven Bedingungen sind, unter denen ihr
Eintritt erfolgt. Ferner muß, wenn diese Bestimmung des Sinnes
von Assoziation richtig sein soll und ein Gesetz ausdrücken soll,
zuvorderst nachgewiesen werden, daß auch die scheinbar vom wollen-
den und denkenden Subjekt gestifteten Verbindungen in Wirklich-
keit selbsttätig und ohne Zutun desselben erfolgt sind. Nur dann
ist man berechtigt, diese Verknüpfung Assoziation zu nennen.
Drittens kann endlich behauptet werden, die assoziative Ver-
bindung sei nur ein Gesetz für die Reproduktion der psychischen
Inlxalte.
Hier interessiert uns vorläufig die zweite Bedeutung von Asso-
ziation. Bei ihr ist das Problem am wichtigsten, welche positiven
Merkmale es sind, die den Eintritt der Verknüpfung bestimmen.
Diese positiven Bestimmungsstücke des gesetzmäßigen Eintritts der
Assoziation können nun ganz allgemein entweder psychologische
oder außerpsychisehe sein.
Die nicht psychischen Assoziationsmomente werden in gelürn-
dynamischen oder anatomischen Situationen gesucht. Es ist klar,
daß derartige Aufstellungen Hilfshypothesen sind, deren Geltung be-
stimmte psychoplij'sische Mechanismen voraussetzt und als Er-
klärungsgründe für Seelisches benützt. Wir werden später sehen,
ob und wie weit das erlaubt ist ; schon hier ist aber klar, daß eine der-
artige Aufstellung durch theoretische Vorwegnahmen nichtpsychi-
scher Art den Charakter der P.sychologie als Eigen Wissenschaft in
seinen Grundfesten gefährdet, und daß daher zu ihnen erst dann ge-
griffen werden sollte, wenn psychiselie Erklärungsgründe für den
Eintritt von Verknüpfung im Seelischen ihrer prinzipiellen Möglich-
keit nach ausgeschieden sind.
Das sind sie aber noch keineswegs. Freilich ist unklar, wo wir im
einzelnen denn nun die p.sychisehen Bestimmungsstüeke für das Ein-
treten von Verknüpfungen im Seelischen zu suchen haben. Zwar
haben schon Herbart und Fechner das bestimmende Moment des
Assoziationsvollzuges ins Psychische selber verlegt; die Voraus-
334 Gnindlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Setzung dieser Verlegung aber wären Annahmen über besondere
psychische Kräfte, welche den Ablauf des seelischen Geschehens
zielsetzend bestimmen.
Derartige Annahmen bilden also die erste Möglichkeit, den Asso-
ziationsmechanismus seelisch zu bestimmen. Nun läßt sich zwar
nicht einsehen, warum solche Annahmen über seelische Richtkräfte,
welche die Verknüpfung innerer Abläufe regeln, nicht sollten gemacht
werden können. Sie sind wissenschaftstheoretisch und logisch ein-
wandfrei und sogar notwendig^), und sie fördern die Arbeit, wenn sie
ihr Gegenstandsgebiet hinreichend erklären. Für solche Hjrpothesen
über seelische Richtkräfte der Assoziation liegt jedoch ein Widerstreit
zu den Tatsachen überall dort vor, wo wir uns tatsächlich durch Be-
obachtung überzeugen können, daß das Subjekt willkürlich und
nachdenkend seine Inhalte verknüpft oder ihre Abfolge regelt 2).
Man müßte die Denkvollzüge und Willens Vorgänge als seelische Tat-
sachen leugnen und durch assoziative Umdeutung verfälschen, um
die Assoziationshypothese auf der genannten Basis durchhalten zu
können. Diese umdeutende Verfälschung wird ja nun von vielen
Seiten beliebt: Sie hat nicht wenig dazu beigetragen, das psychische
Leben in dürren schematischen Formeln erstarren zu lassen, an Stelle
es in seiner reichen Mannigfaltigkeit vorurteilslos zu beschreiben. —
Aber indem wir einräumen, daß solche Assoziationshypothesen zu
Erklärungszwecken grundsätzlich annehmbar sind, verlassen wir
bereits wiederum das Gebiet der bloßen Beschreibung und bewegen
uns auf dem schwankenden Boden der Erklärung, und zwar der kon-
struktiven generalisierenden, mechanisierenden Erklärung. Besinnen
wir uns auf die Absicht unserer phänomenologischen Einstellung, so
werden wir einen solchen Weg erst dann benützen, wenn die Be-
schreibung und immanente Abstjaktion erschöpft ist und versagt.
Verbleiben wir bei der letzteren, treiben wir also in dem Wege
unserer phänomenologischen Einstellung vorwärts, so werden wir
die assoziativen Momente aus dem Wesen der seelischen Abläufe selbst
herauszulösen versuchen müssen. Dies ist auch in der Ausbildung
der psychologischen Lehre seit Locke und Hume bis auf Hoeff-
ding jeweils versucht worden. Und zwar gab es hier wiederum mit
logischer Vollständigkeit zwei Möglichkeiten, in denen das assoziative
Moment gesucht werden könnte. Es muß entweder liegen am Was
der Inhalte oder im Wie ihres Inhaltseins. Danach trennt sich
die Ähnlichkeitsassoziation von der Berührungsassoziation. Die
Ähnlichkeitsassoziation sucht tatsächlich ihr wesentliches Moment in
einem Merkmal, das den Inhalten anhaftet, eben ihrer Ähnlichkeit —
wobei der Begriff der Ähnlichkeit in dieser Anwendung weit davon
entfernt ist, logisch geklärt zu sein. Die Berührungsassoziation hin-
1) Vgl. S. 144 ff. dieses Buches.
2) Über den Begriff der »Tendenzen«, sowie die Stellung der perseverativen
und determinierenden zu den assoziativen Tendenzen vgl. den zweiten Band.
ürlobniB und seoÜKcho Funktionen ubw. 335
gegen sucht tatsächlich ihr wesentliches Moment in einem Merkmal
des Seins, Werdens und Bestehens der Inhalte, nämlich ihrer zeit-
lichen B TÜhrung, sei diese nun aktuell oder vorgegeben. Diese
Trennung ist nun freilich eine vollständige, aber man muß, um diese
beiden Momente der Assoziation wirklich anwenden zu können, für
jedes von ihnen eine Voraussetzung besonderer Art machen. Diese
Voraussetzung ist für beide Momente die gleiche und ließe sich so
formulieren: Die Anwendbarkeit des assoziativen Momentes auf
Psychisches hängt davon ab, daß alles Psychische in bezug auf
dies Moment eine grundsätzliche Gleichartigkeit auf-
weist. Wenn sich z. B. alles Psychische nach der Ähnlichkeit seines
Inhaltes assoziiert, so setzt das voraus, daß alles Psychische ein inhalt-
lich Gegebenes ist. Läßt es sich dagf gen gemäß den Zeitmomenten
seines Inhaltseins zusammenfassen, li(gt also eine B'TÜhrungsasso-
ziation vor, so setzt das voraus, daß das Zeitmoment dieses Inhalt-
seins das konstitutive Unterscheidungsmerkmal seiner Inhalte ist.
Beide Voraussetzungen sind in ihrer Allgeraeinheit irrig. Weder ist
alles Psychische Inlialt — oder, um diesen unscharfen Ausdruck zu
vermeiden und den eigentlich gemeinten dafür einzusetzen, Vor-
stellung — noch ist der Zeitpunkt in dem es bewußt wird, das einzige
Sondermerkmal seines sonst gleichen Bewußtseins. Beides ist
eine unzulängliche Einengung des Reichtums seelischer Formen und
Bewußtseinsstrukturen zugunsten der Bausteintheorie. Wenn wir
von den komplexen Tatbeständen ausgehen, ohne den Ehrgeiz, um
jeden Preis immer auf diese einfachsten Elemente zurückzukommen,
aber mit dem Bewußtsein, so wenigstens die Tatbestände nicht zu
verändern, dann können wir mit dieser Assoziationslehre nichts an-
fangen. Wir bestreiten sie nicht etwa: Dasjenige seelische Material,
welches sich tatsächlich in generisch gleiche Elemente auflösen läßt,
dabei jedoch seinem subjektiven Sein nacli kein geformtes Ganzes
bildet, kann und muß assoziativ erklärbar werden. Dann aber muß
Art und Umfang dieses seelischen Materials erst einmal genau fest-
gelegt und abg' grenzt werden.
Wie dem nun aber auch sein möge: Es ist nach dem Vorher-
geschickten klar, daß ein so beschaffenes, ungt formtes und homogenes
Geschehen tatsächlich nicht der wesentliche Teil des psychi-
,schen Geschehens überhaupt ist. So behält dieses Erklärungs-
prinzip seinen Wert nur für eine untergeordnete Klasse von psychi-
schen GJeschehnissen. Es handelt sich, wie man weiß, zum großen
Teile um Reproduktionsphänomene, aber auch nicht um alle; wissen
wir doch s-it Marty uiul Husserl, daß nicht einmal zwischen
Wort und Bedeutung eine bloße assoziative Verknüpfung vorliegen
kann.
Und nun kommen wir auf das im B«'ginn dieses Abschnitts Gesagte
znrüek: daß dem seelischen Zusainnvnhang zwei wesentliche Be-
deutungen zugrunde liegen, unil dnÜ ilaher As.soziation, welclxe seeli-
schen Zusammenhang überhaupt erklären soll, als Erklärungsgrund
336 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Fsychischen.
von zwei prinzipiell verschiedenen Arten von Verknüpfungen des
Seelischen in Frage kommt. Sie kann einmal die zeitliche Aufein-
anderfolge der einzelnen psychischen Gebilde regeln. Sie kann
zweitens den Aufbau, die Struktur dieser Gebilde aus ihren Ele-
menten bestimmen. Wir sagten bereits, daß wir den Assoziations-
begriff hier nur in bezug auf das letztere, die Synthese der Struk-
turen, zu prüfen haben. Die Frage, ob auch das zeitliche Nach-
einander psychischer Vollzüge durch Assoziation bedingt ist oder
nicht — diese Frage ist von der Frage nach dem assoziativen Aufbau
der seelischen Strukturen selber grundsätzlich zu trennen. Man kann
die letztere verneinen, ohne damit die erstere zu entscheiden. Denn
der Aufbau der seelischen Strukturen ist ein Problem, welches beob-
achtende Beschreibung und immanente Abstraktion in Angriff nehmen,
ein Problem, das aus dem Wesen der phänomenologischen Einstellung
heraus entsteht und mit ihren Mitteln lösbar wird. Das Gesetz des
zeitlichen Nacheinander von Seelischem aber kann, wie alles Nach-
einander, gar kein Gegenstand bloßer Betrachtung oder Wahrnehmung
sein, es ist vielmehr ein Problem des dynamisch-theoretischen Den-
kens. Dies Nacheinander, insofern es ein Auseinander ist, ist kein
Beschreibungsgebiet, sondern ein Erklärungsgebiet. Und ob jemand
hierfür Assoziationstheorien aufstellen oder etwa lieber Bergson-
sche Hypothesen über die »Organisation der Bewußtseinszustände
in der reinen Dauer« annehmen will, ist für eine beschreibende Tat-
sachenwissenschaft von Seelischem gleichgültig. Gerade die theorien-
feindlichsten der Phänomenologen, besonders führende Forscher in
der Psychopathologie, kommen aber von solchen theoretischen Neu-
aufstellungen nicht los, anstatt sich auf ihr untheoretisches Problem
zu beschränken. Wir sagen nicht wie diese, daß es unerlaubt oder
falsch sei, psychologische Theorien zu bilden, und daß die Phänomeno-
logie, wie wir sie verstehen, weil sie vortheoretisch ist, untheoretisch
zu sein habe. Wir untersuchen vielmehr später dieses Problem aus-
führlich. Gegenüber diesen theorienfeindlichen Forschern aber, die
gerade auf die Verabsolutierung der Assoziationspsychologie sehr
von oben herab sehen soll, hier ein Wort vorweggenommen werden.
Sie schaffen, wenn sie den Begriff der psychischen Kausalität ab-
lehnen oder im Sinne Rickerts individualisieren, wenn sie Kon-
zeptionen über »genetisches Verstehen« usw. bilden, ebenfalls Theo-
rien, und zwar genau so einseitige, wie der Assoziationspsychologe es
auf seine Weise tut — ob sie dies nun wahr haben wollen oder
nicht. Nur der Unterschied besteht, daß die Assoziationstheorie als
Erklärungsprinzip schon manchen wichtigen Dienst geleistet hat,
und sei er auch bloß in ihrem heuristischen Moment gelogen, daß
jedoch die Theorienfeindschaft jener »phänomenologischen« Behaup-
tungen, die in Wirklichkeit selber versteckte Theorien sind, richtige
theoretische Erklärungen nur hemmt.
Erlebnis ujid sctli>clio Fiuiktioneu usw. 337
Psycliische Eiächeiniingen. Funktionen un«l Akte.
Wir wollen Erlebnisse beschreiben; wir müssen dazu Merkmale
an ihnen bilden, müssen sie miteinander vergleichen und vontiu-
ander unterscheiden. Jedes Erlebnis soll gemäß seinem besonderen
Sosein beschrieben werden. Wir haben erkannt, daß es dazu not-
wendig ist, die generischen Merkmale der Erlebnisse überhauj)t,
sowie die spezifischen Unterschiede der Erlebnisarten a))straktiv
herauszuheben. Der Gesichtspunkt unserer abstraktiven Aufspaltung
soll dabei der sein, daß wir zu Merkmalen kommen, über deren aw-
lisches Fürsichbestehen als Ganzheit wir zwar keine Aussagen machen
können, deren saclUichc Immanenz in dem Ganzen des Erlebnis.ses
aber von gleicher Realität ist wie dieses selbst; d. h. unsere Merk-
male dürfen keinen konstruktiven Charakter tragen, aber auch keinen
bloß logisch immanenten, sondern den einer sachlichen Immanenz.
sie dürfen zwar künstlich herausgelöst, dürfen aber nicht fiktiv sein.
Wir haben diese Merkmale als solche der »Struktur von Erlebnissen
bezeichnet. Da es aber zunächst de facto immer Avillküi'licli ist, wie
man abstrahiert, so müssen wir uns diesen Strukturgesichtspunkt für
imserc beschreibenden Aufspaltungen noch etwas klarer machen.
Es handelt sich hierbei noch nicht um Einteilungen des psychischen
Gescheliens. sondern um die logische Vorarbeit dazu. Gilien -«nr
davon aus, daß man unterscheiden muß Erlel)nis als fertiges Phänomen
und als ein seelisches Sichvollziehen, und daß ferner das fertige Er-
lebnis immer schon ein Erlebtes ist, unmittelbar aber nur das Sich-
vollziehen jeweils gegeben ist, mit anderen Worten, daß das psychische
Sein immer ein Werden ist, so klärt sich der Strukturbegriff zu dem
der Funktion. Der Bc^griff der Struktur ging auf das Erlebnis als
ein fertiges abgeschlossenes Sein; wird dies Sein als ein Werden auf-
gefaßt, so verwandelt der Strukturbegriff sich in den Funktionsbegfiff.
Es werden hierbei Merkmale an Erlebnissen für wesentlich erachtet,
welche auf das Erleben als ein Sichvollziehen gehen und dieses als
ein WVrden erkennen lassen^).
Der Begriff der Funktion im Psychischen ist nicht der exakte
Begriff der mathematischen Logik; oder doch nur in sehr über-
tragenem Sinne. Neben der Zuordnung oder Relationsbestiramung.
welche er ausdrückt, enthält er noch einen besonderen psychologischen
Sinn; dieser haftet ihm mit unausschalt barer Notwendigkeit an und
läßt sich nur wissenschaftstheoretisch rechtfertigen^). Eine phäno-
menologische Begründung desselben läßt sich nicht geben. Dieser
psychologische Sinn des Funktionsbegriffes besteht darin, daß das
Subjekt des Erlebens als in diesem Erleben als einem
Vollzuge fungierend gedacht und beschrieben wird. Erleben
1) Wie fliese Erkenntnis psychologi.sch mügiich ist, darüber vgl. Moinong.
Beiträge zur Theorie der psychischen Analyse. 3!ltsohr. f. PsyohoL Bd. VT. 5. An-
hang. S. 434 ff.
8) Vgl. S. 134, 145 ff. dieses Buches.
Krön fehl, r.^ychiiitriscbo Krkcnntnb». 22
338 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
als Vollzug wird also immer auf ein Subjekt bezogen, und
diese Bezogenheit wird funktional gedacht. Funktionale
Vollzüge eines Subjekts sind aber nur als Tätigkeiten desselben
denkbar und vorstellbar; auch dies ist wissenschaftstheoretisch
notwendig und zu rechtfertigen. Im übrigen macht der Funktions-
begriff an sich keine Aussagen über die Art dieses Fungierens des
Subjekts; er überläßt diese völlig der jeweiligen Einzelbeschreibung.
Ebensowenig wird durch die Statuierung des Funktionsbegriffes aus-
gemacht, ob das Erleben seinem ganzen Sein nach durch ihn erschöpft
zu werden vermag; lediglich der Vollzug des Erlebens ist konstitutiv
durch ihn erfaßbar.
Erscheinung und Funktion verhalten sich also zu-
einander wie Sein und Werden. Die Erscheinung ist das Ergebnis
des fertig abgeschlossenen Vollzuges; die Funktion ist dieser Vollzug
in seinem Werden selber.
Es besteht also zwischen psychischen Phänomenen und psyciii-
schen Funktionen der innigste Zusammenhang. Und wir müssen uns,
wie schon Husserl es tat, entschieden gegen Stumpf wenden, der
in seiner bekannten Rede^) darauf ausgeht, prinzipielle Gregensätze
und logische und psychologische Unabhängigkeiten beider Begriffs-
sphären voneinander darzutun. Schon sein Funktionsbegriff ist ein
anderer als der hier entwickelte: er bezieht sich lediglich auf das
Bemerken von Erscheinungen — nicht auf deren wesenhaftes Werden.
Ebenso ist sein Erscheinungsbegriff ein viel engerer als der der psychi-
schen Phänomenalität in dem hier verwendeten, früher erörterten
Sinne; Husserl weist mit Becht darauf hin, daß dem Erscheinungs-
begriffe Stumpfs nur dasjenige entspricht, was Husserl als Hyletik
bezeichnet 2) : nämlich die unselbständigen materialen Bausteine un-
geformter stofflicher Art, welche die Inhalte psychischer Gebilde und
Akte aufbauen. Stumpfs Verdienst in jener Rede, durch welche
der psychologische Funktionsbegriff erneut belebt wurde, ist ein
doppeltes: er zeigt wiederum, daß die funktionalen Vollzüge im Psy-
chischen nicht aufgelöst werden können durch Reduktion auf die
Elemente der »Erscheinungspsychologie«, des psychologischen Sen-
sualismus im weitesten Sinne. Und ferner zeigt Stumpf, daß die
funktionalen Vollzüge selber unabhängig davon sind, ob sie erscheinen;
Erscheinung ist zwar immer — wie wir gegen Stumpf -betonen — ■
funktional bedingt, die Realisierung von Funktionen aber braucht
nicht zu psychischen Erscheinungen zu führen. Es ist klar, daß der
Erscheinungsbegriff in diesem Zusammenhange ein engerer ist, als
der der psychischen Phänomenalität überhaupt, jedoch ein weiterer
als der des Erlebens. Er würde sich nicht mit dem der psychischen
Gegebenheit schlechthin, sondern mit dem der Bewußtseinsgegeben-
heit decken. Stu'mpfs Lehre wird hier zur starken Stütze unserer
1) Erscheinungen und psychische Funktionen. Berlin 1907.
2) Ideen zu einer reinen Phänomenologie usw. 1913. S. 178ff.
Erlebnis und seelische Funktionen usw. 33f>
früher geäußerten Ansicht, daß es durchaus ein psychisches Sein un'l
Werden, nämlich ein funktionales, geben kann, ohne daß dasselbe
durch seinen Bewußtscinscharakter konstitutiv bestimmt wird.
Letzterer ist mithin für Psychisches überhaupt nur ein akzidentelles
Merkmal. Dies nur nebenbei.
Der Funktionsl)egriff ist so alt wie die wissenschaftliche Psycho-
logie selber. Er bildet den Kern der Aristotelischen Psychologie,
er wurde in die scholastisch-Thomistische Lehre von Wahrnehmung
und Urteil übernommen. Der Sensualismus der Engländer ver-
mochte ihn nur zeitweise zu verdrängen. In der P.sychologie des
klassischen Idealismus kehrt er unter dem Terminus »Vermögen«
wieder; die deutschen Nachfahren des englischen Sensualismus
suchten diesen Begriff vor allem zu beseitigen^). Seit Lotze und
Brentano aber kehrt der Funktionsbegriff im Psychischen in reine-
rer und strengerer Fassung und Ableitung wieder; durch diese For-
scher trat er seinen Siegeszug im eigensten Bereiche der sensuahsti-
schen Atomistik an, zu welcher die Psychologie zu erstarren drohte.
Der Ausgangspunkt, aus welchem sich der Funktionsbegriff immer
wieder neu erzeugte, war der einfache und triviale Satz : daß jedes
erlebende Bewußtsein ein Bewußtsein von Etwas i.st. L^nd dieses
Etwas wird zum EtAvas für das Ich erst durch die besondere Weise
seines Bewußtseins. Durch diese Weise seines Bewußtseins wird das
Etwas als ein besonderes und besonders bestimmtes erst gebildet '^).
Der Bewußtseinsvollzug ist also ein gegenstandsbildender Akt. Der
Inlialt des Bewußtseinsvollzuges ist ein gegenstandsbildendes Ver-
halten des Subjekts; eben die Funktion des Subjekts. Brentano
hat für dieses Verhalten des Subjekts, wodurch sicli ihm Gegenstände'
konstituieren, den scholastischen Ausdruck der Intention^) wieder
in Kurs gesetzt. Der Bewußtseins Vollzug selber führt den Namen
des Aktes*).
Der Gegenstand desselben kann ein solcher der Anschauung sein,
er kann aber auch ein unanschaulicher, ein Sinn oder eine Bedeutung
sein, welche in der Verwirklichung der Intention gemeint ist.
Im Hinblick auf diese Gredankengänge lassen sich aus der Lehre
Brentanos — unter Absehen von ihrem sonstigen für Brentano
selber vielleicht bezeichnenderen Inhalt — zwei Leitsätze heraus-
heben, in welchen die Überwindung des assoziativen Sensualismus
sinnfällig ausgedrückt und die Grundlage weiterer phänomenolo-
gischer Forschung enthalten ist. Der erste dieser Sätze lautet in der
modifizierten Fassung Husserls: Jedes intentionale Erlebnis ist
entweder ein objektivierender Akt oder durch einen solchen Akt
1) Vgl. S. 153 ff. dieses Buches.
-) Brentano, a.a.O. S. llöff. und piiss. *
3) Über den Sinn de.s Terminus Intont ion in der Scholastik vgl. die Zusamra<n-
»teliung von Ziehen, (Jnindlagen d. Psychol. 1915. I. S. 77.
•*) a. a. ü. S. 132ff. Gnindsätziiche Erörterung bei Messer. Über den
Begriff des Aktes. Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 24. S. 245 ff.
340 Gnindlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
fundiert. Der zweite Satz ist: Es gibt soviel Klassen psychischer
Strukturen, als es Arten gibt, in welchen sich das Ich auf Gegen-
/stände bezieht^), 2).
Der erste dieser. Sätze drückt den Zusammenhang des Erlebens
mit Aktvollzügen und die aktive, formende, gestaltende Beteiligung
des psychologischen Subjekts, des Ich, beim Zustandekommen von
Erlebnissen aus. Der zweite Satz enthält das Prinzip zur Auffindung
der verschiedenen Erlebnisstrukturen. Beide Sätze geben ferner
einen prinzipiellen Hinweis auf Arten des Zusammenhangs von Er-
lebnissen untereinander: entweder fundiert ein intentionaler Vollzug
den anderen, d. h. er ist der analytische Grund des anderen, oder
dieser Zusammenliang liegt im Gegenstande, auf den das Ich sich in
verschiedenen Weisen intentional bezieht Natürlich sind dies nicht
alle Arten des Erlebniszusammenhanges, und vielleicht nicht einmal
die wesentlichen.
Damit hätten wir eine vorläufige Fassung des Aktbegriffes ge-
Avonnen, welche für alle phänomenologischen Zergliederungen von
Bedeutung zu werden vermag. Die Phänomenologie wird eine ihrer
Aufgaben darin finden, diesen Begriff weiter zu untersuchen. Sie
wird feststellen müssen, welche Arten von Erlebnissen und von
seelischem Geschehen überhaupt unter Aktklassen zu subsumieren
sind, sie wird ferner die Unterscheidungsmerkmale der Aktklassen
als solcher generisch aufzuweisen haben. Und es wird sich zeigen,
daß jede mögliche Psychologie sich ausschließlich auf der Grundlage
der logischen Unterscheidungen aufbauen muß, welche die Phäno-
menologie so als Rahmen für die Deskription psychischer Phänomene
überhaupt aufstellt.
Es muß nun aber gesagt werden, daß weder Brentano noch
Lotze noch ihre Anhänger beabsichtigt haben, Phänomenologie
zu treiben in einem Sinne, welcher diese Disziplin irgendwie aus dem
Ganzen der Psychologie herauszusondern berufen wäre. Lediglich
Husserl bildet hierin seiner ganzen Absicht nach eine Ausnahme;
aber wo er seiner Idee nach reine Phänomenologie treibt, ist er gar
nicht so weit davon entfernt, Brentano sehe Funktionspsychologie
zu treiben, wie er sich den Anschein gibt. Auch jene beiden Leit-
sätze Brentanos, die wir soebe'n herausgehoben haben, sollten nicht
irgendwelchen phänomenologischen Sonderzwecken dienen, sondern
fungieren bei Brentano als heuristische Prinzipien psychologisch-
analytischer Theorie. Mit Ausnahme von Husserl also betrachten
jene großen Führer der Funktionspsychologie die Phänomenologie
r^^ 1) Brentano, a. a. 0. S. 104, 848ff. Husserl, Logische Untersuchungen.
Bd. IL 1. Aufl. S. 399ff., bes. 458. Brentano hat, ebenso übrigens auch Marty
und Meinong, an Stelle des Terminus »objektivierender Akt« in diesem Zu-
sammenhang den der »Vorstellung«. Alle psychischen Phänomene gehen auf
Vorstellungen zurück. Daß und warum diese Fassung mißlich ist, darüber Husserl,
a. a. 0.
^) a. u. 0. S. 2G0 u. pas».
Krlebim und .seelisobe Funktionen usw. 341
nur als einen impliziten Teil der deskriptiven psycho-
logischen Theorie, und heben sie keineswegs aus dt-m Ganzen
der Psychologie besonders hervor. Und zwar ist die psychologi.sche
Theorie von Brentano, Marty, Meinong, Hoefler, Witasek,
Messer und anderen Forschern dieser Riclitung ihrem Grundgehalt
nach Erkenntnispsychologie. insbesondere Psycliologie der Vor-
stellungen und des Urteils. Wir brauchen uns an dieser Stelle auf
den Inhalt der einzelnen Lehren nicht einzulassen; heben wir aber
einen besonderen Wert an dieser psychologischen Forscliungsrichtung
heraus, so ist es der: durch sie wird eine systematische Theorie der
Erkenntnis und ilirer G<>ltungsgrundlagen möglich. Avelche ganz im
iSubjekt und .seinen Erkennensweisen verbleibt. Nicht transzcnden-
talistische Fiktionen entscheiden mehr über die erkenntniskritischen
Grundfragen, sondern klare und eindeutig beantwortbare p.sycho-
logische Fragestellungen. Dies rückt diese gesamte Forschungsrich-
tung in die Nähe unserer Friesschen Erkenntnislehre. Etwas ähn-
liches hat auch später Lipps in seiner Grundwi.s.sen.schaft zu geben
versucht. Und es ist nun interessant, wie bei Husserl gerade diese
Seite der Brentanoschen Forschungsrichtung, welche sich die for-
malen Voraussetzungen alles Erkennens zum Problem einer —
psychologisclx gedachten — Methode stellt, versclimilzt mit dem
Gedanicen der Phänomenologie, welcher aus ganz anderen Ausgangs-
punkten entwickelt wurde. Bei Husserl wird die Phänomenologie
zur Grundwissenschaft aller möglichen Erkenntnis; und da sie auch
zur Grundwissenschaft psychologischer Erkenntnis wird, also die Vor-
au.ssetzung jeder möglichen P.sychologie bildet, kann sie selber nicht
Psychologie sein. So wird sie bei Husserl zur apriorischen Eidetik.
Für uns bleibt liier, ohne daß wir uns auf irgendeine dieser ver-
schiedenen Möglichkeiten festlegen, die Frage bis auf weiteres noch
offen, wie sich Phänomenologie zur deskriptiven Tlieorie des Psy-
chischen verhält^). Und aus dem gewaltigen Gedankenwerke Hus-
serls cntnelimen wir an dieser Stelle nur soviel, als wir brauchen,
um unsere eigene Konzeption des Aktbegriffes noch weiter klären
zu können.
Akte und »Bewußtsein«.
Husserl zeigt, daß man den Akt nicht, wie Brentano das tut,
definieren kann, indem man ihn auf Vorstellungen zurückführt ^).
Ebensowenig ist Akt, wie wir ebenfalls von Brentano übernommen
haben, als Betätigung des Bewußtseins 3) definierbar, sofern
nicht der Begriff des Bewußtseins selber eine besondere Klärung
erfährt.
^) Vgl. Messer, Hu-sserls Phänomenologie in ihrem Verhältnis 7.ur IM-eho-
logie. Arch. f. d. ges. I'sychol. Bd. 22. .<:. II 7 ff.
a) Log. Unt. 2. Aufl. B<i. II. S. 34.^>.
3) ft. a. Ü. S. 346 ff.
342 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Husserl sieht drei Möglichkeiten einer Definition des Bewußt-
seins: erstens durch die Sphäre des Psychischen überhaupt, zweitens
durch seine Beziehung zu Akten, drittens durch die innere Wahr-
nehmung.
Die erste Definition des Bewußtseins durch den Inbegriff des
Psychischen überhaupt verwirft auch Husserl aus den verschieden-
sten Gründen. Ebenso verwirft Husserl die Definition des Bewußt-
seins durch die innere Wahrnehmung. Die innere Wahrnehmung
kann sich auf Erlebnisse richten. Sie ist aber auch selbst ein Er-
lebnis. Wollte man nun den Bewußtseinscharakter von Erlebnissen
durch sie definieren, so käme man zur Erklärung dieses Sachverhaltes
auf einen unendlichen Regreß : um nämlich Aussagen über den Be-
wußtseinscharakter eines Erlebens zu machen, müßte man dieses
Erleben innerlich wahrnehmen, und diese innere Wahrnehmung
müßte bewußt sein, d. h. Gegenstand einer inneren Wahrnehmung
sein, die ihrerseits bewußt sein müßte usw.
Auch der an anderer Stelle dieses Buches^) bereits erwähnte
Ausweg von Brentano und Lipps, daß nämlich Erleben und Er-
leben dieses Erlebens sich in einem und demselben Akt vollziehen,
würde, wenn er selbst psychologisch möglich wäre, nicht ausreiche)!,
um den Bewußtseinscharakter als etwas von den Erlebnissen ab-
gelöstes und auf ihr bloßes Bemerken bezogenes zu definieren.
Mit dieser Feststellung ist aber nichts gegen die Möglichkeit
einer inneren Wahrnehmung überhaupt ausgemacht; diese Möglich-
keit ist fälschlich von Natorp bestritten worden. Darüber später
noch einiges.
So bleibt als dritte Möglichkeit der Definition des Bewußtseins
bloß die Beziehung desselben zu Akten übrig. In dieser Be-
ziehung könnte man Bewußtsein deuten als die phänomenologische
Einheit der Icherlebnisse. Bisher haben wir Erlebnis definiert als
psychisches Geschehen von unmittelbarem Bewußtsein, welches sein
Wesen in dieser unmittelbaren Bewußtseinsgegebenheit besitzt. Be-
wußtsein war uns hierbei eine Form der Gegebenheit überhaupt.
Husserl meint nun, in diesem Sinne sei bespielsweise auch die äußere
Wahrnehmung ein Erlebnis. Das Empfindungsmoment der Farbe,
der Akt des Wahrnehmens, die Gegenstandserscheinung — alles dies
seien erlebte Inhalte. Der Gegenstand der Wahrnehmung hingegen,
obgleich er wahrgenommen sei, sei nicht erlebt oder bewußt. Existiere
er nicht, so existiere auch die Farbe nicht. Wohl aber bleibt das
Empfindungsmoment der Farbe ebenso wie deren Halluzination
ein Erlebnis. Das erscheinende Objekt als solches gehört nicht zum
Erlebnis, welches in dem Erscheinen des Objekts besteht.
Mir erscheint diese Ausführung Husserls nicht richtig. Wir er-
leben immer etwas, und dieses Etwas ist auch deskriptiv dem Er-
lebnis wesentlich. Tatsächlich wird in der äußeren Wahrnehmung
1) Vgl. 8.201).
Erlebnis und seolische Funktionen usav. 343
«in Gegenstand bewußt, niclit h^inpfindungsinonientc und nidit Akto
des Wahrnehmens. Die Realität die.ses Uegenstande-s im erkenntnis-
kritischen Sinne ist hierbei nicht im Spiele; Existenz und Wahrge-
nommenwerden stehen nieht in deskriptiver Beziehung. Die Unter-
schiede zwischen riclitigcr und trügeri.scher Wahrnehmung gehen,
soweit sie sich auf dieses Richtig und Falsch beziehen, den deskrip-
tiven Charakter der Wahrnehmung nicht an.
Weisen wir also die Husser Ische Fassung der äußeren Wahr-
nehmung als Erlebnis zurück, so treffen wir uns eigentlich mit den-
jenigen Begriff des phänomenologischen Erlebnisses, den er später
selber entwickelt^). Er sagt: Das »Erleben << äu(3erer Vorgänge ist
etwas ganz anderes als der phänomenologische Begriff des Erlebens.
Ersteres besagt gewisse Akte, welche auf diese Vorgänge gerichtet
sind. Das, auf was das Ich gerichtet ist, ist eben sein Erlebnis in
diesem Sinne. Anders liegen die Dinge bei psychischen Erleb-
nissen im phänomenologischen Sinne. Für sie fällt der Ck-genstand
nicht mit dem Erlebnis zusammen, er fällt vielmehr überhaupt aus
ihnen heraus. Ihr Inhalt ist ihr Inbegriff, sofern sie Erlebnisse sind;
und dieser Inhalt ist das Ganze der reellen Bcwußtscinseinheit. in der
sie stehen. Damit nähert sich Husserl unserem eigenen Standpunkt
bis zur Identität.
Akte und >>Ich<<.
Die Beziehung, in welcher wir hier die Erlebnisse zum Ich denken,
bildet keinen eigentümlichen phänomenologischen Befund. Das Ich.
das eigene wie das fremde, ist ein empirisches Datum, Es ist lediglich
durch die Einheit seiner Inhalte bcschreibbar. Es ist die Einheit
<ler Erlebnisse. Ob diese Einheit eine beobachtbare oder eine theo-
retisch postulierte ist, ent.scheidet nicht die Phänomenologie, sondern
die Wissenschaftstheorie des P.sychisclven; und diese Entscheidung
haben wir schon dort getroffen*).
Akte und Nichtakte.
An späterer Stelle führt Husserl aus: Der Ursprung des Be-
griffes Erk'bnis liegt im Gebiet der jjsychisehen Akte. Und wenn die
Ausdehnung des Gebiets der psychischen Erlebnisse uns zu einem
Erlebnisbegriff führen sollte, der auch Niehtakte umfaßt, so bleibt
doch die Beziehung auf einen Zusummeuliang. der sie Akten ein-
ordnet oder angliedert, kurz auf eine Bewußt.>*eins(Mnheit. so wesent-
lich, daß wir. wo dergleichen fehlte, von Krleben nicht mehr sprechen
würden^). Hierzu ist zu sagen: CJewiß sind Nichtakte als zum Psy-
chischen hinzugehörig denkbar, ohne daß unserer Definition d«*.s
1) a.a.O. S. 3;-)2ff.
2) Dieses Buch S. l.!-'. \'M\U.
3) a. a. (). s. '^a:,.
344 GruncUinieu der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Psychischen hinsichtlich seiner funktionalen Beschaffenheit Avider-
sprochen würde. Das nicht gegenständlich interpretierbare Psy-
chische allein wäre niemals psychisches Geschehen. Es ist nur als
unselbständiges Teilmoment an funktionalem psychischen Geschehen
wirklich, oder es geht als stoffliches, als »hyletisches << Datum in die
Materie von Intentionen ein — wie z. B. Empfindungselemente o. dgl.
Zur Systematik der Aktklassen.
An früherer Stelle haben wir schon die Kriterien erwähnt, welche
Brentano für Psychisches aufgestellt hat ^). Ihr erstes war die inten-
tionale Inexistenz oder die immanente Gegenständlichkeit; und wir
haben oft gesagt, die Einteilung der psychischen Phänomene erfolge
nach der BeziehungSAveise des Subjekts auf diese Gegenständlichkeit.
Hubs er 1 nimmt hierzu völlig die gleiche Stellung ein wie die vor-
liegenden Studien: »ob man Brentanos Klassifikation der psychi-
schen Phänomene (in drei grundverschiedene, sich mannigfach spezi-
fizierende Arten) für zutreffend erachte, darauf kommt es hier nicht
an.<< Wichtig ist nur, daß es wesentliche spezifische Verschieden-
heiten der intentionalen Beziehung, die den deskriptiven Gattungs-
charakter des Aktes ausmacht, gibt. >>Die Weise, in der eine bloße
Vorstellung eines Sachverhaltes ihren Gegenstand meint, ist eine
andere als die Weise des Urteils, das den Sachverhalt für Avahr oder
falsch hält. Wieder eine andere ist die Weise der Vermutung und des
Zweifels, die Weise der Hoffnung oder Furcht, die Weise des Wohl-
gefallens und Mißfallens, des Begehrens und Fliehens, der Entschei-
dung eines theoretischen Zweifels (Urteilsentscheidung), oder eines
praktischen Zweifels (Willenseutscheidung im Falle einer abwägenden
Wahl), der Bestätigung einer theoretischen Meinung (Erfüllung einer
Urteilsintention), oder einer Willensmeinung (Erfüllung einer Willens-
intention).« Mit dieser Statuierung tut Husserl einen entscheiden-
den Schritt über den orthodoxen Brentanismus hinaus, in ähnlicher
Weise, wie ihn auch schon Meinong in seiner Theorie der Annahmen
tat; vergeblich hat sich Marty zornerfüllt gegen diesen Versuch
gewendet, welcher allein imstande ist zu verhindern, daß Brentanos
heuristisches Prinzip zum Dogma toter abgeschlossener Systematik
wird. Dennoch liegt auch dieser unabschließbaren Heuristik ein
systematisches Moment zugrunde. »Gewiß sind, wo nicht alle, so
doch die meisten Akte komplexe Erlebnisse, und sehr oft sind dabei
die Intentionen selbst mehrfältige. Gemütsintentionen bauen sich
auf Vorstellungs- und Urteilsintentionen. Aber zweifellos ist es,
daß wir bei der Auflösung dieser Komplexe immer auf primitive
intentionale Charaktere kommen, die sich ihrem deskriptiven Wesen
nach nicht auf andersartige psychische Erlebnisse reduzieren lassen;
1) Dieses Buch S. 132, 139 ff.
Erlebnis und seelische Funktionen usw. 345
und wieder ist es zweifellos, daß die Einheit der deskriptiven Gattung
Intention (Aktcharakter) spezifische Verschiedenheiten aufweist . . .
Es gibt wesentlich verschiedene Arten und Unterarten der Intention« ^)
»Die intentionale Beziehung, rein deskriptiv verstanden, als innere
Eigentümlichkeit gewisser Erlebnisse, fassen wir als Wesensbestimmt-
heit der psychischen Phänomene oder Alvte.<<
Akt und Gegenstand.
Jedes intentionale Erlebnis ist ein psychisches Phänomen. Phä-
nomen bedeutet erscheinender Gegenstand. Also hat jedes inten-
tionale Erlebnis nicht nur Beziehung auf eine G^egenständlichkeit,
sondern ist auch selbst Gegenstand intentionaler Erlebnisse. Diese
Erlebnisse können speziell die des inneren Wahrnehmens oder Be-
inerkens sein. Es ist jedoch damit nicht gesagt, daß die innere Wahr-
nehmung sich tatsächlich auf jedes Erleben erstreckt, sondern nur,
daß die Möglichkeit dazu besteht. Das weitere ist Sache der De-
skription.
Erlebnisse enthalten nach dem bisher Gesagten immer ein Objekt
oder beziehen sich auf ein solches. Diese Feststellung ist nicht so zu
verstehen, als wenn zweierlei erlebnismäßig vorhanden wäre: >>es ist
nicht der Gegenstand erlebt und daneben das intentionale Erlebnis,
das sich auf ihn richtet, sondern nur eines ist präsent, das inten-
tionale Erlebnis, dessen wesentlicher deskriptiver Charakter eben die
bezügliche Intention ist. Ist dieses Erlebnis präsent, so ist eo ipso,
das liegt an seinem eigenen Wesen, die intentionale Beziehung auf
einen Gegenstand vollzogen, eo ipso ist ein Gegenstand intentional
gegenwärtig, denn das Eine und das Andere besagt genau dasselbe^).«
Und zwar ist das Gegebene ein wesentlich Gleiches, ob der vorgestellte
Gegenstand nun existiert oder ob er fingiert oder widersimiig ist;
in phänomenologischer Hinsicht ändert das nichts. Die Überzeugung
von der Existenz des Vorgestellten ist von besonderen Setzungs-
charakteren besonders erwirkt.
Ichvorstellung und Intention.
Welche Rolle nimmt in der intentionalen Beziehung das Ich
})hänomenologisch ein? Tatsächlich erscheint zunächst nicht der
Akt, sondern das Ich und der Gegenstand als die Beziehungspunkte
der Beziehung. Das Ich scheint sich durch den Akt oder in ihm auf
den Gegenstand zu beziehen. In allen diesen Beziehungen ist das
Ich eine identische Einlieit. Diese ist, wie bemerkt, nur Wissenschaft s-
theoretisch begründbar.
Phänomenologisch tritt aber im Akte selber die Ich Vorstellung
1) Log. Unters, 2. Aiifl 1 1. S. 367.
2) a. a. 0. 372.
346 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
nicht hervor — obwohl man sie sich besonders bewußt machen kann.
Vielmehr ist die Sache so: es ist (dem Ich) ein bestimmtes Erlebnis
gegenwärtig, und der Akt enthält für die Beschreibung zwar dieses
Icli unumgänglich mit, aber das jeweilige Erlebnis selbst besteht nicht
in einer Komplexion, welche die Ich Vorstellung als Teilerlebnis ent-
hielte. Diese vielmehr erhalten wir erst durch objektivierende Re-
flexion; wird aber auf sie reflektiert, so wird der Akt, dadurch daß
wir auf ihn achten und über ihn urteilen, auch deskriptiv verändert.
Qualität und Materie der Intentionen.
Bei der weiteren Analyse der Aktnatur von Akten müssen wir mit
Husser 1 trennen : den reellen phänomenologischen Inhalt eines Aktes,
gleich dem Inbegriff der ihn aufbauenden Teilerlebnisse, und dem
gegenüber den intentionalen Inhalt, gleich dem Begriff der spezifischen
Natur des Aktes. An diesem intentionalen Inhalt hat die Analyse
einzusetzen; und sie wird hier drei Momente unterscheidend heraus-
heben können : den intentionalen Gegenstand, die intentionale Materie
und das intentionale Wesen des Aktes.
Hier interessiert uns für unsere deskriptiven Absichten vor-
wiegend Materie und Wesen von Akten. Husserl nämlich trifft
hier eine außerordentlich wichtige Unterscheidung : er trennt Qualität
und Materie der Intention. Diese sehr schwierigen Begriffe kann
man sich zunächst an einem Beispiel klar machen: die Qualität ist
es, wodurch sich etwa ein Urteil von anderen intentionalen Akten
unterscheidet, beispielsweise Wünschen, Hoffnungen o. dgl. Die
Materie der Urteilsintention ist das, was dieses Urteil von jedem
wesentlich anderen Urteil phänomenologisch unterscheidet.
Also der Charakter des Aktes, seine Qualität, ob er behauptend,
fühlend o. dgl. ist, ist zu unterscheiden von seiner Materie, welche
ihn als Vorstellung dieses Vorgestellten, als Urteil dieses Beurteilten
kennzeichnet. Es ist klar, daß die gleiche Materie Akten ganz ver-
schiedener Qualität zukommen kann. Die intentionale Gegenständ-
lichkeit ist in diesen Fällen identisch; somit ist auch dasjenige an
ihnen identisch, was den Akten diese gegenständliche Beziehung ver-
leiht: die Materie.
Alle Unterschiede in der gegenständlichen Beziehung sind deskrip-
tive Unterschiede der intentionalen Erlebnisse. Jedoch erschöpft die
gegenständliche Beziehung nicht das ganze Wesen des Aktes; das
Wie dieser Beziehung, die Aktqualität, muß hinzutreten. Jede
Qualität ist mit jeder gegenständlichen Beziehung zu kombinieren.
Husserl sagt^): »Die Qualität bestimmt nur, ob das in bestimmter
Weise bereits vorstellig Gemachte als Erwünschtes, Erfragtes
o. dgl. intentional gegenwärtig sei. Die Materie muß als dasjenige
im Akte gelten, was ihm allererst die Beziehung auf ein Gegenständ-
1) S. 415ff.
Erlebnis und seelische Funktionen usw. 347
liches verleiht, und zwar in so vollkommener Bestimmtheit, daß da-
durch nicht nur das Gegenständliche überhaupt, welches der Akt
meint, sondern auch die Weise, in der er es meint, fest bestimmt ist:
nicht nur daß der Akt seinen Gegenstand auffaßt, sondern auch als
was er ihn auffaßt, welche Merkmale, Beziehungen, kategorialen
Formen er in sich selbst ihm zumißt.« Die Materie also ist der die
Qualität fundierende Sinn der gegenständlichen Auffassung. Gleiche
Materien können niemals eine verschiedene gegenständliche Beziehung
geben; wohl aber verschiedene Materien eine gleiche gegenständliche
Beziehung. Die Aktqualität hingegen ist ein abstraktes Moment
des Aktes, welches abgelöst von jeder Materie undenkbar ist. Hus-
serl beschäftigt sich in der Folge sehr genau mit dem logischen Ver-
hältnis dieser beiden Momente und sucht es durch eine Reduktion
aller Akte auf Vorstellungen im Sinne Brentanos zu erklären, wobei
die Vorstellung hinsichtlich ihres intentionalen Wesens von allen
anderen Akten dadurch unterschieden ist, daß ihr intentionales Wesen
bloße Materie oder bloße Qualität ist, daß der Unterschied von Qua-
lität oder Materie für Vorstellungen nicht besteht. Mit der Unter-
scheidung von Akten, welche nicht Vorstellungen sind, treten dann
die qualitativ verschiedenen Momente der bezüglichen Intentionen
phänomenologisch auf. Die Verfolgung dieser schwierigen Frage
würde uns an dieser Stelle zu weit führen ; es genügt uns festzustellen,
daß die genannten beiden Abstraktionsmomente hinreichen, um eine
deskriptive Charakteristik funktionaler Vollzüge hinsichtlich ihrer
Einzelheiten zu erlauben.
Fügen wir zum Schluß noch hinzu, daß wir einfache und zusammen-
gesetzte Akte deskriptiv in uns vorfinden. Zusammengesetzte Akte
sind solche, welche aus Teilakten zusammengesetzt und dennoch
eine Akteinheit sind. Die Einlieit des Gegenstandes und die inten-
tionale Beziehung auf diesen konstituiert sich nicht außerhalb der
Teilakte, sondern in diesen selbst und zugleich in der Weise ihrer
Verbundenheit, welche den einheitlichen zusammengesetzten Akt zu-
stande bringt. Dieser Typus zusammengesetzten Aktes ist bei kom-
plexeren Erlebnissen und höheren geistigen Vollzügen der in der Regel
vorfindbare.
Wir können hier abbrechen, nachdem wir den Weg deskriptiver
und logischer Zergliederung angedeutet haben, welchen die Phäno-
menologie als deskriptive Theorie der Erlebnisse mit Aussicht auf
Erfolg zu beschreiten hat. An mehr als an dieser Andeutung des
Weges, auf dem dann eine unendliche, kaum erst begonnene Arbeit
zu leisten sein wird, liegt uns an dieser Stelle nicht.
Intention und Apperzeption.
Nur zwei kurze Schlußbetrachtungen Avollen wir dem Gesagten
noch hinzufügen. Die erste betrifft die Beziehung dieser deskriptiven i
Theorie intentionaler Funktionen zu der bisher in der Psvchologie
348 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
geltenden — und mit Recht geltenden — Theorie der Apper-
zeption.
Es ist ja von vornherein klar, daß die intentionalen Vollzüge
irgendeine Beziehung zu dem haben müssen, was man in der bis-
herigen Psychologie unter Apperzeption verstanden hat. " Nun ist
freilich die strenge Fassung und Fundierung des Apperzeptionsbegriffs
bei allen Psychologen eine andere. Und demgemäß ist dieser Begriff
überall mit Schwierigkeiten behaftet, welche aus seiner besonderen
jeweiligen theoretischen Holle erwachsen. Will man wirklich ver-
suchen, das allen seinen verschiedenen Fassungen von Kant und
Herbart bis auf Wundt Gemeinsame ungefähr zu bezeichnen, so
wird man sagen müssen: Apperzeption ist der Erklärungsgrund für
die Tatsache, daß wir imstande sind, Gegenstände in den Mittelpunkt
unseres Bewußtseins zu stellen und hier in ihrer Gegenständlichkeit
aus ihren Bestandteilen synthetisch und in identischer, adäquater
Weise zu erfassen. Lassen wir alles andere unerörtert, da es ja nicht
zu unserer Aufgabe gehört, so erledigt sich das Verhältnis des so
umschriebenen Apperzeptionsbegriffs zu dem Begriff der Intention
sehr leicht. Beide entsprechen einander bis zu einem gewissen Grade;
die Apperzeption erklärt theoretisch die Möglichkeit bestimmter
tatsächlicher intentionaler Vollzüge. Um es etwas genauer zu formu-
lieren: Apperzeption ist der theoretische Erklärungsgrund dessen,
was wir phänomenologisch als Intentionsqualität setzender und an-
schaulich sich erfüllender Akte vorfinden. Oder in der Sprache der
Stumpf sehen Arbeit ausgedrückt: Apperzeption ist der Erklärungs-
grund des synthetischen Charakters der »Gebilde«^), welche die auf-
fassende Funktion erzeugt. Zum Erlebnis selber gehört sie so wenig
wie die »Gebilde«.
Hören wir noch Husserl. Er sagt,' »daß die moderne Apper-
zeptionslehre nicht ausreicht«. »Dem phänomenologischen Sach-
verhalt wird sie nicht gerecht, auf seine Analyse und Beschreibung
läßt sie sich gar nicht ein. Die Unterschiede der Auffassung sind aber
vor allem deskriptive Unterschiede; und nur solche allein, nicht
irgend welche verborgenen und hypothetisch angenommenen Vor-
gänge . . . gehen den Erkenntniskritiker etwas an. << Apperzeption ist
»der Überschuß, der im Erlebnis selbst, in seinem deskriptiven
Inhalt gegenüber dem rohen Dasein der Empfindung besteht; es
ist der Aktcharakter <<2). Was in Beziehung auf den Gegenstand
vorstellende oder sonstige Intention heißt, das heißt, in Beziehung
auf das Empfindungsmaterial, dessen Auffassung oder Apperzeption.
Diese ist also eine theoretische Begriffsbildung an Stelle einer-
deskriptiven.
1) a.a.O. S. 31ff.
2) a. a. O. S. 384.
Erlobnib und seelische Funktionen usw. 349
Die Erlebbarkeit von Akten.
Diese Unterscheidung theoretischer und phänomenologischer Be-
griffe, die wir hier nicht prinzipiell machen, sondern exemplarisch,
leitet zu einem nochmaligen Rückblick auf die Frage über: sind die
Akte als solche — welche es sein mögen — ihz'erseits wiederum ein
Erlebnis? Mit der Frage ist nicht gemeint, ob sie Gegenstand eines
Erlebens, etwa eines Bemerkt Werdens, zu werden vermögen; das ist
selbstverständlich. Vielmehr ist mit der Frage gemeint, ob der
Aktcharakter sein Erlcbtwerden wesensnotwendig einschließt. Noch
Meinong leugnete es. Akte seien >> wahrnehmungsflüchtig «^).
Stumpf vertritt ebenfalls die Meinung, daß Funktionen an sich einen
vollen Gegensatz zu allem Erscheinenden bilden, was aber ihre Be
Ziehung zu Erscheinungen nicht ausschließt. Husserl und die Phäno-
menologen dagegen erfassen die Akte und ihre Teile unmittelbar in
der Ausschauung. — Daß darüber Streit bestehen kann, ob etwas
anschaulich zugänglich ist oder erschlossen, darf nicht wundernehmen ;
schon Stumpf weist darauf hin. Denn auch das anschauliche Er-
fahren könnte in seiner Adäquatheit durch irgend etwas beirrt werden.
Folgende Überlegung hilft vielleicht weiter. Akte nennen Avir
die Abläufe, vermittels derer ein Etwas erlebt wird. Dies Etwas
ist nicht objektiv, d. h. unabhängig vom Erlebtwerden, gegeben — ,
sondern nur in den Weisen, in welchen es erlebt wird. Sein objektives
Korrelat gehört nicht zum Erleben hinzu. Dies betont Stumpf
wie Husserl 2). Durch die Weise, in welcher dies Etwas erlebt wird,
bestimmen wir nun die Abläufe, vermittels derer es als ein Etwas
erlebt wird. Mithin sind alle Festsetzungen über die Natui' und die
Komponenten der Aktvollzüge sicherlich unmittelbar ausgehend vom
Gegenstandserlebnis, von einem Tatbestand, der sich iimerlich wahr-
nehmen läßt, und gehören somit zum echten Material der Phänomeno-
logie. Aber freilich, sobald wir generelle Formgruppen und Merk-
male dieser Tatbestände herausheben, abstrahieren wir und bilden
Begriffe, vollziehen also Denkakte. Aber wir gehen damit nicht über
Tatsachenmaterial hinweg, das wir uns jederzeit vergegenwärtigen
können; denn wir stellen kein induktives Erklärungsgesetz derselben
auf, sondern verbleiben im Rahmen des Beschreibens. Deskription
aber ist ihrer Natur nach unanschaulich. Und sie ist ja nicht Selbst-
zweck, sondern Mittel und Hinweis der Vergegenwärtigung.
Der klarste Beweis, daß es sich bei diesen Deskriptionen wirklich
um solche erlebter seelischer Tatbestände handelt, wird erbracht
durch die experimentelle Denkpsychologie. Hier haben die Selbst-
beoachtungen der Versuchsperson bei der intendierten Erfüllung ex-
perimentalcr Aufgaben die Versuchsleiter sozusagen direkt auf die
Akte und Funktionen, die Achsehen »Bewußtheiten« und Marbe-
schen >>Bewußtseinslagen« gestoßen. Die Arbeiten der Kuelpe-
1) Ztschr. f. Psyohol. Bd. 21. S. 239 ff.
2) a. a. O. S. 348, 400ff.
350 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
schule, Achs usw. sind sachlich ja allgemein bekannt; und so wichtig
ihre Einzelresultate sein mögen, auch für die Phänomenologen, so
haben sie prinzipiell über das phänomenologisch auch ohne sie Er-
mittelte nicht wesentlich hinausgeführt. Grundsätzlich bedeutungs-
voll ist nur ein methodischer Gesichtspunkt an ihnen: Sie wurden
unternommen mit Methoden, Avelche ganz exquisit die Methoden
der objektiven Psychologie sind. Und sie führten zu Resultaten,
welche dem reinen phänomenalen Tatbestand näher kommen, als
ihm das Experiment — wenn man von der Sinnespsychologie ab-
sieht — je zuvor gekommen ist. Und während dies geschah, vollzog
sich, wie schon früher betont, in der Stellung des Experimentes zu
den wissenschaftlichen Zielen selber eine fundamentale Änderung.
Vorher war das Experiment ein Mittel gewesen, die Selbstbeobachtung
und ihre Subjektivitäten auszuschalten. Objektive Kriterien, Zeit,
Maß und Zahl traten an ihre Stelle. Jetzt ist es das Mittel, die Selbst-
beobachtung anzuregen; es schafft besondere variierbare Bedin-
gungen, unter denen sie fungiert. Daß der Meister der Experimente
alter Richtung, Wundt, gegen die »Ausfragemethode« protestiert,
ist ebenso begreiflich, wie seine Argumente sachlich vorbeigehen.
Aber daß diese experimentale Richtung im Endziel auf phänomeno-
logische Untersuchungen hinauskommt, beweist ebenso die innere
Notwendigkeit phänomenologischer Forschungstendenzen überhaupt,
wie speziell, worauf es uns hier ankommt — den tatsächlichen Er-
lebnischarakter funktionaler Vollzüge.
2. Zum Problem des Wissens von Fremdpsychischem.
Die einzelnen Ergebnisse der phänomenologischen Forschung
können und sollen an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden.
Soweit sich aus ihnen ein Rückschluß auf die Zukunft dieser Arbeits-
weise ermöglicht, läßt sich annehmen, daß die Phänomenologie ihre
weitaus wichtigste Aufgabe im Gebiete der Gefühlspsychologie er-
füllen wird. Hier lagen auch in ihren bisherigen Untersuchungen
ihre Hauptwerte; ich erinnere an die Arbeiten von Geiger i) und
Schelerä).
Ihre reichste Ausbeute aber wird die Phänomenologie im Gebiete
der Psychiatrie finden. Schon bisher war ein Teil der psychopatho-
logischen Untersuchungen ihrer Tendenz nach phänomenologisch
gerichtet, ohne daß dies freilich den betreffenden Forschern metho-
disch klar geworden wäre. Aber auch tatsächlich ist die Psycho-
pathologie mehr als jede andere psychologische Disziplin auf das
reine Erfassen und Beschreiben des krankhaften Einzel-Erlebens an-
1) Über da>s Bewußtsein von Gefühlen, Festschr. f. Lipps. Beiträge zur
Phänomenologie des ästhetischen Genusses. Jahrbuch von Husserl. Bd. 1.
2) Ressentiment und moraUsches Werturteil. Leipzig 1912. Zur Phänomeno-
logie und Theorie der Sympathiegefühle. Halle 1913.
Zum Problem des Wissens von Fremdpsychischem. 351
gewiesen — wenn man will eingeschränkt. Jaspers hat auf diese
methodische Sonderstellung der Psychopathologie wiederholt hin-
gewiesen^). Denn um aus den bisher üblichen, von theoretischen
Beimischungen und vulgär-psychologischen Begriffen nicht freien
Darstellungen der Psychopathologie eine echte deskriptive Sympto-
matologie zu entwickeln, dazu bedarf es nichts weiter als der phäno-
menologischen Einstellung. Warum das so ist und welchen Nutzen
die Psychiatrie davon hat, das kann an diesem Orte nicht nochmals
ausgeführt werden: wir verweisen auf das in diesem Werke an vielen
Stellen schon früher Gesagte. Jaspers hat diese Fragestellung in
mehreren Arbeiten ausführlich gewürdigt. Er hat auch in einzelnen
Untersuchungen und in seinem Werk mit Bewußtsein Phänomeno-
logie der psychotischen Symptome getrieben; und seine Unter-
suchungen sind trotz mancher Irrtümer im einzelnen auf diesem Ge-
biete ein vielversprechender Anfang.
An diesem Orte, wo es sich nicht um den tatsächlichen Einzel-
gewinn der Forschungen, sondern um ihre Prinzipien und Methoden
handelt, ist es wichtiger, zu dem letzten grundsätzlichen Problem
der Phänomenologie, zu ihrer Methode, Stellung zu nehmen.
Soweit es sich um das eigene Seelenleben handelt, ist die Methode
der Phänomenologie ganz klarerweise eine solche der systematischen
Selbstbeobachtung und der abstraktiven Zergliederung. Über diese
Selbstbeobachtung sprechen wir später noch. Sobald es sich aber
um das Seelenleben überhaupt handelt, treten ge^\-isse Sch^vierig-
keiten auf, welche den objektiven psychologischen Methoden fern-
liegen. Das Erleben eines andern ist mir nur in seinem objektiven
Ausdruck gegeben, sei er sprachlich oder gestatorisch. Wie ver-
mag ich nun von diesem Ausdruck zum Fremderleben selber zu ge-
langen, so, daß dieses nicht als gedachter, sondern als wirklicher
Tatbestand mit allen seinen Qualitäten mir zugänglich ist ? Denn
nur dann vermag ich Phänomenologie des fremden Seelenlebens
zu treiben.
Antwort auf diese Frage suchen zu geben:
Erstens die alte Analogieschlußtheorie,
zweitens die Einfühlungstheorien,
drittens die Theorien des >>Verstehens<< als primärer seelischer
Fähigkeit,
viertens — unter Zugrundelegung besonderer weltanschaulicher
Fundamentalüberzeugungen — die Theorien des apriorischen
Intuitivismus in ihren verschiedenen phänomenologischen
Zuspitzungen von Bergson bis Husserl.
Die Analogieschlußtheorie — die Lehre, daß ich die wahr-
genommenen Bewegungen anderer nach der Art meiner eigenen
Bewegungen als Handlungen deute und daraus per analogiam zu
1) Ztschr. f. d. gcs. Neuroi. u. Psych. Bd. XIV u. pass. Allgemeine Psycho-
pathologie. Berlin 1913.
352 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiverf Theorie des Psychischen.
meinen eigenen entsprechenden Handlungsmotiven auf Seelen-
vorgänge beim anderen zurückschließe — diese Lehre hat lange ge-
herrscht. Sie läßt sich sinnentsprechend auch auf die Ausdrucks-
psychologie übertragen. Ich brauche nur anzunehmen, bestimmte
mimische Bewegungen seien mimisch, d. h. eben der Ausdruck von
seelischen Vorgängen, dann ist mir die Art dieser seelischen Vor-
gänge nach der Analogie der Zuordnung gegeben, welche zwischen
meinen eigenen gleichartigen Ausdrucksbewegungen und ihrem
seelischen Korrelat besteht. In dieser Weise ist die Lehre vom Wissen
um fremdes Psychisches, soweit es mir nicht sprachlich mitgeteilt
wird, bei Wundt^), bei den alten Herbartianern^), zuerst wohl von
allen bei Biunde^), und ferner bei den Biologen, insbesondere Dar-
win^) gefaßt. Clifford und Romanes^) haben sogar versucht,
die Gewißheit derartiger Analogieschlüsse in der Tierpsychologie
besonders zu präzisieren.
Diese Lehre wird aber gerade von seiten der Phänomenologen
heftig angegriffen. Lipps^) sagt dagegen: die reflektionell gedeute-
ten Bewegungen sind gar nicht meinen Ausdrucksbewegungen gleich-
artig; sie sind mir in ganz anderer Weise gegeben, als etwas Fremdes;
ich kann daher nicht ohne weiteres wissen, daß diese psychischen
Phänomene ein seelisches Erleben ausdrücken. Prandtl') weist
darauf hin, daß die eigenen Ausdrucksbewegungen kinästhetisch-
motorisch, die Fremdbewegungen optisch gegeben sind, und daß
mithin gar kein Analogon vorhanden ist, welches dazu nötigte, diese
Fremdbewegungen als Ausdruck von Psychischem, von Erleben,
von einem Erleben von meinesgleichen, auszudeuten. Scheler*)
fügt hinzu: bei dem Analogieschluß wird die Existenz fremder Iche
schon vorausgesetzt; ohne sie ist er unmöglich; mithin kann er uns
die Existenz des fremden Ichs nicht erst erschließen. Überdies ist
er eine Quaternio terminorum: denn aus gleichen Ausdrucksbewe-
gungen kann immer nur auf ein gleiches, nicht auf ein fremdes Seelen-
leben geschlossen werden; ungleichartige Ausdrucksbewegungen aber
ermöglichen keinen Analogieschluß. Mithin könnte uns der Analogie-
schluß z. B. niemals auf die Beseeltheit von Tieren schließen lassen,
deren Ausdrucksbewegungen den unseren nicht entsprechen.
Die Einfühlungstheorien hier auch nur in Kürze abzuhandeln,
liegt jenseits der Absichten dieses Berichtes. Man weiß, daß die
1) Physiol. Psychol. III pass., bes. S. 294 ff. (der 5. Aufl.).
2) Herbart, Handbuch d. empir. Psychol. S. 30ff. u. pass.
3) Biunde, Empirische Psychologie. S. 166 ff.
*) Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen. Man vergleiche hierzu
die auf unser besonderes Problem abzielende Kritik Erdmanns, Über Darwins
Erklärung pathognomischer Erscheinungen, Sitz.-Ber. d. naturforschenden Gesell-
schaft zu Halle. 1873, bes. S. 8 u. 9.
^) Romanes, Die geistige Entwicklung im Tierreich. 1885.
6) Psycholog. Studien. I. S. 695 ff.
') Die Einfühlung. Leipzig 1910. S. 12ff.
8) Sympathiegefühle usw. S. llSff.
Zum Problem des Wissens von Fremdpsychischem. 353
Frage nach der Struktur derselben seit Lotze trotz der Forschungen
von Sterni), Volkelt2), Lipps^), PrandtH) und vielen anderen
Forschern nocli nicht restlos geklärt ist. Einen guten Überblick
über den Stand dieser Frage vermittelt das Referat Geigers^). Im
allgemeinen geht die Tendenz dieser Forschungen dahin, den Ein-
fühlungsprozeß in einen assoziativen Mechanismus aufzulösen. So
versucht Stern aus der Einfühlung ein besonderes Reproduktions-
vermögen zu machen, indem er sie auf eine Resonanz von Ähnlich-
keitsassoziationen zurückbezieht. Volkelt versucht den Anteil der
niederen Empfindungen an der Vermittelung der Einfühlungs-
erlebnisse abzugrenzen. Neben den verschiedenen Eindrücken,
welche der Gegenstand an sich hervorruft, gibt es besondere Organ-
und Leibesempfindungen, welche die assoziativen Hilfen bei seiner
Auffassung als Ausdruck von Etwas sind. An sie knüpft sich die
symbolische Einfühlung durch Assoziation.
Auch Prandtl steht auf dem Boden der Anschauung, Einfühlung
lasse sich »auf bekannte Gesetze der Assoziation und Reproduktion
zurückführen«, sie sei »nichts als ein Spezialfall derselben«. Er
wendet sich gegen die Lehre von Lipps, als handele es sich hier um
einen nicht weiter auflöslichen instinktiven Nachahmungsmechanis-
mus. Ein solcher könnte niemals zu einer Einfühlung führen in dem
Sinne, daß ich erlebe: der andere ist so und so beschaffen, etwa
zornig o. dgl.; immer könnte er jene Beschaffenheit nur als Vorgang
in mir erwecken: also Zorn in mir hervorrufen. Vielmehr, wenn
man sich die Einzelheiten dieses Nachahmungsmechanismus recht
verdeutlicht, so gelangt man notwendigerweise (nach Prandtl)
dazu, seine rein assoziative Natur zu bemerken, welche mit einem
unauflöslichen Instinkt nichts gemeinsam hat. Wenn ich etwas
nachzuahmen bereit bin, so genügt nicht die imitatorische Ein-
stellung 8) allein:; ich muß auch wissen, was und wie ich es nachahmen
will. Beides setzt voraus,] daß bestimmte Assoziationen zwischen
dem Gegenstande meiner Nachahmung und meiner Nachahmungs-
bereitschaft bestehen. Wenn ich z. B. mich in eine zornige Miene
einfühle und zwar durch innerlich nachahmende Einstellung, so muß
ich schon wissen, jene Miene sei die Miene des Zornes; hier müssen
schon Assoziationen gestiftet sein, für die kein ursprünglicher In-
stinkt einen vollwertigen Ersatz bietet. Ist es aber das bloße optische
Bewegungsbild, in das ich mich einfühle, so kann die Annahme,
jene Einfühlung beruhe auf ursprünglichen Instinkten, niemals er-
klären, warum ich mich denn nicht in jede beliebige Bewegung ein-
1) Einfühlung und Assoziation in der neueren Ästhetik. Hamburg-Leipzig
2) Ztschr. f. Psychol. 32. 1903. H. I.
3) Psychol. Stud. Bd. I pass.
*) a. a. O.
5) Referat auf d. III. Kongreß f. experini. Psychologie.
6) Groos, Der ästhetische Genuß. Gießen 1902.
Kronfeld, Psycliiatrische ErkcantuLj. o^
354 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
fühle, sondern nur in bestimmte, eben die mimischen Bewegungen
belebter Wesen. Auch hier muß ein Wissen um die Menschennatur
des Nachzuahmenden schon vorausgesetzt werden. Das gleiche gilt
vom Wie meines Nachahmens. Woher das Wissen um die hierbei
benützten Muskeln? Dazu muß die Assoziation zwischen dem op-
tischen Eindruck der fremden Bewegung und dem kinästhetischen
Gegebensein der entsprechenden eigenen Bewegung schon gestiftet
sein. Und mehr noch: die Gleichheit beider Bewegungen und ihre
Bedeutung als Geberde und das Was ihres Bedeutens muß in irgend-
einem inneren Zusammenhange in mir bereits vorhanden und repro-
duktiv erweckbar sein.
Aus all diesen Erwägungen folgert Prandtl die assoziative
Struktur des Einfühlungsprozesses. Das Wissen um die Ausdrucks-
natur gewisser Fremdbewegungen und ihre Zusammengehörigkeit
mit bestimmten Bedeutungen werde durch frühe Wahrnehmungen
des Kindes erworben, durch die Erkenntnis der Gleichheit der räum-
lichen Eigenschaften, welche optisch und welche taktil-kinästhetisch
gegeben werden. Daß hierbei das isolierte Raumbild aus kinästhe-
tischen Empfindungen eine sehr zweifelhafte Hypothese ist, wird
nicht beachtet. Es wird, lediglich auf Grund dieser Voraussetzungen,
ein Wiedererkennen des eigenen Gesichtes im fremden durch Ähnlich-
keitsassoziation für möglich gehalten.
Eine Kritik an dieser ganzen Richtung, welche den Einfühlungs-
prozeß für assoziativ restlos auflösbar hält, wird hier im einzelnen
nicht beabsichtigt. Für unseren grundsätzlichen Zweck genügt es
festzustellen, daß zwischen der Analogieschlußtheorie und dieser
assoziativen Einfühlungstheorie ein durchgehender Parallelismus
besteht; nur wird, was die Analogieschlußtheorie durch eine Reihe
bewußter oder unbewußter Schlüsse verband, hier als durch vor-
gebildete Ähnlichkeitsassoziationen verknüpft angesehen. Ein
Prüfstein für die Brauchbarkeit der assoziativen Einfühlungslehre
und aller ihrer Unklarheiten ist der Streit, welcher noch jetzt über
den Erlebnischarakter der eingefühlten psychischen Vorgänge be-
steht. Die Frage ist, ob die eingefühlten Gefühle aktuelle oder vor-
gestellte Gefühle sind, welch letzteres Witasek^) mit guten Gründen
behauptet hat. Die Polemik Prandtls^) hiergegen ist weder glück-
lich noch treffend.
Aber dies alles sind einzelne Fragen, welche, mögen sie wichtig
sein oder nicht, die prinzipielle Frage nach der Tragweite der
durch Einfühlung gewonnenen Erkenntnisse nicht berühren.
Das Problem, von dessen Beantwortung die methodische Sicherung
der ganzen Phänomenologie abhängt, ist lediglich dieses Eine: wie
erfahren wir durch Einfühlung, daß das eingefühlte Erleben, so und
nicht anders, das Erleben eines fremden Ich ist?
1) Ztschr. f. Psychol. Bd. 25. 1909. S. 1—50.
2) a. a. O. S. 40ff., 48 ff.
Zum Problem des Wissens von Fremd psychischem. 355
Bei Fechner findet sieh an einer Stelle i) die folgende tiefsinnige
Betrachtung: »Von vornherein ist zu gestehen, die ganze Seelen-
frage ist und bleibt eine Glaubensfrage; und wie wir es anfancren und
wie wir enden mögen, für nichts werden AA-ir exakte Beweise zu finden
und zu liefern vermögen. Der exakte Beweis ruht auf Erfahrung
und Mathematik; aber nur von der eigenen Seele ist direkte Er-
fahrung möglich, und der Mathematik fehlt jeder Ansatz, eine andere
zu beweisen.
Es ist in dieser Hinsicht nicht anders mit der Seele meines Bruders,
meines Vaters, meiner Mutter, als mit Gott, mit jenseitigen, mit
irgendwelchen Seelen. Man meint, das Dasein von jenen Seelen sei
selbstverständlich; es ist es auch, und ist doch ganz ebensowenio-
exakt erweislich, als von diesen ... ^
Mein Bruder ist mir sehr ähnlich, und äußert sich ähnlich; ich
glaube deshalb auf das festeste, daß er beseelt ist. Aber wo fängt
die zum Seelendasein erforderliche Ähnlichkeit mit mir
an, und wo hört sie auf? . . .
Ebensowenig als ein Beweis für ist ein solcher gegen das Dasein
irgendeiner Seele zu führen. Kann nicht ein Sandkörnchen, ein
Pünktchen über dem i, ja gar ein einfaches Atom, oder gar ein ein-
faches Wesen hinter dem Atom beseelt sein? Es steht jedem frei,
seinen Einfall in dieser Hinsicht zu haben, die exakte Wissenschaft
kann eben deshalb nichts Bindendes gegen die Seele in dem Pünkt-
chen haben, weil sie für das Dasein eines Gottes in der Welt und
einer Seele in meinem Bruder auch kein bindendes Für hat.<<
Unsere Frage ist im Verhältnis zu dieser gleichsam weltanschau-
lichen Fassung nur eine unwesentliche methodische Unterfrage, aber
sie entspringt dem gleichen grundsätzlichen Geist. Die A^mahme
der Einfühlungslehren ist doch: ich erlebe in den Ausdrucksbewe-
^ungen eines anderen einfülilend sein Erleben unmittelbar nach.
Nun soll einmal die ganze Dynamik dieses einfiUilenden Nacherlebens
als dmchaus geklärt gelten. Dann fehlt mir immer noch eines: der
Rechtsgrund für meine Überzeugung, daß ich mit diesem
ganzen Verhalten mich nicht einer Illusion hingebe; daß
da Avirklich ein anderes Ich ist, welches so erlebt, wie ich in es ein-
fühle; daß es nicht ist wie bei der ästhetischen Einfühlung in totes
Material, welches meine Selkstobjektivation erst illusionär belebt
und zum Ausdruck eines inneren Bedeutens erhebt.
Prandtl hat noch den Versuch gemacht, hier etwas erklären zu
wollen. Er sagt: Zunächst freilich ist jedes Erlebnis mein Erlebnis-
auch im eingefühlten Erleben bin ich der Erlebende. Während aber
die große Masse meines Erlebens in engster Beziehung zueinander
und zu dem gleichen Ich steht, ist das beim eingefühlten Erleben
nicht der Fall; das fällt völlig aus der Erlebensreihe heraus. Gewiß
ist das Subjekt auch dieses Erlebens Ich — aber ein Ich. das an-
1) Über die Seelenfrage. 1861. S. 17/18.
23*
356 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
scheinend mit dem Ich der großen Masse meines Erlebens nicht iden-
tisch ist; ein neues Ich neben dem eigentlichen. Wenn aber fest-
steht, daß das Subjekt jener größeren Masse von Akten wirklich Ich
ist, so kann nicht gleichzeitig auch das Subjekt jenes isolierten Er-
lebnisgrüppchens Ich sein; es ist, wiewohl ähnlich dem Ich, doch
nicht wirklich Ich; es ist — Du.
So Prandtl. Aber Lipps^), der sich mit diesem Problem sehr
gequält hat und es immer wieder angriff, kam 1907 in einer beson-
deren Arbeit darüber doch zu einem völligen Resignieren.
Zweifellos, führt Lipps aus, weiß ich unmittelbar nur von mir.
Rede ich aber von »meinem« Ich, so setze ich damit fremde Iche vor-
aus. Dasjenige Ich, von dem ich unmittelbar weiß, ist nicht mein
oder dieses Ich, sondern schlechthin Ich. Mein Ich wird es erst
durch das Bewußtsein um die anderen Iche.
Die Analogieschlußtheorie begeht nun den gleichen Fehler wie
die Lehre, die etwa aus der ursächlichen Bedingtheit der Empfin-
dungen auf eine dingliche Realität der Außenwelt schließt. Zur Er-
möglichung eines solchen Schlusses auf bestimmte dingliche Ur-
sachen der Empfindungen muß tatsächlich die Realität der Außenwelt
generell bereits vorausgesetzt sein. Und diese Voraussetzung ist
ihrerseits nicht weiter zurückführbar; sie ist eine »instinktive Tat-
sache«: »das Bewußtsein der objektiven Wirklichkeit ist einfach
da«; »das Empfundene ist für mein Bewußtsein, einfach auf Grund
davon, daß ich es empfinde, zugleich etwas vom Empfundensein
Unabhängiges oder unabhängig davon Existierendes«.
Genau ebenso ist es mit dem Wissen um das fremde Ich. Auch
hierbei ist das generelle Bewußtsein der Existenz des Fremdichs die
Voraussetzung der Möglichkeit jedes bestimmten Wissens davon.
Und dies generelle Bewußtsein ist ein »Novum, das man eben stehen
lassen und anerkennen muß«.
Wäre das nicht so —wäre das Fremdich nicht schon Voraussetzung
überhaupt, sondern durch irgendeinen Erfahrungsprozeß erst ge-
winnbar, — so würde man auf folgende psychologische Unzuträglich-
keit stoßen: An die Wahrnehmung fremder Lebensäußerung schließt
sich zunächst die Reproduktion eigenen Erlebens an, welches mit
einer analogen Äußerung verbunden war; also Erinnerung an eigenes
Erleben und dessen Ausdruck. Ferner kann nach dem Gesetz der
Erwartung ähnlicher Fälle vielleicht die Erwartung in mir entstehen,
jenes Erleben würde wieder eintreten, da sein Ausdruck wieder ein-
trat. Diese Erwartung würde vergeblich sein; und aus der Ent-
täuschung dieser Erwartung würde nun für mein inneres Erfahren
nur dies Eine folgen: derartige Bewegungen kommen also auch vor,
ohne Ausdruck zu sein, ohne daß ich ihre Bedeutung erlebe und das
Erleben kundgebe. Mehr aber könnte nicht daraus gefolgert werden;
insbesondere nichts über ein fremdes Ich. Erst wenn ich mein Ich
1) Vgl. besonders Psycholog. Studien. I. S. 694 ff. 1907.
Zum Problem des Wissens von Fremdpsycliischem. 357
als ein Ich, unterschieden von anderen Ichen, schon weiß, erst
dann würde mehr aus jenem inneren Erfahren resultieren, erst dann
nämlich würde ich wissen, was dieses fremde Ich hier im einzelnen er-
gebt hat.
Aber woher habe ich dieses vorausgesetzte Wissen um die Gattung
Ich, in der mein Ich und das Ich der anderen zusammen bestehen?
»Ich muß hier auf einen Instinkt rekurrieren«, sagt Lipps.
Diesem Instinktwissen entspricht keine Begründbarkeit und keine
Einsichtigkeit. Es ist als Gewißheit »einfach da<<. Solcher Art von
instinktivem Glauben unterliegt die objektive Wirklichkeit des sinn-
lich Wahrgenommenen, das Erinnerte, das Fremdich. Vertrauen in
die Untrüglichkeit dieser Fundamente ist die Voraussetzung jeder
Psychologie, überhaupt jeder Wirklichkeitserkenntnis.
In dieser Formulierung liegt der Verzicht auf Erklärung und auf
psychologische Analyse, der den Lippsschen Versuch kennzeichnet.
Es ist hierneben belanglos, w'ie Lipps — wenn das Wissen vom
fremden Ich als gültiges Fundament vorausgesetzt wird — nun-
mehr den Mechanismus der Einfühlung in Anwendung bringt, um
das Einzelerleben dieses Fremdichs jeweils zu bestimmen: auf die
prinzipielle Frage jedenfalls gibt Lipps nur eine dogmatische Antwort.
Wo ein Dogma besteht, da bedeutet das eine wissenschaftliehe
Vorläufigkeit, ein Problem für künftige Forschung.
Wird diese Forschung eine psychologische sein? Scheler^) hat
versucht, das Problem in Angriff zu nehmen; aber nicht mit Hilfe
psychologischer Untersuchungen, sondern einer metaphysischen
Hypostasierung.
Auch Scheler erkennt, daß der Einfühlung ein Zwiefaches
mangele: erstens ein Kriterium für richtig und falsch des Einge-
fühlten; zweitens der Rechtsgrund für die Annahme, es sei ein fremdes
Ich, in das Einfühlung sich versetzt und das sie auf diese Weise erkennt .
Die Deutung der Bewegungen als Ausdrucksbewegungen setzt,
das Avissen wir schon, das Fremdich als existierend bereits voraus.
Auch die Belebtheit des Einfühlungsobjektes ist keine Ursache
der Erkenntnis seines Ichtums. Von Belebtheit sprechen, heißt
sich bereits eingefühlt haben! Sie setzt das Fremdich ebenfalls vor-
aus. Wie ist das möglich?
Das Ich gibt sich überhaupt nicht erst durch seine Ausdrucks-
tätigkeit, seine körperliche Bindung, sein »Leibbewußt sein«, seine
besonderen Erlebnisse als individuell besonderes Ich, sondern ist es
unabhängig von all diesen Eigenschaften. Gleiches an diesen Eigen-
schaften kann zu verschiedenen Ichen gehören, ohne daß es an Merk-
malen dieser Eigenschaften sichtbar ist. Andererseits freilich werden
die Erlebnisse nicht konkret, wenn in ihnen nicht das erlebende leb
miterfaßt wird.
Scheler hält es nun für falsch, wenn behauptet wird, zunächst
1) Sympathiegefühlc usw. S. 118—148.
358 Grundlinien der Phcänomenologie u. deskriptiven Tiieorie des Psychischen»
sei mir nur das eigene Ich gegeben, vom fremden Ich hingegen nur
der Körper. Eine solche Behauptung gilt nicht phänomenologisch,
sondern ist ein Satz von theoretischem Anspruch, fundiert durch
eine anderswoher gegebene Grundüberzeugung von der Realität
meines Ich- Phänomenal unterscheiden sich meine und deine Er-
lebnisse nicht prinzipiell voneinander; zuweilen ist das Bewußtsein
ihres Gegebenseins als meine oder als deine im Ez^lebnis mit ent-
halten; doch braucht das nicht der Fall zu sein. So kann mir einer-
seits der Gedanke eines anderen als mein eigener gegeben sein — bei
Unbewußten Reminiszenzen, bei allem Traditionellen. Andererseits
kann ein eigener psychischer Inhalt mir als der eines anderen be-
wußt werden, z. B. beim Herauslesen eigener Meinungen aus fremden.
Endlich kann ein Erlebnis nach Meinung Schelers auch einfach da
sein ohne jede Ichbeziehung. Wir werden dieser Behauptung
Schelers phänomenologisch nach dem früher Gesagten nicht ohne
weiteres zustimmen können.
Wie dem auch sei, die Frage liegt jedenfalls nahe, ob die Ich-
zugehörigkeit der Erlebnisse wirklich etwas Ursprüngliches an ihnen
ist, oder nicht vielmehr eine bloße empirische Zufälligkeit, die unsere
Erkenntnis einengt, ein zum zufälligen So und Hier des einzelnen
Erlebnisablaufes Gehörendes, weil dieser Ablauf an einen Leib ge-
bunden ist. Nur daß ein Ichindividuum mitgegeben ist in jedem
Erlebnis, dies trifft phänomenal zu; welches dies sei, das bestimmt
sich nicht primär. Scheler geht dieser Konsequenz nach: Es gibt
phänomenologisch ursprünglich gar kein psychisches Ich und Du.
Es gibt einen indifferenten Strom kontinuierlichen seelischen Total-
geschehens. Er umfaßt das gesamte existierende Reich alles Seeli-
schen aller Seelen. Nun ist aber einzelnes seelische Geschehen räum-
lich sozusagen gebunden, an Bewegungsintentionen, an Ausdrucks-
tendenzen, an einen individuellen Leib. Soweit Seelisches daher
Erlebnis wird, soweit Ich und Du auftritt, soweit ist dies eine Folge
der Bindung des Seelischen an Leibeszustände. Ich und Du sind
daher sekundäre Abdifferenzierungen des seelischen Stromes gemäß
seiner Leibesgebundenheit; und das Icherlebnis und das Fremd-
icherlebnis nichts als eine Folge innerer Leibeserfahrungen. Hier-
nach gibt es also zunächst nur das unmittelbare Erfassen des Seeli-
schen überhaupt, nicht als meines oder fremdes, sondern in seinem
reinen phänomenalen Gehalt; und seine Zuteilung zum Ich oder
Niphtich ist eine koordinierte Folge.
Die Bindungen der psychischen Abläufe an Leibzustände sind
aber nicht für den Gehalt derselben bestimmend, sondern nur für
ihr Wahrgenommenwerdenkönnen.
Schelers mystische Hypothese einer transpersonalen psychischen
Totalität, die als inneres Naturganzes dem äußeren gegenübersteht,
unterliegt nicht der psychologischen Kritik. Aber die Behauptung,
Ich und Du seien Abdifferenzierungen aus inneren Leibeserfahrungen,
schließt eine Diallele ein. Wer ist denn das Subjekt dieser
Zum Problem des Wissens von Fremdpsychischem. 359
Leibeserfahrungen? Denn ein solches muß doch vorausgesetzt
werden. In dieser Voraussetzung ist aber die Trennung von Ich und
Du schon implizite erhalten.
Ähnlich liegen die Verhältnisse auch, wenn Scheler auf dem
Boden dieser Ansicht behauptet, innere Wahrnehmung sei nicht
Selbstwarhnehmung, sie sei nicht durch ein Objekt definiert. Das
eigene Selbst als Objekt sei ja bereits der äußeren Wahrnehmung
zugänglich. Die innere Wahrnehmung sei nur eine >> Aktrichtung«,
zu der zugehörige Akte wir uns selbst und anderen gegenüber voll-
ziehen können. Ob in diesen xA.kten fremde oder Icherlebnisse reali-
siert werden, hänge von äußeren Bedingungen ab, für das Fremd-
ieh z. B. von den Bedingungen der äußeren Wahrnehmung seiner
Worte und Ausdrucksbewegungen. Aber diese Bedingungen be-
stimmten nicht das Verstehen dieser äußeren Reize als Ausdruck
eines Erlebens, sie lösten den Akt des Verstehens und die Auswahl
des bestimmten Inhaltes nur aus. In dieser Behauptung Schelers
steckt derselbe Irrtum wie in seiner Theorie der Ichbildung. Die
>>ilichtung << eines Aktes ist doch definiert durch das Objekt oder
das potentielle Objekt, auf das sie sich bezieht, das ihr Ziel ist. Es
gibt keinen Sinn, zu sagen, die innere Wahrnehmung sei
nicht durch ihr Objekt definiert, und gleichzeitig zu be-
haupten, sie sei eine Aktrichtung.
Schelers Lösungs versuch unseres Problems, den Avir ablehnen
müssen, leitet herüber zu der dritten methodischen Gruppe : den
Vertretern des primären Fremdverstehens als neuer irredu-
zibler und untrüglicher Erkenntnisweise. Ihre Vertreter sind Dil-
they und neuerdings Jaspers^). Besonders der letztere glaubt
mit den Konzeptionen des evidenten Verstehens statischer (soll
heißen auf Zustände bezogener) Art und genetischer Art (die auf
»verständliche Zusammenhänge« geht) etwas fundamental Neues
zu geben. Hierzu ist zu bemerken: diese Konzeptionen sind, wie
die Lipps sehen, dogmatisch, ohne aber neu zu sein wie jene. Wer
behauptet, ein Verfahren sei eine Erkenntnisweise, muI3 ihren Rechts-
grund bezeichnen. Was den Begriff des genetischen Verstehens an-
belangt, so ist er nur als Folge der Konzeption des Begriffs »ver-
ständlicher Zusammenhang« beurteilbar. »Verständlich« oder evi-
dent kann hierbei eine besondere Qualität des Zusammenhanges
oder eine besondere Qualität seiner Erkennbarkeit bedeuten. Bei
Jaspers gehen beide Bedeutungen durcheinander. Sollte er mit
verständlichem Zusammenhang ein Merkmal des Zusammeu-
hängens selber und nicht seiner Erkennbarkeit meinen, so würden
ihn die Einwände treffen, welclie den Rickert sehen Begriff der
individuellen Notwendigkeit zeithcher seehscher Ereignisse treffen-):
daß nämlich Notwendigkeit niemals individuell sein kann, und daß
1) a. a. O.
2) Vgl. S. 194 ff. dieses Buches.
360 Grandlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
ein notwendiger Zusammenhang seine Notwendigkeit erst erhält
durch sein Eingeordnetsein in die Form des allgemeinen Ge-
setzes, welches sich und damit auch das einzelne Phänomen, das
ihm untersteht, über diese Sphäre zufälliger Individualität heraus-
hebt. Ein solches Gesetz freilich wäre nicht mehr phänomenologisch;
und diese Fassung des verständlichen Zusammenhanges gehörte nicht
in die Phänomenologie hinein.
Oder Jaspers meint die besondere Erkenntnisweise seelischer
Zusammenhänge. Dann fehlt erstens jedes Kriterium dafür, welche
seelischen Zusammenhänge »verständlich« erkennbar sind, welche
nicht; und ob diese Erkenntnis richtig ist. Und zweitens ist die
Erkenntnis von Zusammenliängen, von zeitlichen Abfolgen, über-
haupt niemals eine anschaulich evidente; sondern sie wird denkend
erkannt^).
In dieser letzten Konzeption zeigt sich bereits deutlich der Geist
des intuitiven Dogmatismus in der Phänomenologie. Dieser,
hineingetragen durch den transzendentalen Intuitivismus der Philo-
sophie, insbesondere Bergsons und Losskijs^), sowie des neuen
Schellingeanismus, feiert seinen Sieg z. B. in den Arbeiten Schelers.
Es sollen hier nicht alle Intuitivisten gestreift werden, deren Ein-
dringen die Phänomenologie in ihrem bis jetzt entwickelten Wissen-
schaftscharakter gefährdet; nur dem einen Forscher gebührt ein
Wort, der sie mehr als alle anderen bereichert hat und dennoch
hierher gehört: Husserl.
Er ist seiner faktischen Arbeitsleistung nach phänomenologischer,
empirischer Psychologe — methodisch aber vermeint er die aprio-
rische Grundwissenschaft aller möglichen Disziplinen geschaffen
zu haben. Er ist ein Meister der klaren und eindeutigen Abstraktion
— und vermeint seine Gegenstände in reiner unbegrifflicher >>eide-
tischer« Intuition zu erfassen.
Für ihn ist Phänomenologie die Vor- und Grundwissenschaft
aller Wissenschaften; auch der Logik. Als Wissen vom Grunde
sogar der logischen Geltung kann sie nicht empirisch sein; daher die
Behauptung ihrer Apriorität. Als Vorwissenschaft selbst der Logik
kann sie nicht begrifflich sein — denn das würde gültige Logik be-
reits involvieren; daher die Behauptung ihrer Anschaulichkeit.
Apriorität und Anschaulichkeit sind zunächst nur Postulate für eine
solche Grundwissenschaft aller Dinge; die doppelte Frage erhebt
sich : Wie vollzieht sich solche apriorische Intuition tatsächlich, und
was wird durch sie erkannt? Die Antwort wird uns auch über ihre
Stellung zur Psychologie aufklären.
Husserl sagte noch in den logischen Untersuchungen 3) : »Die
reine Phänomenologie stellt ein Gebiet neutraler Forschungen dar.
1) Vgl. S. 142ff. dieses Buches.
2) Die Grundlegung des Intuitivismus. Halle 1908.
3) Logische Untersuchungen. Bd. II. S. 2.
Zum Problem des Wissens von Fremdpsychischem. 361
in welchem verschiedene Wissenschaften ihre Wurzeln haben. Einer-
seits dient sie zur Vorbereitung der Psychologie als empirischer
Wissenschaft. Sie analysiert und beschreibt die Vorstellungs-, Ur-
teils-, Erkenntniserlebnisse, die in der Psychologie ihre genetische
Erklärung, ihre Erforschung nach empirisch-gesetzlichen Zusammen-
hängen finden sollen. Andererseits erschließt sie die Quellen, aus
denen die Grundbegriffe und die idealen Gesetze der reinen Logik
entspringen.«
Bisher hat Analyse und Beschreibung der Vorstellungs- und Er-
kenntniserlebnisse immer als Empirie gegolten. Husserl befindet
sich in der Zwangslage, sie für apriorisch ausgeben zu müssen, weil
er zugleich die logischen Grundlagen vermittels ihrer untersuchen
will und sonst dem Vorwurf des Psychologismus verfiele. Aber
eine solche künstliche Konstruktion schützte ihn nicht davor — wenn
dieser Vorwurf überhaupt berechtigt wäre. Er ist es aber gar nicht.
Warum sollte denn die Untersuchung der »Quellen« der Logik nicht
Geschäft der Psychologie sein dürfen ? Das ficht doch die apriorische
Geltung der Quellen gar nicht an.
Husserl zwar erklärt die psychologische Begründung der Logik
für »absurd«. Es sei eine »Unzuträglichkeit«, »daß Sätze, welche
sich auf die bloße Form beziehen, erschlossen werden sollen aus Sätzen
eines ganz heterogenen Gehaltes«^). Aus diesen Worten Husserls
geht klar hervor, daß er unter der Begründung ein »Erschließen«,
also ein Beweisverfahren versteht. Hierzu sagt Nelson: »Aller-
dings würde ein solcher Beweisversuch, da er die psychologischen
Sätze als Gründe der logischen in Anspruch nehmen müßte, an der
modalischen Ungleichartigkeit der angeblichen Prämissen und Schluß-
sätze scheitern. Damit ist jedoch die Möglichkeit einer psychologi-
schen Begründung der logischen Grundsätze noch keineswegs aus-
geschlossen. Grundsätze können nicht bewiesen werden, das liegt
in ihrem Begriff; also ist ein solcher Beweis auch mit psychologischen
Mitteln nicht zu führen. Wohl aber gibt es eine kritische Deduktion
der logischen Grundsätze, und diese ist, da sie den Grund der zu be-
gründenden Sätze nicht enthält, sehr A\'ohl auf psychologischem Wege
möglich «2).
Gleichviel wie sich diese Deduktion gestalten möge, — eine Frage,
die uns hier nicht berührt — so geht soviel jedenfalls aus Nelsons
Darlegungen hervor, daß die Apriorität für Husserls phänomeno-
logische Anschauung erkenntniskritisch nicht gefordert ist. Und
damit sollte eigentlich Husserls Intuition wieder zu dem werden,
was das Erfassen irgendwelcher Gegebenlieiten seiner Modalität nach
eben ist: eine Weise des Erfahrens. Husserl selbst sagt ja: »Die
Vorstellung als psychisches Erlebnis, gleicligültig ob sie sinnlich
^) Logische Untersuchungen. Bd. 1(1. Aufl.). S. 166 u. p. Vgl. hierzu und
lum Folgenden Nelson, Über das sog. Erkcnntnisproblem. 1908. S. 128ff.
2) Nelson, Erkenntnisproblem. S. 129.
362 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
oder kategorial ist, gehört in die Sphäre des inneren Sinnes.« Und:
»Das Wahrnehmen eines wie immer beschaffenen Aktes oder Akt-
momentes oder Aktkomplexes heißt ein sinnliches Wahrnehmen, «i)
Leider ist Husserl nicht bei dieser Auffassung stehen geblieben.
Vielmehr hat er in seinem letzten großen Werk 2) die Positionen seiner
apriorischen »Wesensschau« noch zu erweitern und zu befestigen
versucht. Die »eidetische Intuition« ist eine besondere Fähigkeit,
hinter dem individuellen und einzelnen Gegebenen sein Wesen, sein
Eidos, zu erfassen. Wer geglaubt hat, dieses Geschäft besorge die
Begriffsbildung, die Abstraktion, der irrte. Begriffe sind psychische
Gebilde; ihren Gehalt mit dem intuitiv erfaßten Wesen zu identi-
fizieren, wäre Psychologismus. Wir können freilich das Wesen einer
Beziehung etwa erfassen in der Einstellung auf ihre begriffliche Formu-
lierung, oder das Wesen eines Gegenstandes in der Einstellung der
erfahrenden Anschauung. Aber diese Einstellungen sind nur der
äußere Anlaß zur Einstellung auf das eidetische Erfassen. Diesem
kommt Evidenz zu, jenen nicht. Und diese Evidenz ist Rechtsgrund
der Geltung des eidetisch Erfaßten und Kriterium seiner Wahrheit.
Man sieht wohl bereits jetzt die in dieser Formulierung liegende
Garantie dafür, daß irgendeine eidetisch gestimmte Seele uns ihre
Gesichte als Wahrheit hinzunehmen gebieten darf, ohne daß wir uns
wehren können; ein Verfahren, wovon z. B. Scheler einen recht aus-
giebigen Gebrauch macht 3).
Man sieht ferner wohl auch, daß Phänomenologie nun nicht mehr
ein psychologisches Gegenstandsgebiet abgrenzt, sondern eine Me-
thode oder eine Einstellung des Erfassens bedeutet, die sich auf alle
möglichen Gebiete anwenden läßt, ohne sich um deren spezielle Be-
arbeitungsmethoden zu bekümmern. So gibt es neben unserer alten
empirischen Psychologie eine eidetische; sie unterscheidet sich von
ihr durch ihre »philosophische« Einstellung, im Gegensatz zu der
»natürlichen« oder »dogmatischen« der Empirie. Diese ist nämlich
deshalb dogmatisch, weil sie die erkenntniskritischen Fragen zum
Zweck ihrer Arbeit als ausgeschaltet betrachtet, weil sie unskeptisch
und realistisch ist. Es ist, wie in Schellings Naturphilosophie, wo
es heißt : »Wenn Ihr behauptet, daß wir eine solche Idee auf die Natur
nur übertragen, so ist nie eine Ahnung von dem, was uns Natur ist
und sein soll, in Eure Seele gekommen. Denn wir wollen nicht, daß
die Natur mit den Gesetzen unseres Geistes zufällig (etwa durch
Vermittelung eines Dritten) zusammentreffe, sondern daß sie selbst
notwendig und ursprünglich die Gesetze unseres Geistes — nicht
1) a.a.O. Bd. IL S. 649 ff. (1. Aufl.).
2) Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philo-
sophie. 1913.
3) Vgl. Messer, Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. XXXII. S. 52ff. und vorher
Bd. XXII. S. 117 ff. Über die erkenntniskritische und psychologische Seite des
Evidenzbegriffes vgl. meine Ausführungen Arch. f. d. ges. Psvchol. Bd. XXIX.
Lit.-Ber. S. 8—20.
Zum i'ioblcm des Wissens von Frcmdpsychischcm. 303
nur ausdrücke, sondern selbst realisiere, und daß sie nur insofern
Natur sei und Natur heiße, als sie dies täte«^).
Welches ist nun das Besondere dieser Einstellung auf das Wesen?
Es ist eine »phänomenologische Reduktion«, wie Husserl sagt;
eine Ausschaltung und Einklammerung des Wirklichkeits- und Gel-
tungscharakters des gegebenen Mannigfaltigen bis auf sein »phäno-
menologisches Residuum« vor dem »reinen Bewußtsein«. Die Er-
forschung dieses reinen Bewußtseinsbestandes in reiiier Intuition —
dies ist die Aufgabe. Die Befreiung des zufälligen Wirklichen von
seiner individuellen Zufälligkeit, von seinen Realitätscharakteren,
von allen Formen meines Beurteilens nennt Husserl seine »trans-
zendentale Reinigung«. Er gibt das Beispiel von dem wahrgenom-
menen Apfelbaum, der zunächst ein Daseiendes in der Raumwirklich-
keit ist, merkmalbestimmt — ebenso wie unsere Wahrnehmung und
unser Wohlgefallen reale psychische Zustände sind. Die transzen-
dentale Reinigung der phänomenologischen Einstellung streicht aus
diesem Gregebenen die gesamte thetische Wirklichkeit heraus; über-
haupt alles Urteilsartige an ihrem Erfassen. Übrig bleibt phänomeno-
logisch »das BaumA\ ahrgenommene « als Sinn der gereinigten Wahr-
nehmung mit seinen wesenhaften Qualitäten und Zusammenhängen
im reinen Bewußtseinserlebnis. So kann ich alle intentionalen Er-
lebnisse »transzendental reinigen«, und wie ich sie dann als reinen
Bewußtseinszustand, als den letzthin erfaßbaren Erlebnisstrom
eines Bewußtseins erhalte, kann ich sie phänomenologisch be-
schreiben.
Es ist der alte Piatonismus und seine Lehre von den Ideen, die
hier — allerdings frei von der fehlerhaften Behauptung Piatons, als
handele es sich hier um Realitäten — w^enigstens als Methode wieder-
kehrt. Daß diese phänomenologische Methode nur ein Abstraktions-
gesichtspunkt in einem rein empirischen Arbeitsverfahren ist, aller-
dings ein neuer und wertvoller Abstraktionsgesichtspunkt — dies
dürfte klar sein. Aber wir wollen uns jedes — trotz aller spitz-
findigen Proteste des Erfinders — methodologisclien Irrtums freuen,
wenn er uns sachlich in so reichem Maße fördert, wie es Husserls
Lehre in ihrer Anwendung getan hat und tun wird.
Wir brechen hier unsere berichtende Darstellung abermals ab.
Sie ergibt uns einen starren Parallelismus der methodischen Mei-
nungen, die unvermittelt nebeneinander stehen und sich gegenseitig
durch treffende Argumente außer Grefecht setzen, ohne daß eine
einzige von ihnen den Funken in sich zu tragen scheint, der allen
Schwierigkeiten zum Trotz weiter zu leuchten vermöchte. Für uns
läßt sich das Problem der Erkenntnis des fremden Bewußtseins nicht
trennen von dem Methodenproblem aller psychologischen Erkenntnis
überhaupt. Mit dem Wissenschaftscharakter der Phänomenologie
steht derjenige der Psychologie überhaupt in Frage. Warum das
*) Ideen zu einer Philosophie der Natur. ITOl
364 GrundUnien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
so ist, sollen die folgenden Erwägungen zeigen; sie sollen den wissen-
schaftlichen Anspruch der Phänomenologie begründen und sichern
und dieser Disziplin zugleich ihre Stellung im und zum wissenschaft-
lichen Ganzen der Psychologie anweisen.
3. Erlebnis und Erkenntnis (Entwicklung des Verhältnisses
der Phänomenologie zur psychologischen Theorie).
Zwei Grundprobleme im Begriff der Phänomenologie.
Der bisherige Gang unserer Feststellungen war folgender: Wir
gingen aus von neueren Bestrebungen, welche versuchten, der be-
sonderen Art der seelischen Bewußtseinsgegebenheiten ohne alle
theoretischen und begrifflichen Präsumtionen gerecht zu werden;
von Berichten über die Versuche, welche gemacht wurden, die be-
sonderen Erscheinungsweisen des Seelischen deskriptiv zu erfassen.
Wir erörterten den Erlebnisbegriff und die Stellung des erlebenden
Ich zu seinem Erleben; sowie die intentionale Struktur alles Er-
lebens. Und wir suchten uns endlich des Weges zu versichern, welcher
uns dieses Erleben zugänglich macht, besonders soweit es sich hierbei
xim ein fremdes Bewußtsein handelt. Wir haben diese Bestrebungen,
die man als psychische Phänomenologie zusammenfaßt, in ihren
Grundzügen dargestellt, ohne an ihnen eine grundsätzliche Kritik
zu üben. Wir haben es dahin gestellt sein lassen, ob und wie weit
diese Bestrebungen neben und jenseits der Psychologie oder als
Vorwissenschaft derselben berechtigt sind. Allein in unserer bis-
herigen Darstellung trafen wir auf ungelöste Fragen, soweit es sich
um die Grundlegung von Art und Geltung des phänomenologischen
Erfahrens handelte; diese ungelösten Fragen betrafen sowohl den
Charakter und die Modalität der Phänomenologie als Wissenschaft
überhaupt, als auch die Natur des besonderen Wissens von fremden
Ichen.
Schon diese Tatsache zwingt uns zu einer kritischen Durchprüfung
der Aufgaben und der methodischen Möglichkeiten der Phänomeno-
logie und zu einer Bezeichnung der Positionen, welche sie in und
gegenüber der gesamten Psychologie einzunehmen hat. Eines ist
ganz sicher: daß die heuristische Aufgabe der Phänomenologie, die
^^'ir entwickelt haben, nämlich reine und theoretisch unbeirrte Be-
schreibung der psychischen Tatbestände zu sein, so wie sie tatsächlich
sind, einer grundlegenden und berechtigten wissenschaftlichen For-
derung entspricht. Schon beim Ausspruch dieser Forderung aber
entstehen zwei Fragen. Von der Beantwortung der ersten hängt
das Schicksal, von der Beantwortung der zweiten hängt der Wert
der Phänomenologie für die wissenschaftliche Psychologie überhaupt
ab. Die erste dieser Fragen ist: Wie ist Wissen und Beschreibung
der seelischen Tatbestände möglich? Die zweite Frage ist: Wie ver-
Erlebnis und Erkenntnis. 365
hält diese Beschreibung sich zur Wissenschaft, zur Erklärung, zur
theoretischen Verarbeitung des in ihr Entlialtenen ? '
Die Entstehung dieser beiden Fragen ergibt sich folgerichtig aus
dem Satze, durch den der Begriff der Phänomenologie sich definiert.
Spricht man von seelischen Tatbeständen ihrem Wesen nach, so
sind die Probleme, was denn ein seelischer Tatbestand ist,
wie er gegeben, wie er erkennbar und beschreibbar wird, unvermeid-
lich. Und man kann nicht sagen, daß die bloße Statuierung des Er-
lebnisbcgriffes, wie wir sie vollzogen haben, dieses Problem über-
flüssig macht. Diese Feststellung ist jedoch kein Einwand gegen den
Erlebnisbegriff selber; und es liegt uns nichts ferner als einen solchen
Einwand zu erheben. Was uns vielmehr am Erlebnisbegriff nicht
restlos geklärt erscheint, ist die Art seines Tatsächlichkeits-
charakters und sein Verhältnis zur psychischen Realität über-
haupt. Mit welchem Recht, so könnte man fragen, beansprucht das
seelische Erleben eine besondere Bearbeitungsweise durch die Wissen-
schaft, die sie von aller sonstigen theoretischen und erklärenden
Deutung scheidet und neben oder vor dieselbe stellt? Es ist der
Begriff der Tatsache im Psychischen, dessen Untersuchung
und methodische und prinzipielle Charakterisierung uns das Recht
jener Sonderstellung als Erlebnisbegriffs erst noch zu erweisen hat.
Ähnlich liegt es mit der Forderung einer Erkenntnis und Be-
schreibung dieser Tatsachen. Das Verhältnis der seelischen Gre-
gebenheit zu ihrer Bcschreibbarkeit setzt besondere Weisen der
Abgrenzung und Begriffsbildung von Seelischem, der Überführung
des anschaulich Evidenten in Unanschauliches voraus; und diese
Voraussetzung ist an das Problem der Erkenntnisweise von seelischen
Tatbeständen, an die Möglichkeit der Abstraktion, an das Verhältnis
der psychologischen Erkenntnis zu den Grundformen der Erkenntnis
überhaupt, soweit sie auf Psychisches Anwendung finden, streng
gebunden. Und unter diesem Gesichtspunkte wird auch das Ver-
hältnis der Deskription zur Theorie zu einem Problem, dessen Lösung
die Voraussetzung der Möglichkeit der geforderten Phänomeno-
logie ist.
Nicht also um die Phänomenologie, so wie sie als wissenschaft-
liche Disziplin sich unter großen Forschern bisher entwickelt hat
und Ergebnisse zeitigt, in Leistungen und Besitzstand irgendwie
zu gefährden, vielmehr um sie zu sichern und dadurch fruchtbar zu
machen, wird hier der Versuch unternommen, ihre methodische
und prinzipielle Grundlegung unter dem höheren Gesichtspunkt der
wissenschaftliehen Psychologie überhaupt durchzuführen und ihr
dann ihre feste Stellung im System der Psychologie anzuweisen.
Geschieht das nicht, so bleibt sie ein uferloses Feld willkürlicher
und vereinzelter Intuitionen, deren systematischer Wert fraglich
bleibt, deren Rechtsgrund fraglich bleibt, und die höchstens von dem
Weltbilde eines subjektivistisclxen Berkeleyismus aus eine gewisse
Berechtigung finden. Kur auf Grund einer solchen Prüfung ist es
366 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischea.
auch möglich, dem methodischen Problem vom Grund unseres Wissens
um das fremde Ich den Weg zu einer Lösung anzubahnen, oder zum
mindesten die Trüglichkeiten dieser Methode, so wie sie sich uns bis-
her ergaben, in dem systematischen Rahmen einer Wissenschaft
unschädlich zu machen.
a) Der Begriff der Tatsache im Psychischen.
Wir beginnen mit der Erörterung des ersten der beiden Grund-
probleme jeder möglichen Phänomenologie: dem Problem der Tat-
sache im Psychischen. Und zwar wollen wir hierüber nichts aus-
sagen, was sich etwa auf Grund vorgefaßter theoretischer oder metho-
discher Meinungen ergäbe; wir halten uns an die immanenten Befunde.
Die Einmaligkeit des Pgychischen.
Der erste dieser immanenten Befunde ist die Einmaligkeit und
Un Wiederholbarkeit alles Seelischen. Wir haben an anderer Stelle
dieses Buches schon ausführlicher davon gesprochen^); und wir
haben gefunden, daß grundsätzlich auch für die physischen Phäno-
mene der gleiche Befund gilt. Auch die letzteren sind im strengen
Sinne unwiederholbar, weil bei der Unendlichkeit aller empirischen
Bedingungen keine »Wiederkehr des gleichen << wirklich zu werden
vermag. Aber für die physischen Phänomene ist dieser Umstand
nicht von der Bedeutung wie für die psychischen. Hinreichende
und notwendige Bedingungen für den Eintritt einer ganzen Reihe
von solchen physischen Phänomenen, und damit ihre kausalen
Wurzeln, lassen sich unschwer experimentell und technisch erneuern.
Im Psychischen liegen die Dinge zwar grundsätzlich gleichartig wie
im Physischen, aber faktisch besteht noch eine besondere Schwierig-
keit; es ist, wie zuletzt noch Bergson^) nachgewiesen hat, die eine
wesentliche Bedingung des Wiedereintritts psychischer Phänomene
niemals erneuerbar: das ist das Ich selber, dem sie angehören. Das
Ich des reproduzierten Vorganges a^ ist bereits ein anderes, als das
Ich des originären Vorganges a gewesen ist. Hierzu kommt, daß die
physischen Phänomene einer beliebigen Zahl von Subjekten gleich-
zeitig gegeben sein können, die psychischen hingegen immer nur
einem einzigen Subjekt gegeben sind.
Schon hieraus folgt, daß jede, selbst die einfachste psychologische
Einzelbeobachtung, und mithin auch die Phänomenologie, . ohne
eine bestimmte theoretische Präsumtion nicht auszukommen ver-
mag: nämlich die Präsumtion einer identischen Kontinuität des
Ich. Das Ich muß als wesensgleiches kontinuierliches Medium alles
psychischen Geschehens schon für die bloße Beobachtung voraus -
1) Vgl. S. 192 ff. dieses Buches.
2) Bergson, Zeit und Freiheit. Kap. IIL
Erlebnis und Erkenntnis. 307
gesetzt \verden. Diese Voraussetzung ist durch Beobachtung und
phänomenologische Analyse niemals erweislich; sie macht ja die
letztere überhaupt erst möglich. Mit dieser theoretischen Voraus-
setzung allein würde vielmehr die Beobachtung, daß das erlebende
Ich jeweils immer ein anderes ist, als es war, paralysiert werden.
Das Anderssein des Ich würde dann einen Erklärungsgrund fordern
und unschwer finden: als Folge der Affektion des Ich durch das
in ihm ablaufende Geschehen, als Folge des Erfülltseins des Ich mit
diesem Geschehen. Wir sind diesen Fragen bereits in der Wissen-
schaftstheorie des Psychischen nachgegangen, und haben sowohl
den apriorischen Charakter des Ich in der Form des reinen Selbst-
bewußtseins, als auch seine rezeptive Modifizierbarkeit dort be-
gründet.
Mithin würde die Möglichkeit einer Wissenschaft vom Ich und dem
in ihm ablaufenden Geschehen hierdurch in keiner Weise berührt.
Das eine aber wäre prinzipielle Folge für alle Psychologie aus dieser
Feststellung: bloße Phänomenologie ist nicht möglich jen-
seits aller Theorie; sie steht vielmehr in einem ganz besonderen
Verhältnis zu ihr; sie bereitet sie zwar material vor, muß aber doch
formal schon irgendwie abhängig von ihr sein, und sei es auch nur
von ihren allgemeinsten wissenschaftstheoretischen Prinzipien. Wir
wollen diesen Gesichtspunkt für die späteren Erörterungen im Auge
behalten.
Die zeitliche Kontinuität des Psychischen.
Die zweite Besonderheit des Seelischen, die seinem Tatsachen-
charakter anhaftet, ist aus dem Wie seines Gegebenseins für
das Ich hinzuleiten. Wenn auch zugegeben werden muß. daß der
Mangel an Ausdehnung nach den scharfsinnigen Erörterungen Bren-
tanos^) als Kriterium des Psychischen wenn nicht verwerflich, so
doch problematisch ist, indem man möglicherweise auch von aus-
dehnungsloscn physischen Phänomenen zu sprechen berechtigt ist,
so ist doch sicher, daß das wesentliche Merkmal des Psychischen sein
kontinuierliches Ablaufen in der Zeit bildet. Alles Psychische ist
ein ständiges und unabgegrenztes zeitliches Werden und Geschehen.
Die physischen Phänomene finden durch ihre Räumlichkeit Grenzen
an- und zueinander; das seelische Geschehen hingegen ist nicht durch
sich selbst begrenzt, sondern nur willkürlich und künstlich
begrenzbar und aus beliebigen Zeitphasen seines Ablaufcns heraus-
schneidbar.
Will man als Grenzen nicht Zeitpunkte, sondern irgendein anderes
dem seelischen Geschehen immanentes Moment benutzen — wie
dies jede wissenschaftliche Psychologie tut und tun muß — so bildet
die Forderung der willkürlichen Begrenzung unter einem solchen
1) a. a. O. S. 111 ff.
368 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psj^obischen«
Momente einen Gesichtspunkt der Abstraktion, des Absehens
von gewissen Zügen, des Heraushebens anderer, kurz der Formung
und Bearbeitung des reinen phänomenalen Bestandes im Hinbhck
auf irgendein vorausgesetztes wissenschaftliches Ziel. Die ersten
Anfänge aller Wissenschaft, Vergleichen und Unterscheiden, das
bloße Bestimmen selber enthält bereits den ersten Schritt zur Ab-
wendung von der Anschaulichkeit zur Begrifflichkeit hin; und soll
diese Begrifflichkeit Vergleichen und Unterscheiden ermöglichen, so
ist die Art der Verallgemeinerung des einzelnen Komplexen bereits
abhängig von den allgemeinsten Gesichtspunkten der Wissenschaft
überhaupt, nämlich den notwendigen Bestandteilen jeder mög-
lichen Theorie, welche unabhängig von den Tatsachen vorhanden
und wirksam sind.
Die bisherigen Betrachtungen haben uns bereits eins gezeigt:
wenn Phänomenologie möglich ist, so ist sie das nicht unabhängig
von aller Psychologie und als Vorwissenschaft derselben, sondern
nur im Rahmen derselben als einem systematischen wissenschaft-
lichen Ganzen und irgendwie eingeordnet unter dessen höchsten
Prinzipien. Noch aber haben diese Betrachtungen nicht gezeigt,
ob Phänomenologie tatsächlich möglich ist und worauf sie sich
gründet. Die Bearbeitung dieser letzteren Frage nun ist abhängig
von einer genauen Bestimmung der Gründe unseres Wissens um
Psychisches. Wir haben bisher zwei einschränkende Bedingungen
für den Tatsächlichkeitscharakter des Psychischen erwähnt. Von
ihnen ist hier die zweite bedeutsam: daß nämlich das Wissen vom
Psychischen, sofern es bestimmt ist, immer ein künstliches Heraus-
greifen von willkürlich begrenztem Einzelnen aus dem psychischen
Strom ist, welches sich unter Abstraktionsformen vollzieht, die ent-
weder ganz willkürlich oder an gewissen allgemeinsten Prinzipien
orientiert sind, welche hier unerörtert bleiben.
Erlebnis als Geschehen und als Bewußtseinsform.
Indem wir nun aber weiter zu den positiven Bestimmungen der
seelischen Tatsachen fortschreiten, finden wir uns vor dem Faktum,
daß ein Teil der seelischen Phänomene Erlebnisse sind, ein an-
derer Teil nicht. Und hier beginnt sich die besondere Stel-
lung der Phänomenologie innerhalb der Psychologie zum
ersten Male als sachlich gefordert zu erweisen. Es bestehen
hier nämlich zwei Möglichkeiten: ist der Erlebnischarakter eine
besondere Eigenschaft an der tatsächlichen Gegebenheit vom Psychi-
schen, so wird eben diese Weise der Gegebenheit es sein, welche den
Gegenstand eines besonderen Forschungsgebiets auszumachen hätte.
Der Erlebnischarakter wäre dann eine Modalität von Seelischem
überhaupt, die den einzelnen seelischen Abläufen bald in bestimmter
Weise zukäme und bald nicht ; und natürlich würden die Bedingungen
und Qualitäten ihres Auftretens das Feld einer besonderen Disziplin
Erlebnis und Erkenntnis. 369
bilden. Man würde zu untersuchen haben, was für eine besondere
Funktion es denn sei, unter die Seelisches gestellt würde, sobald es
zu erlebtem Seelischen würde. Die zweite Möglichkeit wäre die,
daß der Erlebnisbegriff nicht eine bestimmte Gegebenheitsweise von
Seelischem bezeichnet und als Modalität zu ihm hinzuträte, aber von
ihm ablöslich sei, ohne die seelischen Abläufe selber objektiv zu tan-
gieren; sondern es würde mit dem Erlebnisbegriff ein gegenständ-
lich besonderes Gebiet seelischen Geschehens gemeint sein,
welches von anderem seelischen Geschehen seiner wesenhaften Struk-
tur nach unterschieden ist; etwa wie »Urteilen« und »Hassen« Phä-
nomene sind, welche verschiedenen seelischen Geschehensklassen
angehören.
Endlich wäre eine Synthese beider Möglichkeiten naheliegend,
wonach das Erleben als eine besondere seelische Geschehenskiaase
zu einem Sondergebiet psychologischer Forschung werden könnte,
daß dieses Erleben aber selber bloß eine besondere Art und Weise
ist, irgendein psychisches Geschehen dem Ich in einer neuen Bewußt -
Seinsmodalität zugängig zu machen. — Die herrschenden Meinungen,
so ungeklärt sie in diesem Punkte sind, haben" fast alle sich für die
erste dieser Möglichkeiten entschieden. Wenn wir diese Entscheidung
nachprüfen wollen, so müssen wir zusehen, inwiefern denn die Gre-
gebenheit als Erlebnis anders ist als die sonstige Gegebenheit von
Psychischem.
Der Bewußtseinscharakter psychischer Tatsachen. Der
»innere Sinn«.
Wir würden hierbei zunächst auf den Bewußtseinsbegriff
stoßen als denjenigen Charakter an psychischem Geschehen, durch
welchen es überhaupt und im allerallgemeinsten Sinn ein subjek-
tives seelisches Geschehen, also ein Erleben, wird. Wir begnügen
uns mit dieser Umschreibung des Bewußtseinscharakters, ohne uns
in eine Erörterung über seine Merkmale einzulassen. Wir verweisen
auf die früheren eingehenden Erörterungen dieses Buches zu dem
Bewußtseinsproblem ^), ferner auf Besprechungen der Vieldeutigkeit
des Terminus Bewußtsein, welche Brentano^) und Husserl')
gegeben haben, und bemerken, daß jede Stellungnahme, jede Aus-
wahl von einer dieser möglichen Bedeutungen von Bewußtsein erst
zu erfolgen vermag auf dem Boden bestimmter theoretischer Mei-
nungen, welche sich aus reiner Beobachtung nicht ableiten lassen.
Wir glauben nur, nochmals ein Doppeltes hervorheben zu sollen:
erstens, daß wir es für fehlerhaft halten, Psychisches durch seineu
Bewußtseinscharakter zu definieren; wir haben das ja auch bei der
1) Vgl. S. 164 ff. dieses Buches.
2) a. a. 0. S. 131 ff.
3) Log. Unters. 1. Aufl. IL S. 324.
Krön leid, Psychiatrische Erkenntnis. 24
370 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
definitorischen Abgrenzung des Psychischen vermieden. Brentano^)
hat vier prinzipiell mögliche Wege nachgewiesen, um auf die Realität
unbewußter psychischer Vorgänge zurückzuschließen; und er ver-
meint ausführlich gezeigt zu haben, daß keine dieser vier möglichen
Schlußweisen gangbar sei. Wir halten die von ihm eingeschlagenen
Gregenbe weis verfahren für durchaus heuristisch und nicht stringent.
Wie es sich aber mit der Realität von unbewußtem Psychischen —
von der wir überzeugt sind, ohne diese Überzeugung hier nochmals
begründen zu wollen — verhalten mag, soviel ist gewiß : schon
weil über diese Frage ein Streit besteht, kann Bewußtsein kein im
Wesen des Psychischen liegendes analytisches Merkmal sein; schon
deshalb muß es ein synthetisches Merkmal sein, das, von der Natur
des seelischen Geschehens unabhängig, als Weise seines subjektiven
Gegebenseins zu ihm hinzukommt. Daher ist es zur Definition des
Seelischen ungeeignet.
Die zweite Einschränkung die wir von vornherein machen werden,
ist die, daß wir eine Identität des Bewußtseins mit der inneren Wahr-
nehmung leugnen. Wir haben zwar keinen Grund, wie Wundt^)
dies tut, die Bedingungen anzugeben, unter denen Bewußtsein vor-
kommt, denn ein solches Verfahren muß — wie es auch bei Wundt
tatsächlich der Fall ist — über die reine Beobachtung hinaus eine
Reihe konstruktiver theoretischer Präsumtionen machen. Unter
diesem Gesichtspunkt könnte es nun als eine leere Definitionsfrage
erscheinen, ob man die Tatsache des Bewußtseins mit der inneren
Wahrnehmung identifiziert oder sie durch diese erklärt. Dem ist
aber nicht so. Es ist vielmehr eine reine Tatsachenfrage, daß ich
in mir innerhalb der allgemeinsten Weise der Bewußtseinsgegebenheit
noch eine besondere Art der subjektiven Zuwendung zu
meinem inneren Geschehen auffinde, welche der Ausdruck einer
eigenen inneren Tätigkeit oder Tätigkeitseinstellung ist. Wundt
sagt hier mit Recht, es handelt sich bein »inneren Sinn« um etwas vom
Bewußtsein Unterschiedenes, nämlich um eine subjektive Tätigkeit
innerhalb des Bewußtseins^). Er sagt damit nichts anderes, als seit
Locke die Mehrzahl der Psychologen ausgesprochen hat. Selbst
Herbart ^) konnte diesen Tatbestand als solchen nicht leugnen,
wenn er sich auch gegen seine Erklärbarkeit durch ein besonderes
Vermögen des inneren Sinnes wendet. Es handelt sich aber für uns
zunächst gar nicht um die Frage, welcher Art dies innere Sichhin-
wenden zum eigenen psychischen Ablauf ist; und wir wollen Bren-
tano gern darin beipflichten, daß es sich nicht um »Beobachtung«
nach Analogie des äußeren Beobachtens dabei handelt.
Diese Frage ist neben dem Bewußtseinsproblem zweifellos die
1) a. a. 0. S. 137—165.
2) Physiol. Psychol. 5. Aufl. III. S. 320— 325. Ähnlich auch Fortlage,
System d. Psychol. I. S. 57 ff.
3) a. a. O. S. 326.
4) Handb. d. emp. Psych. S. 30. Psych, als Wissenschaft. I. S. 68.
Erlebnis und Erkenntnis. 371
schwierigste der ganzen Psychologie. Eine ganze Reihe von For-
schern hat gegen die Möghchkeit dieser subjektiven, auf das eigene
psychische Greschehen gerichteten Tätigkeit des »Bemerkens« Ein-
wendungen erhoben. Die meisten davon sind nur von komparativer
Allgemeingültigkeit, wenngleich sie prinzipiellen Anspruch erheben.
Allein Brentano, dieser scharfsinnige Meister kritischen Denkens
in der Psychologie, hat einen wirklich prinzipiellen Einwand gemacht.
Schon Kant meinte die Unmöglichkeit dieses inneren Sichhin-
wendens damit darzutun, daß er in einer berühmt gewordenen Stelle^)
darauf hinweist, wie die >>Bcobachtung an sich schon den Zustand des
beobachteten Gegenstandes alteriert und verstellt«. Comte^)
spottete über folgende »offenbare Unmöglichkeit«: »Das denkende
Individuum kann sich nicht zu zwei zerteilen, von welchen das eine
nachdenkt, während das andere es nachdenken sieht. Das Organ,
welches beobachtet und das, welches beobachtet wird, sind in diesem
Falle identisch; wie könnte also die Beobachtung stattfinden? Diese
angebliche psychologische Methode ist also schon von der Wurzel
aus nichtig in ihrem Prinzip«. Und neuerdings schreibt Külpe'):
»Ich kann mein Denken nicht während des Denkens selbst beob-
achten«.
Das Bedenkliche an diesem Einwand ist der Terminus Beobach-
tung; das ist eine bedeutungsvolle Einengung auf diese ihr Objekt
anschaulich bestimmende Form der Einstellung, welche das innere
Sichhinwenden auf die eigenen Abläufe durch diese Bezeichnung
erfährt. Davon weiter unten Näheres. Im übrigen hat sowohl
Stoerring*) als besonders Meyerhof ^) nachgewisen, daß diese
Bedenken nicht unüberwindlich sind, und auch wenn sie bestehen,
die Tatsache jedenfalls nicht aus der Welt zu schaffen ist, daß das
Subjekt einer solchen Einstellung auf seine inneren Vorgänge fähig
ist; wobei es prinzipiell unentscheidbar und daher vollständig gleich-
gültig ist, ob diese inneren Vorgänge hierbei modifiziert werden oder
nicht.
Wesentlicher ist der Einwand Brentanos. Dieser freilich geht
aus von besonderen theoretischen Annahmen. Brentano lehrt*):
>>Jeder psychische Akt ist bewußt; ein Bewußtsein von ihm ist in
ihm selbst gegeben. Jeder auch noch so einfache psychische Akt
hat darum ein doppeltes Objekt, ein primäres und ein sekundäres.
Der einfachste Akt, in welchem wir hören z. B., hat als primäres
Objekt den Ton, als sekundäres Objekt aber sich selbst, das psychi-
sche Phänomen, in welchem dieser Ton gehört wird. Von diesem
zweiten Gregenstande ist er in dreifacher Weise ein Bewußtsein.
1) Motaphya. Anfangsgründe der Naturwisserif-chaft, Einleitung.
2) Cours de philoa. positive. I. S. 30 (der 2. Aufl.).
3) Cötting. gelehrt.. An/.. 1907. S. G03.
*) Vorlpsg. über Psychopathologie. S. 000.
6) Psycholog. Tht^)rio d. Geistesstörungen. S. 24 f.
«) a. a. 0. S. 202 ff.
24«
372 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Er stellt ihn vor, er erkennt und fühlt ihn. Und somit hat jeder,
auch der einfachste psychische Akt eine vierfache Seite, von welcher
er betrachtet werden kann. Er kann betrachtet werden als Vor-
stellung seines primären Objektes, wie z. B. der Akt, in welchem ein
Ton empfunden wird, als Hören; er kann aber auch betrachtet werden
als Vorstellung seiner selbst, als Erkenntnis seiner selbst und als
Gefühl seiner selbst. Und in der Gesamtheit dieser vier Beziehungen
ist er Gegenstand sowohl seiner Selbst Vorstellung, als auch seiner
Selbsterkenntnis, als auch sozusagen seines Selbstgefühles, so daß
ohne weitere Verwickelung und Vervielfältigung nicht bloß die Selbst -
Vorstellung vorgestellt, sondern auch die Selksterkenntnis sowohl
vorgestellt als erkannt, und das Selbstgefühl sowohl vorgestellt, als
erkannt, als gefühlt ist.«
Hier haben wir eine besondere Theorie des Bewußtseins um
seelisches Geschehen vor uns. Sicherlich vermögen wir an jedem
einzelnen bewußten Vorgang rein tatsächlich nicht alle Einzel-
vollzüge dieses vierfachen Aktes wahrzunehmen, von dem Brentano
spricht. Nach ihm freilich müßte diese faktische Bestätigung der
einzelnen Bewußtseinskomponenten wiederum ein Bewußtsein von
ihnen sein und daher die gleiche vierfache Aktstruktur haben. Und
diese könnte man wiederum nur verifizieren, indem man ihrer ein-
zelnen Komponenten sich bewußt wird, was wiederum einen vier-
fachen Akt erfordert; und von diesen gälte das Gleiche. So würde-
durch die Unmöglichkeit der Durchführung eines solchen unend-
lichen Regresses zu erweisen sein, daß nach Brentano ein voll-
kommen deutliches Bewußtsein auch nur eines einzelnen psychischen
Ablaufes unmöglich wäre. Brentano spricht freilich nur von der
Möglichkeit einer eintretenden Verwickelung des seelischen Lebens;
die Art aber, wie er diese kurzerhand abschneidet, ist rein willkür-
lich, ja diktatorisch^). Der Irrtum der Ansicht Brentanos über
das Problem der inneren Wahrnehmung liegt darin, daß er sie in
dieser Konzeption mit dem Bewußtsein identifiziert und vorher das
Psychische durch dieses definiert hat. So entsteht die Forderung
eines unteilbaren vierfachen Aktes bei ihm. Ich habe schon an
anderer Stelle 2) darauf hingewiesen, daß eine derartige Konzeption
nicht nur fiktiv, sondern als Sachverhalt sogar psychologisch un-
möglich ist. Denn um einen psychischen Ablauf zu erfassen, muß
er als Gegenstand dieses Erfassens bereits vorhanden sein. Die Ge-
gebenheit des Gegenstandes ist die Voraussetzung der Möglichkeit
einer auf ihn gerichteten Bewußtseinsbeziehung. Also kann der-
selbe Akt, der das Erfassen des Gegenstandes bewirkt, nicht auch
den Gegenstand des Erfassens konstituieren. Beruht also nach
Brentano das Bewußtsein von psychischem Geschehen auf solchen
erfassenden Akten des Erlebens, so ist der Ablauf des Geschehens
1) Vgl. S. 321 dieses Buches.
2) Arch. f. d. ges. Psychol. XXIX. L.-B. S. 15.
Erlebnis und Erkenntnis. 373
und seine Erfassung jeweils ein wesentlich verschiedener psychischer
Vollzug. Richtig an der Brentanoschen Formulierung und weit
über die bisherige Bestimmung und Formulierung des inneren Sinns
als bloße Beobachtung hinausgehend ist, daß die subjektive Zu-
wendung des Ich auf sein Geschehen in mehreren verschiedenen
Weisen aktartig, als subjektive Tätigkeit erfolgt.
Wir haben schon bei der Erörterung des Funktionsbegriffs be-
merkt, daß jede Zuwendung des Ich zu einem Gegenstand, je nach
der Weise, in welcher sie sich vollzieht, dem Ich diesen Gegenstand
in einer besonderen Weise gibt. Dieses Gregebensein ist ein funktio-
nal jeweils besonders bestimmtes Bewußtsein des Gegenstandes.
Der Charakter dieses besonders bestimmten Bewußtseins ist der
seiner besonderen Intentionalität. Intentionalität ist das Charakte-
ristikum einer gegenständich gerichteten subjektiven Tätigkeit. Im
Falle des inneren Sichhinwendens zum eigenen psychischen Geschehen
ist der Gegenstand des Sichhinwendens das psychische Ablaufen im
weitesten Sinne. Die intentionale Weise des Sichhinwendens kann
eine qualitativ und material von Fall zu Fall verschiedene und gene-
tisch verschieden bedingte sein. Es kann sich um ein bloßes Auf-
merksamkeitsphänomen handeln: um ein Bemerken. Es kann sich
um eine assoziativ erwirkte Einstellung handeln: um ein Reprodu-
zieren. Es kann sich ferner um urteilende und gefühlshafte Ein-
stellungen handeln. Diese Unterscheidungen sind prinzipiell nur in
dem einen Sinn wesentlich, ob ihr Gegenstand, auf den sie sich richten,
zeitlich gegenwärtig oder bereits vergangen ist. Allein auch das ist
nicht so wichtig, wie es den meisten Untersuchern dieser nun mehr
metaphorisch gemeinten inneren Wahrnehmung erschien, z. B.
Lipps^). Denn da wir wissen: Psychisches ist uns niemals als iso-
liertes Einzelnes und Bestimmtes unmittelbar gegeben, sondern
stets in einem Kontinuum, so wird sich nicht leugnen lassen, daß ein
jedes Sichhinwenden auf ein Einzelnes und Bestimmtes am Psychi-
schen etwas von jener Künstlichkeit an sich hat, von der schon oben
gesprochen wurde. Der Gegenstand ist hierbei immer schon ver-
gangen, nämlich aus einem Geschehensstrom isoliert ; oder genauer :
wenn sein Wiederablaufen als Vorgang innerlich eingestellt wird,
so verschmelzen derartige reproduktive Daten in künstlicher Heraus-
hebung mit dem subjektiven Effekt der sich vollziehenden Ein-
stellung. Sind die sich hinwendenden Einstellungen des Subjekts
auf sein inneres Greschehen nun solche, welche dieses seinem Sein
nach rein erfassen und bestimmen, so nennen wir dies eben innere
Wahrnclimung. Es ist nicht ohne weiteres zu entscheiden, wieweit
sich hierin anschauliche, urteilende und reproduktive Strukturen
mischen. Dennoch ist die Frage von einer gewissen Wichtigkeit.
Viele Phänomenologen glauben, daß von der Möglichkeit eines an-
schaulichen Erfassens des seelischen Geschehens die Existenz der gan-
1) a. a. 0. S. 49/öOf.
374 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen,
zen Phänomenologie abhängt. Und in der Tat: wo bliebe der Unter-
schied gegenüber allen beliebigen theoretischen Konstruktionen,
wenn das bloße Erfassen der Tatsachen bereits Beurteilungen mit
sich brächte oder in sich enthielte!
Die Anschaulichkeit psychischer Tatsachen.
Man muß sich jedoch grundsätzlich über folgendes klar sein: der
Begriff der Anschaulichkeit kann in der Psychologie, ebenso wie der
Begriff der Wahrnehmung natürlich nur im übertragenen Sinne
angewendet werden. Fehlt doch im Psychischen die Grundvoraus-
setzung seines eigentlichen Gebrauches: das extensive Nebenein-
ander der Teile im Ganzen. Es ist mit der psychologischen An-
schaulichkeit bloß gemeint, daß das anschauliche Bewußtsein von
Etwas ein unmittelbares ist^). Das heißt, es wird nicht durch einen
besonderen geistigen Prozeß als dessen Endglied erzeugt; sondern
es ist dasjenige, welches uns das Ablaufen derartiger Prozesse über-
haupt im Bewußtsein anzeigt. Es ist der Ausgangspunkt für alle
weiteren Bewußtwerdungen, dasjenige, welches zuerst im Bewußt-
sein ist. Dies gilt z. B. von dem Bewußtseinscharakter aller Quali-
täten, die an Empfindungen, Vorstellungen usw. auftreten. Wendet
sich das Ich zu diesen hin, so erfüllen sie diesen Intentionsvollzug
anschaulich, das heißt unmittelbar. Mit dem bloßen Aufmerksam-
keitsphänomen vollzieht sich ihr Erlebtwerden. Hingegen nennen
wir ein Bewußtsein, welches erst vermittelt auf Grund besonderer
geistiger Prozesse entsteht, reflektiert. Nunmehr ist die Frage nach
dem Anschaulichkeitscharakter der inneren Wahrnehmung unschwer
zu beantworten. Sie wird soviel Anschauliches enthalten, als sich
an Qualitäten in ihren Daten vorfindet, seien diese nun gegenwärtig
oder reproduziert. Aber das unanschauliche Bewußtsein der übrigen
Komponenten der sichhinwendenden Einstellungen gefährdet den
Tatsächlich keitscharakter des Erlebten gar nicht. Denn die ur-
teilenden Einstellungen sind gar nicht solche über das Erlebnis,
sondern solche über den Gegenstand des Erlebens, und gehören daher
zum Erleben dieses Gegenstandes, zu diesem Komplex von Inten-
tionen, notwendigerweise hinzu. Bleibt als einzige Künstlichkeit
die abstraktive Zergliederung und Zerreißung der im Erlebnis gegen-
1) Dieser Begriff des Anschauhchen in der Psychologie war solange gang
und gäbe, bis die Achschen Bewußtheiten entdeckt wurden. Vorher war die
Unmittelbarkeit das konstitutive Merkmal der Anschaulichkeit. Nach der Ach -
sehen Entdeckung läßt sich das nicht ohne weiteres mehr halten. Unsere De-
finition ist eine angesichts dieser Sachlage vorläufige Ausflucht: anschaulich ist
das Gesamtgebiet alles dessen, was in Qualitäten bewußt wird. Wir können hier-
bei nicht begründen, warum dies in einer andern und einheitlichen Weise bewußt
wird als anderes Psychisches. Anschauliches Bewußtsein ist damit zu einem Teil-
gebiet des unmittelbaren Bewußtseins geworden. Der andere Teil sind die Ach-
Bchen Bewußtheiten. Natürlich ist hier immer nur von psychischen Gegenständen
die Rede.
Erlebnis und Erkenntnis. 375
wärtigen Ganzheit; diese ist nicht zu umgehen; über ihren Einfluß
auf die Beobachtungstreue und Trüglichkcit sprechen wir bei Er-
örterung der Beschreibung von seelischen Tatsachen. Was endlich
die gofühlshaftcn Einstellungen des Subjekts bei der inneren Wahr-
nehmung anlangt, so sind sie natürlich vorhanden und mitwirksara
und werden in dieser Wirksamkeit erst durch die Beschreibung und
Objektivierung unter wissenschaftlichen Zwecken ausgeschaltet^).
Wir kommen auch darauf noch zurück.
Noch einmal der Erlebnisbegriff.
Und nun sind wir in der Lage, zu dem Ausgangspunkt dieser
ganzen Fragestellung zurückzukehren: Ist Erleben definierbar
durch eine der hier festgestellten Weisen der Bewußtseinsgegebenheit
vom Seelischen, oder bezeichnet es vielmehr ein Sondergebiet seeli-
schen Geschehens selber? Oder eine Synthese beider?
Zunächst ist das eine rein terminologische Frage. In der Tat
läßt sich nicht einsehen, warum man nicht den Bewußtseinscharakter
überhaupt als Erlebnisweise des Seelischen bezeichnen soll. Wir
haben ja auch von der Phänomenologie die allgemeine Aussage ge-
macht, sie sei eine Beschreibung des seelischen Geschehens gemäß
seiner subjektiven Gegebenheit. Und hierzu würde der Bewußt-
seinscharakter überhaupt als Kriterium der Gegenstände der Phäno-
menologie wohl passen.
Es besteht jedoch folgendes Bedenken hiergegen: Der Bewußt-
seinscharakter von Seelischem überhaupt ist die allgemeinste Art
und Weise, wie uns dieses so gegeben ist, daß wir von ihm wissen.
Würden wir den Gegenstand der Phänomenologie nur hierdurch defi-
nieren, so würde ihr Gebiet mit dem der gesamten Psychologie zu-
sammenfallen. Nur insofern wäre ein Unterschied, als der Psycho-
logie über die Phänomenologie hinaus das Bereich des noch Erschließ-
baren, des reflexionell Bewußten, bliebe. Da nun aber der Bewußt-
seinscharakter bei allem Psychischen etwas Gleichartiges und nur
intensiv Wechselndes ist, welches nicht weiter beschrieben werden
kann, und da auf der anderen Seite die Bedingungen seines Statt-
findens lediglich zu den erschließbaren Gegenständen der Forschung
gehören, die nicht ins Bereich der Phänomenologie fallen, so würde
der Phänomenologie als Gegenstandsbereich lediglich die Beschrei-
bung des Psychischen überhaupt (mit Ausnahme des Unbewußten,
und daher nicht Beschreibbaren) verbleiben; und für die Natur dieses
*) Borg mann, Unters, z. Problem d. Evidenz d. inneren Wahrnehmung,
Halle 1908, sieht, ohne Achtung auf diesen Komplex von Intentionen, das spezi-
fische Wesen der inneren Wahrnehmung lediglich in dem thetischen, anerkennende
Akt, der durch jene Intentionen fundiert wird. Ihm spricht er folgerichtig Evidenz
zu, im Gegensatz zu der an ihn anschließenden prädikativen Deutung des »Wahr-
genommenen«. Wir halten diese ganze Reduktion auf eine ürteilsevideuz für
ebenso irrig wie die ihr zugrunde liegende Evideoztheorie von Urteilen.
376 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Psychischen ist die Tatsache seines subjektiven Gegebenseins etwas
Letztes, psychologisch nicht weiter Untersuchbares und daher Wesen-
loses. Hiernach würde der Phänomenologie in diesem Sinne das
Psychische als Gegenstand verbleiben, welches bewußt ist, ohne
daß dieses Bewußtsein seinerseits von ihr erforschbar wäre. Und
dadurch würde die Ansicht, wonach Phänomenologie eine bestimmte
Ge gab enheits weise des Seelischen zum Problem habe, plötzlich
ersetzt sein durch diejenige, wonach sie ein bestimmtes Gegen st and s-
gebiet zu bearbeiten habe, nämlich das Psychische als Gegenstand
der Beschreibung, wobei aber die Abgrenzung dieses Psychischen
nach einem für diese Beschreibung irrelevanten Merkmal erfolgt;
nämlich darnach, daß es für ein Bewußtsein gegeben ist. Phäno-
menologie wäre deskriptive psychologische Ontologie. Ein Erlebnis-
begriff, der zum Kriterium den Bewußtseinscharakter überhaupt hat,
ist überflüssig. — Bereits hierin zeigt sich, daß jene Synthese der
Gesichtspunkte, durch die das Erlebnisgebiet begrenzt werden soll,
die aussichtsreichste Lösung darbietet.
Zunächst würde sich hier die Möglichkeit einer etwas engeren
Begrenzung des Erlebnisbegriffs anschließen. Wir brauchen ihn
nämlich nicht durch die Bewußtseinsgegebenheit schlechthin zu de-
finieren, sondern durch jene besonderen Weisen der Bewußtseins-
gegebenlieit, welche von den sichhinwendenden Einstellungen des
Subjekts auf seine inneren Vorgänge bewirkt werden. Erleben wäre
dann identisch mit dem Vollzuge inneren Sichrichtens auf
das Geschehen im eigenen Subjekt. Auch diese Definition
würde an sich auf unseren Vorbegriff der Phänomenologie, Beschrei-
bung des subjektiven Seins von Seelischem zu sein, durchaus passen.
Allein die Weisen des Sichrichtens sind prinzipiell von generischer
Gleichartigkeit, auch wenn ihr Gegenstand wechselt; auch wenn seine
Sphäre wechselt, wenn es sich nicht mehr um innere, sondern um
äußere Gegenstände handelt. In diesem Sinn kann ich eine Land-
schaft oder ein Eisenbahnunglück genau so »erleben«, wie eine Trauer
oder einen Entschluß. Dasjenige Kriterium, welches bei dieser
zweiten Definition den Erlebnisbegriff näher bestimmt, wäre also
nicht das Sichhinwenden, die innere Einstellung, sondern der Gegen-
stand, nämlich das psychische Geschehen, auf welches sie sich richtet.
Im Wesen der intentionalen Einstellung selber liegt zu dieser gegen-
ständlichen Einschränkung kein prinzipieller Grund vor^).
Auch diese Definition, die von einer besonderen Weise der seeli-
schen Gegebenheit ausging, schlägt mithin in eine solche um, deren
einschränkendes Kriterium ein Gegenstandsgebiet wird.
So ist es in der Tat : die allein brauchbare Definition des Erlebnis-
gebietes entspringt aus einer Synthese des Gesichtspunktes, wonach
1) Husserl, welcher jenes äußere »Erleben« ebenfalls aus dem Gebiete
der Phänomenologie auszuschalten wünscht, weiß seinerseits hier auch kein
anderes Trennungsmerkmal als eben dies gegenständliche. Log. Unters. 2. Aufl.
II. S. 352 ff.
Erlebnis und Erkenntnis. 377
Erlebnis ein Gegenstandsgebiet innerhalb des Psychischen ist, mit
demjenigen, wonach es eine besondere Weise des Bewußtseins um
Psychisches ist. Beide Gesichtspunkte schließen sich ja keineswegs
aus: das Bewußtsein eines psychischen Geschehens kann seinen ver-
schiedenen intentionalen Weisen nach wiederum auf verschiedenen
Arten besonderen seelischen Geschehens beruhen. Hiervon war bei
der Erörterung von Qualität und Materie der Intention schon die
Rede. Außerdem finden wir auch faktisch, wenn wir von Erlebnis
sprechen, in uns eine Meinung von einem ganz bestimmten Bereich
des psychischen Geschehens vor. Wir verstehen tatsächlich unter
Erlebnissen die Weisen, wie das Ich sich zu etwas stellt, das ihm
gegeben ist, gleichviel ob es ihm von außen oder aus sich selbst heraus
gegeben ist. Und damit kommen wir auf die zweite prinzipielle
Möglichkeit, den Erlebnisbegriff zu definieren. Nämlich durch das
Gebiet alles desjenigen seelischen Geschehens, in welchem
das Ich diese Stellungnahme zu irgendwelchen Gegeben-
heiten vollzieht. Und doch ist hier noch eine einschränkende
Bestimmung notwendig. Es ist nämlich dieses Geschehen, wenn wir
von Erlebnissen sprechen, nur insofern gemeint, als sich sein
Wesen im Erlebtwerden, in dieser Stellungnahme des Ich
erschöpft. Sehr deutlich wird z. B. beim Willensakt, daß diese
einschränkende Bedingung auf ihn nicht zutrifft. Er steht nämlich
zugleich unter Bedingungen des Ablaufens, die zu der in ihm doku-
mentierten Stellungnahme des Ich nicht wesenhaft hinzugehören;
und wirkt auch in einer solchen von seiner Erlebnisseite abgrenzbaren
Weise weiter fort (determinierende Tendenzen).
Wenii wir den Erlebnisbegriff durch das allen diesen Geschehnissen
gemeinsame Moment definieren, so kommen wir auf den Satz: In-
tentionalität ist das konstitutive Merkmal des Erlebens.
Und Phänomenologie ist die Wissenschaft vom intentio-
nalen Wesen alles Erlebens.
Damit hätten wir nun den Standpunkt gewonnen, um Phäno-
menologie als Sonderwissenschaft innerhalb des psychischen Ganzen
ausbilden zu können. Ein Standpunkt, der dem Husserlschen eng
verwandt ist, insofern sein Gegenstandsgebiet durch ein Bereich
intentionaler Vollzüge abgegrenzt ist; der sich aber von ihm unter-
scheidet dadurch, daß er dieses Gebiet nicht aus der Psychologie
heraushebt und methodologisch isoliert, sondern in sie hineinordnet
und an ihren Forschungsweisen orientiert. Dieser Standpunkt ist
auch dem Brentanos eng verwandt, insofern als Brentano das
Wesen des Psychischen selber durch seine Objektbczogenlieit defi-
niert; mit den Ausführungen dieses Forschers rechtfertigen wir po-
sitiv Husserl gegenüber, wenn wir das Gebiet phänomenologischer
Forschungen in die Psychologie hineinstellen. Andererseits halten
wir es für ein wissenschaftliches Problem, die Brentanosche For-
mulierung restlos an allem Psychischen zu verifizieren; an diesem
Problem hat die Phänomenologie mitzuarbeiten, und seiner Lösung
378 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
gemäß wird sich ihr Gebiet erweitern. Vorerst jedoch bleibt sie bei
denjenigen Tatbeständen stehen, welche sie als intentional im Be-
wußtsein vorfindet, und ersetzt bei diesen die objektivierende Formu-
lierung Brentanos von der Objektbezogenheit durch die den sub-
jektiven Bewußtseinstatbeständen eher genügende Formel von dem
intentionalen Charakter dieser Tatbestände.
Zu diesen Tatbeständen, welche das Gegenstandsgebiet der Phä-
nomenologie bilden, gehören nun auch, gemäß dem intentionalen
Charakter derselben, diejenigen subjektiven Tätigkeiten, welche auf
das innere Ablaufen selber gerichtet sind und von uns als inneres
Bemerken, inneres Wahrnehmen usw. bezeichnet wurden. Das
Bereich der inneren Wahrnehmung bildet mithin ein phänomeno-
logisches Teilgebiet, insofern inneres Wahrnehmen selber eine Weise
des Erlebens ist.
b) Phänomenologie als psychologische Wissenschaft.
Die Phänomenalität der Erlebnisse.
In welchem Sinne reden wir nun von Erlebnissen als von Gegen-
ständen einer Phänomenenlehre; und was soll mit dem Worte
Phänomenologie in diesem Zusammenhange gesagt sein?
Von Phänomenen spricht die Wissenschaft im allgemeinen Sinn,
wenn sie damit ausdrücken will, daß ihre jeweiligen Untersuchungs-
gegenstände in ihr nicht so auftreten, wie sie ihrem Wesen nach
»wirklich sind<<, sondern so wie sie »erscheinen«. Dies Erscheinen,
durch welches das wahre Wesen der Dinge modifiziert wird, erfordert
ein Subjekt. Und dies Subjekt, dem die Dinge phänomenal erscheinen,
ist eben das »Bewußtsein« oder »Ich«. Die Bewußtseinsgegeben-
bcit der Dinge ist, dies ist die Lehre, anders als ihr wirkliches
Wesen.
Diese Phänomenalität alles Gegebenen wird in gleicher Weise
von den Gegenständen äußeren Erfahrens und von dem innerlich
Gegebenen gelehrt. Die Frage, ob diese Lehre richtig sei und wie
sie sich begründen ließe, ist ein Zentralproblem der Erkenntniskritik
und ein Teilgebiet der Philosophie. Für alle empirischen Einzel-
untersuchungen hat dieses Problem völlig auszuscheiden. Was die
psychische Phänomenologie anbelangt, so wurde ja bereits dargelegt,
daß sie ihr Gegenstück nicht zu haben vermeinte in einer Lehre
vom absoluten Wesen der Dinge an sich, sondern in einem anderen
Gebiete der empirischen Psychologie, welches als objektive Psycho-
logie bezeichnet wurde. Jener allgemeinste Begriff des Phäno-
mens, den wir soeben an die Spitze gesetzt haben, kann es also
nicht sein, welcher den Gegenstand der psychischen Phänomenologie
bestimmen soll.
In der Tat ist uns ja auch das ganze Gebiet des Psychischen,
soweit es beschreibbar ist, restlos und ausschließlich ein bestimmtes
Erlebniö und Erkenntnis. 379
Gebiet des im Bewußtsein Gegebenen. Von ihm handelt die Psycho-
logie überhaupt. Es ist nicht möglich, den inneren Gegenständen
des Bewußtseins, unter Absehung davon, daß sie Gegenstände des
Bewußtseins sind, in einer empirischen Einzelwissenschaft ihr wahres
Ansichsein gegenüber zu stellen. Der Begriff der Phänomenologie
als Sondergebiet der Psychologie verlöre mithin allen Sinn, wenn er
von einer solchen unmöglichen Gegenüberstellung ausgeht und den
Begriff des Phänomens im allgemeinsten Sinn zu seinem Gegenstand
zu machen beabsichtigt.
Wir haben deshalb schon ausführlich dargetan, daß eine Phäno-
menologie als psychische Sonderdisziplin sich überhaupt nur dann
rechtfertigen läßt, wenn mit dem Worte Phänomen noch eine zweite
und engere begriffliche Bedeutung gemeint werden kann als der
philosophische Begriff. Nur wenn dies der Fall ist, und wenn dieser
engere Begriff des Phänomens die Notwendigkeit einer besonderen
Bearbeitungsweise mit sich bringt, nur dann ist es sinnvoll und be-
rechtigt, Phänomenologie als psychologisches Einzelforschungsgebiet
neben anderen zu fordern.
Wir wiederholen also: es ist eine philosophische Voraussetzung,
die man mit Kant teilen oder verwerfen mag, daß alle psychischen
Daten im erkenntniskritischen Sinn Phänomene sind^), insofern
sie uns nicht anders als in ihrer Bewußtseinsgegebenheit zugänglich
sind, unserer Erkenntnis nur unterliegen, indem sie uns erscheinen.
Dieses Problem ficht die Einzelwissenschaft Psychologie nicht an.
Für sie handelt es sich vielmehr darum, zu untersuchen, ob es not-
wendig und berechtigt ist, aus ihren Tatbeständen und Gegeben-
heitsweisen noch eine Sondergruppe herauszustellen und dieser
das Prädikat phänomenal im besonderem und engeren Sinn zu
erteilen.
Und wir haben im vorigen gesehen, daß dem faktisch so ist. Die
psychischen Abläufe folgen einander in ihrer Bewußtseinsgegebenheit
zunächst ganz unabhängig davon, wie das Ich, dem sie erscheinen,
sich zu ihnen stellt, und nichts spricht dagegen, diese Abfolge als
gegenständliches Geschehen mit den adäquaten Methoden empirisch-
gegenständlicher Forschung zu untersuchen und diese Untersuchung
als objektive Psychologie zu bezeichnen. Objektiv hat hierbei aller-
dings nicht den Sinn, einen Gegensatz zum philosophischen Phäno-
menalitätsbegriff auszusprechen; es verbleibt vielmehr seiner be-
grifflichen Sphäre nach ganz innerhalb des Umfanges jenes Phäno-
mcnalitätsbegriffes, gleichviel ob er als berechtigt vorausgesetzt oder
abgelehnt wird. Objektiv hat hier vielmehr nur den Sinn, das psy-
chische Geschehen als solches zu bezeichnen im Gegensatz zu den
1) Brentano z. B. spricht zwar auch von psychischen Phänomenen, definiert
aber das Wesen der seeUschen Gegebenheit sogar durch die Untrüglichkeit des
inneren Wahrgenommenwerdens, a. a. O. S. 120ff. Was aber untrügUch evident
erscheint, »erscheint« nicht, sondern ist.
380 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Weisen, wie das Subjekt sich zu diesem gegenständlichen Geschehen
stellt.
Diese Stellungnahmen des Ich, bei welchen das Ich eine philo-
sophische Voraussetzung und ein faktischer Befund ist, haben nun
gewisse gemeinsame Charaktere. Auch diese haben wir bereits aus-
führlich besprochen. Es sind die Charaktere der Intentionalität,
der subjektiven Spontanität, die sich an ihrer Materie in Akten
realisieren. Ein Teil von ihnen war die Bedingung oder die Begleit-
erscheinung des objektiven psychischen Geschehens selber (z. B.
Willensakt). Ein anderer Teil, der für unseren Zweck wesentliche,
erschöpfte seine Bedeutung darin, das objektive Geschehen als Ma-
terie in eine besondere Beziehung zum Ich zu bringen, die in der
Gegebenheit des objektiven Geschehens selbst noch nicht enthalten
war. Diesen Tatbestand fanden wir vor; wir fanden, daß er längst
ein allgemeines Gut der Vulgärpsychologie ist und von ihr mit der
Bezeichnung Erleben belegt worden ist. Durch die Tatsache des
Erlebtwerdens vom Ich wird das objektive psychische Geschehen
in seiner subjektiven Seinsweise tatsächlich wesenhaft modifiziert.
Soweit es also dieser Modifikation durch Erlebtwerden unterliegt,
besteht ein gewisses Recht darauf, es als phänomenal im engeren Sinn
zu bezeichnen und seiner objektiven Artung selber gegenüber zu
stellen; und mit Notwendigkeit erwächst hieraus die Aufgabe, eine
Wissenschaft auszubilden, deren Gegenstand diese engere psychische
Phänomenalität ist.
Eines ist nach dieser Erörterung klar: daß die Rede, Phäno-
menologie sei »Wesensschau«, von uns nicht als gültig anerkannt
zu werden vermag. Vom Standpunkt der vollendeten psychologischen
Erkenntnis aus wäre vielmehr das Gebiet des Erlebens dasjenige,
dessen theoretische Determination nur durch sehr abgeleitete und
mittelbare Erklärungen möglich wäre. Anders wird die Sachlage
freilich in dem Augenblick, wo der psychologische Forscher sich ohne
alle theoretische Absicht und Gebundenheit den reinen noch durch
nichts geordneten seelischen Tatbeständen gegenüber findet. Hier
sind die verschiedenen Weisen des subjektiven Bewußtseins das
tatsächlich Erste, worauf er trifft; und ihre Erfassung in ihrer reinen
Tatsächlichkeit in der Tat eine Art Vorwissenschaft aller weiteren
psychologischen Arbeit.
Freilich lassen sich auch die Weisen des Erlebens als rein objek-
tives psychisches Geschehen auffassen; sie sind objektiven Unter-
suchungen theoretischer Art zugänglich, genau so wie das objektive
psychische Geschehen selber. Auch diese Untersuchung aber kann
nicht erfolgen ohne die vorausgegangene Bestimmung ihrer Tat-
sächlichkeit. Es wird wohl seinen guten gegenständlichen Grund
haben, daß sich in dieser Tatsächlichkeit die phänomenalen Weisen
subjektiver Beziehung auf Psychisches von den Formen des objek-
tiven Ablaufens unterscheiden. Es ist ein Problem, ob diese Unter-
scheidung auf objektiven besonderen Mechanismen des Geschehen»
Erlebnis und Erkenntnis. 381
beruht oder nicht. Es mag auch ein heuristischer Gesichtspunkt
sein, diesen Unterschied von vornherein jiach Möglichkeit zu leugnen ^).
Auf anderer Seite aber hat die alte Psychologie von Kant bis Beneke
die Notwendigkeit behauptet und durchgeführt, von diesem Teil des
psychischen Geschehens, der ihnen am wesentlichsten erschien, be-
sondere theoretische Systeme des Geistes zu entwerfen. Die Lehren
von den verschiedenen Formen der Apperzeption und andere Kon-
struktionen legen hierfür Zeugnis ab.
Allein diese theoretischen Konstruktionen gehen die Phänomeno-
logie als tatsächliche Ausgangswissenschaft vom Erleben nichts an.
Sie hält sich an die reinen Bewußtseinstatbestände, und in diesem
Sinne ist es wohl zu begreifen, wenn Jaspers für ihre Erkenntnis-
weise das Wort Verstehen anwendet, so zwecklos dies methodo-
logisch bleibt.
Die Wortbezeichnung, welche jene intentionalen Einstellungen
des Subjekts decken, wie Erlebnis, Erkenntnis, Wahrnehmung,
Gefühl, haben alle etwas Vieldeutiges. Sie bezeichnen alle drei ver-
schiedene Bedeutungen: erstens den Vollzug (Akt), zweitens dasjenige,
was in diesem Vollzug vorgeht (Inhalt), drittens dasjenige, was dieser
Vollzug vor das Bewußtsein stellt (Gegenstand). Und man kann
nun mit Recht fragen: was von dieser Dreiheit ist denn nun im spe-
ziellen Sinn Problem der Phänomenologie? Zur Beantwortung ist
zu bemerken, daß diese Dreiheit ihrerseits bereits Abstraktions-
gesichtspunkte aus dem einen gleichen Bewußtseinstatbestand ent-
hält, und daß diese ihm zwar jeweils mit Notwendigkeit immanent
sind, aber nur in der phänomenalen Ganzheit eines Erlebens. Die
Phänomenologie umfaßt sie daher als abgesonderte und abgeleitete
Einzelteile desselben gemeinsamen Grundproblems. Der Tatbestand
geht den möglichen Abstraktionen immer voraus-).
Beschreibung und Abstraktion.
Nun wird man mit Recht bemerken, daß, wenn wir von Erleb-
nissen reden und sagen, sie beruhten auf intentionalen Vollzügen,
wir uns bereits durch diese Aussage von den reinen Tatbeständen
weit entfernt und in die Abstraktion hineinbegeben haben. Ja selbst
wenn wir von Erlebnis sprechen, so liegt nicht mehr ein reiner Tat-
1) Einen solchen unbezweifelbaren heuristischen Wert hat z. B. die Arbeit
von Poppelreutcr, Die Ordnung des Vorstellungsablaufs. I. Leipzig 1913. Hier
vpird der Versuch gemacht, das Verhältnis der Funktionspsychologie zur Asso-
ziationstheorie dadurch abzuwägen, daß — abgesehen von bedeutsamen Modi-
fikationen des Assoziationsbegriffs selber und seiner Beziehung zu den Reproduk-
tionen — möglichst vieles an funktionalen Leistungen noch assoziativ erklärbar
gemacht wird.
2) Darüber, daß der Gegenstand nicht zum Aktvollzug als einem Bewußt-
seinstatbestand hinzugehört, wurde schon oben gesprochen. Es bleiben für die
Phänomenologie nur die Inhalte und ihre Bewußtsoinaformen als Gebiet übrig.
382 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
bestand, sondern eine Abstraktion vor. Widerspricht dies nun nicht
der von uns gesetzten Aufgabe, die Phänomenologie als Wissenschaft
von den reinen erlebenden Bewußtseinstatbeständen ihrem subjektiven
Wesen nach auszubilden?
In der Tat : hier liegt wieder ein schwieriges methodisches Problem
zugrunde-. Wir sahen bereits, wie psychische Tatsachen selber nur
in willkürlicher Abgrenzung Gegenstand der Erkenntnis sein können;
ja wie ihr volles anschauliches Nacherleben an der Tatsache ihrer
unwiederholbaren Einmaligkeit scheitert ; wie schon im bloßen Hinein-
verschmelzen reproduktiver Daten ins Wiedererleben Abstraktions-
und Verallgemeinerungsgesichtspunkte mitgegeben sind. Wir werden
daraus folgern: eine ganz im Unmittelbaren bleibende, von allem
unanschaulichen Beiwerk befreite Erkenntnis von psychischen Tat-
sachen ist unmöglich. Die Jaspers sehe Forderung der anschau-
lichen Vergegenwärtigung im Verstehen ist prinzipiell niemals ganz
erfüllbar. Der reinanschauliche Tatsächlichkeitscharakter des psychi-
schen Geschehens in seiner ganzen Unmittelbarkeit tritt immer nur
ein einziges Mal auf: eben wenn dies Geschehen zum ersten Male
stattfindet^). Schon im Moment, wo das Ich sich ihm zuwendet,
verblaßt er; einzelnes wird herausgehoben und »wesentlich«; von
anderem wird abgesehen. Bei der Wiederholung des Erlebens in der
Reproduktion verblaßt er noch weiter.
Noch handelt es sich um ein völlig unbearbeitetes Einzelgeschehen,
das dann weiter zur bestimmten Erkenntnis wird, aufgenommen in
die psychologische Gesamterfahrung und Gegenstand der Beschrei-
bung. Bei diesem Vorgange nun verschwinden seine anschaulichen
Seiten, die unmittelbaren, individuellen, die seiner Einzelheit und
Un Wiederholbarkeit, seiner Einzigartigkeit, Beschreibung ist immer
begriffliche Umschreibung im Sinne der deutlichen und eindeutigen
Bezeichnung. Das liegt mit logischer Notwendigkeit im Wesen der
Beschreibung. Die Phänomene sind immer anschaulich und un-
mittelbar erlebt — ; die Darstellung aber vermittelt ihren Gegenstand
unanschaulich. Eben deshalb ist die Darstellung, die sich dieser
unanschaulichen Symbole, der Wortbedeutungen, bedienen muß , in
ihrem Effekt wiederum blasser als das Eileben des Phänomens.
Und die Fülle der Abstraktionsmerkmale vermag zwar die Anschau-
lichkeit durch eine größere Deutlichkeit und Bestimmtheit, das
Erlebnis durch eine Erkenntnis völlig zu ersetzen, ändert aber-
an der Unanschaulichkeit dieser Erkenntnis nichts. Diese Unan-
schaulichkeit wird auch durch die generischen Sprachsymbole er-
zwungen. Hierauf beruht auch die Unvollständigkeit jeder noch so
genauen beschreibenden Determination durch Merkmale, weil vom
1) Auch hierbei ist noch in Anschlag zu bringen, daß das Anschauliche dieses
Geschehens letztlich immer auf seinen Qualitäten beruht, daß deren Ordnunga-
f ormen und somit die Ganzheit dieses Geschehens selber aber nichts Anschauliches
sind und nur abstraktiv ins Bewußtsein erhoben werden können. Davon wird aber
in der Folge zum Zweck der Vereinfachung unserer Darstellung abgesehen.
Erlebnis und Erkenntnis. 383
individuellen Beieinander, dem hie et nunc der jeweiligen einzelnen
Situation, ein abgezogener Begriff nicht möglich ist.
Umfaßt diese Erkenntnis mehr als ein Einzelphäuomen, nämlich
eine Gruppe, einen Typus, eine Klasse: so muß sie mehr und mehr
alles Individuelle, Einmalige und in diesem Sinne anschaulich Erleb-
bare eliminieren, welches im Bewußtsein jedes einzelnen Individuums
ja in anderer Weise gegeben ist, Sie wird also um so abstrakter
und eindeutiger sein, je mehr sie sich vom Anschaulichen und noch
Vorstellbaren ins Begriffliche entfernt; je höhere Begrifflichkeit
sie erreicht; je schärfer ihre Abstraktionen sind. Und man be-
schreibt nun tatsächlich niemals den Einzelfall, sondern stets sein
Genus, seinen Typus — das liegt im Wesen der Merkmalsbildung
bei der Beschreibung. Das Verfahren der Abstraktion ist
die angemessene Weise der Beschreibung. Hiervon war
an früheren Stellen dieser Untersuchungen schon ausführlich die
Rede.
Ein wenig anders liegen die Dinge, wenn es sich nicht um ein
einzelnes Phänomen oder eine Klasse von solchen handelt, sondern
um Zusammenhänge von Phänomenen. Bekanntlich hat Jas-
pers auch für das Zusammenhängen des Seelischen, wenigstens für
bestimmte Weisen des Zusammenhängens im Erleben, eine Phäno-
menologie auf Grund »genetischen Verstehens« schaffen wollen.
Allein die Sache liegt wesentlich komplizierter, als Jaspers sie sich
vorstellt. Der Zusammenhang des Erlebens ist die Form seines
gesetzmäßigen Ablaufens; er ist in keiner Weise anschaulich erkenn-
bar; sondern ist ein Gebiet der objektiven theoretischen Forschung.
Man muß nun aber unterscheiden das Zusammenhängen des Erlebens
und das Erleben des Zusammenhängens, Letzteres ist ein phäno-
menologisches Datum, Ich kann etwas als zu einem Ganzen gehörig
oder aus einem Andern hervorgehend erleben. Den Bewußt seins-
bestand dieses Erlebens zu sichern und zu erfassen, der in jedem
einzelnen Falle verschieden sein kann, ist genau so eine phänomeno-
logische Aufgabe, wie die Erfassung jedes anderen möglichen Erlebens.
Ganz falsch wäre es aber, darin, daß ich solch ein Zusammenhängen
erlebe, etwa einen Rechtsgrund für irgendwelchen Objektivitäts-
charakter dieses Zusammenhängens zu erblicken, ihn einer beson-
deren Kausalität zuzuschreiben o. dgl., wie dies Jaspers tut. Das
Erleben des Zusammenhängens ist ein subjektiver Zustand, der Zu-
sammenhang des Erlebens ist ein objektives Problem, Ich nehme
an, daß Jaspers, an dessen Begriff der »verständlichen Zusammen-
hänge« wir schon Kritik geübt haben, mit dem genetischen Verstehen
nur das Verstehen des Erlebens von Zusammenhängen gemeint hat;
wenn er freilich etwa sagt, die Freudsche Psychologie sei eine solche
genetischen Vcrsteliens, so widerspricht das unserer Auslegung; denn
diese Freudsche Lehre macht nichts über Erleben von Zusammen-
hängen aus, sondern vielmehr über Zusammenliänge dos Erlebens,
denen sie objektive Geltung beilegt. Und das tut sie — unbeschadet
384 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
ihrer Richtigkeit oder Falschheit im einzelnen — prinzipiell mit
Recht. Sie ist nicht verstehende Psychologie, sondern dynamische
Theorie.
Anwendungen auf die Erkenntnis des fremden Ich.
Mit diesen Feststellungen über das Wesen der Erkenntnis seeli-
scher Tatsachen haben wir auch den Gesichtspunkt gewonnen, unter
welchem sich die bisher nicht lösbaren Schwierigkeiten beheben
lassen, welche die Erkenntnis des Fremdich betreffen. Gegen
den Jaspers sehen Begriff des Verstehens haben wir bereits an-
geführt, was dagegen zu sagen ist. Er ist eine dogmatische Aus-
flucht vor dem Problem des Wissens um fremdes Psychisches, aber
keine fundamental neue Wahrheit. Wir leugnen nicht, daß wir als
inneren Tatbestand es in uns vorfinden, die seelischen Zustände
Anderer erfassen zu können, ohne daß uns das Wie dieses Erfassens
dabei immer deutlich wird. Man mag das Verstehen nennen; damit
ist gar nichts getan. Zu einer methodischen und wissenschaftlichen
Erkenntnis vermag es unter zwei Gesichtspunkten zu werden: ent-
weder dadurch, daß es sich selber als eine Methode des Erkennens
von eigener Artung dartut und rechtfertigt, oder aber dadurch,
daß es sich in eine Methode der bestimmten Erkenntnis verwandeln
läßt. Den ersten dieser zwei Gesichtspunkte haben die Lehren der
Einfühlung verwandt, welche den Verstehensprozeß assoziativ
aufzuklären versuchen. Diese Aufklärung der assoziativen Struktur
des Verstehens mag nun aber richtig sein oder falsch; zweierlei wird
sie niemals dartun können; erstens den Rechtsgrund dafür, daß sie
eine Erkenntnis zu sein behauptet; zweitens den Rechtsgrund da-
für, daß sie ein fremdes Ich als den Gegenstand ihres Erkennens
voraussetzt. Wir wiesen schon in bezug auf diesen letzteren Punkt
darauf hin, daß er aus dem Wesen und dem Vollzuge der Einfühlung auf
keine Weise herleitbar ist. Lipps, der dies klar erkannte, hat denn
auch in genau der gleichen Weise dogmatisch resignieren müssen,
wie neuerdings Jaspers. Der erste Punkt aber, die Rechtfertigung
des Erkenntnischarakters der Einfühlung, ist natürlich restlos ab-
hängig von der Beantwortung der Frage, woher die Einfühlung
vom fremden Ich weiß, in das sie sich einfühlt. Und war hier der
letzte Schluß eine Resignation, so wird er es auch wohl dort bleiben
müssen.
Damit kommen wir zurück auf die alte Lehre von Analogie-
schluß. Die Einwendungen, welche gegen diese gemacht sind und
die wir weiter oben eingehend darstellten (vergleiche besonders die
Ausführungen Schelers), sind, wovon sich jeder leicht überzeugen
wird, insgesamt nur von komparativer Allgemeingültigkeit und nicht
von der Art, daß sie den Analogieschluß im Prinzip zur Unmöglich-
keit machten. Daß dieser aber, als fein Wahrscheinlichkeitsschluß
wie alle Analogieschlüsse, ein trügerischer und unsicherer Boden für
Erlebnis und Erkenntnis. 3^5
die Forschung ist, dies hat schon Beneke^) klar erkannt. Ein ein-
ziger Einwand Schelers ist prinzipieller Art: nämlich der, daß die
Analogieschlußtheorie auf fremdpsychisches Grescliehen das fremde
Ich schon voraussetzen müsse, ebenso wie die Einfühlungslehre dies
•tun muß. Aber dieser Einwand, der für die Einfühlungslehre seine
volle Berechtigung hat, trifft für die Analogieschlußlehre
absolut nicht zu. Für den Analogieschluß auf das fremdpsyclii-
sche Einzelgeschehen ist das Wissen um das fremde Ich allerdings
bereits eine Voraussetzung. Aber eben das Wissen um diese Vor-
aussetzung kann ich mir längst vorher durch eine Reihe anderer
Analogieschlüsse erworben haben, bei denen weder Psychisches noch
Belebtheit im allgemeinen Mittelglied zu sein braucht, sondern für
welche als Mittelglied die Analogie körperlicher Begrenzung
und die Ortsveränderung genügt. Weitere Analogien der Einzel-
erfahrung, die unter dieser Voraussetzung massenhaft möglich sind,
würden letztere immer wieder verifizieren und nie ihr zuwider sein.
Somit ist diese Schwierigkeit für die Analogieschlußtheorie nur ein
Scheineinwand .
Ohnedies ist es ja eigentlich naheliegend anzunehmen, daß die
Erkenntnis vom Fremdpsychischen nicht auf unwillkürlichem asso-
ziativen Affiziertwerden beruht, wie die Einfühlungslehre will, sondern
auf intentionalen erfassenden Einstellungen des Ich auf die Äußerun-
gen des Geschehens beim Andern, genau so wie auf solchen Ein-
stellungen die eigene Selbsterkenntnis beruht. Wieweit der VoUzug
dieser Einstellungen in den bewußten Erkenntnisakt- und Schluß-
weisen geschieht, wieweit in gefühlshaften und dunklen, dies ist
prinzipiell nicht wichtig. Niemandem wird einfallen zu behaupten,
der psychologische Prozeß des Fremderkennens vollziehe sich in der
deutlich bewußten logischen Form des Analogieschlusses. Wir
stellen bloß fest, daß diese allein geeignet ist, dasjenige, was sich beim
Prozeß des Fremderkennens abspielt, logisch adäquat zu fundieren.
Meyerhof sagt sehr richtig^); »Jede sogenannte Einfühlung ist
entweder auch ein Schluß oder nur ein undeutlicher Erkenntnis-
vorgang, bei dem die Vorstellungen dunkel bleiben und nicht ab-
gesondert als Begriffe gedacht werden; ein Drittes ist unmöglich.«
Hier finden wir auch bereits angegeben, wie es sehr wohl denkbar
ist, daß die assoziativen Einfühlungsweisen beim Fremderkennen
als genetische Erkenntnishilfen und Hinweise mitwirken könnten.
Es wird sich eben im Einzelfall um ein sehr kompliziertes inneres
Greschehen beim Erkennen des seelischen Fremdgeschehens handeln,
welches man unter der Bezeichnung Verstehen vorläufig zulassen
mag und das sich aus intentionalen Akten wahrnehmeiiden,
gefühlshaften und reflektionellen Erfassens auferbaut.
1) Beiträge zu einer rein seelenwissenschaftlichen Bearbeitimg der Seelen-
krankheitskunde. 1824. S. 28 ff.
2) Psycho]. Theorie d. Geisteskrankheiten. S. 20.
Kronfeld, Psychiatrische Erkenntnis. 25
386 Grundlinieu der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
die eingeleitet und umrankt sind von den assoziativen
Einfühlungshilfen, und die in ihrem gesamten Effekt als
ein undeutlich erkenntnisartiges Bewußtsein vom Fremd-
geschehen erlebt werden. Ihr ideales logisches Abbild aber,
von allem zufälligen Beiwerk gereinigt, ist der Analogieschluß.
Alles dies, und auch die Tendenz zur reinen Analogieschlußweise als
dem Ideal, ist letzten Endes bedingt durch die Tatsache, daß jede
bestimmte Erkenntnis psychischer Tatbestände eine objektivierende
und begriffliche Tendenz hat, wie wir oben nachgewiesen haben.
Abstraktion und induktive Theorie im Psychischen.
Und nunmehr ist es an der Zeit zu untersuchen, was uns denn
jene Abstraktionen bedeuten, welche die Beschreibung der Erlebnis-
gegebenheiten mit sich bringt; welchem Ziele sie dienen und was
an wissenschaftlichen Werten in ihnen steckt. Sind sie Selbstzweck?
Dienen sie einem höheren Arbeitsgesichtspunkt? Haben sie etwas
zu tun mit den sonstigen Aufgaben wissenschaftlicher Psychologie?
Und wenn ja: wie steht die phänomenologische Beschreibung una
Analyse zu diesen Aufgaben? Wie steht sie im wissenschaftlichen
Ganzen der Psychologie drin? Diesen Fragen gilt es noch eine Ant-
wort zu finden.
Um diese Aufgabe unserer Untersuchung in vorurteilsloser Weise
angreifen zu können, verlassen wir für kurze Zeit den Boden, auf
welchem wir uns bis jetzt bewegt haben; wir erweitern unseren Ge-
sichtswinkel zu einem Aspekt der Psychologie als eines wissenschaft-
lichen Ganzen, untersuchen das Verhältnis der Teile innerlialb dieses
G^samtgebäudes zueinander imd sehen, ob wir nicht den Punkt
aufzufinden vermögen, von dem aus sich das bisher abgegrenzte
phänomenologische Forschungsgebiet in dieses Ganze sozusagen orga-
nisch eingliedern läßt.
Erfahrung nennen wir die Erkenntnis von den unserem Bewußt-
sein gegebenen Gegenständen. Erfahrung ist Erkenntnis, wiefern
sie die notwendigen Bedingungen der Existenz dieser Gegenstände
uns bewußt macht, wiefern sie also deren zufälliges Gegebensein zu
einem notwendigen Sein und Sosein für uns macht. Die Bestimmung
der Notwendigkeit der Existenz und Realität eines Gegenstandes
ist sein Gesetz. Den Zusammenhang der Gesetze untereinander
nennen wir Natur. Die Ausbildung des Bewußtseins um diesen Zu-
sammenhang aller notwendigen Bestimmungen des Seins und Soseins
von Gegebenem nennen wir Theorie. Alle Einzelerfahrung also strebt
zu ihrer vollendeten Abrundung in der Theorie.
Jede empirische Theorie überhaupt, und somit auch die psycho-
logische Erfahrung als Ganzes, verbindet die Tatsachen, die ihr
Material bilden, zu Gesetzen. Das Auffinden dieser Gesetze voll-
zieht sich durch bestimmte geistige Prozesse, durch die sie ins Be-
wußtsein gehoben werden. Wir schreiben diese Prozesse einer be-
Erlebnis und Erkenntnis. 387
sonderen psychischen Fähigkeit zu, die wir Reflexion nennen, und
reden von .Schlußweisen. Das Bewußtsein um einen gegebenen
Gegenstand ist, sofern es ein bestimmtes Bewußtsein ist. ein einzelnes
Urteil auf Grund einer Wahrnehmung. Das Bewußtsein uni ein Gre-
setz ist ein allgemeines Urteil von notwendiger Geltung. Das Ver-
fahren der Reflexion, welches vom einzelnen Wahrnehmungsurteil
zum allgemeinen und notwendigen Urteil führt, ist eine Schlußweise
vom Typus der Induktion. Alle empirische Theorie ist also induktiv.
Der Nachweis, welche Schlußweisen zu der Erkenntnis der Natur-
gesetze führen, ist — ebenso wie die Begründung der Schlußkraft
dieser Weisen — Geschäft der formalen Logik. Die formale Logik
wird also für den Vollzug dieser Schlüsse selber als gültig voraus-
gesetzt. Für die Ausbildung jeder möglichen psychologischen Theorie
braucht ihr Rechtsgrund mithin nicht erst dargetan zu werden.
Die zweite Voraussetzung für die Ausbildung jeder psychologischen
Wissenschaft ist ein Bestand gesicherter Tatsachen, aus denen ge-
schlossen Avird. Hier findet die Phänomenologie ihr erstes Bewährungs-
gebiet innerhalb des psychologischen Wissenschaftsganzen. Denn
welche andere Forschungsrichtung erstrebte wohl ein so restloses
Herausarbeiten des reinen Gegebenheitscharakters ihres Gregen-
standsgebietes als die Phänomenologie! Sie liefert in möglichst all-
seitiger und unverarbeiteter Weise das reine Material jeder mög-
lichen weiteren Untersuchung; in diesem Sinne ist sie wahrhaft
voraussetzungslos und Ausgangswissenschaft späterer Theorien.
Allein hier ist doch eines zu bedenken. Wir haben in den bisherigen
Untersuchungen gesehen, daß die Beschreibung des reinen Tat-
sächlichkeitsgehalts ihrer Gegenstände für die Phänomenologie zwar
die oberste Forderung, aber eine prinzipiell nicht restlos erfüllbare
Forderung darstellte. Das Wesen des Erfassens, das Wesen der
Beschreibung brachten mit grundsätzlicher Notwendigkeit immer
schon Abstraktionen an die phänomenologische Materie heran; und
diese sind willkürliche Akte der Reflexion und unterliegen den Kri-
terien der Logik ebenso wie den in den Tatsachen selber gelegenen
Kriterien. Gerade diese Abstraktionen erfordern ja unsere besondere
Untersuchung über das Verhältnis der Phänomenologie zur Theorie ; unfl
hierfür ist die einfache Subsumtion der Phänomenologie unter das Tat -
sachenliriterium jeder möglichen Theorie keine ausreichende Lösung.
Die dritte Voraussetzung jeder möglichen Theorie und damit
jeder wissenschaftlichen Gesamtpsychologie kann als das Gebiet
materialer Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt
zusammengefaßt werden. Diese Voraussetzung wird aus »philo-
sophischen Grunduntersvichungen über die allgemeinsten Gesetzes^
jeder möglichen theoretischen Erkenntnis^), aus dem berühmten
1) Fries, wie kaum ein zweiter ein Meister aller philosophischen Natur-
theorie, sagt in seinem System der Logik (S. 562): »Das regulative Verfahren der
Theorie ist das zusammengesetzteste Kunststück der wissenschaftliohon Methode.
25*
388. Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Kantischen »Prinzip der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt«,
gewonnen. Die Immanenz dieser Voraussetzung folgt aus dem
speziellen Wesen der Induktion und der wissenschaftlich ausgebilde-
ten Naturtheorie, wie sie die großen Denker auf diesem Gebiete sei
Newton festgestellt haben. Die Begründung dieser Voraussetzung
(durch eine endgültige Auflösung des induktiven Schluß Verfahrens)
braucht in der Ausbildung der Theorie selber ebenfalls nicht dar-
getan zu werden. Sie geht ihr voraus; wir haben in unserer Dar-
stellung der Wissenschaftstheorie des Psychischen dieser Aufgabe
genügt. Wiederholen wir nochmals die Voraussetzungen aller Natur-
theorie :
Erstens die Tatsachen des empirischen Materials, welches der
Bildung der Theorie zum Ausgangspunkte dient.
Zweitens die formale Logik im Hinblick auf die Zulässigkeit der
bei Bildung der Theorie angewandten Schlußweisen.
Drittens die nichtlogischen notwendigen Grundsätze, welche die
Existenz der allgemeinen gesetzmäßigen Verknüpfungsformen von Er-
scheinungen zum Inhalt haben, welche sich auf das in Frage stehende
Erfahrungsgebiet anwendet.
Es bleibt nunmehr zu erörtern, in welcher Weise die Tatsachen
und Abstraktionen auf die Bildung einer Theorie von Einfluß sind,
und welche Rolle den Arbeitsbegriffen und Arbeitshypothesen in
der psychologischen Theorie zufällt. Wir müssen zu diesem Zweck
noch einmal kurz auf die Natur der Induktionen^) zurückgreifen.
Es lassen sich hier allerdings sehr bestimmte logische Regeln angeben, ohne welche
eine solche Untersuchung nicht gelingen kann; dabey werden aber die einfachen
heuristischen Methoden schon als richtig angewendet vorausgesetzt und über
diese noch ein eigenes strenges Verfahren gefordert. Daher finden wir denn auch
bey der Behandlung der schwereren unter diesen Untersuchungen beständige
Wiederholungen derselben Fehler. Es muß hier erstlich durch ein richtiges em-
pirisches Verfahren der Bestand der Tatsachen genau gegeben seyn. Es müssen
zweytens durch ein richtiges spekulatives Verfahren die . . . philosophischen
Grunduntersuchungen über die allgemeinsten Gesetze vorausgeschickt seyn;
so daß drittens eine theoretische Untersuchung nie früher unternommen werden
darf, als bis vorherbestimmt ist, unter weichen allgemeinen Maximen sie steht,
und ferner, welches bestimmte Verhältnis sie gegen schon vorhandene konstitu-
tive Theorien hat. Hier ist mit der Orientierung gegen philosophische Spekulation
schon sehr viel gefordert, da die richtigen Maximen der philosophischen Spekulation
noch nicht allgemein anerkannt sind. «
1) Was die im folgenden dargestellten Bemerkungen zur Induktionslehre
anlangt, so vermag ich dem Leser tatsächlich kein systematisches Werk zu nennen,
welches die Theorie der Induktion in einer für psychologische Forschung an-
gemessenen Weise entwickelt hätte. Neben dem alten Werke Apelts (Die Theorie
der Induktion, Leipzig 1854) und der historischen Darstellung Whewells in
seiner Geschichte der induktiven Wissenschaften kommen nur die recht un-
zulängliche, neben Richtigem viel Falsches enthaltende Millsche Logik und die
relativ spärlichen Bemerkungen in den üblichen Logiken in Frage. Man wird sich
wohl entschließen müssen, zum Zweck einer systematischen Vertiefung bis auf
das klassische Werk eines Bacon zurückzugehen und dann in den Logiken der
engeren Kantschüler manches Wertvolle zu entdecken. Wir sind daher in der
folgenden Darstellung zwar in Anlehnung an die nachkantischen Logiker der In-
Erlebnis und Erkenntnis. 389
Jenes einfachste Schema der Induktion, welches oben gegeben wurde,
ist nämlich in der Tat nur ein Schema, das sich in reiner Anwendung
eigentlich niemals bei den empirischen Regelbildungen findet. Würde
es möglich sein, lediglich dieses Schema direkt anzuwenden, so würde
es nirgendwo Unklarheiten, Arbeitshypothesen, leitende Maximen.
Streit um allgemeinere und speziellere Voraussetzungen geben.
Alles wäre leicht und einfach, wie bei den unverwickelten logischen
Prozessen.
Tatsächlich liegen die Dinge aber eben sehr verwickelt.
Es besteht eine unendliche Mannigfaltigkeit der empirischen
Abläufe. Alle stehen miteinander in gesetzmäßiger Verknüpfung.
Jeder kommt unter einer unbegrenzten Zahl von Bedingungen zu-
stande. Für jede dieser Bedingungen lassen sich, wenigstens ist das
im Prinzip anzunehmen, Bestimmungsstücke am Ablauf aufweisen,
welche der Ausdruck des gesetzmäßigen Zusammenhanges zwischen
dem Ablauf und dieser Bedingung sind. Es bleibt das unvollendbare
Ziel des empirischen Wissenschaftsganzen, für jede einzelne dieser
unendlich vielen Beziehungen die gesetzmäßige Form aufzufinden.
Daraus folgt die prinzipiell unendliche Anzahl möglicher Induktionen.
Nun sind aber diese Induktionen keine ungeordnete Mannigfaltig-
keit, sondern sie stehen zueinander in dem Ordnungs Verhältnis eines
architektonisch sich aufbauenden Wissenschaftsganzen. Sie bilden
sozusagen eine systematisch gegliederte Gerüstform, die im Innern
unendlich sich ausbauen läßt, je weiter die Erkenntnis fortschreitet, i)
Woraus ergibt sich nun diese systematische Einheitlichkeit des
vollendeten empirischen (psychologischen) Wissenschaftsganzen? Und
was soll uns das für unsere Erörterung?
Setzen wir selbst einmal voraus, es gäbe nur vollständige Induk-
tionen — was tatsächlich nicht der Fall ist : so leuchtet doch ein, daß
die einzelnen Induktionsergebnisse sich hinsichtlich des Umfangs
unterscheiden werden, den die Inbegriffe ihrer jeweiligen Gregen-
stände aufweisen. Da aber jeder psychische Ablauf als Gegenstand
einer ganzen Reihe von gesetzmäßigen Bedingungen, denen er unter-
worfen ist, in Frage kommt, so muß er als Inhalt in den Umfangen
mehrerer solcher Inbegriffe von Gegenständen, die einem gemein-
samen Gesetz unterstehen, enthalten sein. So folgt schon aus dem
duktion, a"ber doch auf eigene Faust vorgegangen, da die Anwendung der Induk-
tionstheorie auf Psychisches dortselbst nicht genügend ausgebildet war. So hat
sich uns der Sinn des Begriffs der leitenden Maximen im Psychologischen wesent-
lich verschoben.
1) Fries sagt (System der Logik, S. 564): »Unter den allgemeinen Maximen
der Philosophie müssen wir aber auch die Erfahrung selbst noch von dem höchsten
möglichen Gesichtspunkte übersehen, den -wir erreichen können, um daraus be-
stimmtere leitende Maximen zu bilden. Denn die allgemeinen Gesetze gehören
dem Ganzen, und das Einzelne läßt sich nach seinen theoretischen Verhältnissen
nur gemäß seiner Lage im Ganzen bestimmen. L'nt ergeordnete einzelne Theorien
werden selten glücklich, wenn sie nicht ihrer Anlage nach gegen das Ganze orien-
tiert sind.«
390 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
logischen Verhältnis dieser Umfange zueinander eine systematische
Beziehung des Geltungsbereiches mehrerer Gesetze, also eine syste-
matische Rangabstufung der Induktionen. Daß das allgemeinere
Gesetz die spezielleren unter sich umschließt, ist der gewöhnliche
Ausdruck für diese Abstufung nach dem Umfang der Gegenstände,
Doch braucht der Grad dieser Allgemeinheit eines Gesetzes^) nicht
bloß durch den Unterschied im Umfang des Inbegriffs der Gegen-
stände, auf die das Gesetz sich bezieht, bestimmt zu sein; er kann
ebenso auch von der anderen Seite her bestimmt werden: von den
allgemeinen philosophischen Voraussetzungen her, die jeder mög-
lichen induktiven Erkenntnis zugrunde liegen. Diese rationalen
Grundsätze, so gehaltsarm sie sind, lassen sich durch ein besonderes
»Schlußverfahren zu einem System der gesetzmäßigen Beziehungen
allgemeinster Art ausbauen. Durch Aufnahme abstraktiv gewonne-
ner allgemeiner empirischer Begriffe läßt sich das System dieser Be-
ziehungen noch bis zu einem gewissen Grade spezialisieren und bildet
so die durchgebildete Reihe der Obersätze für alle Induktionen des
Erfahrungsgebietes, für das es gilt. Für die physikalischen Natur-
Avissenschaften ist diese konstitutive Theorie einwandfrei durch-
gebildet und ziemlich allgemein anerkannt; lediglich die Gründe
ihrer Gültigkeit bilden noch einen strittigen Problemkreis. Für die
psychologischen Naturwissenschaften herrscht hier freilich auch im
Tatsächlichen große Unsicherheit und Unklarheit. Es wurde bereits
an früherer Stelle eine solche konstitutive Theorie erörtert, die durch
das Hereinnehmen des Assoziationsbegriffs in das System der gesetz-
mäßigen Verknüpfungsformen des Seelischen als deren oberste Be-
stimmung entstanden war. Hier ist nun ein weiterer Anknüpfungs-
punkt für die obersten Abstraktionen der Phänomenologie. Man
kann beispielshalber den Funktionsbegriff in das System der ratio-
nalen Grundsätze hinein nehmen, um durch ihn die psychologische
Kausalität mit näheren Bestimmungen zu versehen. Man würde
dann eine konstitutive funktionspsychologische Theorie erhalten, in
welcher das Wesen psychischen Zusammenhängens durch die Merk-
male der fundierenden Funktionen bestimmt würde. Es ließe sich
ferner auf diesem Wege das Brentanosche Gesetz, welches natürlich
aus der Phänomenologie völlig herausfällt, theoretisch begründen,
wonach es so viele psychische Grundformen gibt, als es Arten gibt, in
welchen sich das Ich auf Gegenstände bezieht. Wir haben dies in
unserer Wissenschaftstheorie des Psychischen geleistet, und wollen
diesen Gesichtspunkt der Verschmelzung von Phänomenologie und
konstitutiver Theorie im Auge behalten; denn aus ihm folgt nicht
nur etwas über die psychologische Theorie, sondern vor allem auch
etwas über die Art der phänomenologischen Abstraktionen.
1) Dieser Begriff der Allgemeinheit hat natürlich nichts zu tun mit dem der
Allgemeinheit als Gültigkeitskriterium von Gesetzen überhaupt, dem modalischen
Moment der Gesetze.
Erlebnis und Erkenntnis. 391
Wie dem auch sei: es läßt sich jedenfalls grundsätzlich die All-
gemeinheit einer Induktion und ihre Stellung im System der Wissen-
schaft auch dadurch bestimmen, daß ihre mehr oder weniger direkte
Abhängigkeit von den rationalen Prinzipien dargetan wird. Die
allgemeinsten empirischen Gesetze werden direkt oder nach nur
wenigen Abstraktionen von empirischen Bestandteilen ihrer Inhalte
unter diese konstitutiven Prinzipien subsumierbar sein. Bei anderen
muß die Abstraktion von ihren empirischen Bestimmungsstücken
weiter durchgebildet werden. Nun hängt endlich diese Subsumier-
barkeit unter die rationalen Prinzipien ihrerseits wieder in bestimmter
Weise vom Umfang des Inbegriffs ihrer Gegenstände ab — ein
Sonderproblem, dessen Erörterung wir uns wohl ersparen dürfen.
Die Pyramide des vollendeten Wissenschaftsganzen beruht also
in einer Rangabstufung der induktiven Gesetze untereinander. Die
unendlich breite Basis bildet das empirische Tatsachenmaterial; ihre
Spitze bilden die rationalen Voraussetzungen gesetzmäßiger Ver-
knüpfung des betreffenden Erfahrungsgebietes. Dazwischen stuft
sich das gegliederte System der Naturgesetze ab. Jedes einzelne
dieser Gesetze ist in seiner Lage zum systematischen Ganzen sozu-
sagen nach drei Dimensionen bestimmt : nach dem Umfang seines
tatsächlichen Anwendungsbereiches, nach der Beziehung zur ratio-
nalen Spitze, nach der Beziehung zur logischen Weite anderer Gesetze.
Die Bestimmungsstücke diese drei Beziehungsweisen sind logi.sche
Gebilde; ihr Gültigkeitsgrund ist jedesmal ein anderer.
Was hat dies mit unserem Problem zu tun? Das wird erst klar,
wenn man sich erinnert, daß die empirische Wissenschaft, und ganz
speziell die psychologische Theorie, etwas Unvollendetes und Un-
vollendbares ist. Gerade für die Psychologie gilt Apelts Wort:
»Daß wir auf der einen Seite wohl Regeln haben, deren Gültigkeit
im allgemeinen wir kennen, auf der anderen Seite Fälle, deren Ab-
hängigkeit von Regeln gewiß ist; aber das nähere Verhältnis, in dem
sie zusammengehören, ist noch unbestimmt und wird erst gesucht«^).
Daß dieses Verhältnis von Fall und Regel im Psychologischen ein so
ungewisses ist, hat folgende Gründe.
Erstens ist das System der Regeln unvollständig, und zwar in
doppeltem Sinne. Einmal, wie schon erwähnt, das der konstitutiven
rationalen Grundsätze, deren systematischer Ausbau gerade für die
psychologische Materie den größten Schwierigkeiten unterliegt. So-
dann aber auch das der Induktionsergebnisse selber, infolge der
liistorischen Zufälligkeit, wie sie jeweils einzeln entdeckt werden
und dann zunächst unvermittelt und beziehungslos nebeneinander
stehen.
Zweitens sind für die meisten Induktionen die Tatsachen durch-
aus nicht vollständig bekannt, und ebensowenig die Bedingungen,
die sonst noch Realgründe der Tatsachen sind. Die praktisch in Frage
1) Theorie der Induktion. S. 51. Vgl. Fries, System d. Logik. S. 441.
392 Grundliiüen der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
kommenden Induktionen sind unvollständige Wahrscheinlichkeits-
schlüsse und Kombinationen mit analogischen Schluß weisen.
Drittens ist gerade für psychologische Induktionen das Geltungs-
bereich gar nicht leicht zu bestimmen. Zunächst pflegt man es daher
heuristisch möglichst weit zu begrenzen (unbegrenzte Anwendung des
Assoziationsbegriffes; schrankenlose Gültigkeitsgebiete der Freud -
sehen Mechanismen), was aber fehlerhaft sein kann.
Viertens fehlt oft jeder Zusammenhang zwischen der Erkenntnis,
daß ein Ablauftypus einem Gesetz gehorcht, und der Bestimmung
dieses Gesetzes. (Hierüber gehören die sog. maximenlosen empi-
rischen Induktionen und die statistischen Induktionen, z. B. der
statistischen Experimente in der Psychologie.) Im Bereich der
physikalischen Theorie wird diese Verbindung ZAvischen dem ratio-
nalen Obersatz und dem empirischen Materiale durch die Anwend-
barkeit mathematischer Konstruktion hergestellt — sei es zur Be-
stimmung und Spezialisierung des Obersatzes, sei es zur Bildung von
Leitmaximen. Für das Gebiet der psychologischen Erkenntnis aber
verbietet sich diese Bildung rational konstruierbarer mathematischer
Sätze fast gänzlich. Sie ermöglicht sich nur für die Bestimmungen
der Gesetze psychischer Intensitäten; und diese ist im Verhältnis zur
eigentlichen psychologischen Aufgabe sehr gleichgültig.
Fünftens erkennt man leicht die in der Einmaligkeit alles psychi-
schen Geschehens liegende, nur komparativ gültige Schwierigkeit für
jede Theorie.
Aus allem diesem folgt, daß im Verfahren der psychologischen
Theorie selber, wenn man dasselbe streng auffaßt, mit Notwendigkeit
seine Undurchführbar keit liegt. Es folgt die Unmöglichkeit
einer strengen konstitutiven Naturtheorie für Seelisches.
Darf nun diese Einsicht zu konventionalistischen Stellungnahmen
in allgemeinen psychologischen Fragen führen, etwa in dem Sinne,
daß eben jeder Forscher mit gleichem Rechte seine »eigene Psycho-
logie« habe?
Ein solcher Standpunkt würde zur Aufgabe jedes wahren Wissen-
schaftsanspruches der Psychologie führen. Vielmehr zeigt die prin-
zipielle Möglichkeit von Induktionen in diesem Gebiete, die mit
ihrer ebenso prinzipiellen Unvollendbarkeit in einem konstitutiven
System zusammenbesteht, klar den Ausweg, den es zu beschreiten gilt.
An die Stelle der konstitutiven Theorie hat die regulative zu
treten. Man darf nicht voreilig systematisieren; und jene obersten
Grundsätze aller psychologischen Theorie dürfen nur als regulative
Prinzipien für die Bildung von Induktionen gebraucht werden.
D. h. man darf freilich so verfahren, wie wir oben geschildert haben:
daß man sie systematisch verbindet und durch Aufnahme allgemein-
ster empirischer Abstraktionen erweitert; aber man darf nicht ver-
gessen, daß durch diese Verfahren der konstruktiven Psycho-
logie immer nur ein toter Mechanismus entsteht, sei er nun das
Gerüste einer Klassenordnung, sei er eine starre Schlußreihe, in welcher
Erlebnis und Erkenntnis. 393
der lebendige Organismus des Seelischen zergeht. Die konstruktive
Tendenz derartiger Psychologien hat zwar oft heuristischen Wert —
man denke an die Assoziationspsychologie! — ist aber, als konstitu-
tives Moment des psychologischen Wissenschaftsganzen gedacht,
immer eine fiktive und einseitige Grundlegung. Heuristisch, als
regulatives Prinzip der Arbeit, kann sie, wie gesagt, wertvoll sein.
Unter dem regulativen Gesichtspunkt theoretischen Denkens in
der Psychologie verstehen wir die Anwendung der rationalen Voraus-
setzungen wissenschaftlichen Denkens als leitende Forschungs-
maximen. Leitende Maximen, Hilfsbegriffe und Arbeitshypo-
thesen sind logisch verschiedenartige Konzeptionen zum Zweck der
Bestimmung des Verhältnisses von Fall und Regel bei der Induktion.
Sie treten da in Wirksamkeit, wo der Inhalt gegebener Regeln auf
die gerade untersuchte Klasse von Fällen nicht anwendbar ist. Nun
ist aber die Gleichartigkeit von Fällen, und mithin ihre »Klasse«,
durch den Inhalt der Regel definiert, der sie unterstehen — wenn
wir die Möglichkeit des Zufalls außer acht lassen. Wenn daher eine
Regel auf eine Klasse von Fällen nicht kategorisch und konstitutiv
zutrifft, so kann das folgende Gründe haben:
Erstens können die Fälle so verlaufen, daß ihre Verlaufsmerkmale
nicht unter den Inbegriff der in der Regel gemeinten Verläufe logisch
gehören. Dann ist zwar die Regel richtig, aber hat auf das betreffende
Gegenstandsgebiet keine Anwendung.
Zweitens kann der Inhalt der Regel zwar auch für die in Frage
stehenden Fälle zutreffen, zugleich aber noch für eine Reihe anderer
Fälle, die von den ersteren durch eine besondere gleichartige Eigen-
tümlichkeit sich unterscheiden. Diese herausgehobene Gleichartig-
keit ist zwar bezeichenbar, aber noch nicht durch eine besondere
gesetzmäßige Bedingung erklärt. Gesucht wird hier also die be-
sondere Bestimmung des allgemeinen Gesetzes, durch welche jene
Besonderheit eines Teiles der Fälle bedingt ist. Eine Anweisung
zur Bildung dieser Bestimmung ist die leitende Maxime.
Die Bestimmung selber ist entweder ihrerseits ein Gesetz
oder eine Arbeitshypothese.
Drittens kann die Schwierigkeit der Bestimmung des Verhält-
nisses von Fall und Regel bei den Fällen liegen. Die Gleichartigkeit
der Fälle wird zwar, wenn ein Gesetz gesucht wird, als Faktum vor-
ausgesetzt. Aber die Erkenntnis dieser Gleichartigkeit hat etwas
Schwieriges. Sie beruht nämlich zunächst auf einem willkürlichen
Abstraktiousakt. Das Kriterium für die Berechtigung dieser Ab-
straktion wäre doch erst die Regel; aber gerade diese wird ja auf
Grund der faktisch vorausgesetzten Gleichartigkeit erst gesucht.
Hieraus folgt ein prinzipiell sehr wichtiges Wechselverhältnis
zwischen Abstraktion und Induktion: Einmal sind die all-
gemeinsten Induktionen die theoretischen Leitmaximen für die
Abstraktion, für dasjenige, was an Abläufen im Hinblick auf ein et-
waiges gesetzliches Geschehen wesentlich und bedeutsam ist. Ferner
394 Grandlinicn der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
aber sind die Abstraktionen des Gleichartigen Arbeits-
gesichtspunkte, Arbeitsbegriffe für den Ansatz hypothe-
tischer Erklärung. Ein Verfahren, in welchem die Abstraktions-
ergebnisse nicht diese rein heuristische Rolle spielen, sondern als
selbständige Realitäten fungieren, nennen wir objektive
Psychologie^). So ist beispielsweise der sogenannten Elementar-
psychologie eigentümlich, die Elemente, etwa die Empfindungs-
qualitäten, welche in Wahrheit Ergebnisse von Abstraktionen sind,
die unter einem bestimmten Gesichtspunkt erfolgten, als die realen
Bausteine des Psychischen zu betrachten. — Auf der anderen Seite
aber darf nicht ganz willkürlich abstrahiert werden, sondern die
Abstraktionen haben nur insofern Wert, als sie zur Er-
klärung der Erscheinungen durch die allgemeinsten Ge-
setze überhaupt beitragen können, als mithin eine Mög-
lichkeit besteht, die Formen gesetzmäßiger Erkenntnis
durch sie irgendwie näher bestimmen zu können. Sonst
bleiben sie leere Willkür. »Die Abstraktionen müssen daher den
Gesetzen der Metaphysik der inneren Natur folgen« 2), nicht als kon-
stitutiver Erklärungsgrundlage, wohl aber als leitenden Maximen,
gemäß denen ihre Erklärbarkeit sich erwarten ließe; nur dann ver-
mögen sie zu Arbeitsgesichtspunkten für theoretische Determinationen
zu werden.
Die Stellung der Phänomenologie in der Psychologie.
Wenn wir an der Hand der bisherigen Ausführungen nunmehr
versuchen, den phänomenologischen Abstraktionen ihre Stellung im
Ganzen der Psychologie anzuweisen, so dürfen wir sagen: Phäno-
menologie ist eine notwendige Vorwissenschaft jeglicher psycholo-
gischen Theorie, insofern diese die Aufgabe hat, Phänomene (gene-
tisch) zu erklären. Sie ist eine Vorwissenschaft in dem gleichen Sinne,
wie jede psychologische Ontologie das ist. Einmal ist sie die Vor-
bedingung der Bildung jeder möglichen Theorie, sodann aber er-
fordert sie dieselbe; ohne diese bleibt sie in ihrem eigenen Wesen
unabgeschlossen .
Schon ihre Abstraktionen sind nicht bloßer Selbstzweck — sonst
bestände kein prinzipieller Unterschied gegenüber der objektiven
Psychologie, deren Abstraktionen als letzte selbstzweckhafte Reali-
täten auftreten. Ebensowenig ist ihr Zweck ein bloß klassifikato-
1) Die Unterscheidung, welche Jaspers (Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych.
Bd. 9. S. 391 ff.) zwischen »objektiver« und »subjektiver« Gegebenheit psychischer
Daten trifft, ist zwar populär, aber irrig. Jedes seelische Phänomen ist »sinnlich
wahrnehmbar« oder »rational zugänglich« und darum »objektiv«; zugleich aber
ist jedes seelische Phänomen das eines »Ich« und daher dem Erleben zugänglich
und also »subjektiv«. Wie diese beiden Gesichtspunkte zusammenhängen und in-
einander überführbar sind, davon wurde ja ausführlich gesprochen.
2) Schmid, a.a.O. S. 29.
Erlebnis und Erkenntnis. 395
rischer. Denn jede Klassifikation ist entweder konventionelles
Kunstprodukt oder sie erfolgt bereits unter der leitenden Maxime
eines sie beherrschenden inneren Gesetzes. (Beispiel für das erstere:
das Linnegehe System; Beispiel für das zweite: das natürliche
System.) Im letzteren Falle ist sie selber aber nicht Endzweck,
sondern Ausdruck dieses Gesetzes^). — Mithin stehen die Abstrak-
tionen in mehrfacher Wechselwirkung mit den theoretischen Er-
kenntnisweisen. Erstens sind sie der Ausdruck von theoretisch er-
kennbaren, aber nicht näher zu bestimmenden Gesetzen des seelischen
Geschehens, für welches sie gebildet wurden. Ihr logisches Verhältnis
ist zugleich der Index der Rangabstufung jener einzelnen, noch un-
bestimmten induktiven Gesetze. Daher erfolgen sie insgesamt unter
theoretischen Leitmaximen allgemeinster Art — oder sie werden
zu uferlosen und sinnleeren Wortspielereien. Die vollzogenen Ab-
straktionen selber sind die Arbeitsgesichtspunkte für eine induktive
theoretische Bearbeitung. In diesem Sinne hat das phänomeno-
logische Arbeitsgebiet seine eigene adäquate Theorie zu
fordern. Diese ließe sich ausbilden erstens als konstitutive Kon-
struktion über das phänomenologische Gegenstandsgebiet (Beispiel:
Lehren Brentanos und Martys), oder als regulative Tlieorie neben
den anderen regulativen Gesichtspunkten psychologischer Theoretik :
dem der Genesis der seelischen Formen, dem der Dynamik der seeli-
schen Inlialte, dem psychophysiologischen Gesichtspunkte. Von
den beiden letzteren unterscheidet sie sich durch die Immanenz
ihrer Arbeitsbegriffe, die diesen beiden theoretischen Bearbeitungs-
weisen fehlen muß.
Wenngleich aber Phänomenologie sich ohne theoretische Weiter-
arbeit nicht erfüllt, so ist ihr es doch ebenso wesentlich, jeder mög-
lichen Theorie vorauszugehen — sowohl der ihr adäquaten, als auch
jeder unter anderen heuristischen Gesichtspunkten gebildeten.
Daraus folgt als ihre Arbeitstendenz : möglichste Allseitigkeit des
abstraktiven Erfassens der Merkmale; Einschränkung der Leit-
maximen auf die allerumfassendsten und allgemeinsten Formbegriffe ;
Vermeiden ausgebildeter Systematik: kurz eine dem wissenschaft-
lichen Abschluß entgegenwirkende Tendenz. Nur durch diese ver-
mag sie sich lebendig zu erhalten zur steten Erfüllung ihrer Aufgabe :
den ganzen Reichtum seelischen Erlebens restlos zu umfassen und
einzufangen, soweit das menschlicher Erkenntnis, die dadurch be-
schränkt wird, daß sie bestimmte Erkenntnis ist, überhaupt ge-
geben ist.
1) Man hört oftmals, das Gesetz der Klassifikation sei ein »morphologisches«,
kein genetisches. Hiermit vormag ich einen Sinn nicht zu verbinden. Etwas ist
entweder ein Gesetz oder nicht. Wenn ja, so erklärt es seine Gegenstände ihrer
Existenz und ihrer Bestimmtheit nach. Eine solche Erklärung ist — schon den
sie fimdierenden metaphysischen Formen gemäß — immer »genetisch*: d. h. das
Gesetz eines Geschehens, eines Gewordenseins. Gesetze morphologischer Formen
sind entweder ebenfalls genetische, oder es sind keine Gesetze.
396 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen,
4. Die phänomenologisclien Aufgaben in der Psychiatrie;
nebst Bemerkungen über die Krankheits- und Symptom-
begriffe derselben.
a) Die psychologisch-klinisclien Fragestellungen und ihre
phänomenologische Zuspitzung.
Wenn in einer Einzelwissenschaft eine bis dahin unbekannte oder
doch nicht bewußt und systematisch ausgeübte Forschungsrichtung
zum Durchbruch zu gelangen strebt — so wie dies die Phänomeno-
logie derzeit in der Psychiatrie tut, so kann sie den Rechtsgrund
iiirer neuen Ansprüche nur dann erweisen, wenn sie ihre speziellen
Arbeitsweisen als berufen dartut, eine Lücke in der bisherigen For-
schung auszufüllen, die deren weiteren Fortschritt hemmt und die
durch die bisher angewandten Methoden prinzipiell nicht überbrückt
zu werden vermag. Nicht daß sie richtig verfährt oder in sich ge-
schlossen ist, hat die Phänomenologie zu beweisen, sondern darüber
hinausgehend: daß sie für die Psychiatrie nicht überflüssig, daß sie
vielmehr für diese mit Notwendigkeit gefordert ist. Und dieser
letztere Beweis kann nur dann als erbracht anerkannt werden, wenn
im Verlaufe der psychiatrischen Forschung selber die Lücke ans
Licht tritt, die notwendig ausgefüllt werden muß, soll Psychiatrie
als Wissenschaft fortschreiten, und die nur und ausschließlich von der
phänomenologischen Forschungsrichtung ausgefüllt wird.
Dieser Aufgabe haben wir uns also zu widmen, indem wir die
Grundgesichtspunkte psychiatrischen Forschens einer kurzen histo-
rischen Revision unterwerfen. Gelingt es uns, auf diesem Wege dar-
zulegen, daß die Phänomenologie zu ihrem Anspruch auf Mitwirkung
in diesem Forschen berufen ist, so wird alsdann die Forschung der
Zukunft zu zeigen haben, was sie hier faktisch leistet und noch leisten
wird.
An der wissenschaftlichen Psychiatrie, so wie sie sich historisch
entwickelt hat, lassen sich drei Perioden unterscheiden; jede der-
selben trug zum Entstehen der gegenwärtigen psychologisch-klini-
schen Fragestellungen und ihrer phänomenologischen Zuspitzung
grundlegendes Material hinzu ^).
Die erste Periode ist diejenige spekulativer psychologischer
Theorie; inauguriert durch Esquirols französisches Vorbild und
durch Heinroth und Hoffbauer. Man isolierte die psychotischen
Symptome voneinander und suchte hinter dem einzelnen psycho-
logischen Tatbestand die Störung der psychischen Ablaufklasse, der
er entsprach. Diese, als ein »Vermögen des Geistes«, hatte ihre
Stelle in einem sozusagen topographischen System des Geistes. Gewiß
war es wertvoll, auf diese Weise gleichsam an der Hand eines syste-
matischen Leitfadens zu jedem beliebigen psychischen Symptom
^) Vgl. meine Ausführungen S. 89 ff. dieses Buches.
Die phänomenologischen Aufgaben in der Psychiatrie usw. 397
die Störung der es fundierenden Gesehehcnsklasse zu ermitteln und
bei diesem Verfahren bis zu den Fundamenten aller psychischen
Abläufe herabzusteigen. Dennoch litt diese Periode an drei Mängeln,
deren Überwindung der Folgezeit vorbehalten blieb.
Einmal nämlich waren alle jene Systeme und Theorien des Geistes
nicht durch Abstraktion und Jnduktion aus empirischen Ausgangs-
materialien gewonnen, sondern konstruktiver Art, wobei aber die
Konstruktion kein heuristischer Gesichtspunkt, sondern das kon-
stitutive Fundament psychiatrischer Theorie war. Man ging aus
von gewissen allgemeinen psycliologischen Naturbegriffen, z. B.
von einer oder mehreren Grundkräfteu, Grundvermögen oder auch
bloßen Definitionen der Seele, die man hypothetisch aufstellte und
denen man die besonderen Tätigkeiten und Erscheinungsweisen nur
logisch unterzuordnen suchte, indem man sie nur nach den allgemeinen
Begriffen klassifizierte und so durch logische Definitionen bestimmte,
oder indem man sie durch Schlüsse daraus ableitete und so als Folge
aus ihren Gründen erklärte^). Wir wissen aus unseren bisherigen
Erörterungen über das Wesen psychologischer Theorie, wo der logische
Fehler derartiger Theorienbilduugen steckt. Herbarts und Wundts
Bemühungen ist es gelungen, das Irreführende derartiger Konstruk-
tionen grundsätzlich aus der Psychologie auszuschalten.
Der zweite Fehler dieser Richtung lag an der dauernden Iden-
tifizierung dessen, was die abstraktive Analyse der Symptome ergab,
mit der genetischen und ätiologischen Quelle, durch die diese Sym-
ptome bedingt waren; er bestand in der Vermischung der Begriffe
Grund und Ursache in ihrer Anwendung auf Psychisches. Man
übersah, daß der analytische ermittelte Grund eines Symptoms —
nämlich die gestörte Funktion, der es entstammte — zwar die Be-
dingung seiner Möglichkeit hinreichend klarlegte, aber keines-
wegs die Ursache seines wirklichen Eintritts aufdeckte. Auch für
die gestörte Grundfunktion besteht doch das Problem ihrer gene-
tischen Erzeugung. Dies Problem aber bestand für jene Psychiatrie
noch nicht. Die psychotischen Zustände waren noch nicht Symptome
von Krankheiten im Sinne der somatischen Medizin. Der Erkenntnis-
grund psychotischer Phänomene wurde mit ihrem Realgrund indenti-
fiziert. Die Frage nach dem jeweiligen genetischen Gesetz eines
psychotischen Zustands bestand nicht : geistige Krankheiten wurden
nicht hiernach unterschieden, sondern allenfalls nach äußerlichen
Wertgesichtspunkten, wie »Zerrüttung«, »Schwäche« usw. Als
einziges genetisches Problem bestand für die Forscher jener Zeit die
Frage nach der Ursache des geistigen Gestörtscins überliaupt; und
dieses hielten sie nicht für empirisch entscheidbar: sie verfielen be-
kanntlich teilweise auf Dämonen, auf ein metaphysisches Verschulden
und ähnliche transzendente Dinge.
Dieser Mangel der genetischen Gesichtspunkte bewirkte den dritten
1) Schmid, a. a. O. S. 39.
398 Grandlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Fehler jener psychiatrischen Richtung: das Außerachtlassen der
somatischen, insbesondere der Gehirnsymptome, die natürlich in
eine derartige Auffassung vom Wesen der geistigen Störung nicht
einzugehen vermögen. Aber bei allen Mängeln wird es das bleibende
Verdienst dieser psychiatrischen Forschungsrichtung sein, zuerst
eine Systematik der psychotischen Erscheinungen an-
gestrebt zu haben.
Die zweite Periode psychiatrischer Arbeit knüpft sich an die
französischen Vorbilder von Fair et und Baillarger, erhält ihre
stärksten Impulse durch die ungeahnten Fortschritte der damals
mächtig aufstrebenden Physiologie des Zentralnervensystems, und
zeitigt als ihre bedeutendsten Vertreter Griesinger, Meynert,
Westphal und Wem icke. Diese Periode trägt den materialisti-
schen Gedankengängen ihres Zeitalters in weitgehendem Maße
Rechnung: die Seele wurde ihr nichts, das Gehirn alles. Der große
Gewinn, den sie brachte, war die Erkenntnis von der somatischen
Genese und der zerebralen Lokalisation vieler Geisteskrankheiten.
Und zwar wurde jede genetische Erklärung psychischer Zustände
ins Physische gewendet und durch Zuweisung an irgendeine Gehirn-
stelle vollzogen. So gelang zum ersten Male eine Reihe genetischer
Induktionen auf Krankheitseinheiten, welche rein zerebral bestimmt
waren. Das wichtigste und im Leben jedenfalls fast allein beobacht-
bare Merkmal aller Geisteskranken, das psychische Syndrom in seiner
jeweiligen Besonderheit, galt an sich nichts mehr; es diente bloß
noch im allgemeinen zum Signal für die Annahme von Hirnprozessen,,
die es zu lokalisieren galt. Bei dieser Einseitigkeit des Gesichts-
punktes mußten sich neben glänzenden Erfolgen auch gewisse Schwie-
rigkeiten einstellen. So zeigte sich bald die nicht grundsätzliche,
sondern mehr methodische Bedenklichkeit, daß die anatomischen
und physiologischen Forschungsmöglichkeiten der ihnen gestellten
Aufgabe, der Lokalisation der einzelnen Gehirnfunktionen und der
Bindung der psychischen Ablaufgruppen an diese Gehirnfunktionen,
einfach nicht gewachsen waren und es wohl auch in absehbarer Zeit
nicht sein werden. Dieser Mangel an methodischen Möglichkeiten
führte dazu, daß an die Stelle der anatomisch-physiologischen In-
duktionen, die zu gewinnen die Forschung nicht vorgeschritten genug
war und deren Verknüpfung mit den psychologisch-klinischen Bildern
kein Problem beseitigte, sondern unübersehbar viele neue schaffte,
die psychophysiologische Hypothese trat. Die Gefahr dieser Ent-
wickelung lag in folgendem: die für das Morphologische geltenden
Ordnungsgesichtspunkte wurden ohne weiteres auf das Psychische
übertragen; und umgekehrt wurden die nur psychologisch trennbaren
Einheiten ohne weiteres mit räumlich trennbaren Gehirnstellen, mit
morphologisch gewonnenen Einheiten gleichgesetzt. Sowohl der
Reichtum der psychologischen Mannigfaltigkeit als auch das innere
Gesetz der morphologischen Befunde mußte durch derartige Lokali-
sationsmaximen eine schematisierende und ihrer jeweiligen inneren
Die i^hänomenologischcn Aufgaben in der Psychiatrie usw. 399
Struktur nicht entsprechende Vereinfachung erleiden, üo hat Kleist
noch kürzlich im Gebiet der Dementia praecox eine große Reihe
psychischer Formen und Symptome mit bewußter Einseitigkeit ver-
nachlässigt, um mit Hilfe der Motilität allein eine hypothetische
Lokalisation, und damit eine vermeintliche Erklärung dieser Er-
krankung zu konstruieren^).
Schwerer wiegt noch eine zweite Bedenklichkeit auf welche diese
Periode psychiatrischer Forschung stoßen mußte Sie ist prinzipieller
Art: die Existenz der Psychopathen und abnormen Persön-
lichkeiten. Die Annahme genetisch wirksamer, lokalisierbarer
Hirnprozesse mußte hier naturgemäß versagen; obwohl auch hier
mit imaginären Hirnveränderungen, mit Stoffwechselvergiftungeu
und ähnlichen Hypothesen gearbeitet wurde. Lediglich einen all-
gemeinen psychophysischen Begriff für die Verursachung dieser
Psychopathien trugen Morel und Magnan in ihrer Degenerations-
lehre hinzu. Allein dieser Begriff, der somatischen Pathologie ent-
lehnt, verlor in seiner psychiatrischen Anwendung mehr und mehr
an deskriptiven Merkmalen, so daß zuletzt bloß noch eine begrifflich
unklare Beziehung zur Heredität und zu anthropologischen Kri-
terien übrigblieb und er im übrigen eine recht willkürliche Wert-
bezeichnung darstellt. Seine Annahme, durch die forensische Praxis
begünstigt, zog das Eindringen weiterer Wertbegriffe in das Gebiet
einer bis dahin rein deskriptiven Wissenschaft nach sich und bahnte,
bei dem Mangel aller klar herausgearbeiteten Kriterien für derartige
Wertungen, einen nicht gefahrlosen Nebenweg für die Forschung an 2).
Die zweite Periode der wissenschaftlichen Psychiatrie war also,
nach der einseitigen Struktur ihrer Methoden und ihrer hirnpatho-
logischen Gesichtspunkte, ebenfalls dem ihr gestellten Problemkreis
nicht nach allen Seiten hin gewachsen. Ihr bleibendes Verdienst
aber ist ein doppeltes : Der Beginn einer Hirnlokalisation bestimmter
Symptomgruppen, insbesondere der Störungen des Sprechens und
der geordneten zweckdienlichen Motilität, des Handelns; und die
Reduktion psychischer Verläufe auf in sich einheitliche Störungen
der Hirnprozesse.
Den beiden skizzierten Perioden ist ein merkwürdiger Mangel
1) Kleist, Unters, z. Kenntn. d. psychomotor. Bewegungsstörungen bei
Geisteskranken. Leipzig 1908.
-) Natürlich ist damit gar nichts wider die grundsätzliche Berechtigung der-
artiger Wertbegriffe in der Psychiatrie ausgemacht. Dieses Problem muß viel-
mehr sorgsam logisch untersucht werden. Es gipfelt in der Frage, inwieweit das
soziale Verhalten zum Kriterium psychischer Tj'pik zu werden vermag. Ich habe
diese Untersuchung an einer besonderen Stelle dieses Buches ausführlich durch-
geführt und kann daher an dieser Stelle einfach darauf venveisen. Ebensowenig
soll, mit der obengenannten logischen Stigmatisierung, der Degenerationsbegriff
und das Konstitutionsproblem in seiner ungeheuren heuristischen, nicht
theoretischen Bedeutung für unsere Forschung abgetan sein. Vielmehr stehe ich
hier auf dem ausgesprochen »endogenen« Standpunkte, den am klarsten Birn-
baum in einer ausgezeichneten Arbeit entwickelt hat (Ztschr. f. d. ges. Xeur. u.
Psych. Bd. 20. 1913. S. 520 ff.).
400 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
gemeinsam, der aber mit Notwendigkeit aus ihrer Arbeitsweise folgt :
sie haben keinen durchgearbeiteten klinischen Krankheits-
begriff, der auf die psychotischen Formen und Ablaufgruppen
anwendbar wäre.
Die erste Periode differenzierte nur die Phänomene und Zustände
voneinander nach einem konstruierten System ihrer fundierenden
Funktionen; aber alle Mannigfaltigkeit, zu deren theoretischer Ord-
nung sie so gelangte, gehörte ätiologisch der einen Störung des
Geistes zu, der psychischen Krankheit, die dämonologisch oder mo-
ralisch bedingt ist.
Die zweite Epoche setzt eine psych ophysi sehe Formel als Er-
klärungsgrund für das Auftreten von psychischen Symptomen an
und verwendet die letzteren nur insoweit zergliedernd und differen-
zierend, als diese Arbeit zur nächsten Bestimmung und Lokalisierung
der psychischen Prozesse dienen kann. Sie überträgt willkürlich
Gesichtspunkte extensiver, räumlicher, morphologischer Trennung
und Ordnung auf psychisches, völlig heterogenes Material. Dessen —
nicht induktiv, sondern nur analytisch zu ermittelnde — Struktur
und dessen eigene Gesetze — die bei der inextensiven Natur des
Psychischen sich doch nur in zeitlichen Verknüpfungen und Zu-
sammenhängen abzudrücken vermögen — werden ganz außer acht
gelassen. Das zeitliche Moment, der Verlauf der Prozesse, spielt
keine Rolle in dieser Theorie. Es ist natürlich nicht so, daß ein
Meister wie etwa Wernicke diesen Dingen keine Beachtung ge-
schenkt hätte; aber wenn er das tat, so geschah es in unbewußtem
Widerspruch zu den leitenden Maximen seiner Theorie, trotz den-
selben, lediglich auf Grund seiner Forscherintuition.
Auf Grund der Vorarbeit dieser beiden Epochen, aber infstarkem
Gegensatz zu ihnen entstand die dritte Periode wissenschaftlicher
Psychiatrie, eingeleitet durch Kahlbaum und zur Höhe geführt
durch Kraepelin. Was diese dritte Richtung an die Materie heran-
trug, war, um es mit einem Schlagwort zu bezeichnen, die noso-
logische Fragestellung.
Es ist trivial, daß die eigentliche Aufgabe der Psychiatrie, die
aller empirischen Wissenschaften, darin besteht, Gesetze über den
Zusammenhang von Phänomenen aufzufinden. Daraus folgt, daß
die endgültige Arbeit der Psychiatrie darin zu bestehen haben würde,
die kausalen Verknüpfungen aller ihrer einzelnen Phänomene nach
Gesetzen zu bestimmen. Diese Arbeit wird eine ätiologische sein,
aber in einem weiteren Sinne, als die zweite Periode diesen Begriff
gefaßt hatte — im Sinne der vollständigen Pathogenese. Es besteht
nun aber ein wesentlicher Unterschied zwischen der vollendeten
pathogenetischen Erkenntnis, oder allgemeiner: der vollständig be-
stimmten Erkenntnis des Gesetzes, d. h. der Bestimmung der hin-
reichenden und notwendigen Bedingungsreihe für den Eintritt der
Phänomene — und andererseits der Erkenntnis davon, daß für diese
Phänomene ein solches Gesetz genetischen Geschehens besteht oder
Die phänomenologischen Aufgaben in der Psychiatrie uaw. 401
zu fordern ist, ohne daß es aber bereits vollständig bestimmt oder
auch nur bestimmbar wäre. Dieser Unterschied ist wesentlich.
Dasjenige, was der zweite Teil der Alternative ausdrückt, ist die
logische Formel für die nosologische Fragestellung; es bestimmt
den Begriff der Krankheit, Krankheitseinheit und ihr Verhältnis
zum Symptom in der Psychiatrie. Daß über diese Begriffe kein
Psychiater recht Bescheid weiß, daß man sich darüber streitet, ob
die Krankheitseinheit eine Realität i), ein Orientierungsgesichts-
punkt 2) oder ein Phantom 3) ist, und welche Rolle bei all diesen Auf-
fassungen das Symptom spielt, beweist nur, daß die mangelhafte
logische Durchbildung der Ärzte dazu führt, selbst relativ einfache
Verhältnisse hoffnungslos zu verwirren.
Der Begriff der Krankheit ist der Begriff eines genetischen Ge-
setzes. Die Krankheitseinheit ist die Einheit dieses Gesetzes. Diese
Einlieit gilt mit Notwendigkeit. Die Frage, ob die Krankheit eine
Realität sei oder nicht, beruht also auf dem Mißbrauch des Wortes
Realität. Sie ist ein Gesetz für Realitäten. Sind beobachtbare
Realitäten diesem Gesetze subsumierbar, so liegt ein Realfall der
Krankheit vor. Weder die Krankheiten selber noch ihre Einheit-
lichkeit beruhen auf bloßen Konventionen, oder sind Orientierungs-
gesichtspunkte. Sondern entweder sie sind; dann sind sie Gesetze
für Sachverhalte; oder sie sind nicht; dann sind sie Phantome.
Die Rede von dem Konventionscharakter der Krankheitsab-
grenzungen beruht auf einem Mißverständnis des Verhältnisses von
pathogenetischer und nosologischer Begriffsbildung. Es ist nämlich
eine verschiedene Fragestellung, ob man die Bestimmungsstücke
des Gesetzes selber sucht, oder ob man nur hinreichende Merkmale
dafür sucht, daß ein solches Gesetz, eine solche Einlieit, vorliegt,
ohne das dessen eigene Merkmale schon bekannt sind. Letzteres
umschreibt den nosologischen Krankheitsbegriff der Klinik, ersteres
den pathogenetischen Krankheitsbegriff der Theorie. Wir sahen
bereits an früherer Stelle dieses Buches, daß Abstraktionen und
Heraushebungen von Gleichartigem immer an einem Gesichtspunkt
orientiert sein müssen, der den Sinn der Bedeutsamkeit davon ent-
hält, wie Gleichartigkeit hier gemeint ist. Der nosologische Krank-
heitsbegriff in seiner jeweiligen Bestimmtheit ist nun eine solche
leitende Maxime für Abstraktionen, Subsumptionen und vorläufige
induktive Schlußweisen. Damit ist nicht gesagt, daß er nur ein
Orientierungsgesichtspunkt ist; er muß vielmehr, sobald er zum
regulativen Prinzip der Ordnung von Phänomenen wird, als gültig
vorausgesetzt werden. Jenseits dieser Ordnung kann er sich als
falsch erweisen; tut er das aber, so hat er auch vom gleichen Moment
1) Unter den Neueren Bleuler, Dem. praec. Wien 1908. S. 221 ff. Vgl
Gruhle, Ztschr. f. d. ges. Ncurol. u. Psych. XVII. S. 116, 118ff.
2) Unter den Neueren Jaspers, AÜg. Psychopathologie. 1913. S. 257.
3) Unter den Neueren Ho che, Ztschr. f. d. ges. Neuro!, u. Psych. XII.
S. Ö40.
Kronfeld, Psychiatrische Erkenntnis. 26
402 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
an seine Rolle als Ordnungsprinzip ausgespielt. Er ist also eine
echte naturwissenschaftliclie Hypothese.
Es ist ohne weiteres klar, daß die letztere Fragestellung die näher-
liegende ist, daß sie die heuristische Vorarbeit tut, um die Beant-
wortung jener ersten Fragestellung, der definitiven, eigentlichen
Aufgabe wissenschaftlicher Forschung, möglich zu machen. Nur
wenn man erkannt hat, daß das einheitliche Gesetz einer gleich-
artigen Genese vorliegt, hat es einen wissenschaftlichen Sinn, dieses
Gesetz mit Bestimmungen zu versehen. Die nosologische Frage-
stellung ist also, gegenüber der pathogenetischen, eine notwendige
Vorarbeit 1).
Es wird klar sein, daß auch die Stellung des Phänomens zur
Krankheit, d. h. die Stellung des Symptoms, eine wesentlich andere
ist, wenn unter Krankheit der klinisch-nosologische oder der patho-
genetische Krankheitsbegriff gemeint ist. Der letztere Fall ist ein-
fach. Ist das ätiologisch-pathogenetische Gesetz vollständig bestimmt,
so besteht zwischen Krankheit und Symptom jene Beziehung zwischen
Grund und Folge, wie sie in allen empirischen Wissenschaften nach
der Theorie der Induktion zwischen Gesetz und Einze Wirkung be-
steht. Es gibt bei vollständig bestimmter Pathogenese keinen prin-
zipiellen Unterschied mehr zwischen primären und sekundären,
Grund- und Nebensymptomen. Vielmehr ist hierbei die Mittel-
barkeit der Abhängigkeit von dem Gesetz graduell abstufbar. Aber
das ist ein idealer Grenzfall. — Je weniger vollständig das genetische
Gesetz bestimmt ist und je mehr hinzutretende Bedingungen sonst
noch mitspielen, um so mehr wandelt sich diese Beziehung des Real-
grundes zur Folge in die des Erklärungsgrundes um.
Anders liegt die Sache beim Verhältnis des klinischen Krank-
heitsbegriffes zum Symptom. Dieser ist ja seinem eigenen Gesetz
nach noch unbekannt und unbestimmbar und nur durch die Sym-
ptome hinreichend definiert. Trotz dieser rein symptomatologischen
Definition enthält er aber mehr als die bloße Summe der Symptome,
die »Symptomkuppelung«. Er enthält nämlich darüber hinaus den
Anspruch, eine Einheit zu sein und ein unbekanntes Gesetz an-
zuzeigen. Die Symptome werden hier durch die Krankheit weder
real kausalisiert noch erklärt noch fundiert; es wird jedoch durch
ihre Zusammenordnung zur klinischen Krankheit behauptet, daß
das Gesetz ihrer Genese das gleiche und von anderen unterschieden
ist. Das Verhältnis von Symptom und Krankheit im nosologischen
Sinne ist also nicht nur ein logisches: von Merkmal und Begriff —
sondern zugleich ein theoretisches: vom Teil zum Ganzen, welches
die Form der Einheit, und zwar der nichtlogischen (synthetischen)
1) Der ätiologische Krankheitsbegriff ist ein Unterbegriff des pathogene-
tischen. Krankheit ist immer das Gesetz einer Wechselwirkung. Von dieser gibt
der ätiologische Krankheitsbegriff die eine Bedingungsreihe an, nämlich die An-
lässe des Eintritts der Krankheit. Er gibt also zu ihrer Wesensbestimmung zwar
die notwendigen Merkmale, aber nicht die hinreichenden.
Die phänomenologischen Aufgaben in der Psychiatrie usw. 403
Einheit hat. Die Symptome sind also zwar logisch als disparate
Inhalte in der Sphäre eines Begriffes (des klinischen Krankheite-
begriffes) darstellbar, aber ihre Beziehung zum Begriffe ist keine
analytische. Der angemessene Ausdruck der Beziehung des noso-
logischen Krankheitsbegriffes zu den Symptomen wäre vielmehr ein
synthetisches Urteil vom Typus der konjunktiven Urteile^).
Zwei Bemerkungen praktischer Art müssen freilich diesen prin-
zipiellen Festsetzungen angefügt werden. Erstens die, daß tatsäch-
lich der Stand der Ausbildung unserer Krankheitsbegriffe ein von
Krankheit zu Krankheit so wechselnder ist, daß unsere Trennung
in den nosologischen und den pathogenetischen Begriff nicht mehr
ist als ein ganz allgemeiner Gesichtspunkt der Unterordnung dieser
verschieden weit ausgebildeten Krankheitseinheiten unter ein logisches
Schema. Diese Unterordnung ist aber bei der großen Verschieden-
artigkeit derselben oft nicht streng möglich. Das ändert natürlich
an der prinzipiellen Sachlage nichts. Den Begriff der Psychopathie
haben wir aus Gründen der Vereinfachung zunächst überhaupt aus-
geschaltet und erörtern ihn an anderer Stelle. Zweitens ist die prak-
tische Ansicht vom Verhältnis der Symptome zur Krankheit eine
etwas andere als die hier dargelegte grundsätzliche. Praktisch han-
delt es sich nämlich nicht sowohl darum, unter Voraussetzung eines
nosologischen Krankheitsbegriffes über die Zugehörigkeit von Sym-
ptomen zu ihm zu entscheiden; sondern es handelt sich darum, eine
Krankheit aus ihren Symptomen zu erkennen. Gegeben sind hierbei
die Symptome. Sie sind Anzeichen der Krankheit. Sie können
diese Anzeichen freilich bloß sein, wenn sie als direkte oder abge-
leitete Merkmale des Krankheitsbegriffes denkbar sind. Aber ihre
Zugehörigkeit zum Krankheitsbegriff ist nur ein notwendiges, koin
hinreichendes Kriterium für ihr Zeichensein, für ihren Wert als Er-
kennungsgrund der Krankheit. Denn jedes Phänomen ist prinzipiell
als Folge verschiedener Bedingungskonstellationen möglich 2). Prak-
tisch entscheiden hier die Ausschließlichkeit und statistische Häufig-
keit der Zugehörigkeit eines Symptoms zu einer Krankheit über
seinen pathogenomonischen Wert. Aber nichts spricht grundsätzlich
dagegen, daß ein pathogenomonisches Symptom pathogenetisch
höchst abgeleitet und irrelevant zu sein vermag. Für uns handelt es
sich um diese äußerlich praktischen Gesichtspunkte zunächst nicht.
Das Aufwerfen der nosologischen Fragestellung in der Psychiatrie
war gerade hier von besonderer Notwendigkeit. Denn die Anwend-
barkeit des pathogenetischen Kranklieitsbegriffes auf Psychisches,
und die Kriterien dieser Anwendbarkeit bieten viel größere Schwierig -
1) Vgl. hierzu die Ausführungen Meyerhofs, a. a. 0. S. 81 — 88, von denen
hier freilich in vielen Einzelheiten abgewichen wird.
2) Dimit ist freilich noch nicht die oft behauptete Rede gerechtfertigt, kein
einziges psychotisches Symptom komme nur bei einer Krankheit vor. Diosor Satz
der »Erfahrung« spricht nur gegen die Güte dieser Erfahrung und der exakten
Symptomanalysen, auf denen sie beruht.
26*
404 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
keiten, als das etwa in der somatischen Medizin der Fall war. Dieser
Abstand beider Disziplinen hat seinen guten Grund, nicht etwa bloß
im verschiedenen Alter beider, wie man gerne behauptet, sondern
vor allem in ihren verschiedenen Arbeitsbedingungen.
Die Krankheit als genetisches Gesetz umfaßt immer eine Be-
dingungsreihe, die in eine zweite in sich geschlossene Reihe von Be-
dingungen von außen her eingreift: nämlich in das Leben und die
Funktionsweisen des Organismus. Beide Bedingungsreihen treten
in Wechselwirkung miteinander. In der somatischen Medizin war
es der Physiologie möglich, wenigstens die eine dieser Bedingungs-
reihen, die des lebenden und funktionierenden Organismus ohne die
Krankheit, gesondert zum Gegenstand ihrer Forschung zu machen;
und es ist ihr gelungen, diese Bedingungsreihe innerhalb der heutigen
methodischen Grenzen zu bestimmen. Daraus und aus gleichartigen
Methoden und Bestimmungen am kranken Organismus war, für
manche Krankheiten, eine Rekonstruktion des pathogenetischen
Prozesses möglich. Ganz anders liegt das alles im Psychischen!
Hier ist die genetische Bedingungsreihe der normalen Funktionen
überhaupt nicht zu ermitteln; sie gibt vielmehr ein vorläufig unlös-
bares psychophysisches Problem auf. Zu ermitteln ist nur Art und
Leistung der Funktionen selber. Die typischen Seinsweisen und For-
men der normalen psychischen Funktionen sind abstraktiv, onto-
logisch und phänomenologisch feststellbar und experimentell nach
verschiedenen Momenten prüfbar. Außerdem sind einige kausale
Inhaltszusammenhänge innerhalb des Psychischen als typisch kon-
statierbar. Genau das Gleiche, eher noch weniger, ist auch bei der
kranken Psyche erreichbar. Es fehlt also ganz das Material gene-
tischer Beziehungen, aus dem Krankheitsgesetze herleitbar werden.
Von den sogenannten organischen Psychosen gilt das natürlich nur
eingeschränkt.
Die Psychiatrie hat daher vorerst bei der Lösung der nosologischen
Aufgabe stehen zu bleiben und das Bestehen von Krankheitseinheiten
mit Merkmalen zu bestimmen, ohne die Krankheitseinheiten selber
pathogenetisch determinieren zu können.
Kraepelin hat dies klar erkannt. Er will echte nosologische
Einheiten aufstellen, und zwar auf Grund einer rein deskriptiven
^'hialyse. Die Gesichtspunkte, unter denen er vorgeht, beruhen auf
einer abstraktiven Heraushebung des Gleichartigen. Nach ihrer
Gleichartigkeit grenzen sich die Kranklieitsbilder ab. Wir wissen
nun schon, daß die Abstraktionen, die auf derartige Gleichartigkeiten
abzielen, entweder ganz willkürlich sind oder einem bestimmten
Abstraktionsgesichtspunkt folgen. Dieser Abstraktionsgesichtspunkt
ist, wie schon festgestellt wurde, der, daß die Gleichartigkeit einen
Rückschluß auf die Gesetzmäßigkeit gestattet; ist also die leitende
Maxime möglicher Induktionen aus dem Abstraktionsmaterial. Das
wurde bereits anläßlich der Theorie der Induktion erörtert. Kraepe-
lin nun stellt vier solche leitende Maximen als Gesichtspunkte der
Die jiliänomenologischen Aufgaben in der l'.sychiatrie usw 405
Abstraktion für sein Material auf. Erstens die Gleichartigkeit der
Ursache, Zweitens die Gleichartigkeit des anatomischen Befundes.
Drittens die Gleichartigkeit der Verläufe, Viertens die Gleichartig-
keit der Zustände, Die beiden ersten Gesichtspunkte der Abstraktion
gehören zur pathogenetischen Fragestellung im engeren 8inne; aber
ohne daß durch sie beide diese Fragestellung im wesentlichen er-
schöpft würde. Beide sind vielmehr nur geeignet, äußere Indices für
die Annahme bestimmter Pathogenesen zu sein, ohne diese in ihrem
Wesen selbst aufzuhellen und zu bestimmen. Beide geben niclit
Merkmale für das Gesetz der Wechselwirkung zwischen den beiden
Bedingungsreihen, aus dem sich uns das pathogenetische Wesen der
Krankheit zusammenstellt, sondern beide geben nur Anzeichen des
somatischen Begleitprozesses. Aus ihnen kann nie mehr geschlossen
werden, als daß eine bestimmte Ursache Hirnveränderungen gesetzt
hat, die — im Falle einer diffusen Rindenerkrankung — geistige
Veränderungen, Verblödung, eventuell den Tod und neurologische
Gehirnsymptome verschiedener Art mit sich brachten. Die psycho-
logische Artung der geistigen Veränderungen und der Defekte läßt
sich einsichtig aus diesem Gesichtspunkte heraus nicht bestimmen.
Das hat schon der alte Spiel mann, schon Griesinger gewußt.
Davor steht als Riegel das psychophysische Problem. (Wir sehen
hierbei ab von den lokalisierbaren Einzeldefekten, deren bloße Sum-
mati on nie das Ganze des Geistes und der geistigen Störung geben
kann.) Nicht als ob wir im mindesten die große praktische Wichtig-
keit derartiger Fragestellungen in Zweifel ziehen wollten: Die Ge-
schichte der Abgrenzung der organischen Psychosen wäre eine voll-
kommene Widerlegung solcher Einseitigkeit, Aber dies darf uns
nicht hindern, ganz prinzipiell festzustellen, daß eine vollständige
pathogenetische Erforschung der Psychosen auf diesem Wege nicht
restlos durchführbar ist.
Es bleiben also die beiden anderen grundlegenden Abstraktions-
gesichtspunkte des Kr aepe linschen Programms. Diese beiden —
das Verlaufs- und das Zustandskriterium — enthalten in der Tat
die Vorbedingungen zur Schöpfung nosologischer Entitäten. Allein
Abläufe sind nur Folgen von Zuständen aufeinander; mithin liegt,
worauf zuletzt noch Bleuler^) hingewiesen hat, das Kriterium für
die Sonderstellung einzelner Ablauf typen in den Zuständen, die
aufeinander folgen; oder um es kurz zu sagen: das Ablaufskriterium
ist im Prinzip auf das Zustandskriterium zurückführbar. Sehen
wir von den organischen Psychosen ab, deren Sonderstellung durch
die beiden anderen Abstraktionsgesichtspunkte verbürgt wird, und
halten wir uns lediglich an das Konvolut von Psychosen, was dami
noch übrig bleibt und in dem man die Formen der Dementia praecox
und Schizophrenien einerseits, des manisch depressiven Irreseins und
der Psychopathien und ihrer Psychosen andererseits hat unter-
1) Dem. praecox. S. 229.
406 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie dea Psychischen.
scheiden wollen. Was war der grundsätzliche Unterscheidungs-
gesichtspunkt der nosologischen Stellung dieser Verlaufstypen? Zu-
nächst wirklich der rein äußerliche und mit dem Wesen der betreffen-
den Psychosen nicht einsichtig verbindbare Gesichtspunkt der
Prognose. Man glaubte die aus sich heraus progredienten Abläufe
von denen unterscheiden zu können, bei denen im allgemeinen eine
Rückkehr zur Gesundheit einzutreten pflegte. Allein solange es
sozusagen äußerer Zufall blieb, daß gewisse nosologische Typen eben
fortschreitend, andere reversibel waren, und solange diese Eigenschaft
nicht aus dem nosologischen Wesen der betreffenden Psychosen be-
gründet werden konnte, solange war dieser Einteilungsgesichtspunkt
ein zweischneidiges Schwert. Schon die bloße Statistik der Ablauf -
typen mußte zeigen, daß man so nicht zum Ziele kommen konnte.
Verlaufstypen, die lange Jahre hindurch dem manisch depressiven
Irresein anzugehören schienen, nahmen dann doch einen progre-
dienten Verlauf. Typische Melancholien verliefen bald progredient
(im höheren Alter) bald reversibel. Katatone Verlaufstypen begannen
mit vieljährigen zyklischen Bildern; andere hatten zwar einen typi-
schen Anfangsverlauf, dann aber nach Jahren Remissionen von
langer Dauer (selbst von Jahrzehnten), so daß man praktisch von
ihrer Heilung sprechen konnte. Das und noch vieles andere zu diesem
Verhalten ist ja seit langem das beliebteste Diskussionsthema der
psychiatrisch-klinischen Literatur. Ein allgemeiner Wirrwarr ist
in der Auffassung unserer nosologischen Entitäten entstanden; jeder
Forscher hat seine eigene »Einteilung«, alle reden von ihren Er-
fahrungen^), keiner hat aber einen über dies bloße äußerliche »Er-
fahren« hinausgehenden Gesichtspunkt für seine Ordnungen. Manche
geben das zu und sind »Skeptiker«: sie wissen wenigstens, daß dies
klinische Herumreden zwecklos ist (Ho che). Andere halten die
Veräußerlichung der klinischen*"' Arbeit für etwas, das nun einmal
in ihrem Wesen liege; sie behandeln die nosologischen Einteilungen
wie eine Konvention, wie nomenklatorische Etiketten; auf Grund
'1) Urstein arbeitet vorwiegend mit den Erfahrungen anderer. Aber dafür
hat er das Verdienst, die Veräußerlichung der rein klinischen Gesichtspunkte am
weitesten getrieben zu haben und somit die allgemeine Verwirrung in klinischen
Fragen erfreulich erhöht zu haben. Erfreulich : denn wenn die »Klinik « sich immer
wieder so ad absurdum führt, werden ihr vielleicht doch einmal die bis jetzt so ver-
ächtlich beiseite geschobenen, an der Phänomenologie orientierten theoretischen
Gesichtspunkte willkommen sein. Dann wird es wenigstens nicht mehr vorkommen,
daß der modernste und hervorragendste unserer Kliniker als Primärsymptom der
Schizophrenie die »Lockerung des Assoziationsgef üges « bezeichnet — horribile
dictu — ; oder daß ein anderer Autor klinischer Riesenwerke als Grundstörung der
Katatonie die »intrapsychische Disharmonie« nicht nur nennt, sondern noch mit
Stolz als seine größte Entdeckung ausgibt, und folgerichtig in Prioritätskonflikte
mit einem anderen klinischen Champion gerät, der nämUch die »intrapsychisohe
Ataxie« entdeckt hat. Beide Forscher, welche hier eine Geistesstörung durch die
seelische Disharmonie erklären, welche diese im allgemeinen mit sich bringt, werden
die Priorität ihrer Entdeckung doch wohl Fritz Reuter überlassen müssen, der
zuerst die Armut von der »Powerteh« ableitete.
Die phänomenologischen Aufgaben in der Psychiatrie usw. 407
reicher aber begrifflich verschwommener Erfahrungen »einigt« man
sich über die nosologische Stellung irgendwelcher Verläufe unter
dem Gesichtspunkt, ob es statistisch oder »praktisch« zweckmäßig
sei, irgendeinen Fall unter diese oder jene »Gruppe« zu bringen. Die
Erweiterung der einzelnen nosologischen Abgrenzung zur »Gruppe 4
ist nur die entschuldigende Ausflucht dafür, daß die Subsumtion
der Fälle tatsächlich fast nie glatt aufgeht, — natürlich liegt das nur
an der mangelnden Strenge der Abgrenzung unter einem so äußer-
lichen Gesichtspunkte wie dem ungefähren statistisch häufigsten
Verlauf. Selbst unsere besten Kliniker überkommt zuweilen das
Bewußtsein der Unwürdigkeit eines derartigen Konventionalismus;
man lese etwa Bleulers trocken-ironische Aufzählung der litera-
rischen Meinungen zur Nosologie der Dementia praecox, die in den
Worten gipfelt: »Viele Patienten tragen genau so viele Diagnosen
mit sich herum, als sie Anstalten besucht haben. . Auch innerhalb
der gleichen Schule ist dem einen schon eine Paranoia, was der andere
noch eine Melancholie nennt. Die Zwischenformen, die atypischen
Fälle, muß man eben durch einen Gewaltspruch irgendwo unter-
bringen«^). Nur begreift sich nicht, warum Bleuler gerade den
Kr aepe linschen Begriff der Dementia praecox von dieser ver-
nichtenden Kritik ausnehmen v/ill. Er ist ja prinzipiell unter genau
so äußerlich-konventionellen Gesichtspunkten gebildet wie die an-
deren und älteren Krankheitsbegriffe. Daß eine glänzende Intuition
hierbei trotz dieser verfehlten Bildungsweise des Begriffs und der
Abgrenzung auf eine reale Einheit gestoßen ist, die wir jetzt alle
herausfühlen, ändert doch nichts an unserem Urteil über den noso-
logischen Begriff. Das, was dahinter steht, läßt sich schon noch
besser, von vertiefterem systematischem Standpunkt aus begründen.
Auf das Wie werden wir die Antwort nicht schuldig bleiben.
Eine Gruppe von Forschern, vor allem Ziehen, machte ange-
sichts dieser Sachlage den Weg der Konventionen über klinische
Ablauf typen nicht mit. Allein wenn Ziehen die Kranken nach der
vorwiegenden Symptomengruppe klassifiziert und hierfür als heu-
ristische Leitlinien etwa aufstellt: die Symptome sind die Krank-
heiten, und bei ihrem Wechsel transformiert sich die Krankheit, —
so ist das keine Lösung des nosologischen Problems, sondern eine
völlige Resignation vor demselben. Wo ist denn bei ihm die Er-
kenntnis deutlich und begründbar, daß seine »Krankheitsbegriffe«
für ein Gesetz des pathogenetischen Geschehens einstehen? — was
wir als nosologischen Grundgesichtspunkt gefordert haben. In
einer der wertvollsten und reifsten Arbeiten, die den Übergang aus
der klinischen in die phänomenologische Periode ankündigten, hat
Schroeder hierüber bereits das Wesentliche gesagt*).
1) a. a. 0. S. 226.
2) Über die Systematik der funktionellen Psj-chosen, Gaupps Zentralblatt
1909. S. 903. Nichts ist vielleicht charakteristischer für die Aufnahme, die der-
artige Bestrebungen nach Vertiefung der Gesichtspunkte in den Kreisen der
408 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Wir haben mit allen diesen Verwirrungen und Konventionalismen
der Klinik, die für unsere Absichten relativ gleichgültig sind, nur
unter dem einen Gesichtspunkt zu schaffen: daß sie nur darum
haben entstehen können, weil niemals die volle und bewußte Kon-
sequenz daraus gezogen wurde, daß das Zustandsbild das Kri-
terium des Ablauftypus igt und sein muß. Tatsächlich war
es das auch in den klinischen Verlaufseinteilungen immer, ohne
daß man darauf geachtet oder es gar mit konsequenter Genauigkeit
systematisch untersucht hätte. Denn was ist die Kraepelinsche
Aufstellung der Endzustände anders als das faktische Eingeständnis,
daß unser prinzipieller Satz gilt? Man hat also, freilich sozusagen
aus Unachtsamkeit, das Zustandsbild in diese Rolle für die Noso-
logie eingesetzt. Aber allerdings: niemals auf Grund einer aus-
reichend genauen Deskription, sondern immer nur in einer verwasche-
nen Gemeinsamkeit und Verbundenheit mit vielen anderen Zustands-
bildern derselben Fälle, wobei man ganz willkürlich bald auf dies,
bald auf jenes den Wert legte; bald auf das ihnen allen Gemeinsame,
bald auf gewisse affektive Änderungen, bald auf sonstiges sich Ver-
änderndes an ihnen. Um die Differenz der klinischen und der zu
fordernden Fragestellung auf eine präzise Formel zu bringen: der
psychiatrische Kliniker fragte bisher, liegt im Verlauf ein Hinweis
auf die Abfolge künftiger Zustände (Endzustände) ? Er sollte fragen,
liegt im Zustandsbild ein Kriterium der Zugehörigkeit zu einer be-
stimmten Krankheitseinheit — die dann auch das Gesetz des Ver-
laufes, die Progredienz, innerhalb gewisser Grenzen bestimmt? Nur
die letzte Fragestellung genügt der Forderung, nosologische Krank-
heitsentitäten aufzustellen, die aus ihren Symptomen erkannt werden.
Nur so fragt auch die somatische Klinik, die doch sonst das Vorbild
der psychischen ist.
Kliniker immer wieder gefunden haben, als dasjenige, was Binswanger (Jahres-
kurse f. arztl. Fortbildung. 1,5, S. 44 ff.) darüber zu sagen weiß. WennSchroeder
etwa ausführt, nicht die zerebrale Genese und Lokalisation ergebe ein psychopatho-
logisches Principium individuationis, sondern die psychotischen Phänomene
müßten danach eingeteilt werden, »wie sie wirklich sind « — so findet Binswanger
diese »Betrachtungsweise« »seltsam anmutend«. Dafür erzählt er Mythologien
über die psychophysische Energie und löst »auf Grund unserer Erfahrungen am
Krankenbett« (S. 51), wenngleich nur »vorerst« (S. 53), das Problem, ob der
psychophysische Parallelismus oder das Kommerzialtheorem richtig sei, zugunsten
des ersteren. Und mit solchen Anschauungen soll man sich nun zu verständigen
hoffen ! Daß er den Begriff des »regulativen Prinzips« in dieser Arbeit Külpe
zuschreibt, sei zum Vergnügen des Lesers noch verraten.
Man pflegt gerne das Ziehen sehe Systematisierungsprinzip der Psychosen
seiner logischen Struktur nach mit den Linneschen botanischen Klassifikationen
in Analogie zu bringen und in Gegensatz zu den »natürlichen« Systemen zu stehen.
Insofern nicht ganz mit Recht, als der Abstraktionsgesichtspunkt des Linneschen
Systems zwar auch ein willkürlicher ist wie der Ziehens, aber tatsächlich in jedem
Falle den Umfang des durch ihn bestimmten Begriffs eindeutig und hinreichend
bestimmt, so daß nie ein Zweifel sein kann, ob ein Gegenstand unter ihn fällt oder
nicht. Das gilt für die Ziehenschen Klassenbegriffe nicht ganz mit der gleichen
Strenge.
Die phänomenologischen Aufgaben in der Fsychiatrie usw. 409
Eine Untersuchung, ob die Beantwortung dieser letzten Frage-
stellung überhaupt möglich ist, kann nur durch die psycho-
logische Analyse der Zustandsbilder gegeben werden.
Diese muß freilich von größerer Eindringlichkeit und besserer theo-
retischer Fundierung sein, als sie es zu klinischen Zwecken bisher war.
Die zahlreichen und teilweise sehr wertvollen symptomatologischen
Untersuchungen, die es bisher ja auch schon immer gegeben ha*^,
dienten ihr freilich schlecht oder gar nicht. Denn sie gingen fast alle
von allgemeinen psychologischen oder hirnphysiologischen Theorien
aus, die durch sie bestätigt oder ausgebaut werden sollten.
Die ersten Ansätze zur Beantwortung unserer Fragestellung
finden sich, neben der erwähnten Sehr oeder sehen Arbeit, in einer
Arbeit von Wilmanns^) über die Frage, wieweit das Beieinandersein
von manisch depressiven und katatonen Symptomen in einem
Zustandsbilde einen Rückschluß auf dessen Progredienz zuläßt.
Auf ein weit höheres Niveau der Diskussion erhob Jaspers unser
Problem in seinen verschiedenen Arbeiten, insbesondere bereits in
seiner ersten Arbeit 2). Er zeigte hier, daß die Disjunktion der »funk-
tionellen« Psychosen in heilbare und unheilbare nur eine äußerliche
Konsequenz praktischer Art ist, die für einen inneren Gegensatz
einsteht. Entweder nämlich liegt die Psychose im Rahmen der von
ihr befallenen Persönlichkeit, sie ist eines Reaktion oder Ent-
wicklung dieser Persönlichkeit, welche nur aus intensiven Struktur-
veränderungen derselben im Zusammenwirken ihrer psychischen
Komponenten erklärt wierden kann. Oder die Psychose ist ein
Prozeß, eine heteronome Umwandlung der Persönlichkeit durch
eine ihrem Wesen fremde, über sie hereinbrechende seelische Neu-
entwickelung. Kann man beim ersten Typus >>das ganze Leben aus
einer Persönlichkeitsanlage ableiten«, so gilt für den Prozeßtypus:
>>Man findet bei der Ableitung aus einer Persönlichkeit seine Grenzen
an dem zu einer bestimmten Zeit auftretenden Neuen, der hetero-
genen Umwandlung«^).
Woran erkennt man nun, ob ein bestimmtes Zustandsbild zur
ersten oder zur ZAveiten dieser beiden prinzipiell möglichen Gruppen
gehört? Hier ist der Punkt, wo in die psychiatrische For-
schung die Phänomenologie einzugreifen hat und in ent-
scheidender Weise klärend und weiterführend zu wirken
vermag.
Die Phänomenologie in ihrer psychiatrischen Anwendung könnte
prinzipiell ganz unabhängig sein von allen symptomatologischen
Diskussionen im Hinblick auf ihre Kranklicitszugehörigkeit. Sie
könnte das Gebiet des ihr von anderer Seite als krank bezeichneten
seelischen Lebens genau so zu erfassen und abstraktiv zu zergliedern
1) Zur Differentialdiagnostik der funktionellen Psychosen. Zentralblatt f.
Nervenheilkunde. 1907.
2) Eifersuchtswahn usw. Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. I. S. 567 ff.
3) a. a. 0. S. G12.
•410 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
versuchen, wie sie dies im Bereiche des Gesunden zu tun vermag.
So würde sich ein unbegrenztes Feld von Einzeluntersuchungen er-
öffnen, die ohne jede Beziehung zu den eigentlichen psychiatrisch-
klinischen Aufgaben verbleiben. Es gibt eine Reihe solcher Arbeiten.
Zu den besten unter ihnen zählt Schelers Untersuchung über Selbst-
täuschungen, Spechts und Hirts Arbeiten zur Phänomenologie der
Trugwahrnehmungen, Mayers Studie zur Phänomenologie der
Glücksgefühle, die alle in den Bänden der Zeitschrift für Patho-
psychologie erschienen sind, und manche andere. Allein es gibt
Gesichtspunkte, welche den Wert dieser Arbeiten relativ zurück-
treten lassen hinter dem derjenigen phänomenologischen Arbeits-
weise, welche sich an den Aufgaben und Zielen der psychiatrischen
Gesamtforschung orientiert.
Wir sprachen, um den Wert dieser zweiten Arbeitsweise deutlicher
zu machen, bereits davon, daß das phänomenologische Erfassen
ohne eine abstraktive Komponente nicht möglich ist, und daß jede
Abstraktion den Gesichtspunkt verlangt, unter welchem sie sich als
wesensbestimmend und bedeutsam rechtfertigt. Dieser Gesichts-
punkt nun ist der des zugrundeliegenden Gesetzes für die betreffende
Erscheinungsreihe. Und dieses Gesetz, dessen induktive Bestimmung
nicht mehr Aufgabe der Phänomenologie ist, kann beim kranken
Seelenleben eben nur bestimmt sein durch die nosologische
Artung der Krankheit, in deren Verlauf jenes Seelenleben als
Symptom, als reale Folge mit Notwendigkeit auftritt. So ist phäno-
menologisches Begreifen zwar nicht Begreifeji des Symptoms aus dem
Gesetz der Krankheit, wohl aber ist es Begreifen des psychotischen
Phänomens in seiner Eigenart, und diese Eigenart ist eine
symptomatologische Notwendigkeit.
Ein weiterer Gesichtspunkt ergab sich für Jaspers aus der phäno-
menologischen Angemessenheit unseres Erlebenkönnens patho-
psychischer Phänomene. Jaspers i) sagt: »Diese sind das Objekt
phänomenologischer Untersuchung, die feststellt und vergegenwärtigt,
wie sie eigentlich sind. Drei Gruppen von Phänomenen sind auf diese
Weise zu gewinnen. Die einen sind von uns allen im eigenen Leben
erkannt. Sie sind ebenso beschaffen wie die entsprechenden, nor-
malerweise verständlich bedingten Seelen Vorgänge. Nur durch ihre
Genese unterscheiden sich die im übrigen völlig gleichen Phänomene
der Kranken, z. B. viele Erinnerungsfälschungen. Die zweiten sind
von uns als Steigerungen, Herabsetzungen oder Mischungen selbst-
erlebter Phänomene zu erfassen, z.B. die selige Ergriffenheit mancher
akuter Psychosen, die Pseudohalluzinationen, die perversen Trieb-
regungen. Wie weit hier unser verstehendes Vergegenwärtigen geht,
auch ohne die Grundlage eigener bewußter Erlebnisse ähnlicher
Richtung, das ist eine nicht endgültig zu beantwortende Frage. Es
1) Die phänomenologische Porschungsrichtung in der Psychopathologie.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. IX. S. 399.
Die phänomenologischen Aufgaben in der Psychiatrie ußw. 411
scheint manchmal, als ginge unser Verstehen weit hinaus über die
Möglichkeit auch nur ähnlichen eigenen Erlebens. Die dritte Gruppe
von krankhaften Phänomenen wird vor diesen letzteren durch völlige
Unzulänglichkeit für ein verstehendes Vergegenwärtigen ausge-
zeichnet. Wir kommen ihnen nur durch Analogien und Bilder näher.
Und wir bemerken sie im Einzelfall nicht durch positives Verstehen,
sondern durch den Stoß, den der Gang unseres Verstehens durch
dieses Unverständliche erfährt. Hierhin mögen z. B. alle die ,ge-
machten' Gedanken, ,gemq,chten' Stimmungen usw. gehören, von
denen viele Kranke zweifellos als Erlebnissen berichten, die wir aber
immer nur durch diese und ähnliche Ausdrücke und durch eine
Reihe von Feststellungen dessen, um was es sich nicht handelt,
identifizieren«.
Dieser Gesichtspunkt Jaspers' ist heuristisch von großem Werte
gewesen. Er verlegte das Kriterium dafür, ob ein psychisches Phä-
nomen aus den Grenzen einer Persönlichkeit heraus erwuchs oder ihr
fremd und aufgepfropft war, ins Nacherlebenkönnen des Beobachters.
Dazu sind freilich seine Annahmen über die untrügliche Gewißheit
des Verstehens, wie er sie formluiert hat, notwendige Voraussetzungen,
Wir haben allerdings diese Annahmen mit gewichtigen Gründen be-
kämpfen müssen; soll uns nun der Jaspers sehe Gesichtspunkt
heuristisch wertvoll bleiben, so werden wir ihn- in bestimmter Weise
zu transformieren haben. Davon wird sogleich noch zu sprechen sein.
Jedenfalls: die Problemstellungen klinischer Nosologie spitzen
sich auf eine Reihe von Voraussetzungen zu, aus welchen die
Phänomenologie — und sie allein — einen Ausweg zu
finden berufen ist. Vergegenwärtigen wir uns kurz noch einmal
die Bedingungen, welche sie vorfindet. Zunächst ergibt sich aus
der klinischen Fragestellung selber, daß die allein weiterführende
Aufgabe in der Deskription seelischer Zustände besteht.
Der Gesichtspunkt für diese deskriptive Analyse hat zu sein, ob aus
diesen Zuständen erkennbar ist, welche von ihnen aus der seeli-
schen Struktur der Persönlichkeit und dem Gesetz des Zu-
sammenwirkens ihrer Eigenschaften restlos erklärbar sind, und welche
von ihnen nur durch die Annnahme einer der Persönlichkeit hete-
ronomen psychischen Umwandlung, eines Prozesses erklärt
werden können. Dieser Gesichtspunkt soll zugleich die leitende
Maxime der phänomenologischen Abstraktionen sein, soweit es sich
bei dem psychotischen Material um ein psychotisches Erleben
handelt. Als heuristischer Wegweiser war uns Jaspers' Feststellung
willkommen, daß unser Nacherlebenkönnen vor gewissen psycho-
tischen Phänomenen absolut versagt.
Was liegt nun näher, als anzunehmen, daß unser Nacherleben
gerade vor jenen Phänomenen versagt, welche nicht aus dem
Ganzen' der Persönlichkeit erwachsen, sondern die spezi-
fischen Merkmale des Prozesses sind? Die Persönlichkeitsfremdheit
eines Phänomens, die Ichfremdheit, wird zum Erklärungs-
412 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
grund seiner Unverständlichkeit für unser Nacherlebenkönnen,
und dieses zum Erkenntnisgrund für das Vorliegen eines
psychotischen Prozesses.
Nun ist freilich, wie wir gezeigt haben, die Struktur unseres Nach-
erlebens etwas so Komplexes und Verschwommenes, daß es gewagt
wäre, dieses Nacherleben, so wie Jaspers es will, als objektives
Signal für unsere nosologischen Abgrenzungen zu benutzen. Nur
zu berechtigt wäre der Einwand, daß wir bei einem solchen Vorgehen
dem subjektiven Ermessen unserer Ein^ühlungsfähigkeit die Ent-
scheidung über ein Problem überwiesen, welches nur eine objektive
und wissenschaftlich gesicherte Behandlung verträgt. Wir werden
deshalb nicht unser Nacherlebenkönnen zum Richter über den Prozeß -
Charakter bestimmter Symptome einsetzen, wie das Jaspers getan
hat, sondern werden den Prozeßcharakter in der besonde-
ren Struktur der Symptome selber suchen. Denn nur wenn
er hier vorhanden ist, kann er zum Anlaß werden, auch unserem Nach-
erleben Schwierigkeiten zu bereiten.
Die Frage liegt logisch eigentlich sehr einfach. Alles psychotische
Erleben ist entweder seiner Struktur nach der Struktur der erlebenden
Persönlichkeit adäquat, oder nicht. Im letzteren Fall sprechen wir
vom Prozeß. Solche Erlebnisse, welche Anzeichen des Prozesses sind,
unterscheiden sich von den aus der Persönlichkeit erwachsenen Er-
lebnissen durch ihre Persönlichkeitsfremdheit, ihre »Ichfremdheit«
im Hinblick auf diese Persönlichkeit. Die erlebende Persönlichkeit
erlebt sie in einer ihr fremden Weise. Phänomenologisch sind wir
gezwungen, an Stelle der nur theoretisch konzipierbaren Persönlich-
keitsformel vorerst auf diese fremde Weise des Erlebens das
Gewicht zu legen. Ichfremdheit für das Erleben ist das
phänomenologische Kennzeichen von Symptomen des Pro-
zesses. Ichfremdheit nicht für den verstehenden Beobachter, sondern
für das erlebende Subjekt selber.
In welchem Verhältnis steht nun dieses Kriterium zu
dem Prozeß selber, und wie wird es phänomenologisch
bestimmt?
b) Die pathologische Intentionalität.
Es wird uns das nur verständlich werden, wenn wir einige prinzi-
pielle und theoretische Feststellungen machen, die ihrerseits über den
phänomenologischen Rahmen hinausgehen. Wir knüpfen dabei an
das vorher über den Krankheitsbegriff Gesagte an. Krankheit, so
hatten wir ausgeführt, sei das Gesetz der Wechselwirkung zweier
Bedingungsreihen. Die eine von ihnen, der normale seelische Or-
ganismus, bildet ohne die andere Reihe ebenfalls die in sich geschlossene
Einheit eines Gesetzes. Treten innerhalb dieser einen Bedingungsreihe
relative oder intensive Änderungen in den Bedingungen ein, so kann
ihr Zusammenwirken anders verlaufen; jedoch werden auch dann die
Die phänomenologisohon Aufgaben in der Psychiatrie usw. 413
durch diese Bedingungsreihe determinierten Greschehnisse und Abläufe
restlos und geschlossen aus ihren Bedingungen bestimmt und gesetz-
mäßig hcrleitbar sein. Es wird Nichts geschehen, das nicht aus der
vorgegebenen Bedingungsreihe determinierbar wäre. So liegt der
Fall bei den psychischen Abläufen, welche dem Wesen einer Persön-
lichkeit adäquat sind, sei diese Persönlichkeit nun »normal« oder
»abnorm«.
Tritt jedoch Krankheit — oder wie wir zuletzt sagten: ein psycho-
tischer Prozeß — in das Bereich unserer Untersuchung ein, so besteht
jenes erstgenannte logische Verhältnis: die Wechselwirkung zweier
Bedingungsreihen. Und für unsere Erkenntnis liegt dieser Fall so,
daß wir das Gesetz dieser Wechselwirkung nicht bestimmen können;
wir wissen nur, daß es besteht. Ebensowenig ist uns die hetoronomc
Bedingungsreihe selber zugängig; höchstens einige nicht wesentliche
physisch-ätiologische Hinweise auf sie. Was uns unmittelbar ge-
geben ist, ist der psychische Effekt jenes Wechsel wirkungs-
gesetzes in seiner ungegliederten Ganzheit. Der Gesichtspunkt
unserer Abstraktionen aus diesem vorgegebenen Material kann nun
einmal der sein, daß wir das Bestehen des Persönlichkeitsgesetzes
zur Leitmaxime erheben. So kommen wir zur Aussonderung all
derjenigen psychischen Vorgänge, welche ihrerseits aus Bedingungen
determinierbar sind, unter denen solche des Krankheitsprozesses
selber noch fehlen. Allein einmal werden wir damit nicht sehr weit
kommen, und zweitens kann uns das nosologisch gar nichts nützen.
Denn uns liegt doch gerade am Erfassen derjenigen seelischen Züge,
welche uns über das Persönlichkeitsgesetz hinaus Anzeichen des
Vorliegens eines psychotischen Prozesses sind. Wir haben nun als
negative Bedingung der Erkenntnis des Prozeßcharakters von Sym-
ptomen das Herausfallen aus dem Persönlichkeitsgesetz. Dies ist
uns ein Zeichen dafür, daß eben nicht bloß die eine Bedingungsreihe
des psychischen Organismus vorliegt, sondern noch eine zweite in
sie eingreifen wird. Wir vollziehen nun diese Abstraktionen unter
einem doppelten Gesichtspunkte ^) : einmal im Hinblick auf die das
betreffende psychische Einzelgeschchen fundierende Geschehens-
klasse, der wir theoretisch eine Funktion substituieren. Wir kom-
men auf diese Weise bis zu abstraktiv nicht weiter gcneralisierbaren
Geschehensklassen, die wir uns theoretisch durch Grundfunktionen
und Eigenschaften der Psyche fundiert denken. Auf diese Weise
würden wir pathologische Qualitäten irreduzibeler Art aufzufinden
in der Lage sein. Dieser Abstraktionsgesichtspunkt genügt aber
noch nicht. Denn es ist ja klar: in pathologischen Qualitäten wird
sich die Wechselwirkung, deren Erkennungsstücke wir anstreben,
zwar notwendig äußern. Diese Qualitäten werden aber immer gene-
1) Vgl. hierzu Kronfeld, Das Erleben in einem Fall von katatoner Er-
regung. Monatsschrift f. Psych, u. Neur. 35, 3, eine ebenso wichtige wie unbeachtet
gebliebene Arbeit.
414 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
tisch aus ihren Bedingungen determiniert sein. Sie werden also zwar
solche gesuchten Erkennungsmerkmale von Prozessen sein; aber als
Erklärungsmomente des psychotischen Einzelgeschehens können sie
nur vorläufig dienen: sie harren weiterer genetischer Zergliederung.
Diese genetische Zergliederung ist also der zweite Gesichts-
punkt unserer Abstraktionen. Ihre leitende Maxime ist: Das-
jenige, welches unter den gewöhnlichen Ablaufsbedin-
gungen der psychischen Persönlichkeit nicht zustande
kommen konnte, ist Prozeßmerkmal. Auch bei dieser Ab-
straktion handelt es sich noch um eine solche vom Einzelgeschehen
aus; aber nicht vom Einzelgeschehen als einem fertigen Ganzen,
sondern eben als einem Geschehen, einem Werden, welches anfängt,
verläuft und endet. Wir reden vom psychischen Ablauf als einem
Ganzen immer in dem Sinne, daß er von der Wahrnehmung an über
das Urteil und die verschiedenen anderen intentionalen Vollzüge
und reproduktiven Reihen, die im Gefühl, Interesse und Motiv zu-
sammenkommen, bis zur motorischen Auswirkung abläuft. Alles
psychische Geschehen ist immer dieses Ganze, und man kann sich,
ohne abstraktiv zu künsteln, kein einziges reales psychisches Ge-
schehnis vergegenwärtigen, welches nicht dieses Ganze wäre. In
dieser Ganzheit allein ist das Psychische unmittelbar gegeben. Wenn
wir nun eine pathologische Qualität genetisch weiter verfolgen, so
muß sie irgendeine Stellung in diesem Ganzen haben; etwas muß
ihr vorauf gehen. Es kann nun sein, daß sie innerhalb dieses Ganzen
so wird, wie ein qualitativ adäquates Geschehen^); sie kann aber
auch fremd in diesem Geschehen darin stehen; so daß dies Ganze
durch sie eine Unterbrechung seiner Kontinuität erfährt, daß sie
einen Spalt hinein reißt. Im letzteren Falle sprechen wir von gene-
tischer Irreduzibilität^).
1) Denn es ist denkbar, daß eine besondere Konstellation der Bedingungen
einen einmaligen ganz heterologen Effekt erzielen kann.
2) Die genetische Erklärung verbleibt hierbei ganz innerhalb des gegebenen
psychischen Materiales. Es ist weder als eine konstruktive Genese (im Sinne der
»Sejunktion «), noch eine psychophysische (im Sinne etwa der »Diaschise«), noch
eine theoretisch-dynamische (im Sinne Freuds) gemeint. Es ist überhaupt nicht
eigentlich eine »Erklärung« im Sinne der induktiven Kausalisierung; es ist eine
abstraktive Reduktion bis zum »Unerklärlichen« hin.
Man kann das durch diese genetische Reduktion aufgefundene »Spaltungs«-
verhältnis des psychischen Ablaufens schizophren nennen und durch diesen
Begriff einer unbekannten Gesetzmäßigkeit erklären wollen. Doch kann auch noch
anderes an der Psyche »gespalten« sein: die Neigungen und Einstellungen können
von den Motiven, die Erinnerungen von dem Wahrnehmungsmaterial, die Sprach-
laute von Bedeutungen usw. »abgespalten« sein. D. h. wir erklären uns so, daß
eingefahrene und geübte Aufeinanderfolgen und Verbindungen nicht aktuell werden.
Das sind aber alles verschiedene »Spaltungen«. Man kann sie unter beliebigen
Begriffseinheiten vereinigen; diese sind aber künstlich. Und sinnlos ist es, sie
alle durch eine »Assoziationsstörung« allgemeiner Art zu erklären. Dennoch hat
der Schizophreniebegriff seinen guten Sinn als einheitlicher Erklärungs-
grund für das Auftreten von Primärsymptomen in unserem soeben fest-
gelegten Sinne.
Die phänomenologischen Aufgaben in der Fflychiatrie usw. 415
Eine solche weder analytisch noch genetisch (in diesem Sinne)
reduzible psychische Gegebenheit nennen wir Primärsymptom
des Prozesses. Sie ist primär in dem Sinne, daß über sie hinaus
die psychologische Determination in keiner Weise zu ge-
langen vermag; an ihr zeigt sich mithin das Eingreifen
der heteronomen Bedingungsreihe ins psychische Ge-
schehen unmittelbar. Was in diesem psychischen Geschehen
durch sie selber partiell determinierbar ist, ist im Verhältnis zu ihr
sekundär. Wenn also Bleuler^) schreibt: »Die primären Symptome
sind notwendige Tcilcrscheinungen einer Krankheit; die sekundären
können, wenigstens potentia, fehlen oder wechseln, ohne daß der
Krankheitsprozeß sich zugleich ändert« — so können wir uns prak-
tisch völlig mit dieser Feststellung einverstanden erklären. Prin-
zipiell freilich würden wir sagen, Primärsymptome im Psychischen
seien uns nur als unmittelbare Teilerscheinungen der Krankheit
erklärlich; ob und in welcher Weise sie das wirklich sind, ist ein
für uns nicht entscheidbares Problem. Was die Sekundärphänomene
anlangt, so sind sie zwar partiell von den Primärphänomenen aus
determiniert, aber mittelbar und ohne daß diese selber aktuell zu
werden brauchen; sie sind aus dem Wesen der krankhaft veränderten
Persönlichkeit heraus begreiflich, aber ohne die spezifische Prozeß-
note direkt aufzuweisen; nur aus ihrem Zugleichsein mit Primär-
symptomen geht ihre Prozeßbedingtheit ebenfalls hervor; an sich
braucht sie ihrer Struktur nicht anzuhaften. Nun kann es Prozeß-
stadien ohne Primärsyraptome, nur mit Sekundärphänomenen geben;
diese werden dann der Erkenntnis ihres Proztßcharakters große
Schwierigkeiten in den Weg legen (man denke etwa an hypochondrisch
gefärbte Anfangszustände von Hebephrenien ohne spezifische Merk-
male, und ähnliche Fälle).
Alle diese Festsetzungen lassen sich treffen, ohne bereits in die
Phänomenologie hineinzureichen. Nunmehr aber, wo wir uns darauf
besinnen, daß der wichtigste, der subjektiv bestimmende und zu
allererst gegebene Anteil alles seelischen Ablauf ens das Erleben
ist — wie wir ausführlich dargetan haben — ist es unsere Aufgabe,
an jene allgemeinen Festsetzungen unsere phänomenolog'schen Folge-
rungen zu knüpfen. Jene theoretischen Primärsymptome
nämlich, soweit sie ein seelisches Erleben sind, müssen
die Merkmale ihres Sondercharakters auch in ihrem Er-
lebtwerden geltend machen. Für die tatsächliche Gegebenheit
des Seelischen als Materie unseres Erkennens li< gen die Verhältnisse
zeitlich umgekehrt: unmittelbar bestehen gewisse Sondercharaktere
am primär prozeßbediiigten Erleben — wir haben sie als Ichfremd-
heit zusammengefaßt — ; diese irreduziblcn Sondercharaktere er-
klären wir theoretisch — auf Grund unserer prinzipiellen Fest-
stellungen über den nosologischen Krankheitsbegriff und die Bc-
1) a. a. 0. S. 284.
416 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Ziehungen seiner psychischen Äußerungen zu ihm — als Anzeichen
ihres primären Symptomcharakters.
Damit haben wir die eine unserer beiden Aufgaben gelöst: wir
haben die Ichfremdheit als Kriterium des Prozeßcharakters von
Symptomen systematisch begründet, und was bei Jaspers noch
ein Apercu einer begriffslosen Intuition war, das nur auf dem ver-
fehlten Wege über eine falsche Theorie des Nacherlebens (Verstehens)
einen Schein theoretischer Berechtigung hatte, haben wir im Rahmen
wissenschaftlicher Gesamtpsychologie objektiv fundieren können.
Uns bleibt nun die zweite der beiden Aufgaben noch kurz zu er-
örtern: Wie wird diese Ichfremdheit phänomenologisch bestimmt?
Wir erinnern uns daran, daß das primäre Erlebnis etwas
psychologisch Irreduzibles, Letztes, aller Individualpsychologie (auch
aller dynamisch -Freudschen) Vorauszusetzendes für das betroffene
Ich sein soll. Und wir erinnern uns weiter, daß alles Erleben den
Charakter der Intentionalität hat. In einem gewissen Sinne
können wir von jedem, auch dem normalen Erleben sagen, daß bestimmte
Merkmale eines Erlebens »primär« sind. Nämlich diejenigen, die
nicht aus einem anderen Erleben hervorgehen, sondern die fundieren-
den Weisen alles anderen Erlebens sind und dieses genetisch einleiten.
Das gilt im normalen Erleben von den individuellen Wahrnehmungen,
die in jedem Ablauf als einem Ganzen an der Spitze stehen, und von
den abstraktiv nicht weiter zurückführbaren formalen Voraus-
setzungen möglicher Bewußtseinsbeziehungen auf Gegenstände i). Ihr
Sein wird nur noch durch die Persönlichkeit als vorausgesetztes
Ganzes erklärt und macht deren letzte Fundamente aus.
Mit dem Augenblick aber, wo die Bedingungsreihe »Persönlich-
keit« heteronom modifiziert wird durch eine andere unbekannte
Bedingungsreihe, wo das Gesetz dieser Modifikation, der »Prozeß«
herrscht, müssen zu diesen Primärphänomenen die anderen, die pri-
mären Prozeßsymptome, hinzutreten. Ihr Charakteristikum ist
gerade, daß sie irreduzibel sind, aber nicht in den Per-
sönlichkeitsfundamenten sich auflösen lassen; und daß sie
nicht im Ganzen des psychischen Ablaufes kontinuierlich eingefügt
sind, sondern ohne genetisches Vorher dastehen, das sie aus sich
heraus zum Eintritt brächte. Wir wissen endlich von diesen psycho-
tischen Primärerlebnissen, daß sie als Erlebnisse eine intentionale
Struktur besitzen.
Es muß sich mithin handeln um Weisen einer patho-
logischen Intentionalität, welche ihrem intentionalen
Wesen nach nicht analytisch zurückführbar ist; und deren
intentionales Wesen auch genetisch nicht zurückführbar
ist. Wir bestreiten also nicht, daß nicht die jeweilige materiale
1) Wir teilen die Brentano sehe Lehre vom letztlich fundierenden Charakter
derVorstellungen für alle anderenFunktionen also nicht, werden unsere abweichende
Meinung aber erst im folgenden Bande an zuständiger Stelle begründen.
Die phänomenologischen Aufgaben in der Psychiatrie ut-w. 417
und inhaltliche Beütimnitheit dieser Intentionen aus früherem Er-
leben und Erfahren des Kranken herleitbar sein kann (z. B. Freud!)
— wir bestreiten nur die genetische Zurückführbarkeit
der besonderen Struktur dieser Intentionen, der Seinsweise
des in ihnen Gemeinten als Halluzination oder primärer Wahn uder
sonstiger intentionaler Vollzug primär-psychotischer Art.
Welche intentionalen Formen als psychotische Primärsymptome
in Frage kommen, wird die Phänomenologie in Zukunft erst noch
zu suchen haben; wir dürfen hier jedenfalls nichts präsumieren,
gondern müssen alles der phänomenologischen Erfassung des psycho-
tischen Erlebens überlassen, so wie es, vom kranken Subjekt aus,
seinem unmittelbaren Sein und Erlebtwerden nach wirklich verläuft ,
Wenn die phänomenologische Forschungsrichtung, welche jetzt in
der Psychiatrie erst einige spärliche Keime gezeitigt hat, in künftiger
systematischer Arbeit dieses Material sammelt und das eben ent-
wickelte Kriterium an die möglichen abstraktiven Vollzüge aus
diesem Material anlegt, so wird sie das eindeutige und wissen-
schaftlich exakte Verfahren sein, aus jedem psychotischen
Zustandsbild seine objektiven Anzeichen immanenter
Progredienz mit Sicherheit zu bestimmen. Sie liefert uns
damit ein diagnostisches Kennzeichen von größter Bedeutung, welches
uns — jenseits der Subjektivität klinischer Konventionen
— die Bestimmung des Prozeßcharakters von Abläufen bei funktio-
nellen Psychosen ermöglicht. Dies Kennzeichen mag dunkler ver-
borgen liegen als die somatischen Eselsbrücken unserer sonstigen
Diagnostik: es ist sicher und exakt, es ist einsichtig begründbar und
zwingend. Der Phänomenologie fällt in Wahrheit die Aufgabe zu.
welche die Denkbequemlichkeit der Praktiker so gerne wieder einmal
auf die Serologie abgeschoben hätte : die sichere Diagnostik der funk-
tionellen psychotischen Prozesse. Allein, obwohl Kochen, selbst
unter den Kautelen Abderhaldenscher Methodik, leichter ist als
exakte Abstraktion: so ist die letztere doch die würdigere Aufgabe
in einer psychologischen Disziplin, in der Wissenschaft vom mensch-
lichen Geiste.
Es ist keine reine Zukunftsmusik, wenn wir hier der Phänomeno-
logie eine so wichtige und unersetzliche Stelle in der psychatrischen
Gesamtforschung zuweisen. Schon gegenwärtig diagnostizieren gerade
die besten unserer Kliniker nach dem Kriterium der Ichfremdheit
irgendwelchen psychotischen Erlebens. Das zeigt sich nicht nur
in ihrem persönlichen Wirken, sondern auch in ihrer Literatur. Ich
kann nicht umhin, keine anderen Forscher als Kraepelin und be-
sonders Bleuler hier als unbewußte Phänomenologen in Ansprucli
zu nehmen. Gewiß sind sie ihrer bewußten Tendenz nach Kliniker.
Aber wenn man etwa die Fülle des von Bleuler so meisterhaft er-
faßten Deskriptionsmaterials zur Kenntnis nimmt, welches er für die
Schizophrenie als besonders spezifisch erachtet, so bemerkt man
leicht, daß sein Auswahlkriterium kein anderes war als das der Phäno-
Kronfeld, Psychiatrische Erkenntnis. 27
418 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
menologie, wenn ihm dies auch nicht bewußt geworden ist. Von den
eigentlich phänomenologischen Forschern, wie Jaspers, gilt das
natürlich in erhöhtem Maße. Nun ist es freilich ein anderes,
jenes Kriterium unklar und unbewußt anzuwenden — etwa in
der subjektivistischen Verfälschung, ob ein Symptom nacherlebbar
ist oder nicht, — ein anderes, das Kriterium der Irreduzibilität
mit Bewußtsein und im systematischen Zusammenhang herauszu-
stellen und durch exakte Abstraktionen zu bewähren. Zumal wo
der psychotische Einzelfall in seiner Symptomatologie oft so dunkel
und kompliziert ist, daß schon der Tatbestand, von dem abstra-
hiert werden soll, nicht deutlich umgrenzbar ist. Die systematische
Arbeit also bleibt der Phänomenologie im psychiatrischen Gebiete
noch zu tun.
Und andererseits darf man von dieser phänomenologischen Arbeit
an diagnostischem Gewinn auch nicht zuviel erwarten. In der prak-
tischen Zuspitzung auf den Erkenntnisgrund nosologischer Ein-
heiten vermag sie eben nur das eine zu leisten, daß sie uns die Kri-
terien des Prozesses bewußt macht. Die Art des Prozesses, sein Wesen,
seine Schwere macht sie uns nicht deutlich. Für die letzteren Fragen
kommen sicherlich andere Abstraktionsgesichtspunkte in Frage;
zwei von ihnen sind die Kraepe linschen der Ursache und des ana-
tomischen Befundes. So darf es uns prinzipiell nicht wundern, wenn
wir schizophrene Symptome zuweilen bei organischen Prozessen
sehen ^); als Prozesse, als persönlichkeitsfremde Destruktionen
spielen diese phänomenologisch keine andere Rolle als die »funk-
tionellen« Prozesse. Die Differenzierung der Prozesse untereinan-
der ist bis jetzt keine Fragestellung der Phänomenologie. Da-
mit ist nicht gesagt, daß sie dies nicht noch einmal zu werden
vermöchte. Vorläufig hat sie heuristische Leitlinien hierfür noch
nicht gezeitigt.
Uns liegt jedoch die diagnostische Brauchbarkeit der phänomeno-
logischen Analyse nicht einmal sehr am Herzen. Sie ist uns nur ein
Argumentum ad hominem clinicum, der sich diesen Dingen so gerne
unter Berufung darauf, daß »für die Praxis doch nichts dabei heraus-
komme«, entzieht. So bequem soll er es fortan nicht mehr haben.
Uns ist der Wert der phänomenologischen Arbeitsweise vor allem
darin gelegen, daß sie uns das Seelische in einer Weise restlos er-
schließen kann, die ihre Grenze nur an den Schranken menschlicher
Erkenntnis überhaupt findet, und daß sie es uns erschließt, so, wie
es wirklich vom Subjekt aus erlebt, gefühlt, geglaubt, beobachtet,
bewertet und beurteilt wird.
Und nun noch ein Schlußwort darüber, welche intentionalen
Vollzüge es denn nun im allgemeinen sind, die wir als
1) Vgl. die schöne Arbeit von Rosental: Über einen schizophrenen Prozeß
im Gefolge einer hirndrucksteigernden Erkrankung. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u.
Psych. XXV. S. 300ff.
"Die pbämmenologischen Aufgaben ia der Psychiatrie usw. 419
primäre Prozeßsyinptome aufzufassen haben. Um sie auf-
zufinden, -werden wir uns daran erinnern, welche Klassen intentio-
naler Vollzüge wir denn überhaupt kennen. Pathologische Inten-
tionalitäten, die ihrer Klasse nach unter diese überhaupt bekannten
Klassen fallen, werden einer phänomenologischen Untersuchung am
ersten zugänglich sein. Doch i.st nicht gesagt, daß sich der Kreis
der hier in Frage kommenden Phänomene durch diesen heuristischen
Gresichtspunkt ihrer Auffindung erschöpft. Immerhin haben wir so
einen gesicherten Grundstock von Materialien zur Entscheidung der
Frage ihres Prozeßcharakters. Wir kennen als solche Klassen inten-
tionaler Vollzüge die als Wahrnehmungen sich erfüllenden, die sich
in Urteilen und in Gefühlen (Phänomenen der Liebe und des Hasses)
verwirklichenden Intentionen. Dem entsprechend kann in jeder
dieser drei Klassen eine primäre, prozeßbedingte Störung sich ein-
stellen. Außerdem kann, gleichviel welcher Klasse dies Erleben au-
gehören mag, seine Beziehung zum erlebenden Subjekt gestört .sein;
die Ichbeziehung des Erlebens kann in irreduziblen pathologischen
Qualitäten auftreten. Wir finden nun tatsächlich als die ganz
unmittelbar gegebenen, im Vordergrunde des kranken Erlebens
stehenden phänomenologischen Tatbestände vor : pathologische Wahr-
nehmungen, pathologische Urteile, pathologische Gefühle, patho-
logische »Bewußtheiten« und pathologische Störungen der Ichbe-
ziehung des Erlebens. Auf diese Gegebenheitsgruppen kranken Er-
lebens hat die phänomenologische Analyse sich zuerst zu erstrecken,
um die Struktur derjenigen Tatbestände, die dem Kriterium der
analytischen und genetischen Irreduzibilität, der originären Persön-
lichkeitsfremdheit genügen, von den anderen abzugrenzen, welche
aus dem vorgegebenen Wesen der Persönlichkeit restlos fundierbar
und genetisch herleitbar sind. Das ist die erste Aufgabe des phäno-
menologischen Programms in der Psychiatrie.
Dies Programm kann nur durchgeführt ^^■erden durch eine größere
Reihe sorgsamer Einzeluntersuchungen an der Hand genau beob-
achteter Zustandsbilder, Es ist bereits in Angriff genommen worden.
Freilich ist noch auf keinem dieser vier Gegenstandsgebiete etwas
Definitives erreicht. Manches befindet sich noch in allerersten An-
fangsstadien ^).
Es kann meine Aufgabe nicht sein, den gegenwärtigen Stand
dieser Forschung auf den genannten vier Gebieten zu präzisieren.
1) Für die Phänomenologie der Wahnerlebnisse ist eine gewisse Diskussion.-*-
basis bereits verbürgt durch die Arbeiten von Meyerhof, Jasper.s und mir
(a. a. O.). Die Phä.iomenologie der Wahrnehnmngstäuschungen ist. trotz ein-
zelnerguter Bemerkungen von Specht und von Hirt (a. a. O.), über die Diskussion
zwischen Goldstein (Archiv f. Psych. 44) und Jaspers (Ztschr. f. d. ges. Neur.
u. Psych. VI, S. 460ff.) noch nicht wesentlich hinausgekommen.
Ganz schlimm steht es um die phänomenologische Literatur der anderen
Gebiete; so groß sie ist, so wenig förderte sie bisher ihre Probleme. Hier ist noch
reiches Feld zukünftiger Bebauung offen.
27»
420 Grundlinien der Phänomenologie u. deskriptiven Theorie des Psychischen.
Hier ist ja noch alles im Fluß, und jeder neue Untersucher, jede neue
Arbeit kann grundlegende Umwälzungen mit sich bringen. An dieser
Stelle aber sollte nur das feste Gerüst des methodischen und logischen
Unterbaues der Forschung selber gegeben werden, auf das von jeder
Einzeluntersuchung, als das Fundament ihrer inneren Berechtigung,
immer wieder zurückgegriffen werden kann. Wir werden dies Grerüst
im zweiten Bande dieses Werkes mit der materialen Arbeit, wie sie
oben skizziert wurde, auszufüllen haben.
Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typen-
bildung und ihres Verhältnisses zui* Soziologie, ins-
besondere Kriminologie.
Vorbemerkung.
Die leitende Fragestellung dieser Untersuchungen bildet die Be-
ziehung deskriptiver und normativer Merkmale in den Klassi-
fikationen psychopathischer Typen, wie sie die Psychiatrie aufstellt.
Es ist für den, der die historische Entwicklung dieser Typenbildungen
verfolgt, äußerst lehrreich und auffallend, daß soziologische Ge-
sichtspunkte bei ihrer Bildung entscheidend mitgewirkt haben und
noch immer mitwirken. Die Berechtigung dazu, soziologische Ge-
sichtspunkte in einer naturwissenschaftlich-psychologischen Deskrip-
tion wirksam werden zu lassen, und der Umfang dieser Berechtigung
muß auf der Grundlage unserer bisherigen theoretischen Ergebnisse
gesichert werden. Es ist nun keine Frage, daß es praktische Ge-
sichtspunkte waren, die den kraftvollen Anstoß zu dieser Verschmel-
zung soziologischer und deskriptiv-psychologischer Maximen erwirkt
haben, und zwar waren es die Kriminologie und die kriminologi-
schen Anforderungen an den Irrenarzt, welche in erster Linie dahin
drängten.
Das Grundproblem aller Kriminologie, dem auch diese Studie
einen geringen Lösungsbeitrag liefern will, ist die unter bestimmten
unpsychologischen Gesichtspunkten eingeengte Teilfrage des all-
gemeineren soziologischen Problems: ob sich Gesetze der Beziehung
zwischen psychologischer Artung, Milieu und Lebensgestaltung auf-
stellen lassen. Typen dieser Beziehung sucht die Kriminologie auf-
zufinden, und zwar im Hinblick auf ein bestimmtes Tun, welches sie
als den Ausdruck dieser Lebensgestaltung auffaßt; das antisoziale.
Die Bestimmungsstücke dieses antisozialen Tuns sind letzten Endes
immer negative Merkmale, abgeleitet aus den Normen strafrechtlicher
Kodifikation. Diese Typen eines Tuns, definiert an den Strafreclits-
bestimmungen, und Typen oder Einheiten nur im Sinne dieser De-
finitionsgrundlage, enthalten nun gar keine Beziehung zu irgend-
welchen psychologischen Einheiten, welche die Beschreibung gewinnt
und aufstellt. Die Kriminologie soll zwischen diesen beiden metho-
disch ganz inhomogenen Teilen eine Beziehung stiften, welche beide
in besonderen Gesetzen zusammenbringt. Dem Nachdenkenden ist
422 Zur Theorie und Logik psjchopathologischer Tj-penbildung usw.
von vornherein klar, daß sich hier methodologische Fragen von großer
Schwierigkeit und Bedeutung aufwerfen, von deren klarer Beant-
wortung der Erfolg jeder kriminologischen Einzeluntersuchung , ja
der Kriminologie selber abhängt, soweit sie über äußerlich-praktische
Bedürfnisse hinaus Anspruch auf theoretische und wissenschaftliche
Sicherheit erhebt.
Lange Jahre hindurch habe ich in der Erkenntnis der hier vor-
liegenden Probleme vergeblich in der kriminologischen Literatur
um Bat gesucht. Der Eifer des Materialsammeins auf einem wenig
beackerten Gebiet überwog hier die methodische und prinzipielle
Selbstbesiimung ; sogar Meister der Forschung wie Aschaffen bürg,
welche diese Probleme wohl sehen, überhoben sich bei ihrer produk-
tiven Ai-beit ihrer besonderen Behandlung. Allmählich aber ist die
Materialfülle so reich geworden, daß die Verarbeitung stockt; nicht
das Material, die Gesichtspunkte beginnen zu fehlen und werden
immer mehr veräußerlicht.
Da erschien es mir angebracht, meinerseits den Versuch zu machen,
den Methodenproblemen der Kriminalpsychologie prinzipiell nach-
zugehen. Im Zentrum dieser Probleme stand für mich die Frage,
wieweit generell das soziale Verhalten zu einem Krite-
rium psychischer Typik zu werden vermag. Denn hier
ist der eine Brückenpfeiler methodisch verankert, der die Brücke
tragen soll, die von der psychologisch abgegrenzten Struktureinheit
des Täters zu der strafrechtlich abgegrenzten Begriffseinheit des
Deliktes geschlagen werden muß. Eine methodische Vorfrage dieses
Problems bildet die nach den Geltungsgrundlagen der Begriffe des
Normalen und Abnormen, insbesondere des Krankhaften.
Eine zweite methodische Vorfrage widmet sich der logischen Struktur
psychischer Tj^penbildung. Als ich vermeinte, auf diese beiden Fragen
befriedigende Antworten gefunden zu haben, war die weitere Auf-
gabe eine methodische Fundierung des zweiten Tragpfeilers der
wissenschaftlichen Kriminalpsychologie; der erste stützte den Weg,
der als ein Kontinuum von den psychischen Wesenseinheiten zu den
Einheiten sozialen Verhaltens führte ; der zweite — der sich mir im
Begriff der Milieuabhängigkeit darstellte — - trug von den Einheiten
sozialen Verhaltens hinüber zu den außerpsychischen Bedingungs-
reihen kriminellen Tuns.
Mit der methodologischen Klärung dieser Sachlage wurde mir
gleichsam mit einem Schlage der Charakter der Gesetze klar, sowie
die heuristischen Gesichtspunkte und die Fragestellungen, die in der
Kriminalpsychologie fruchtbar und bedeutsam sind. Ich habe nun
diese Ergebnisse und die dabei entwickelten methodologischen Ge-
sichtspunkte nicht sogleich generell gewonnen, sondern heuristisch
mir am Falle der sog. moral insanity sukzessive abgeleitet. Dieser
Begriff, von dem man nicht weiß : gehört er in die Psychopathologie,
gehört er in die Kriminalpsychologie, stehen seine normativen Merk-
male in faßbarer Beziehung zu seinen deskriptiven usw.? — dieser
Einige Bemerkungen über den Begriff des Krankhaften im Seeliechen a->w. 423
umstrittenste Begriff des Grenzgebietes mehrerer Disziplinen ist so
recht ein Schulbeispiel für die Schwierigkeit der Beziehung des so-
zialen Verhaltens zur seelischen Struktur. Ist die einheitliche Ano-
malie des sozialen Verhaltens auf eine einheitliche abnorme Seelen-
struktur reduzibel, oder ist sie selber unmittelbar die »Kranklieit<<,
oder ist diese Begriffsbildung unter rein normativen Gesichtspunkten
erfolgt und darum deskriptiv nichtssagend, oder ist sie trotzdem
psychologisch zulässig oder nötig ?
Ich habe es für wichtig genug erachtet, bei meiner Darstellung
der methodischen Sachlage von einer exakteren Analyse der im mo-
ralischen Schwachsinn enthaltenen Fragestellungen auszugehen.
Freilich darf man auf diesem Gebiet keine Entdeckung neuer
Fakten erwarten. Derartiges liegt nicht im Wesen einer kritischen
Betrachtung, einer methodologischen Selbstkontrolle. Was diese
leisten soll, ist vielmehr eine Sicherung und Fundierung des bis-
herigen Erkenntnisbestandes und seine Befreiung von Unklarheiten
und Äquivokationen. Ihr Ziel ist eine Verwissenschaftlichung des
schon Erreichten bis zur Höhe theoretischer Durchbildung. Wir
wissen wohl, daß manche Forscher, die auf diesem Gebiete gearbeitet
haben, sich über die in Rede stehenden Probleme ganz ähnliche Ge-
danken gemacht haben wie diejenigen, die wir in theoretisch ein-
wandfreier Weise auszusprechen glauben; das macht unsere Arbeit
nicht überflüssig, sondern nur um so nötiger.
1. Einige Bemerkuugeu über den Begriff des Krankhaften
im Seelischen und die logische Struktur psychopatholo-
gischer Typenbildung.
Man hat immer wieder versucht, den Begriff des Krankliaften in
der Psychiatrie in irgendeine logische Beziehung zu bringen zu dem
Begriff oder den Kriterien der Geisteskrankheit. Es besteht aber
dazu kein logischer oder theoretischer Anlaß; und gewiß kein prak-
tischer. Der Krankheitsbegriff der Psychiatrie ist uns einsichtig
und deutlich — wir haben genau ausgefülirt, in welchem Sinne — ,
ohne daß wir hierzu den Begriff des Krankhaften benötigt hätten.
Umgekehrt aber kann ebensowenig der Begriff des Krankliaften
durch den von uns festgelegten Begriff der Krankheit im Psychischen
bestimn\t werden, mag es sich nun um die pathogenetische, die noso-
logisch klinische oder irgendeine sonstige Fassung des Krankheits-
begriffes handeln. Man hat wohl gesagt, auch der Kranklieitsbegriff
involviere in der Psychiatrie die Benützung sozialer Kriterien (Hell-
pach); und in dieser Hinsicht gleiche er sicii dem Krankhaftigkeits-
begriff an. Aber das ist nur dann richtig, wenn man auch alles
krankhafte psychische Sein den Kriterien des Kranklieitsbegriff es
unterstellt, den letzteren also an Umfang aufs stärkste erweitert,
424 Zur Theorie und Logik psj-chopathologischer Typenbildung usw.
so daß wirklich »Schmerz und Lebensbedrohtheit << nicht bloß zu
Anzeichen einer Anomalie, sondern der »Krankheit << überhaupt wer-
den. Aber dazu besteht kein Grund; unsere positiveren und be-
stimmteren Fassungen des Krankheitsbegriffes vermeiden das Hinein-
ziehen aller derartiger Merkmale, welche dem autologischen Wesen
der Psychiatrie in der von uns gegebenen theoretischen Fundierung
fremd bleiben müssen. Für den Begriff des Krankhaften dagegen
bleiben derartige heterologische Kriterien zwar problematisch, aber
möglich, wenigstens im Prinzip; denn seine Stellung im Ganzen
psychiatrischer Theorie ist durch unsere bisherigen Untersuchungen
noch nicht gegeben.
Man hat jene Beziehung zwischen Krankheit und Krankhaftig-
keit ferner dadurch stiften wollen, daß man gesagt hat, krankhaft
sei, was zum Ausbruch von Geisteskrankheiten disponiere. Aber
mit dieser Bestimmung ist gar nichts anzufangen. Sie ermöglicht
nämlich die Erkenntnis des Krankhaften in der Wirklichkeit immer
erst dann, wenn sich diese disponierende Fähigkeit aktuell bewährt
hat. d.h. zum Ausbruch von Geisteskrankheit geführt hat. Wen dann
die Erkenntnis beglückt, daß die Grundlagen für den Ausbruch der
Geisteskrankheit in »krankhaften« Dispositionen gelegen waren,
dem kann man diese Definition des Krankhaften ja überlassen.
Wesentlicher wäre es doch aber, eine Abgrenzung des Begriffs see-
lischer Krankhaftigkeit zu finden, welche nicht erst jsost festum an-
wendbar würde. Ein zweites kommt hinzu: wir nennen in der Psy-
chiatrie gewisse Persönlichkeiten, Charaktere, Typen, Reaktions-
formen krankhaft, ganz unabhängig davon, ob auf ihrer Grundlage
Psychosen aktuell zu werden vermögen oder nicht. Tatsächlich ist
dies bei diesen sogenannten Psychopathien nur für einen Teil der
Fälle zutreffend; für einen anderen Teil nicht. Und die Art dieser
Psychosen, welche wir als ausgelöste oder reaktive Entwicklungen
der Persönlichkeit begreifen, ist eine grundsätzlich völlig andere als
diejenigen, welche wir im eigentlichen Sinne unter dem Begriff der
Geisteskrankheit, im Sinne des psychotischen Prozesses, verstanden
wissen wollen. Wir haben dies an früherer Stelle ausführlich dar-
getan. Alle jene logischen Regelungen zwischen Symptom und Krank-
heit, zwischen den verschiedenen Bestimmungsweisen dieses Krank-
heitsbegriffes usw., die wir an jener Stelle entwickelt haben, gelten
nicht für die Psychopathien, die wir ausdrücklich von jenen Rege-
lungen ausnahmen. Das einigende Band aller jener Psychopathien
aber ist es gerade, was wir »krankhaft« nennen. Was sagen wir
aus, wenn wir irgendeinem psychischen Geschehen diesen Begriff
unterlegen ?
Als krankhaft bezeichnen wir in ununterschiedener Weise sowohl
die gesamte Persönlichkeit, als auch einzelne Vorgänge in ihr, mögen
diese nun für sie bestimmend oder belanglos sein, wenn sie nur psycho-
logisch aus ihr herleitbar sind. Wir reden aber auch von einzelnen
krankhaften Regungen und Zügen bei einem sonst »gesunden«
Einige Bemerkungon übor don Begriff des Kranit haften im Seelischen usw. 425
Menschen. Auch die Anwendung des Begriffs der Krankhaftigkeit
gehorcht also keinem der bisherigen Krankheitsbegriffe. Negativ
läßt sich der Umfang des Krankhaftigkeitsbegriffs so bestimmen,
daß alles, was nicht auf Krankheitsprozessen seelischer Art beruht,
aber auch nicht »gesund« oder »normal« ist, als krankhaft oder ab-
norm oder psychopathisch bezeichnet wird. Mit dieser negativen
Bestimmung ist aber natürlich theoretisch und logisch nichts an-
zufangen.
Nun ist man zwei Wege gegangen, um mit der Bezeichnung als
krankhaft in bezug auf seelisches Geschehen einen wissenschaftlichen
Sinn zu verbinden.
Der erste Weg ist der anthropologisch biologische der Richtungen
Lombroso, Morel, Mag n an. Man supponiert eine geschädigte,
funktionsuntüchtige Anlage. Wie man diese im einzelnen für bedingt
hält, wird Sache der Einzelforschung. Krankhaft ist dann das see-
lische Verhalten, weil die Anlage krank ist. So entsteht das logische
Fundament für die Geltendmachung des Degenerationsbegriffes.
Allein dieser Weg weist einen doppelten logischen Sprung auf.
Erstens schließt man aus der krankhaften Anlage auf die Krank-
haftigkeit jenes seelischen Geschehens. Allein auf Grund der ange-
nommenen Krankhaftigkeit des seelischen Geschehens hatte man doch
gerade die krankhafte Anlage als Erklärungsgrund erst unterstellt.
Dieser logische Zirkel wird praktisch zuweilen unwirksam dort,
wo das seelische Verhalten selber seine Krankhaftigkeit sozusagen
sinnfällig demonstriert, wie im Schwachsinn, oder wo die Abweichun-
gen des seelischen Verhaltens bei einem Menschen sich häufen, wie
beim Hysteriker. Das ändert aber nichts an der theoretischen Un-
möglichkeit dieses logischen Weges.
Zweitens ist der Degenerationsbegriff, wie sciion früher erwähnt,
nur scheinbar ein rein deskriptiver naturwissenschaftlicher Begriff.
In Wirklichkeit ist er der Begriff einer Bewertung, und zwar einer
teleologischen Bewertung. Wenn wir von Entartung. Funktions-
untüchtigkeit, Minderwertigkeit reden, so drängt sich dieser norma-
tive Charakter schon im Worte auf. Die Berechtigung des Herein-
ragens teleologischer Normationen in die Deskription muß aber be-
sonders dargetan werden.
Der zweite Weg zur Klärung des Begriffs des Krankhaften knüpft
an die Rede von der »Abweichung« des seelischen Gescliehens an.
Wovon wird abgewichen? Die Antwort ist: von der Norm, vom
Normalen.
Normalität kann dreierlei Bedeutung haben : .
Erstens kann sie den statistischen Durchschnitt bedeuten. Von
dieser Bedeutung al)cr führt kein logischer Weg zur Gleichsetzung
des Außer-durchschnittliclien mit dem Pathologischen. Sie bleibt
eine reine Nominaldefinition. Die Lehre Lombrosos. das Genie
sei mattoid, ist vcUlig konsequent auf dieser Basis des Begriffs von
Normalität.
■42(3 Zur Theorie und Logik psychoi^athologi.scber Typenbildung usw.
Zweitens kann Norm bedeuten : das Vorbild, das Ideal, den Kanon
der Forderung, wie beschaffen der Mensch sein soll. Hiervon war
schon aus Anlaß der Erörterung des sogenannten Idealtypus in der
Wissenschaftstheorie die Rede^). Wir untersuchen hier nicht wieder-
um die Frage nach den Rechtsgründen dieser Norm; wir prüfen nicht
wiederum ihren logischen und theoretischen Gehalt. Das ist an der
genannten Stelle ausreichend geschehen. Wir fragen lediglich nach
ihren praktischen Konsequenzen. Da ist zu sagen: entweder diese
Norm im Sinne einer Forderung ist eine ethische, d. h. an sich gültige.
Dann wird die logische Gleichsetzung des Krankhaften mit dem Un-
sittlichen sich nicht vermeiden lassen, und wir langen bei den äußer-
sten Frühzeiten der Psychiatrie an, welche, wie Heinroth usw.
Krankheit und Sünde gleichsetzten. Oder jene Norm ist eine teleo-
logische, und da kommt nur die soziale Teleologie in Betracht. Auf
einer einsamen Insel gäbe es keine Krankhaftigkeit, Gesellschafts -
zustände mit ihrem Wechsel entscheiden darüber, was als krank-
haft zu gelten hat. Der Krankhaftigkeitsbegriff, und damit der
Begriff der Psychopathie, wird logisch relativiert und damit ent-
wissenschaf tliclit .
Drittens kann normal bedeuten das Gesetzmäßige, abnorm das
Gesetzwidrige. Hier liegt der Einwand nahe: alles Naturgeschehen
vollzieht sich gesetzmäßig, mögen wir es nun normal oder abnorm
nennen. Daß die Gesetze des Letzteren andere sind als die des Nor-
malen, beweist nichts gegen ihre Gesetzesnatur. Logisch wären wir
also nicht weiter als zuvor.
Dennoch ist aus diesem Dilemma ein Ausweg möglich.
Jeder Organismus, jede Individualität ist auflösbar in einen
Komplex von Gesetzen ihrer Bildung und Gestaltung — zum minde-
sten prinzipiell. Um die Begründung hierfür einzusehen, erinnere
man sich an das über die Wissenschaftstheorie der Erkenntnis des
Individuellen Gesagte. Für unser Problem käme es nun darauf an,
die — allerdings zufälligen — jeweiligen materialen Ausgangsbe-
dingungen zu studieren, unter denen der Komplex von Bildungs-
und Strukturgesetzen in jedem Individualfall zusammentrifft. Ab-
Aveichungen müssen immer in diesen materialen Bedingungen des
Zurgeltungkommens jenes komplexen Gesetzes begründet sein.
Krankhaft wären dann solche Abweichungen der Bedingungen, unter
denen das Gesetz, welches als solches bekannt ist und unter dem Kri-
terium des »Normalen« steht, sich nicht realisiert.
Natürlich ist auch diese Formulierung des Wesens der Psycho-
pathie und des Krankhaften, ganz abgesehen von ihrer Negativität,
eine teleologische. Aber diese Teleologie ist keine normative, und
sie ist ausfüllbar durch immanente Deskription und Induktion.
Wir verbleiben also ganz im Bereich des naturwissenschaftlichen
Denkens.
1) Vgl. S. 222 ff. dieses Buches.
Einige Bemerkuugeu über den Begriff des Kraukhaftcu im ISeeliischcu u.-sw. -1:27
Diese Auffassung steht zur normativen Auffassung des Krank-
haften insofern gleichartig, als beide mit dem Begriff des Krank-
haften den einer geltenden Einheit setzen; mit der statistischen Auf-
fassung des Krankhaften teilt sie das deskriptive Verfahren.
Diese teleologische Formulierung des Krankhaften fügt sich zwang-
los in die Variationslehre der Biologie ein. Es gibt Arten. Jede Art
hat ihr eigenes morphologisch biologisches Strukturgesetz. Inner-
halb einer Art entstehen unter besonderen äußeren und inneren Be-
dingungen, unter denen dies »Strukturgesetz sich realisiert, Über-
gänge und Abarten. Diese Bedingungen der Anwendung jenes
Strukturgesetzes sind in der Biologie ausreichend studiert; die Pro-
bleme der Verteilung der Erbmassen, der Mutation, des Mendelismus
gehören hierher. Derartige Varianten nun zeigen sich auch beim
Menschen, innerhalb einer Rasse sind sie die verschiedenen Kon-
stitutionstypen, die körperlichen und seelischen Abarten. Im Be-
griff der Abartung liegt jenes teleologische Moment, welches aber
rein naturtheoretisch auflöslich und erklärlich wird und die Schranken
biologischer Naturtheorie nicht transzendiert.
Letzten Endes kommen wir auf diesem logischen Wege zu den
Individualitäten selber; und diese werden dann ihrerseits nach den-
jenigen Richtungen, in denen ein mehreren gemeinsames Bildungs-
gesetz, welches von anderen Verwirklichungsweisen des Artgesetzes
abweicht, als zugrundeliegend hypostasiert Avird, im Wege echter
naturtheoretischer Induktion zu Typen zusammengefaßt. Diese
Typen fallen mit den Abarten insofern zusammen, als die Abarten
nicht mehr teleologisch normiert, sondern naturtheoretisch erklärt
werden.
Aber mit diesen Abarten und Typen sind wir an sich noch nicht
bei den Entartungen und dem Krankhaften.
Der normative Charakter dieser Begriffe v/ird sich in keinem Falle
ausschließen lassen. Jedoch erfährt er durch die vorangegangene
immanent teleologische Fassung des Variantenbegriffes selber eine
außerordentlich weitgehende Restriktion. Wir haben offenbar aus-
zugehen von dem Gesetz, welches sich in jenem Typus realisiert,
von der Variante, insofern sie eine besondere Verwirklichungsform
des Artgesetzes darstellt, von der Funktion, die variiert ist. Die
Frage wird sein: ist durch die Variation der Vollzug der Funktion
noch in der Weise der sie bestimmenden Gesetzmäßigkeit gesichert?
Wenn ja, liegt eine bloße Abartung, wenn nein, liegt eine Entartung
vor.
Damit hätten wir dann ein Kriterium des Krankhaften, Ano-
malen, Psychopathischen für alles seelische Geschehen gewonnen.
Dies Kriterium ist zwar ein normatives, der Maßstab der Normation
ist aber die immanente Telcologie des Artbegriffes selber und seiner
Naturgesetzlichkeit bzw. deren VerAvirklichung.
Freilich ist dieses Kriterium sehr schwer zu handliabeu. Die
praktische Frage wird sein : wann ist für das psychische Geschehen
428 Zur Theorie und Logik psycho pathologischer Tvpenbildung usw.
die jeweilige Eigenart ein Hemmnis, wann nicht? Für viele Fälle
mag dies klar sein, praktisch wird es meist auf den Grad der Eigen-
artung hinauskommen. Sehr viel schwerer wird dies Kriterium an-
wendbar sein für gewisse Typen, wie den Lügner, den Abenteurer,
den Phantasten, bei denen kein klarer abgegrenzter Übergang zu
den eigentlich ethisch charakterologischen Normationen vorhanden
ist. Grundsätzlich entscheidend ist aber: allein das hier entwickelte
Kriterium des Krankhaften ist logisch und theoretisch widerspruchs-
frei möglich.
Nach diesen Ausführungen ist auch die logische Struktur der
psychopathologischen Typenbildung eindeutig bestimmt. Wir ver-
weisen zunächst noch einmal auf alles dasjenige, was wir an wissen-
schaftstheoretischen Sicherungen unserer Bestimmung bereits an
früherer Stelle geleistet haben. Wir verweisen insbesondere auf die
Möglichkeit der Rationalisierung des Individuellen und auf den
naturgesetzlich induktiven Weg der Rationalisierung zum Typus.
Aus alledem folgt :
Die psychopathologische Artung eines Menschen ist immer psycho-
logisch eindeutig determiniert und durch ein reales psychisches Sonder-
gesetz in allen ihren Auswirkungen in identischer Weise bestimmt.
Es liegt hierin kein Widerspruch dazu, daß sie nicht restlos und glatt
in einem der psychopathologischen Ordnungstypen aufzugehen
braucht, die man landläufigerweise zu trennen pflegt. Daß es zwischen
diesen Ordnungstypen Zwischen- und Mischformen gibt, ist allgemein
bekannt; ebenso, daß vom einzelnen Typus jeweils Übergänge zum
Normalen führen. Eine jede solche Mischform — sie scheine so zu-
sammengesetzt wie sie wolle — ist aber in ihrem Wesen psychologisch
ebenso einlieitlich und scharf begrenzt wie die eigentlichen Grund -
typen. Um das einzusehen, muß man sich den methodischen Weg
vergegenwärtigen, der zu dem Behufe der Bildung solcher Typen
begangen wird.
Die logische Stellung des geistigen Prozesses, dessen Ergebnis die
bekannten und hier vorausgesetzten Typen psychopathischer Persön-
lichkeiten sind, soll kurz gekennzeichnet werden. Man sagt hierüber
nämlich meist, diese Typen beruhten auf »Abstraktionen«. Aber
das ist nicht richtig; ebensowenig wie der Normaltypus, der »Gesunde «
eine Abstraktion ist — etwa gemäß der statistischen Breite des Vor-
kommens seiner Eigenschaften, wie man gerne behauptet. Vielmehr
wenn man diese Typen bildet, so will man damit ein Gesetz für das
Zusammenwirken ihrer seelischen Funktionen ausdrücken und den
Begriff dieses Gesetzes kurz bezeichnen. Man kennt dieses Gesetz
nämlich nicht so, daß es sich bestimmt und explizit aussprechen ließe ;
man weiß nur, hinter dem Wesen jedes Typus steht eine Einheit,
welche das Ineinander- und Zusammenwirken seiner Abläufe in be-
stimmter, von anderen Einheiten unterschiedener Weise regelt. Welches
diese Einlieit ist, vermag man direkt nicht anzugeben; aber man
erkennt sie aus ihren Erscheinungsweisen und ihren Wirkungen.
Einige Bemerkungen über den Begriff des Krankhaften im Seelischen usw. 429
Man kann auch die eine oder die andere ihrer Voraussetzungen inner-
halb des psychischen Substrates, auf das sie sich anwendet, direkt
erkennen: man kann in der relativen Stärke der psychischen Grund-
funktionen selber oder in ihren qualitativen Relationen Besonder-
heiten erkennen und ähnliches. Gesetze, die für ein empirisches
Material gelten, beruhen auf Induktionen. Das gilt auch für die
Gesetze der psychopathologischen Artung. Jene Typenbildungen
sind genau so Induktionsergebnisse wie es die Gesetze der einzelnen
psychotischen Prozesse sind.
Es hat aber natürlich seinen Grund, daß diese Gresetze, welche
durch die psychopathischen Typen jeweils bezeichnet werden, in
ihren wesentlichen Bestimmungsstücken um soviel ungreifbarer sind
als etwa die Gesetze echter Krankheiten, seien diese nun körper-
licher oder psychischer Art. Die Krankheitsgesetze sind letzten
Endes — d. h. sobald aus einem vollständigen Induktionsmaterial
geschlossen wird — genetisch -ätiologischer Art. Bei den bloß
nosologisch oder nur klinisch bestimmten Krankheitsgesetzen bleibt
die Wissenschaft lediglich dann stehen, wenn die ätiologischen Be-
stimmungsstücke noch nicht in ihrer Hand sind; wenn die Forschung
sie noch sucht. Das bedeutet, daß in solchen Fällen das Induktions-
material noch unvollständig ist. Die Aufstellung klinischer Ein-
heiten bedeutet ein Wissen um das Bestehen eines bestimmten ein-
deutigen Kausalzusammenhanges und die deskriptive Aufzählung
aller der Phänomene, die offenbar irgendwie mit ihm zu tun haben;
aber weder ist dieser Kausalzusammenhang, dieses Gesetz der Krank-
heit schon in seinen Bestimmungsstücken erfaßt, noch ist eine Zu-
sammenordnung der unter ihm stehenden Phänomene gemäß dieser
Kausalrelation möglich; sie bleibt vorerst eine äußerlich-deskriptive
Sammlung. Es werden in dem Chaos der ungeordneten Materie
einheitliche Zusammenfassungen versucht. Denn dies — die Auf-
findung von Gesetzen — ist die Aufgabe der Forschung. Heuristi-
sches Prinzip ist zunächst nur, daß es, soll eine Wissenschaft über-
haupt möglich sein, in dieser ungeordneten Materie Gesetze geben
muß. So ordnet man klinisch das deskriptive Gleiche zusammen,
sei es nach Zustandsbild oder Verlauf. Da nun in der psychiatrischen
Materie kein Fall dem anderen gleicht, so muß von dem Besonderen
und Zusammengesetzten der einzelnen Individualität immer mehr
oder weniger weitgehend abstrahiert werden. Diese Abstraktionen
nun, das vorbereitende Hilfsmittel der angestrebten induktiven For-
schung, erfolgen gemäß dem Stande unserer Erkenntnis von den
Elementen und Funktionen des psychischen Lebens überhaupt. Es
ist nun klar, daß der Gesichtspunkt dieser Abstraktionen, welcher
aus der normalen Psychologie übernommen wird, willkürlich und
irrig sein kann und dem realen Zusammenhang der Phänomene nicht
zu entsprechen braucht. Die auf diese Methode aufgebaute Induk-
tion strebt also zwar eine reale Einheit an, ist aber in diesem Streben
nicht gegen Irrtum gesichert.
430 Zur Theorie und Logik psychopatliologischer Typenbildung usw.
Solche klinischen Einheiten sind im Gebiete der Psychiatrie etwa
»die« Paranoia und >>die« Epilepsie. Hierher gehören nun auch
alle Einheiten psychopathologischer Typenbildung. Bei den letzteren
kommt nun aber noch eine zwiefache Schwierigkeit hinzu. Nämlicli
erstens sind sie pathogenetisch gar nicht, wie die psychotischen Pro-
zelle, verifizierbar. Ihre Pathogenese ist an sich keine einheitliche,
auch nicht für den einzelnen Typus. Ferner ist sie vollständig unklar.
Und, was das wichtigste ist, auch wenn sie eine bekannte und ein-
heitliche wäre, so wäre sie für das Gesetz des einzelnen Typus völlig
belanglos. Für die wissenschaftliche Durchbildung der psychopatho-
logischcn Typen kommt es nur darauf an, ihre klinische Einheit zum
Range einer nosologischen zu erheben. Warum die Pathogenese
dieser Typen eine so nebensächliche Rolle spielt, dies zu begründen
bedürfte einer breiten Erörterung über den Konstitutionsbegriff, die
hier nicht gegeben Averden kann; überdies liegen ihre Ergebnisse für
jeden Kenner der einschlägigen Probleme nahe. Die Grundfrage der
psychopathologischen Tyj^enbildung ist die: welche Gesetze und
Zusammenordnungen psychischen Geschehens bestehen, wenn in den
einzelnen Funktionen und ihren Relationen Intensitätsänderungen
jeweils vorausgesetzt werden; oder, da wir nicht systematisch, sondern
von der Mannigfaltigkeit des empirischen Materials ausgehen : welche
Gesetze gelten unter der gemachten Voraussetzung für dieses? Mit
der Einführung der genannten Voraussetzung aber entsteht die zweite
Schwierigkeit, von der wir sprachen. Denn um zu jenen Funktionen
und der für sie oder ihre Wechselbeziehung postulierten Störung zu
gelangen, müssen wir itbstrahieren. Und zwar abstrahieren in einem
ganz anderen und viel weitergehenden Sinne, als wir es bei der Sym-
ptomatologie der eigentlichen Psychosen tun müssen. Bei dieser ge-
nügt es, jedes Symptom auf seine eigenen funktionalen Wurzeln
zurückzuführen. Jede Abstraktion ist ebenso unabhängig von der
anderen, wie jedes Primärsymptom es vom anderen ist. Mit anderen
Worten: für die Psychosen im engeren Sinne wird keine psycho-
logisch einheitliche Störung der Funktionen gefordert. Das
liegt im inneren Wesen des psychotischen Prozesses, der die psychi-
sche Kontinuität destruiert. Diese Forderung ist aber für die Psycho-
pathien eine unerläßliche Vorbedingung ihrer wissenschaftlichen Be-
arbeitung. In ihr, und in der durch sie veranlaßten psychologischen
Abstraktionsweise, ist aber der Schlüssel zur Methode psychopatho-
logischer Typenbildungen zu erblicken. Insofern trifft die land-
läufige Auffassung, diese Typen »seien« Abstraktionen, nicht all-
zuweit an der Sache vorbei, wenn sie auch ihr Wesen nicht erfaßt.
Denn dieses besteht in der unvollständigen Induktion aus diesem
Abstraktionsmaterial auf ein gesetzmäßiges psychisches Sonder-
geschehen.
Abstraktion ist Vereinfachung. Die Zahl der psychopathischen
Individuen ist mannigfaltig, die fundierenden Funktionsanomalien
sind systematisch nicht übersehbar. Die abstraktiven Vereinfachungen
Paradigmat. Erörterung der theoret. Probleme de;s sog. moral. Schwaclisinux. 431
werden daher leicht zu weit getrieben., so daß .sie der mannigfaltigen
Abstufung der M-irklich vorliandenen Typen nicht genügen. üas
Gesetz jedes Typus ist aber ein nur für ihn gültige« reale:* Sonder-
gesetz. Man darf auch nicht überselien, daß Kombinationen und
Variationen mehrerer Funktionsanomalien aufeinander treffen können,
deren Resultante wiederum ein in sich einheitliches Gesetz besonderen
psychischen Ablaufens sein muß. So erklärt sicli das Bestehen von
Mischformen. Mischformen sind diese nur für die relativ rohe
Willkürlichkeit unserer Vereinfachungen und deren Bezeichnung; tat-
sächlich sind es reale besondere Bildungen in ihrem besonderen Eigen-
gesetz, auf das die Methode unseres Abstrahierens aus anderen Grün-
den nicht adäquat eingestellt ist. Etwas anders verhält es sich mit
den sogenannten Übergängen, die vom Normalen zum einen oder
zum anderen Typus führen. Sie erklären sich daraus, daß die Inten-
sität jeder Funktion oder jeder Funktionsanomalie sowie jeder quali-
tativen Änderung im Verhältnis der Funktionen zueinander nach
Graden abstuf bar ist.
Wir fassen zusammen: Jeder psychopathologische Typus ist der
Ausdruck einer induktiv gewonnenen, gesetzmäßigen realen Einheit.
Doch ist das Sondergesetz psychischen Geschehens, das er darstellt,
nicht aus seinen konstitutiven Merkmalen in abstracto und theore-
tisch darstellbar. Zu seiner Vergegenwärtigung, die nur in concreto
möglich ist, bedient man sich daher deskriptiver Materialdaten und
roher, ad hoc gemachter Abstraktionsbezeichnungen, die eine kli-
nische Verständigung ermöglichen, ohne das psychologisch-theoretisch
Wesentliche zu enthalten. Normative Gesichtspunkte finden sich
in diesem ganzen geistigen Prozeß nicht ; er verbleibt völlig innerhalb
der beobachtenden und beschreibenden Psychologie.
2. Paradigmatische Erörterung der theoretischen Probleme
des sogenannten moralischen Schwachsinns.
Es wurde im vorherigen festgestellt, daß das deskriptive Material,
welches den auf Typenbildung abzielenden Induktionen der Psycho-
pathologie zugrunde liegt, aus den jeweiligen Besonderheiten der
psychischen Funktionen und ihrer Beziehungen besteht. Alle
direkt beobachtbaren psychischen Phänomene und Erlebnisse er-
fahren zum Zweck der Zusammenordnung unter ein psychopatho-
logisches Gesetz eine Reduktion auf die Funktionen, durch deren
Wirksamkeit und Verbindung sie erzeugt wurden. Für diese Re-
duktion der Phänomene auf die Funktionen kornmen naturgemäß in
erster Linie diejenigen Phänomene in Betracht, welche metliodisch
isolierbar und direkt demonstrabel sind und einen unmittelbaren
Index der Leistungsgröße und Qualität der fundierenden Funktion
oder Funktionsgruppe bilden. Darüber hinaus aber bildet das ganze
432 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
psychische Leben einen — allerdings sehr abgeleiteten und ver-
wickelten — Ausdruck der besonderen Artung seelischen Funktio-
nierens, die im Einzelfalle vorliegt und ihn von anderen unterscheidet.
Ein nicht scharf abgrenzbarer Teil dieses psychischen Gesamtseins
ist das soziale Verhalten. Setzt man die Abgrenzung psychopatho-
logischer Typen lediglich auf Grund der direkt beobachteten Funk-
tionsarten als bereits vollzogen voraus, so wird auf Grund dieser
fertigen Erkenntnis auch eine Um-egelmäßigkeit des sozialen Ver-
haltens aus dem Wesen des betr. Typus heraus verständlich, so in-
direkt und verwickelt die einzelnen Zusammenhänge auch sein können.
Tatsächlich aber ist die Problemlage für die Wissenschaft eine andere :
die Typen sind keineswegs vorgegeben, sondern sollen erst noch
exakt erfaßt und fundiert werden; und zu diesem Zweck liegt neben
dem psychologisch direkt beobachtbaren Material auch der äußere
soziale Lebensgang der einzelnen Fälle zur Untersuchung vor. Dieser
soziale Lebensgang aber ist nun nicht ohne weiteres einer begriff-
lichen Fassung und Bearbeitung zugänglich, deren Elemente aus der
Psychologie stammen; Abweichungen von der sozialen Norm sind
nicht identisch mit Abweichungen von der psychischen Norm; und
daraus ergibt sich die methodische Frage, wieweit das soziale Ver-
halten von Individuen überhaupt Material zum Aufbau psychischer
Typen darstellen kann und darf.
Dasjenige Gebiet der Psychopathien, für welches diese Frage am
brennendsten ist, ist die sogenannte moral insanity Prichards^).
Denn an direkt beobachtbaren Funktionsanomalien herrscht hier
rechter Mangel; und es ist das soziale Verhalten in einer allerdings
ganz einheitlichen und konstanten Besonderheit, welches allein oder
doch in überwiegendem Maße das Material zur Aufstellung dieses
Typus liefern muß.
Prichard bildete diesen Typus ganz unbefangen und direkt auf
Grund des sozialen Verhaltens. Moral insanity bedeutet: Irresein
des Verhaltens; im englischen Sprachgebrauch des Wortes moral
liegt nicht der engere deutsche Sinn >> moralisch <<, sondern der weitere
des Verhaltens, des Charakters und Benehmens überhaupt. Für
Prichard kormte also das äußere Verhalten gleichsam als ein ein-
heitlicher Bestandteil der Seele erkranken; daß die Kriterien des
Abweichens von der Norm für das soziale Verhalten durchaus keine
psychologischen, sondern eben soziale sind, übersah er; direkt greif-
bare psychologische Krankheitszeichen brauchten nicht da zu sein:
das auffällige soziale Verhalten »ist« das Irresein.
Dieser Begriff hat nun sehr mannigfache Abwandlungen erfahren,
an denen sich die prinzipielleren methodologischen Fragen des Zu-
sammenhangs zwischen sozialem Verhalten und psychischem Typus
gut verfolgen lassen. Ein Teil der Forscher hat versucht, die Ab-
weichungen des sozialen Verhaltens in ihrer Spezifität aus anthro-
1) Prichard, Treatise on insanity etc. 1835.
Paradigmat. Erörterung der theoret. Problorno di^a sog. moraL SchwachHinin. 433
pologisch-somatisclien Gresichtspunkten heraus zu fundieren, etwa
durch Hereditätsanoraalien oder Degeneration oder sonstige »an-
geborene Anlage« pathologischer Art, und sie so unter ein einheit-
liches Gesetz zu bringen. Ein anderer Teil hielt mit der Widerlegung
dieser Versuche auch die Typenbildung moral insanity für widerlegt.
Ein anderer Teil suchte nach psychologisch direkt beobachtbaren
Nebenbefunden, die zugleich mit der sozialen Anomalie bestanden;
so kam man auf den »Schwachsinn« der moral insanes. Andere
Forscher wollten diesen Schwachsinn nur in bezug auf moralische
Urteile und Entschließungen wirksam wissen, ohne sich zu fragen, wie
Derartiges psychologisch möglich sei, und was das dann für ein »Schwach-
sinn« sei, den man sonst nicht merke. Immerhin'ist hier bereits
die Tendenz einer psychologischen Reduktion des sozialen Verhaltens
auf psychische Funktionen im allgemeinen deutlich, wenngleich noch
nicht recht geklärt. Wieder andere Forscher glauben, Moral bestehe
in Gefühlen, und sehen in Gefühlsdefekten die direkte psychische
Basis der moral insanity. Andere bestreiten die psychologische
Einheitlichkeit des seelischen Gegebenseins von Moral und sind da-
her Gegner der Typenbildung moral insanity, obwohl, wenn Moral
auch nichts psychologisch einheitlich Repräsentiertes zu sein braucht,
der Typus des moral insane durchaus eine Einheit sein kann. Andere
endlich lehnen die Existenz der Erkrankung »moralischer Schwach-
sinn« ab, halten aber die Typenbildung deshalb noch nicht für falsch,
sondern bestreiten nur ihre Subsumierbarkeit unter die Typenbildun-
gen der Psychopathien. So lehnt Aschaffenburg die Krankheit
moral insanity ab^), und diagnostizierte in einem bestimmten Falle:
»nicht geisteskrank, moralischer Schwachsinn«. Das ist durchaus
nicht inkonsequent, wie es vielleicht zuerst scheinen könnte; es legt
nur die Frage nahe : Welchen Kriterien gehorcht denn diese Typen-
bildung, wenn nicht denen der Psychopathologie? Gehören die Kri-
terien dieses Typus nicht wenigstens teilweise der Psychologie anl
Und wohin gehört der Typus, wenn er auf diese Weise den psycho-
pathologischen Typen ausgereiht wird?
Alles das sind nur theoretische Fragen. Für die Praxis genügen
Berzes^), Antons^) und Liepmanns*) mehr umschreibende Ab-
grenzungen des moralischen Schwachsinns; und für die praktisch-
forensischen Gesichtspunkte werden einstweilen die Grundlinien
maßgebend sein müssen, die Berze in seiner vortrefflichen Studie
gezogen hat.
Jedoch die theoretischen Fragen haben auch ihre Bedeutsamkeit,
und zwar hier eine gleichsam paradigmatische, indem die Beziehung
1) Aschaffenburg, Das Verbreohen u. s. Bekämpfung. 1903. S. 164.
2) Berze, Über die sog. moral insanity und ihre forens. Bedeutung. Groß*
Arohiv. Bd. 30. S. 123 ff.
3) Anton, Deut'^ohe med. Wochenschrift. 1910. Nr. 6.
*) Liepmann, Die Beurteilung psychop. Konstitutionen. Ztschr. f. ärztL
Fortbildung. 1912. S. 134ff.
Eronfeld, Psychiatrische Erlteontals. 28
434 Zur Theorie und Logik psychopathologischer TypenbUdung usw.
zwischen der Einheit psychischer Artung und Funktionsbesonderheit
einerseits, der »Einheit << sozialen Verhaltens andererseits gerade beim
moralischen Schwachsinn zu einer besonders problematischen Zu-
spitzung kam. Wenn daher die theoretische Bearbeitung auch keine
neuen Tatsachen zutage fördert, so klärt und vertieft sie doch unser
Verständnis der alten. Ich glaube daher an einige der hierher ge-
hörigen Probleme rühren zu sollen, nicht um das fast undurchdring-
liche Gestrüpp von anthropologischen, psychologischen, ethischen,
metaphysischen, psychiatrischen und forensischen Fragen zu bear-
beiten, die in der moral insanity zusammentreffen, sondern um die
begriffliche Vorarbeit im Hinblick auf das mehrfach präzisierte Pro-
blem etwas zu fördern. Was wir hier am moralischen Schwachsinn
als an einem praktischen Beispiel durchführen, wird dann in den
späteren Kapiteln dieses Teiles ganz abstrakt und prinzipiell in seinem
methodologischen Bestände erörtert und begründet.
Zunächst miiß man berücksichtigen, daß die Frage nach der
Existenz von moralisch Schwachsinnigen durch direkte Beob-
achtung allein beantwortet werden kann und heute schon eindeutig
bejahend beantwortet ist. Das Wesen des moralischen Schwach-
sinns und seine psychologische Fundierung aber macht neben
der Beobachtung noch eine Reihe weitgehender Abstraktionen er-
forderlich, die sorgsame Kritik verlangen.
Über die Existenz von moralisch Schwachsinnigen kann in der
Tat etwas ausgemacht werden, auch wenn diese zweite Frage noch
ungeklärt ist; denn hierzu genügen die »hinreichenden Merkmale«,
aus denen Gegenstände als einem Begriff zugehörig erkannt werden,
auch wenn dieser hinsichtlich seiner wesentlichen und notwendigen
Merkmale noch problematisch und dunkel ist.
Ein solches Kriterium, wonach jemand als moralisch Schwach-
sinniger zu erkennen ist, und das doch außerhalb des psychologischen
Tatbestandes im engeren Sinne liegt, hat schon Kurella ^) ange-
geben und Longard wiederholt; es ist zugleich dasjenige, welches
ganz äußerlich eine Verbrechergruppe umreißt: Die Unverbesser-
lichkeit. Der in jedem Milieu unverbesserliche Rückfallskriminelle
ist in diesem Sinne der moralisch Schwachsinnige, gleichviel wie er
sonst konstituiert sein mag. Zweierlei würde diese äußerlich kriminal-
soziologische Abgrenzung des moralischen Schwachsinns besagen:
einmal, daß ein Mensch dauernd in jedem Milieu dem Gesetz zu-
widerhandelt, zweitens, daß er auch durch Straf maßnahmen nicht
beeinflußbar ist. Beides sind direkt am äußeren Verhalten des Be-
treffenden beobachtbare Tatsachen. Sie sieht der Richter so gut
wie der zugezogene Fachmann. Von letzterem will er den Grund
wissen, warum das so ist. Dieser Grund, sollte manmeinen, könnte nun
nur in einheitlichen psychologischen Tatbeständen liegen,
welche die Struktur dieser Gruppe als zusammengehörig bestimmen.
1) Kurella, Naturgeschichte des Verbrechers. Stuttgart 1893.
Paradigmat. Erörterung der theoret. Probleme des sog. moral. Schwachsinns. 435
Anstatt aber diesem Problem genauer nachzugehen, schließt man
vorßichtigerweise aus dem immer wieder erfolgenden Rückfall darauf,
daß das Milieu keine Mitschuld trifft. Und da die Begriffe Milieu und
Anlage in vollständiger Disjunktion den Inbegriff sämtlicher Be-
dingungen sozialen Verhaltens umfassen, so folgt aus dem Ausschluß
des Milieus konsequent die »kriminelle Anlage«^). Noch ganz in
diesem Sinn fragt auch Aschaffenburg ^): »Worin kann diese Un-
verbesserlichkeit bei Ausscheidung der körperlichen und geistigen
Gebrechen, was wohl in diesem Falle identisch mit Invalidität und
Geisteskrankheit ist, worin kann sie anders bestehen, als in der in-
dividuellen Veranlagung?«
Die Tatsache der besonderen Anlage kann man daim noch durch
weitere indirekte Kriterien stützen: hier findet die Hereditätsfor-
sehung und das Problem der Degenerationszeichen eine Stelle.
Bei diesem Stand der Frage zeigen sich deutlich zwei voneinander
unabhängige Seiten. Nach der einen ist das Problem scheinbar ge-
löst, und zwar außerhalb aller Psychologie, mit rein »anthropo-
logischen« Mitteln. Es genügt, die Gleichartigkeit des sozialen Ver-
haltens — den ständigen Rückfall in Kriminalität — und die Ein-
flußlosigkeit des Milieus darzutun und nebenbei womöglich aus
indirekten anthropologischen Faktoren die Wirksamkeit der Anlage
zu erschließen. Damit wäre die Gruppe als kriminalanthropologische
Einheit umgrenzt. Und doch taucht hinter diesem einen Gesichts-
punkt der zweite, psychologische unabweisbar als der wichtigere
wieder auf. Die anthropologische Rechnung hat nämlich ein Loch
— ganz abgesehen davon, daß sie in ihrer Äußerlichkeit dem wissen-
schaftlichen Bedürfnis nicht genügen kann. Die Lücke wird sehr
klar schon durch Aschaf f enburgs Wort »Ausscheidung der geistigen
Gebrechen« bzw. der Geisteskrankheit. In der Tat gehört also als
negatives Kriterium dieser Gruppe die Ausschaltung geistiger Ano-
malien und Defekte, die mit solchen Nichtkrimineller identisch sind,
zu ihrer Umgrenzung hinzu, und schon damit tritt eine psychologische
Fragestellung in den bisherigen Gesichtspunkt hinein; und mit ihr
erheben sich auch alle positiven Probleme der psychischen Artung
dieser Menschen, und ob da wirklich eine Einheit, ein psychischer
Typus vorliegt. Nun könnte man erwidern, letzteres sei gar nicht
nötig, und es genüge, jene genannten Kriterien der kriminalanthro-
pologischen Typik in der Hand zu haben. Allein diese tragen nicht
weit; gerade die dirkten Kriterien der abnormen Anlage und Here-
dität finden wir auch bei nicht kriminellen Psychotischen; statistische
Häufigkeitsverhältnisse entscheiden nie etwas über den einzelnen
Fall; und so bleibt tatsächlich nur der ständige Rückfall als
Erkennungsgrund dieser Gruppe übrig. Allein der einzelne Rück-
1) Kurella, a. a. O. Vgl. auch Sommers Klinik f. psych, u. nervöse Krankh.
Bd. VII, 3. S. 267 ff.
2) a. a. 0.
28*
436 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
fallskriminelle ist nicht in jedem Milieu, sondern in seinem Milieu
unverbesserlich; und wenn wir diese Unverbesserlichkeit dennoch
verallgemeinern, so tun wir dies nicht auf Grund der für ihn vor-
liegenden äußerlich - kriminologischen Tatsachen, die doch zu aller-
meist nur recht zaghafte Induktionen gestatten sollten, sondern auf
Grund des psychischen Wesens und Verhaltens des Einzelnen; und
das geht auch den begeistertsten Anthropologen so. Woher denn
sonst die Bezeichnung dieser Kriminellen aus Anlage als »moralischer
Schwachsinn«? Dadurch, daß der Begriff der Moralität und des
Schwachsinns hier auftreten, wird das Bedürfnis nach einer
psychologischen Erklärung für die unverbesserliche Rückfall-
kriminalität zugestanden. Und gleichviel, ob diese Erklärung psycho-
logisch befriedigt oder nicht, so enthält sie doch das grundsätzliche
Zugeständnis, daß die »Anlage« bestimmte und einheitliche psycho-
logische Strukturen erzeugt haben muß, und daß diese es sind, von
denen das soziale Verhalten in seiner Besonderheit abhängig ist.
Es ist nun doch gar nicht einzusehen, warum die Forschung gehalten
sein soll, sich an ein in seinem Wesen so nebelhaftes Ding wie die
weiter nicht charakterisierbare Anlage zu klammern, um die Ein-
heitlichkeit dieses kriminologischen Typus zu rechtfertigen — oder
aufzugeben; vielmehr liegt entweder auch eine psychologische
einheitliche Typik vor — dann soll man sie umgrenzen; oder sie
liegt nicht vor, — dann soll man versuchen, den praktisch -kri-
minologischen Typus des unverbesserlichen Rückfall Verbrechers
in seine psychologisch zugrunde liegenden verschiedenen Typen
aufzuspalten. Es ist nicht uncharakteristisch für das Unbefriedi-
gende der anthropologischen Gruppenbildung, daß sie seit Kurella ^)
die Basis für einen Streit über die Zurechnungsfähigkeit der-
artiger unverbesserlich Antisozialer abgegeben hat. Hier, in diesem
Streit, kehren doch notwendigerweise alle die Probleme der psycho-
logischen Klärung und Fundierung dieser Typen wieder, welche die
apsychologische Bezeichnung der kriminell Veranlagten ausgeschaltet
hatte. In diesem Sinne drückt Aschaffenburgs zitierte Diagnose:
» nicht geisteskrank, moralischer Schwachsinn « die ganze Verworren-
heit des Gegenstandes trefflich aus.
Ich weiß sehr wohl, daß ähnliche Gedankengänge in der Literatur
des Problems der moral insanity nicht neu sind; sie wurden aber im
Laufe der Diskussion immer ins Einseitige verschoben. Diese Dis-
kussion endigte für gewöhnlich mit einer mehr oder weniger weit-
gehenden Verwerfung der somatisch-anthropologischen Forschungs-
richtung. In der Tat ist die apsychologische Wendung der Lehre
vom moralischen Schwachsinn durch den Forschungsgeist Lom-
brosos entstanden. Wir erfahren in seinem Werk von der eigent-
lichen seelischen Struktur seines reo nato immer nur recht summa-
1) Kurella, Zurechnungsfähigkeit, Kriminalanthropologie. 1903. Siehe
auch Binswanger, Über den moralischen Schwachsinn. Berlin 1905. 9; 34ff.
Paradigmat. Erörterung der theoiet. I'robleme des sog. moral. Schwachninas. 437
rische Behauptungen über die Analogien mit dem primitiven Menschen.
Es ist selten, daß einmal etwas psychologisch Tiefergreifendes über
die seelische Struktur seines ungeheuren Materials geäußert wird —
außer der Beschreibung der Handlungen des betreffenden Falles und
Angaben wie Reuelosigkeit oder Roheit, welche ihrerseits psycho-
logische Fragen nicht beantworten, sondern aufgeben. Dennoch
wäre es völlig verfehlt, aus dieser grundsätzlichen Tendenz, außer-
halb des Psychologischen zu verbleiben, auf die Wertlosigkeit dieser
Gruppenbildung und der Forschungen, die zu ihr führten, schließen
zu wollen. Das ist — zum Teil auf Grund der vorher entwickelten
Gedankengänge — ja vielfach geschehen. Aber das Gegenteil ist
richtig; nur diese Forschungen allein hielten doch ständig das Wissen
um die Existenz von Menscheri wach, die kriminologisch wirk-
lich eine besondere Gruppierung erfordern, und stellten damit zwar
keine irgendwie geartete »anthropologische« Lösung ihrer Aufgabe
zur Diskussion, wohl aber nötigten sie zur Anerkennung des Be-
stehens einer Aufgabe für die Psychopathologie. Diese kann nicht
mit einer theoretisch begründeten Ablehnung über die Tatsache
der kriminologischen Sonderstellung dieser Gruppe hinweg-
gehen.
Das Wissen um die Existenz solcher vom Milieu fast unbeeinfluß-
barer Antisozialer hat in der Tat der Praktiker und Gutachter schon
lange gehabt; jeder von uns Psychiatern kennt solche Fälle. Um
einige markante Beispiele aus der Literatur herauszugreifen, erinnere
ich nur an die Sand ersehen Fälle ^), an die besonders reiche Material-
sammlung von Longard ^), einen Teil der schönen Fälle Baers^)
und an den neuen, außerordentlich bedeutsamen Fall von Mayer*)
mit seinen exakten Feststellungen zur Heredität. Wenn ein Forscher
wie Kraepelin sich »dem gewaltigen Eindruck nicht entziehen«
kann, »den der gleichzeitige Anblick einer größeren Zahl von Zucht-
hausgefangenen« in diesem Sinne auf ihn gemacht hat, so will das
schon etwas für die Existenz des reo nato sagen. Ebenso, wenn
Longard den erschütternden Gesamteindruck seiner Fälle in den
Worten zusammenfaßt: »Wer als G^fängnisarzt und Gerichtsarzt
an einem großen Materiale dem Ursprung des Verbrechertums und
der Natur und dem Werdegang des Verbrechers nachgeht, dem drängt
sich allerdings, je vertrauter er mit diesen Verhältnissen wird, immer
mehr die Überzeugung auf, daß es nicht berechtigt ist, der Lombroso-
schen Lehre sich so ablehnend gegenüberzustellen, wie dies von vielen
Seiten auch heute noch geschieht. Daß es geborene Verbrecher gibt,
1) Sander -Richter, Die Beziehungen zwischen Geistesstörung u. Ver-
brechen. Berlin 1886. I u. II der Gutachten.
2) Longard, Über moral in.sanity. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 43.
3) Baer, Über jugendliche Mörder und Totschläger. Groß' Archiv. XL
S. 103 ff.
*) Mayer, Moralische Idiotie. Festschrift für Forel, Journal f. Psych, u. Neur.
Bd. XIII.
438 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
Individuen, welche durch ihre fehlerhafte Anlage instinktiv auch
ohne Hinzutritt äußerer ungünstiger Verhältnisse zu einer asozialen
und antisozialen Lebensführung gedrängt werden, das ist mir nicht
der mindeste Zweifel.«^)
Ein solcher Zweifel bestand aber lange Zeit, und gerade bei den-
jenigen Forschern, deren psychologische Tendenz besonders deutlich
war. Er richtete sich wider die Berechtigung der psycho-
logischen Begriffseinheit des moralischen Schwachsinns. Man
sah ein, daß diese Bezeichnung, solange sie der psychologisch ein-
heitlichen Fundierung ermangelte, ein leeres äußerlich anhaftendes
Etikett war, das über das Wesen des betr. Menschen und dessen
Beziehung zur Antisozialität gar nichts ausmachte, das also
kriminal psychologisch keinen Fortschritt brachte . Und nun nahm
man sich den psychologischen Begriff des moralischen Schwachsinns
vor und stellte fest, daß er einen Grund für das Versagen gegenüber
moralischen Anforderungen gar nicht enthalten könne, denn um
einen solchen Grund zu enthalten, müßte er zur Voraussetzung
haben, daß Moralität eine in sich geschlossene psychologische Funk-
tion oder Eigenschaft sei, wie z. B. das Gedächtnis oder die Sinnes-
wahrnehmung. Das sei aber nicht der Fall. Mithin könne es auch
keinen Defekt in dieser fiktiven psychischen Funktion geben.
Und wenn jemand dauernd unmoralisch handele, so müsse das
seinen Grund in seinen übrigen seelischen Fähigkeiten haben
und sich auch in ihnen äußern, z. B. als allgemeiner Intelligenz-
defekt oder dergleichen. Ein isolierter moralischer Schwachsinn
ohne weitere seelische Anomalien sei jedenfalls psychologisch un-
möglich.
Es ist, soviel ich sehe, nur Bleuler 2) gewesen, der in einer sehr
bedeutsamen Arbeit diese Argumentation vom Standpunkte der
Psychologie aus zu erschüttern versuchte.
Obwohl er zunächst auch die anthropologisch-somatischen Lehren
Lombrosos gegen die Angriffe damaliger Kritiker zu verteidigen
unternahm — und zwar mit Erfolg — , so war ihm doch klar, daß
das Wesen der Lehre vom reo nato in dessen »Auffassung als psycho-
logisch definierte Gruppe« 3) gipfeln mußte, womit alle anthro-
pologisch-somatischen Fragen, die Lehre von den Degenerations-
zeichen usw., — gleichviel ob haltbar oder nicht — von »sekundärer
Bedeutung« werden mußten. Bleuler gibt auch ohne weiteres zu,
daß Moral nichts Angeborenes sei ; die moralischen Vorstellungen und
die daran geknüpften Gefühle würden erworben, entstammten somit
dem Milieu. Er unterscheidet aber von diesen Inhalten und Bestand-
teilen der Moral, die nicht angeboren sind, die Fähigkeit, sie im Leben
verwerten zu können. Diese kann defekt, »und dieser Defekt kann
1) a. a. O. S. 227.
2) Bleuler, Der geborene Verbrecher. München 1896.
3) a. a. 0. S. 14.
Paradigmat. Erörterung der theoret. Probleme des sog. moral. SchwewiliHinns. 439
angeboren sein«^). »Wer also den Schluß zieht, weil die Moral nicht
angeboren ist, deshalb gibt es keinen geborenen Verbrecher, der macht
sich der gleichen Erschleichung schuldig, wie der, welcher behaupten
wollte, weil die Sprache nicht angeboren sei, gebe es keine geborenen
Stummen 2). <<
Ebenso wendet sich Bleuler gegen die Behauptung, es sei psy-
chologisch gefordert, daß ein solcher Defekt sich auch außerhalb des
moralischen Vorstellungs- und Gefühlslebens bemerkbar mache und
sich nicht hier isoliere. Er behauptet demgegenüber, es gebe »be-
sondere« Funktionen der Hirnrinde, »welche in ihrer Gesamtheit
den Charakter und die Moral des Individuums bestimmen«, und diese
»können isoliert defekt sein« 3). Zur Begründung verlangt er von dem
Zweifler zuerst den Beweis des Gegenteils. Dann zeigt er ganz richtig,
daß Intellekt und Moral unabhängig voneinander in der Höhe ihrer
Ausbildung variieren können, kommt darauf zurück, daß eine an-
geborene Anlage von Fähigkeiten da sein muß, um die moralischen
Inhalte erwerben und verwerten zu können, und tut dar, daß diese
Anlage nicht die »Intelligenz« zu sein braucht; »es gehört merk-
würdig wenig Intelligenz dazu, um sich eine gute Moral zu verschaffen«.
Hieraus folgert er dann: »Wir sehen also, daß die Moral sich ganz
verhält wie die anderen psychischen Eigenschaften; Gedächtnis, In-
telligenz, Gemüt, Phantasie, ästhetische Begriffe und Gefühle, Affekte,
Selbstbeherrschung usw. sind ganz unabhängig voneinander . . .
Ein Parallelismus in der Entwicklung dieser verschiedenen Eigen-
schaften ist nur insofern vorhanden, als bei Schädigung des ganzen
Gehirns alle inferior sein müssen, wenn auch in sehr verschiedenem
Grade, und als bei starkem Defekt der einen die Wahrscheinlichkeit
für Intaktheit der anderen sehr gering ist.« »Wenn nun die Moral
unabhängig von den intellektuellen Eigenschaften innerhalb sehr
großer Grenzen variiert, so ist nicht abzusehen, warum sie nicht in
manchen Fällen, wo der Verstand sich innerhalb der Breite des Ge-
wöhnlichen hält, so tief sinken könne, daß das Individuum . . . Ver-
suchungen nicht widerstehen kann und zum Verbrecher wird. Solche
Leute nennt Lombroso rei nati, manche Psychiater nennen sie
moralisch Irre oder moralisch Imbezille, moralische Idioten*).«
1) a. a. O. S. 20.
2) a. a. O. S. 21.
3) a. a. O. S. 21.
*) a. a. O. S. 24. Bleuler gebraucht hier, wie wir es auch taten, die Be-
zeichnungen reo uato und moralisch Schwachsinniger synonym. Das ist ungenau.
Ersteres hat den Sinn einer kriminologischen, letzteres den einer psychologischen
Einheit; erstere ist normativ, letztere deskriptiv begründet. Praktisch ist die
Synonymie deshalb nicht schlimm, weil wir die kriminologische Einheit des reonato
auf die psychologische des ethischen Schwachsinns zurückbeziehen und erklären.
Aber beide Begriffe decken sich nicht. Es ist auch ein reo nato denkbar, der durch
andere psychologische Defekte zu seiner kriminellen Rolle gekommen ist; ebenso
wie nicht jeder inoral insane kriminell zu werden braucht. Aber das sind vor-
wiegend theoretische Bedenken !
440 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
Hierzu ist nun folgendes zu bemerken : Zweifellos wäre die Bleul er-
sehe Lösung des Problems der moral insanity ebenso endgültig und
befriedigend wie sie konsequent ist, wenn sie nur wirklich irgend
etwas Positives darüber ausmachte, was Moral ihrem psychologischen
Wesen nach eigentlich ist und durch welche »besondere« Funktionen
sie bewußt und praktisch verwertbar wird. Leider sagt Bleuler
hierüber nichts. Er kommt über bloße gelegentliche Bemerkungen
nicht hinaus. Es geht nicht an, daraus, daß der Stand der Intelligenz
mit dem »Besitz von Moral« nichts zu tun habe, zu schließen, daß
die Fähigkeit zum Erwerb von Moral an eine besondere psychische
Funktion geknüpft sei. Bleuler hat freilich recht, wenn er vom
Bestreitenden den Beweis des Gegenteils verlangt. Er hat überhaupt
in einem großen Teil seiner Behauptungen recht. Doch müßte der
Beweis hierfür durch einige theoretische Erwägungen besonders zu
führen sein.
Um an Bleulers Analogie anzuknüpfen: Moral ist nicht wie
Sprache ein Komplex, der psychologisch auf eine große Reihe ein-
zelner Innervationen und ebenso einzelner kinästhetischer Inner-
vationsbewußtheiten zurückgeht, die ihrerseits mit akustischen Einzel-
inhalten und den auf sie bezüglichen Bedeutungserlebnissen verknüpft
sind; ein Komplex, der in allen seinen Einzelheiten einübbar und
vergeßbar ist und dessen Funktionieren überdies an eine Reihe von
Hirnapparaten gebunden ist, die den elementaren sensorischen, Ver-
knüpfungs- und Innervati onsfunktionen in eindeutiger physiologischer
Weise zugeordnet sind.
Eben weil Moral ihrer ganzen Struktur nach etwas völlig Anderes,
formal und inhaltlich viel weniger Greifbares und Umrissenes und
vielmehr innerhalb der Subjektivität der einzelnen Psyche sich Aus-
bildendes ist (wobei freilich die objektiven Geltungskriterien der
Moral, die hier nicht zur Diskussion stehen, sorgfältig abzulösen sind
von der psychologischen Bewußtseinsvertretung und Ausbildung der
Moralelemente in der einzelnen Seele) — , darum kann der Bleul er-
sehe Vergleich der Amoralität mit den Aphasien niemals mehr be-
deuten als ein geistreiches Bild, das uns über den allgemeinen und
gewiß von niemand bestrittenen Satz belehrt, daß auch erworbene
psychische Inhalte entsprechende angeborene Funktionsweisen zur
Voraussetzung haben. Um sich gegenseitig zu verständigen, muß
man von den Bedeutungen, die im gewöhnlichen Sprachgebrauch des
Wortes Moral ziemlich verschmolzen gemeint sind, einige sorgfältig
voneinander trennen.
Zunächst gehört hierzu das objektive Prinzip des sittlichen Han-
delns überhaupt. Die Begründung und die Kriterien dieses Prinzips
sind Aufgabe der praktischen Philosophie und Ethik; und eben dahin
gehört auch das Problem der transzendentalen Freiheit als Grund
der Möglichkeit, das ethische Gesetz, welches jenseits aller Erfahrung
gründet, in der rein empirisch determinierten Seele ausschlaggebend
zu machen. Es ist an dieser Stelle überflüssig zu erörtern, wieweit
Paradigmat. Erörterung der theoret. Probleme dec sog. nioraL Schwaohsinas. 44 1
die transzendentale Kritik dieser Probleme sich empirisch psycho-
logischer Metliodcn zu bedienen hat.
Hier kommt dieser ganze Begriff von Moral nicht in Frage, son-
dern vielmehr die beiden folgenden Bedeutungen.
Zweitens ist unter Moral zu verstehen eine Summe von Anschau-
ungen, Meinungen und Werturteilen über das Verhalten des Ein-
zelnen innerlialb der Sozietät und den Wert bestimmter Motive dieses
Verhaltens. Eine solche Summe von Meinungen, ohne alle Rücksicht
auf die Art ihrer Begründung, bildet sich in jeder sozialen Verge-
meinschaftung heraus; sie ist inhaltlich abhängig von der Erfahrung,
der psychologischen Artung und Ausbildungshöhe ihrer Glieder, von
den in Frage kommenden einzelnen Interessen usw. Infolgedessen
schwankt sie zeitlich und örtlich in den einzelnen Verbänden und
Kulturkreisen.
Drittens verstehen wir unter Moral die psychische Fähigkeit
des einzelnen Menschen, moralischen Antrieben in seinem Handeln
Folge zu geben. Die moralischen Antriebe sind hierbei wieder in
einem doppelten Sinne begriffen: einmal im Sinne des moralischen
Prinzips, zweitens im Sinne der zweiten Bedeutung von Moral. In
der Tat besteht nämlich eine bestimmte objektive Beziehung zwischen
der ersten und zweiten Bedeutung von Moral, insofern, als das sitt-
liche Prinzip als solches das von aller Erfahrung unabhängige Kri-
terium der Berechtigung jener empirischen Moralbildungen ist. Denn
diese sind nicht zufällige soziale Produkte, unabhängig vom wahren
moralischen Prinzip, sondern entstehen unter dem Gesichtspunkt,
daß das sittliche Prinzip in seiner apriorischen Allgemeinheit, um
innerhalb der einzelnen empirischen Situationen bestimmte Anwen-
dungsmöglichkeiten zu finden, sich aus den Voraussetzungen dieser
empirischen Situationen jeweils mit Inhalten beladen muß. Auf
Grund dieses Erfordernisses kommt es überhaupt erst zur Bildung
von Moral in der zweiten Bedeutung. Und es ist hierbei sowohl klar,
wie die sozialen Zustände und Interessen jeweils verschiedene Inlialte
dieser Moralbildungen erzeugen können, als auch — besonders wenn
das moralische Prinzip selbst nicht hinreichend deutlich im indi-
viduellen Bewußtsein der Glieder jener Sozietäten zum Durchbruch
kommt — Inhalte entstehen lassen, die mit dem sittlichen Prinzip
gar nichts zu tun haben oder ihm gar widersprechen^). Dennoch
bleibt das sittliche Prinzip das Korrektiv derartiger Moralen.^)
Vor dem Bewußtsein des Einzelnen — was an dieser Stelle allein
interessiert — äußert sich das so, daß er glaubt moraliseli zu handeln,
wenn er der für ihn herrschenden generellen Moral in seinem eigenen
Handeln folgt, ohne Rücksicht auf Schaden oder Nutzen, oder wenn
er ihr zuwiderhandelt auf Grund einer Überzeugung davon, daß die
1) Strandrecht. Bripantonfrömmipkeit. Jus primae noctis.
2) Aus der Verwischung dieses Tatbestandes erklären sich die soziologischen
Fandierungsversucho der Moral, welche ihre Norminhalte relativieren, durch
Bentham, Adam Smith, Mill, Quyau usw.
44 2 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
generelle Moral dem moralischen Prinzip, so wie es ihm bewußt ist,
widerspricht. Der Einzelne kann also wider die Moral in der zweiten
Bedeutung und doch moralisch in der ersten Bedeutung handeln.
Diese inhaltlich etwas verwaschene und sehr weit umgrenzte Be-
deutung wohnt dem Begriff der moralischen Antriebe inne. Es fragt
sich für die dritte Bedeutung des Wortes Moral, was es psychologisch
besagt, moralischen Antrieben bei seinem Handeln Folge geben zu
können. Denn hier liegen die Wurzeln der Moralität des Einzelnen;
und ein Defekt der Moralität müßte auch im Sinne von Bleuler ein
Defekt in diesen psychologischen Wurzeln sein. Eine psychologisch
erschöpfende Antwort auf diese Frage könnte nur aus einer psycho-
logischen Theorie des Entschlusses abfolgen. Wir wollen uns hier
aber nicht theoretisch festlegen, soweit ist der Bearbeitungsstand
dieser Materie noch nicht gediehen ; wir wollen uns mit der Aufzeigung
einiger für unseren Zweck hinreichender Merkmale begnügen, auf
die Gefahr hin, mit ihnen das eigentliche Wesen der Sache nicht rest-
los zu treffen.
Unterscheiden wir das Handeln auf Grund von Trieben von dem
Handeln nach Antrieben, die ihrerseits als Motive des Handelns im
Bewußtsein sind. Sind diese letzteren Antriebe mit einem bestimmten,
nicht ohne weiteres anschaulich vorstellbaren Inhalt versehen, so ist
ein Bewußtsein von ihnen nur durch Reflexion möglich.
Beim Handeln nach Trieben, wenn man will bei »instinktivem«
Handeln, kann der die Handlung bewirkende Trieb oder Impuls auch
im Bewußtsein sein; aber stets als unmittelbares Erlebnis, niemals
reflektiert; erst nach der Handlung kann dann auf dieses unmittel-
bare Erlebnis auch reflektiert werden. Der Trieb braucht aber gar
nicht ins Bewußtsein zu treten. Wäre nun das reine moralische
Prinzip des Guten, welches als apriorischer Begriff gar nichts An-
schauliches hat, der Antrieb des Handelns, so wäre dieses eigentlich
und absolut sittliche Handeln immer ein solches, dessen Motiv in
reflektiertem Bewußtsein gegeben wäre. Für diesen Grenzfall sitt-
lichen Handelns wäre die Aufzeigung der psychologischen Voraus-
setzungen also klar: das Individuum müßte in der Lage sein, das
sittliche Prinzip sich durch Reflexion ins Bewußtsein zu heben, d. h.
es bedürfte einer bestimmt ausgebildeten Verstandeshöhe; es müßte
ferner imstande sein, dies Prinzip auf eine bestimmte Situation an-
zuwenden, wozu eine weitere Verstandesarbeit gehört; es müßte
endlich imstande sein, dies Prinzip zum Motiv seines Handelns zu
machen; d. h. die übrigen Triebe und Antriebe, die auf das empirische
Bedürfnis und Gefühlsleben zurückgehen, dürften nicht so stark sein,
daß der die Handlung erzwingende Wille nicht stärker wäre, und
dieser andererseits müßte von der Reflexion, welche dies Prinzip ins
Bewußtsein gehoben hat, zielrichtend geleitet werden können. Wir
sehen also hier, bei der eigentlichen und im engsten Sinne moralischen
Handlung, eine ganze Reihe psychologischer Voraussetzungen, deren
jede, falls sie fehlt, sowohl die Moralität der Handlung in Frage
ParadigmaL Erörterung der theoret l'robleme do« sog. moraL Schwachsinn«. 443
stellen würde, als auch sich in anderen psychischen Wirkungen
äußern müßte. Sind die Instinkte und elementaren Grundtriebe in
ihrer Wirkung auf das Willensleben so abnorm mächtig, daß sie den
Einfluß der Reflexion paralysieren, so kommen die verschiedenen
Formen affektiver Anomalien, der hysterische und epileptoide Cha-
rakter, zustande — je nach der speziellen Ausgestaltung des Ver-
hältnisses der Triebe zueinander und deren Art. Ist der Wille ab-
norm schwach, so ergeben sich manche Typen psychopathischer Halt-
losigkeit. Versagt die Reflexion, so müssen sich Schwachsinns-
forraen ergeben. In keinem Falle entsteht ein spezifischer Moral-
defekt; die moralische Minderwertigkeit ist immer nur ein besonderer
Ausdruck einer allgemeineren und direkt faßbaren psychischen Ano-
malie. Die Forderung Berzes^), »direkte, aus der Erscheinungs-
weise des Defektes selber abgeleitete Kriterien« für das Vorliegen
eines Moraldefekts als allein maßgeblich anzustreben, kann also gar
nicht erfüllt werden; und wir wissen uns mit diesem Forscher einig,
wenn er nachweist, derartige Versuche »können kein brauchbares
Ergebnis liefern«. Andererseits hat er recht damit, wenn er aus-
führt, der Schwachsinn (und ebenso die affektiven und Willens-
anomalien) seien ein »indirektes« Beweismittel, das »fälschlich zum
Range eines direkten« für das Vorliegen von moralischem Schwach-
sinn erhoben werde 2).
Nun war allerdings der besprochene Fall einer im engsten Sinne
und absolut moralischen Handlung nur ein Grenzfall ; und wir müssen
uns sorgsam vor jeder Schematisierung hüten, sobald wir an die
Beurteilung des wirklichen Lebens herantreten. Für dieses ist Moral
eben nicht das reine Prinzip, sondern der Inbegriff eines ziemlich
komplizierten Konvoluts von Dingen, die wir oben im Umriß dar-
gelegt haben. Diese stehen auch als Antriebe von Handlungen in
einem viel unklareren, vielfältigeren und verwischteren Verhältnis
zum Bewußtsein, zur Reflexion und zum Handeln, als es das reine
Prinzip in unserem Grenzfalle tat. Hiervon muß im folgenden noch
einiges in Erwägung gezogen werden.
Das Bewußtsein nämlich um alle jene Meinungen, Wertungs-
weisen und Motive, deren Summe wir als Moral in der zweiten Be-
deutung zusammengefaßt haben, ist in ziemlich weitem Maße un-
abhängig vom Bewußtsein um das reine sittliche Prinzip. Letzteres
kommt freilich immer nur reflexionell zustande. Der erstgenannte
Inbegriff von Moral, die Zeitmoral, wie sie im folgenden genannt
1) a. a. O. S. 128.
2) IjOgisch wärp auch der Fall denkbar, daß das apriorische Moralprinzip in
der Organisation de.^ (Joistes überhaupt fehlte. Allein mit der Annahme dieser
logischen Möj;liohkeit würde ein unlösbares philo.-^ophi.^ch-ethi.^chts l*roblcm ge-
setzt — dem hier nicht gefolgt werden kann — -, und überdies würde das Zutreffen
dieser Annahme im einzeh\eu Falle niemals empiri.-ch ent>clu'idbar sein. Die
Diskussion dieser vierten Möglichkeit entf&llt daher für den vorliegenden empirisch-
psychologischen Zweck.
444 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
sei, kann auf mannigfach andere Weise als durch eigene subjektive
Reflexion, die ja eine besondere intellektuelle Eigenleistung darstellt,
in seinen verschiedenen Bestandteilen ganz oder teilweise bewußt
gemacht werden. Wäre das anders, wäre der Erwerb und die Ver-
wertung der Zeitmoral im Leben nicht wesentlich leichter und mehr
Individuen zugänglich, als das nur durch eigene geistige Arbeit er-
zielbare Bewußtsein des Sittengesetzes, — so müßte ausnahmslos
bei jedem Menschen beides nebeneinander bestehen. Dann aber
müßte konsequenterweise die Zeitmoral einen großen Teil ihres Wertes
für den einzelnen Menschen verlieren, da er ja am Wissen um das
wahrhaft Sittliche seinen wahren Maßstab allen Tuns und Lassens
hätte; und ferner dürfte es dann überhaupt keine Zeitmoral geben,
die dem sittlichen Prinzip in irgendeinem Punkte widerspräche. Denn
da nach dieser Unterstellung jeder Einzelne um dieses Prinzip ebenso
wüßte, wie um die Zeitmoral, so hätte er ja stets die Möglichkeit,
deren Inhalt an ihm zu messen und zu korrigieren.
Nun ist das aber zweifelsohne nicht so. Einmal finden wir viele
Inhalte der Zeitmoral von verschiedenen geographischen und histo-
rischen Kulturkreisen untereinander widersprechend und vom mo-
ralischen Ideal verschieden weit entfernt; zweitens aber gibt es nur
relativ selten Fälle, wo eine der Zeitmoral zuwiderlaufende Einzel-
handlung dennoch subjektiv moralisch bleibt. Wir haben schon
oben dargelegt, daß die psychologische Voraussetzung eines solchen
als moralisch empfundenen Widerspruchs zur Zeitmoral im Besitze
des Bewußtseins um das sittliche Prinzip besteht, dem irgendeine
Wertung der Zeitmoral nicht entspricht. Daß solch ein Widerstreit
nur relativ selten und nur bei solchen Menschen vorkommt, die im
Verhältnis zu der sozialen Gemeinschaft ein besonders hoch ent-
wickeltes geistiges und sittliches Niveau haben ^), das beweist schon,
daß das Bewußtsein des reinen Moralprinzips und seine Betätigung
neben und über der Zeitmoral ein Plus an geistiger Leistung erfordert
gegenüber der Aneignung und Betätigung der Zeitmoral. Letzteres ist
psychologisch wesentlich einfacher. Es bleibt dabei der philosophi-
schen Ethik und Moralkritik überlassen, zu bestimmen, wieweit man
bei der Betätigung der Zeitmoral überhaupt von Moralität im strengen
Sinne reden darf; wir haben es hier mit den psychologischen Grund-
lagen einer Betätigung zu tun, welche in der Praxis des Lebens eben
auch als moralisches Verhalten bezeichnet wird. Wir stellen nur
fest, daß diese psychologischen Grundlagen die Ausbildung der geisti-
gen Funktionen und speziell des selbständigen Denkens weit weniger
in Anspruch nclimen, als die absolut sittliche Betätigung auf Grund
autonomen Pflichtbewußtseins. In diesem Sinne nannten wir vorhin
das absolut moralische Handeln einen psychologischen Grenzfall.
Das Bewußtsein der Zeitmoral ist also dem Einzelnen weit leichter
zugänglich. Das hat zwei Gründe. Beide stehen in einer klaren Be-
1) Friedrich Adlers Mord am Grafen Stürgkh.
Paradigmat. Erörterung der theoret. Probleme des sog. moral. Schwachsinns. 445
Ziehung zueinander. Der eine ist die Struktur der Zeitmoral, der
andere die Art, wie sie überliefert wird.
Über die Struktur der Zeitmoral soll fragmentarisch nur soviel
gesagt werden, als für unsere psychologischen Folgerungen unbe-
dingt wesentlich ist. Da ist zuerst zu berücksichtigen, daß sie eine
deutliche teleologisch begründete Tendenz zur Erhaltung des Ge-
meinschaftsbestandes ist, für den sie gilt, und zwar in der zeitlichen
gegenwärtigen Beschaffenheit ihrer Geltung. D. h. sie nimmt inhalt-
lich alle diejenigen bereits bestehenden Meinungen als Grundlagen
ihres Wertes mit auf, die hinsichtlich der Psychologie des Einzelnen
ganz zufällig sind und von ihm äußerlich angenommen und befolgt
werden müssen, ohne daß sie in irgendeine Beziehung zu seinem sub-
jektiven Wesen zu treten oder gar dessen Ausdruck zu sein brauchen.
Und ferner: zur Sicherung der Verbindlichkeit ihrer Inhalte appelliert
sie nicht an irgendeine moralische Reflexion des Einzelnen, sondern
vorwiegend an eine gefühlsmäßige moralische Gestimmt heit, die letzten
Grundes in den sozialen Trieben und Instinkten, dem Schwächegefühl
des Einzelnen gegenüber der Masse und dem Wunsch unerschwerter
Bedürfnisbefriedigung wurzelt. In diesem Sinne haben die englischen
Empiristen schließHch recht, daß sie seit Shaftesbury von »mora-
lischen Gefühlen« reden; bloß daß der altruistische Charakter dieser
Gefühle erst ein sekundäres Produkt sozialer Domestizierung durch
die Wirksamkeit der Zeitmoral ist. [Über den Ressentimentcharakter
dieser altruistischen Bildungen, den zuerst Nietzsche psychologisch
erfaßt hat, vergleiche man die vortrefflichen phänomenologischen
Untersuchungen Schelers^) und Furtmüllers 2).] Wennglei h
dieser ganzen Struktur objektiv ein teleologisches Moment inne-
wohnt, so ist — das braucht wohl nicht erst gesagt zu werden —
dasselbe der subjektiven Seinsweise im einzelnen Bewußtsein durch-
aus fremd; wenigstens in den meisten Fällen. Die gefühlmäßige
moralische Gestimmtheit, welche wir als den subjektiven Grund der
Verbindlichkeit der Zeitmoral für den Einzelnen erkannt haben, ist
ein höchst verwaschenes assoziatives Produkt aus Instinkten. Trieben,
Gregenantrieben und den durch den Domestikationsprozeß gesetzten
Umbildungen primärer psychischer Faktoren.
Aber das gehört schon zum zweiten Grund der subjektiven Wirk-
samkeit von Zeitmoral: der Art, wie sie ins einzelne Bewußtsein über-
pflanzt wird. Auch hiervon soll nur soviel angedeutet werden, als
notwendig ist, um die subjektiven Voraussetzungen von Moralität im
Sinne der Zeitmoral für unseren Zweck sichtbar zu machen.
Die Zeitmoral wird anerzogen. Die Inhalte ihrer Bestimmungen
werden dem heranwachsenden Kinde eingeprägt und die Unter-
werfung der Handlungen unter sie durch die Macht der Umwelt,
1) Ressentiment u. moral. Werturteil. Leipzig 1912. Synipathiegefühle u.
Liebe usw. Hallo 1913.
2) Psychoanalyse und Ethik. München 1912.
446 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
Beispiel, Lohn, Strafe und Zwang erreicht. Demgemäß braucht das
Wissen um die Inhalte der Zeitmoral beim einzelnen Falle durchaus
noch nicht auf reflexioneller Arbeit zu beruhen, sondern kann ein
einfacher reproduktiver Akt sein. Auch das Verstehen dieser Be-
stimmungen braucht sich durchaus nicht reflexionell zu vollziehen;
es kann an der Hand anschaulich erlebter Beispiele, die reproduziert
werden, an der Hand eigener erfahrener unliebsamer Folgen bei
Nichtbeachtung dieser Bestimmungen gegeben sein. Die Inhalte der
Zeitmoral können also in einem viel größeren Umfang anschauliche,
erlebnisartige und direkt reproduzierte Elemente ins Bewußtsein des
Einzelnen treten lassen, als das bei dem Urteilscharakter dieser In-
halte von vornherein zu erwarten wäre. Schon dies ist sehr wichtig
zur genaueren Bestimmung der Art des Antriebes bei moralischem
Verhalten im Sinne der Zeitmoral. Das Bewußtsein des Antriebs
braucht hier durchaus kein reflektiertes zu sein; diese Antriebe sind
als unmittelbar bewußt für die Handlung gegeben. Dadurch ent-
steht eine Analogie der in diesem Sinne moralischen Handlungen mit
den instinktiven, besonders bei steter Einübung. Natürlich können
auch reflexione le Momente für das Erfassen der Inhalte hinzutreten;
aber diese brauchen sich nicht wesentlich über die primitiven Leistun-
gen alltäglicher einzelner Zweckurteile hinaus zu erstrecken. Es han-
delt sich ja im wesentlichen immer um einfachste Dinge: zu bedenken,
ob Schädigungen anderer an Leib und Eigentum durch irgendein
Tun entstehen können. Schon aus dieser Bestimmung über die Be-
wußtseinsart der Inhalte von Zeitmoral ersieht man, eine wie geringe
intellektuelle Leistung sie erfordern. Und hieraus würde für den
moralischen Schwachsinn in der Tat die Bleuler sehe Feststellung
einer weitgehenden Unabhängigkeit der Moral von der Intelligenz
sich ergeben. Mindestens in dem Sinne, daß weitgehender intellek-
tueller Schwachsinn sich dennoch die Inhalte der Zeitmoral zu eigen
machen kann; der zweite Teil des Nachweises dieser Unabhängigkeit
der Moralität von der Intelligenz : daß nämlich bei relativ genügender
Intelligenzentwicklung ein moralischer Defekt bestehen könnte, ist
damit noch nicht beantwortet. Hierfür liegt die Entscheidung gänz-
lich bei den psychologischen Gründen für die Verbindlichkeit der
zeitmoralischen Normen.
Bevor wir dies erörtern, seien noch zwei Bemerkungen gestattet.
Nämlich erstens glaube ich Berzes Dreiteilung der subjektiven Grund-
lagen von Moral in »Gefühlsmoral«, »Verstandesmoral« und »Pseudo-
moralische Hemmungen«^) durch die erörterte Zweiteilung ersetzen
zu sollen. Diese entspricht faktisch eher dem Wesen der psycho-
logischen Wirksamkeit von Moral. Das Bewußtsein um die Norm-
inhalte, welches Beize als Verstandesmoral bezeichnen würde, ist
eben zum größten Teile nicht Funktion des Verstandes. Und soweit
dieser dabei beteiligt ist, wirkt er meist in dem, was Berze pseudo-
1) a. a. O. S. 137.
Paradigmat. Erörberung dor theorct. Probleme des sog. moral. Schwachsinns. 447
moralische Hemmungen nennt, mit. Aber es gehen auch Teile der
»Gefühlsmoral« in dieses Bewußtsein mit ein. Auf der anderen Seite
entspricht das Anerkennen der Verbindlichkeit dieser Normen durch
die moralische Haltung nicht restlos, wenn auch großenteils, dem
Berzeschen Begriff der Gefühlsmoral; jedoch kommen auch hier
teilweise »pseudomoralische Hemmungen« hinzu.
Zweitens zeigt auch diese theoretische Überlegung wieder, daß
dem Begriff der Einsicht in die Strafbarkeit einer Handlung, wie
er als Bestimmungsstück des § 56 RStGB. fungiert, nicht die Aus-
legung einer Kenntnis der Straf bar keit gegeben werden sollte, wie
dies die Entscheidungen des Reichsgerichts zeitweise taten. Denn
diese bloße Kenntnis setzt, wie wir nach den obigen Erörterungen
sagen dürfen, nur die elementarsten Äußerungen geistiger Tätigkeit
voraus, die auch ein sehr schwachsinniges Kind haben kann; sie exi-
miert also gar nicht diejenigen von der Verantwortlichkeit, die trotz
der Kenntnis des Inhalts der Norm keine psychologische Möglichkeit
haben, die Verbindlichkeit derselben für das eigene Verhalten zu er-
fassen und anzuerkennen.
Um nun auf die Gründe der Verbindlichkeit von Zeitmoral
einzugehen, so kommen sie in ihrer Gesamtheit ungetrennt zu undeut-
lichem Bewußtsein; wir bezeichneten das vorher als moralisclie Ge-
'stimmtheit. Die subjektive Seite dieser Gestimmtheit geht uns hier
nicht weiter an; objektiv kann man sie in solche Faktoren zerlegen,
deren positives Vorhandensein co ipso zur Geltung der Zeitmoral
beiträgt, und zweitens in solche den Triebregungen angehörigen
Faktoren, deren Realisierung in irgendeiner sozialen Situation der
Zeitmoral widerspräche, die also fehlen oder überwindlich sein müssen,
damit die subjektive Geltung der Zeitmoral gesichert ist. Wir werden
diese beiden Faktorengruppen als positive und negative psy-
chische Bedingungen der subjektiven Geltung von Zeit moral be-
zeichnen.
Die positiven psychischen Bedingungen der Verbindlichkeit von
Zeitmoral zerfallen wieder in solche, die innerlich in der Anlage jedes
Menschen von vornlierein gegeben sind; die Kenntnis der Zeitmoral
trifft in ihnen auf präformierte psychische Grebilde, kraft deren sie
eine besondere subjektive Bedeutung erlangt, behalten, weiterver-
arbeitet und für Entschluß und Handlung fruchtbar gemacht wird.
Wir bezeichnen sie nicht ganz geni^u als Gefühlsgrundlagen der
Verbindlichkeit von Zeitmoral. Hinzu kommen zweitens äußerlich
erzeugte psychische Faktoren, deren Möglichkeit zwar dispositionell
gesichert sein kann, oline daß aber diese Dispositionen irgend etwas
Gleichartiges oder auch nur Typisches zu haben brauchen. Erziehung
und andere Momente äußerer Einwirkung aktualisieren aus ilinen
eine Reihe psychischer Gi.'bilde. welche besonders als Gegenantriebe
und Hemmungen im Entschluß wirksam werden. Wir bezeichnen
sie daher ebenfalls nicht ganz genau als die Hemmungsgrund-
lagen der Geltung von Zeit moral.
448 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
Unter die Gefühlsgrundlagen ordnen wir alle diejenigen Momente
ein, die man als »soziale Instinkte« zusammenfassen könnte. Hierher
gehört der Geselligkeitstrieb Burkes und der alten Engländer. Er
entspringt aus den Tendenzen einer mögliehst erleichterten und ge-
sicherten Bedürfnisbefriedigung. Hierher gehören auch alle Siche-
rungen und Ressentiments der Ohnmacht des einzelnen gegenüber
der Gesamtheit; aber auch Faktoren wie Bequemlichkeit und Sug-
gestibilität. Psychologisch läßt sich über die subjektiven Weisen
des Bewußtseins dieser Gefühlsgrundlagen recht wenig weiter aus-
sagen.
Bei den Hemmungsgrundlagen muß man die durch Erziehung
gesetzten von den durch die Umstände der sozialen Situation er-
zwungenen unterscheiden. Die von der Erziehung geleistete Arbeit
besteht im wesentlichen darin, die Kenntnis der zeitmoralischen
Normen zu vermitteln und für ihre Beachtung an die Gefühlsgrund-
lagen in geeigneter Weise zu appellieren. Dadurch werden diese dem
Subjekt wichtig und im Entschluß ausschlaggebend. Es handelt sich
dabei nicht nur um eine intensive Verstärkung der Gefühlsgrundlagen,
sondern um eine Hemmung und Ausschaltung der Triebe und An-
triebe, die ihnen entgegenstehen. Welches diese sind, davon ist unten
bei den negativen Bedingungen der Geltung von Zeitmoral die Rede.
In dem Sinne dieser Hemmungserzeugung ist Erziehung Willens-
bildung. Das Kind lernt sich zu beherrschen; und zwar indem als
Erfolg dieser Willensanspannung das Bewußtsein der Moralität bzw.
Legalität seinem Selbstgefühl schmeichelt, den oben angedeuteten
Ressentiments huldigt, und endlich indem andere und gleichstarke
Wünsche, die nur nicht aktuell waren, durch die Aussicht auf Lohn
ideell befriedigt werden; auch wenn dieser Lohn — religiös moti-
viert — erst im Jenseits verheißen ist oder in der Wertschätzung der
Allgemeinheit liegen soll.
Das suggestible Moment gerade der kindlichen Psyche wird durch
die Autorität des Erziehers für die Verbindlichkeit der Zeitmoral
fruchtbar gemacht.
Hinzu treten im weiteren Leben die Zwangsmittel der Sozietät
und insbesondere die Gesetze des Staates. Sie gehen alle nicht auf
die Gesinnung, sondern auf die Handlung im Sinne der Zeitmoral
aus. Dennoch fördern sie mit dem zeitmoralischen Handeln in der
weitaus größten Mehrzahl der Fälle eo ipso das Bewußtsein und die
Anerkennung der Zeitmoral. Sie appellieren vorwiegend an teleo-
logische Momente, besonders an die Furcht. So setzen sie weitere
Willenshemmungen, sowohl solche der einfachsten Reflexion in singu-
lären Zweckurteilen, als auch affektive.
Die Strafe, die soziale Ächtung, die Verschlechterung der Lebens-
haltung bei Verstößen gegen die Zeitmoral, und umgekehrt die so-
ziale Sicherung und Hebung bei ihrer Anerkennung wirken zugleich
mächtig im Sinne der Erhöhung der Gefühlsgrundlagen für die Gel-
tung der Zeitmoral.
Paradigmat. Erört-erung der theoret. Problem« des sog. moraL Schwachsinns. 449
Zu den negativen Bedingungen für die Verbindlichkeit von
Zeitmoral gehört das Fehlen oder die Unterdrückbarkeit aller Trieb -
legungen, deren Verwirklichung ihr widerspräche. Hierzu rechnen
vor allem die sthenischen Affekte, deren Intensität nie größer werden
darf als die Resultante der Wirksamkeit der ersten Gruppe. Hierzu
rechnet das Selbstgefühl und seine Neigung, sich schrankenlos durch-
zusetzen^), hierzu rechnen ferner die elementaren Triebe bei er-
schwerter oder verzögerter Befriedigungsmöglichkeit oder bei dispo-
sitionell erhöhter Intensität: Nahrungs- und Geschlechtstrieb. Trieb-
regungen, wie Grausamkeit oder Hang zur Lüge, sind erst sekundäre
Produkte, Modifikationen primärer Elementartriebe. Z. B. die Grau-
samkeit eine bestimmte sekundäre Verschmelzung pervertierter
sexueller Triebregungen mit sthenischen Grundaffekten, allgemein
erhöhter motorischer Erregbarkeit und Derivationen eines irgendwie
beeinträchtigten Selbstgefühls, das sich auf einem Umweg entlädt;
der Hang zur Lüge das typische Ressentiment produkt verdrängten
Ohnmachtgefühls, welches daher immer mit kritikloser Selbstüber-
schätzung und berechneter Demonstration der eigenen Wichtigkeit
einhergeht; ein asthenisches Gebilde. Zur Aktualisierung solcher Trieb -
regungen ist immer ihre Uberwertigkeit gegenüber der ersten Gruppe
erforderlicli. Das alles ist hier nur insofern wichtig, als zur Entwick-
lung all dieser Triebe faktisch nur die von uns als primär bezeichnete
Triebbasis angenommen zu werden braucht, aus der alle anderen
erst hervorgehen. In diesem Sinne gilt Goethes wahrhaftiges Selbst-
bekenntnis, er fühle in sich die Anlage zu allen Verbrechen, von jedem ;
wobei nicht geleugnet werden soll, daß die Intensität und die sekun-
däre Pervertierbarkeit dßr elementaren Triebregungen dispositionell
absolut verschieden und bei einzelnen Menschen in höchstem Maße
pathologisch sein kann.
Das Kriterium der Verbindlichkeit von Zeitmoral ist also zwar
ein relatives, aber relativ nur hinsichtlich des Verhältnisses dieser
Triebregungen zur Gruppe der positiven Bedingungen von Zeitraoral ;
und insofern ist es durchaus psychologisch bestimmbar.
Was folgt aus diesen Darlegungen für die Möglichkeit und das
psychologische Wesen des moralischen Schwachsinns?
Die Frage ist, ob isolierte Defekte in einer dieser Gruppen von
Grundlagen der Moralität psychologisch bestehen können. Oder
natürlich auch, ob sich isolierte Defekte mehrerer Gruppen zu einer
einheitlichen Wirkung hinsichtlich des moralischen Verhaltens ver-
binden können. Und wichtig ist für die psychologische Begriffs-
bestimmung des moralischen Schwachsinn.s noch, daß die Wirkung
1) Daß dieses S;-'lbstgefühl ein primäres Triebphänomen ist. habe ich bei
ganz schweren Idioten gesehen, die 7.11 keiner psychischen Leistung fähig waren,
als sinnliche Eindrücke zu haben, Schmerz zu fühlen, zu essen, zu schlafen und zu
onanieren, und die den ganzen Tag dasaßen und bei der Annäherung irgendeines
Menschen freudestrahlend auf sich zeigten und unartikulierte Laute ausstießen,
solange der Betreffehde im Zimmer war.
Kronfelil. l'sychintrHche Erkoinitni«« 29
450 Zxir Theorie und Logik psychopathologischer Typenbüdung usw.
dieser Defekte auf die Anomalie im moralischen Verhalten die ein-
zige oder doch zum mindesten die weitaus hervorstechendste
Folgeerscheinung ihres Bestehens sein muß. Denn sonst hätte die
Einengung der Bezeichnung des Defektes als »moralischer«
Schwachsinn keine Berechtigung. Nun ist zwar die Antimoralität,
die sich aus Defekten in dem psychologischen Unterbau des dar-
gestellten Geltungsfundaments von Zeitmoral ergibt, nur eine zu-
fällige Folge dieser Defekte, die sich z. B., wenn das betreffende
Individuum auf einer einsamen Insel lebte, gar nicht geltend zu
machen brauchte. Und sie steht insofern im Gegensatz etwa zu den
echten psychotischen Prozessen, die auf einer einsamen Insel genau
so gut psychotische Prozesse bleiben würden, wie sie es in der Sozietät,
in den Anstalträumen und in der Isolierzelle sind. Allein mag die
Antimoralität, als Ergebnis eines von immerhin zufälligen äußeren
Umständen und Forderungen abhängigen Verhaltens, nicht der
unmittelbarste und notwendigste Ausdruck psychischer Anomalie
sein: so könnte sie doch im Leben die einzige psychische Folge-
wirkung derartiger Anomalie sein, die sich außerhalb ihrer über-
haupt nicht manifestierte. Und sie muß es sogar sein, wenn anders
der Begriff des moralischen Schwachsinns überhaupt einen psycho-
logischen Sinn haben soll.
Und das ist tatsächlich möglich. Freilich: die pathologische In-
tensität der elementaren Triebregungen, die zu ihrer Unbeherrsch-
barkeit durch den Willen führt, ist, soweit sie überhaupt isoliert vor-
kommt, immer auch direkt nachweisbar, jenseits des bloß antimora-
lischen Verhaltens. Wir denken hier besonders an die Menschen mit
gesteigertem Selbstgefühl und Machtwillen, die Eitlen usw. einer-
seits, die Menschen mit pathologisch gesteigertem und qualitativ
perversem Geschlechtstrieb andererseits, von denen wir zunächst
hypothetisch unterstellen, daß sie im übrigen normal sind. Von
einer grundsätzlichen Antimoralität, einem moralischen Schwachsinn,
kann doch in solchen Fällen keine Rede sein; außerhalb der Trieb-
befriedigung, die natürlich zu »affektiven« Verstößen gegen die
Zeitmoral führen kann, können sie durchaus der Zeitmoral unter-
worfen sein. Und wenn zu dem pathologisch gesteigerten Trieb-
leben noch Anomalien im Zusammenspiel desselben mit dem Gefühls-
und Willensleben hinzutreten, so resultieren einige Formen der so-
genannten erethischen Imbezillität und Spielarten der epileptoiden
Degeneration, deren Folge Wirkungen ebenfalls nicht allein auf dem
Gebiet des moralischen Verhaltens liegen, sondern direkt als psy-
chische Anomalien in Erscheinung treten. Ähnlich liegen die Dinge
da, wo ein gesteigertes Selbstgefühl zugleich mit einer relativen Über-
wirksamkeit gefühlsbetonter Phantasie- und Begehrungsvorstellungen
einhergeht: beim hysterischen Charakter, und, wenn das Selbst-
gefühl durch Ressentiments verstärkt wird und in anderen Formen
auftritt, beim Pseudologisten. Auch hier kann eine fast vollständige
Antimoralität im Verhalten die Folge sein; aber sie .braucht es nicht
Paradigmat. Erörterung der theoret. Probleme des sog. moraL Schwachsinns. 451
durchaus zu sein, und neben ihr gibt es noch andere, psychologisch
unmittelbarere und direktere Erscheinungsweisen dieser ah>normen
seelischen Strukturen. Und ganz Analoges gilt auch von den Typen
der pathologischen Willensschwäche.
Will man also mit dem Begriff des moralischen Schwachsimis
wirklich etwas psychologisch Direktes, eine reale psychische Struktur-
einheit, die auch theoretisch standhält, bezeichnen, so muß man diese
Typen alle als ihr zwar mehr oder weniger nahe verwandt, aber doch
nicht eigentlich zu ihr hinzugehörig auffassen. Und somit bleibt
nur noch das letzte Gebiet psychischer Strukturen übrig, in welchem
Defekte ein antimoralisches Verhalten als einziges isoliertes Symptom
bei sonstiger völliger psychischer Intaktheit zur Folge haben können :
Wir meinen die Gefühlsgrundlagen für die Verbindlichkeit zeit-
moralischer Normen. Hier kann in der Tat die Abwesenheit oder
qualitative Perversion jener Grundinstinkte, die wir oben an ent-
sprechender Stelle bezeichnet haben, ein solches Bild erzeugen. Und
das wäre im eigentlichen psychologischen Sinn moralischer
Schwachsinn bei sonstiger Unversehrtheit alles psychi-
schen Lebens.
Als Erster hat wohl Liepmann diesen Sachverhalt klar erfaßt
und ausgesprochen. Er unterschied bereits 1908^) begrifflich sehr
klar, aber freilich ohne genauere Begründung »zweierlei: so etwas
wie eine sittliche Farbenblindheit, d. h. ein wirkliches Fehlen aller
der Gefühle, auf denen unser sittliches Zusammenleben beruht —
dieses wirkliche Fehlen kommt vor, aber ist etwas verhältnismäßig
Seltenes. Dabei können die moralischen Begriffe erhalten sein;
aber diese Begriffe wecken nichts Gefühlmäßiges in ihnen, sind daher
totes Wissen. Nun gibt es aber eine weit häufigere Kategorie von
Menschen, . . . die nicht eigentlich aller altruistischen Gefühle ent-
behren, die es nur dadurch zu keiner Moral bringen, daß ihnen jede
Konstanz fehlt . . . Sie sind ein Spielball der Stimmungen, die Rück-
sicht auf höhere Pflichten läßt sich gegenüber den Leidenschaften
des Moments nicht zur Herrschaft bringen«. Ebenso führt Liep-
mann in einer Veröffentlichung 2) aus: >>Es sagt sich ja von selbst,
daß Instabilität, Unstetigkeit, Willensschwäche, Affekterregbarkeit
ein Leben der Pflichterfüllung und der Moralität ausschließen. Man
denkt aber, wenn man von amoralischen Degenerierten spricht, ge-
wöhnlich an etwas anderes. Man hat die moralischen Kcrngefühle,
die altruistischen Gefühle ... im Auge. Es gibt in der Tat eine An-
zahl Degeneres, bei denen diese Gefühle vollkommen fehlen oder
wenig entwickelt sind. Das sind die moralisch Auästhetischen. Mit
der Zeit hat sich dieser Begriff der moral insanity ... so eingeengt,
daß man dabei nur an die moralischen Monstra denkt, welchen von
1) Nach dem mir gütigst überlassenen Stenogramm eines Kollegs.
2) Die Beurteilung psychopathischer Konstitutionen. Ztschr. f. ärztl. Fort-
bUdung. 1912. S. 135.
29*
452 Zur Theorie und Logik psychopathologisclier Typenbildung usw.
Geburt an jede altruistische Regung fehlt, die sittlich Farbenblinden.
Es ist sehr viel darüber gestritten worden, ob es so etwas gibt. Man
muß sagen, ganz isoliert ist es selten, meistens sind die Betreffenden
auch schwer imbezill, und meist haben sie weitere Züge der Degeneres,
die Instabilität, nervöse Zufälle usw. Aber es sind doch von ersten
Autoren Fälle beschrieben worden, bei denen man mit der Laterne
besonders nach intellektuellen Mängeln suchen mußte; und diese
repräsentieren den geborenen Verbrecher im engsten Sinne; wenn
diese Fälle auch selten sind, so ist doch damit prinzipiell die Frage
zugunsten einer moralischen Idiotie gelöst.«
Zu ähnlichen Feststellungen kommt auch Anton in seiner schon
zitierten Arbeit. Moral insanity beruht auf dem »Mangel derjenigen
Gefühle und Gemütsregungen, welche für das menschliche Zusammen-
sein notwendig sind oder durch. das Zusammensein erst entstehen«.
Freihch liegt ihm der Versuch einer psychologischen Begründung
ganz ferne; und er vermischt dieses von ihm abgegrenzte Bereich
auch sogleich wieder mit den Gebieten derjenigen Fälle antimorali-
schen Handelns, welche auf Störungen in den Hemmungsgrundlagen
zurückgehen; mit den Defekten imbeziller Erethiker u. dgl.
Erst auf einem solchen Umwege also erfüllt sich die Bleu 1 ersehe
Konzeption mit einem psychologisch möglichen Sinn; und das auch
in begrenzterer Weise, als er und alle diejenigen Autoren annehmen,
die solche erethischen Imbezillen und hysterischen Charaktere (Lon-
gard) und solche Pseudologisten (Delbrück) zu ihr hinzurechnen,
bei denen ihr autimoralisches Verhalten besonders oft zu Konflikten
mit dem Gesetz führt. Das ist ja psychologisch zufällig. Und will
man Persönlichkeiten, die psychisch irgendwie und in ganz hetero-
gener Weise abnorm sind und wiederholt rückfällige Verbrecher,
aus praktischen Gründen als moralisch schwachsinnig bezeichnen,
so ist psychologisch nichts gewonnen, man muß vielmehr diese Typen
aus denjenigen Typen psychischer Struktur, zu denen sie eigentlich
gehören, nur auf Grund ihrer Kriminalität ausreihen und zu einer
recht willkürlichen Gruppe, nach ganz schematischen Kriterien, zu-
sammenbringen. Auch kriminalätiologisch ist so nichts getan, und
man gerät in Gefahr, nur auf Grund der bisherigen Unverbesserlich-
keit, auch an der künftigen Unverbesserlichkeit ohne zureichenden
Grund zu zweifeln ; daß damit wenigstens in einzelnen Fällen ein Irr-
tum begangen wird, lehrt z. B. ein von mir beobachteter Fall mit
völliger Rückkehr zur sozialen Norm, die selbst eine Autorität wie
Aschaffenburg für ausgeschlossen erklärt hatte, indem er ihn als
moralischen Schwachsinn bezeichnet hatte, nur weil man eben nicht
diese psychischen Typen von dem hier abgegrenzten moralischen
Schwachsinn im engsten wirklich psychologischen Sinne trennt.
Ob der so zunächst theoretisch abgegrenzte psychische Typus
des moralischen Schwachsinns im Leben vorkommt oder nicht, das
ist eine rein empirische Tatsachenfrage. Man darf doch nicht ver-
gessen, daß derartige Typenbildungen stets auf unvollständigen In-
Paradigmat. Erörterung der theoret Probleme des sog. moral. Schwachsinns. 453
duktionen beruhende konstruktive Gebilde sind, zu deren Ermög-
lichung von einem großen Teil des individualpsychischen Tatsachen-
materials im einzelnen Falle abstrahiert werden muß. Jedenfalls
seheint dieser Typus recht selten zu sein ^) und bei genügend genauer
psychologischer Durcharbeitung der fraglichen Fälle sich immer mehr
einzuengen.
Ich habe bei der Durchsicht der allerdings nicht genügend klar
dargestellten Lombrososchen Fälle kaum einen gefunden, der rein
zu ihm paßte. Hingegen entspricht ihm der im Anhang seines Werkes
mitgeteilte Fall von Lindau ganz und gar — nur ist dieser leider
nicht von einem Fachmann beobachtet und zuverlässig. Von dem
Material Delbrücks, Longards und Mayers scheint ein Teil
diesen Defekt in den Gefühlsgrundlagen in der Tat aufzuweisen,
aber wohl kaum isoliert, sondern verbunden mit hysterischen, pseudo-
logistischen oder erethischen Zügen. Daß hier ein nahes Verwandt -
Schaftsverhältnis bestehen kann, soll nicht in Abrede gestellt werden ;
das ergibt sich ja auch schon aus unseren theoretischen Festlegungen.
Aber diese Verwandtschaft ist keine Identität.
Für die weitere Forschung ergibt sich aus alledem als Foi'derung
und als Maxime der Arbeit die Notwendigkeit psychologischer
Spezialisierung dieser Fälle. Heuristisch bleibt der reine Typus
des moralischen Schwachsinns, wie wir ihn psychologisch definiert
haben, ein Grenzfall, dessen Verwirklichung im lebenden Menschen
durch immer genauere Arbeit eingeengt werden soll.
So liegt die rein wissenschaftliche Seite des Problems. Nun be-
steht aber noch eine Schwierigkeit hinsichtlich der praktischen An-
wendung. Berze hat sie treffend formuliert 2): >>Wenn man auch
zugeben muß, daß die moral insanes durch ihre fehlerhafte Anlage
zum Verbrechertum prädestiniert sind, so wäre doch die Annahme
durchaus irrig, daß ein Individuum, das an einem Defekte der eigent-
lichen Moral leidet, und sei er auch noch so sicher pathologisch, darum
schon unbedingt kriminell werden muß, daß das Kriminellwerden
gleichsam in allen Fällen das notwendige Ergebnis dieses Defektes
ist, ein Ergebnis, gegen welches das Individuum gar nicht ankämpfen
kann, wie es ja auch eine durchaus irrige Annahme ist, daß die Moral
es ist, was die große Mehrzahl der Menschen hindert, kriminell zu
werden.«
Auch psychologisch ist nach unseren Darlegungen nicht unbe-
dingt erforderlich, daß jeder im engsten Sinne moraliscli Defekte
nun auch antisozial sein muß. Was ihm an Gefühlsgrundlagen für
die Anerkennung der Zcitmoral fehlt, vermag er durch sein Urteil
und durch die Hemmungsgrundlagen für sein soziales Verhalten
durchaus zu ersetzen.
Man kann sogar paradoxerweise behaupten, daß. je klüger und
*) Das sagt auch Kauffmann, Psychologie des Verbrechens. 19'*^. S. 'M.
2) a. a. O. S. 137.
454 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Tjrpeubildung usw.
affektiv ruhiger der moral insane ist, um so weniger er sich sozial
verrät.
Er ist in dieser Hinsicht weit weniger gefährdet als diejenigen
Typen, deren Hemmungsgrundlagen mangelhafte sind: der erethisch
Imbezille und der Hysteriker. Allein diese sind doch im Besitz der
Gefühlsgrundlagen von Moral und bleiben daher trotz aller affektiven
Verstöße prinzipiell immer zur Moralität und zu sozialem Verhalten
erziehbar. Die eigentlichen unverbesserlichen Rückfallkriminellen
aus Anlage sind diejenigen, bei denen sowohl die Gefühls- als die
Hemmungsgrundlagen pathologisch verändert sind: die erethischen
Imbezillen mit eigentlichem moralischen Defekt dabei,
also ein Teil der Fälle Longards und der Fall Mayers. Freilich
ist da, wo Anomalien der Hemmungsgrundlagen bestehen, immer nur
sehr schwer zu sagen, ob und wieweit noch ein Defekt in den Gefühls-
grundlagen der Moralität zugleich besteht, da dieser ja außerhalb
der Moralität keinen weiteren Ausdruck findet und die Moralität
durch die anomalen Triebregungen hier ohnedies alteriert ist.
Was aber den Berze sehen Einwand anlangt, so folgt daraus in
der Tat, daß uns an der Hand des sozialen Verhaltens durchaus nicht
alle moralisch Schwachsinnigen erkennbar v/erden. Indessen muß
man doch bedenken, daß den praktischen Anlaß zum Suchen nach
derartigen Anlagen nicht die sozial Unauffälligen, sondern diejenigen
Rückfallkriminellen geben, deren Antisozialität man sich durch bloße
Milieuwirkung gar nicht erklären kann. Die Diagnose macht sich
hier durch ein indirektes Verfahren: man schließt anamnestisch alle
Milieufaktoren aus und sondert psychologisch die Mitwirkung patho-
logischer Triebregungen und Urteilsdefekte ab: dann bleibt jene
Gruppe übrig, die wir als moral insanity im Sinne einer psycho-
logischen Einheit bezeichnen müssen, ohne diese Einheit doch anders
als theoretisch fundieren und praktisch an einem so vagen und viel-
deutigen Kriterium wie dem moralischen Verhalten erweisen zu
können. Eine direkte psychologische Beschreibung des Defekts und
seiner Seinsweisen vor dem Bewußtsein wird uns bei dieser Lage
der Sache wohl stets unmöglich sein.
Für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit dieses Typus wird
man von Fall zu Fall entscheiden müssen, wieweit die Ausnutzung
der Verstandes- und Hemmungsgrundlagen zu einem vikariierenden
Eintreten für den Gefühlsdefekt im sozialen Verhalten hätte führen
können.
3. Das soziale Moment als Kriterium psychischer Typik.
Über den Begriff der Reaktivität.
Die bisherigen Erörterungen sollten gleichsam paradigmatisch die
Behandlung eines Problems vorwegnehmen, dessen grundsätzliche Be-
deutung wir nunmehr in abstracto zu beleuchten haben werden. Zu
Das soziale Moment als Kriterium psychischer Typik. 455
diesem Problem gehört als eine Teilfrage die Möglichkeit der Ein-
reihung der verschiedenen psychopathischen Typen in die Krimi-
nologie; das heißt, es ist das prinzipielle Methodenproblem, dessen
Beantwortung über die Möglichkeit wissenschaftlicher Kriminal-
psychologie entscheidet. Dieses Problem nun ist die Frage nach
den Kriterien eines psychischen Typus überhaupt; und
zwar in dem speziellen Sinn, wieweit das soziale Verhalten
des Menschen ein Kriterium des Typus abzugeben ver-
mag. Wir haben bisher diese Frage als in dem Sinne entschieden
vorausgesetzt, daß wir die psychischen Typen im allgemeinen als
auf direkten psychologischen Kriterien aufgebaut ansahen und im
sozialen Verhalten nur ein zusammengesetztes und indirektes Kri-
terium des Typus erblickten. Denn das soziale Verhalten eines Men-
schen ist nicht der konstante Effekt immer gleichartiger Funktionen
und Dispositionen, mithin kann das antisoziale Verhalten nicht ohne
weiteres als der Effekt von psychologisch konstanter Störung in
diesen Funktionen und Dispositionen aufgefaßt werden.
Man muß das Bestehen dieser Störung auch außerhalb des sozialen
Verhaltens an direkten psychischen Wirkungen erweisen.
In der Tat würde damit das soziale Verhalten als einziges Kriterium
für den Aufbau und die Abgrenzung solcher Typen entfallen. Aber
auch als bloßes Kriterium der Subsumtion eines Menschen unter
einem Typus wäre es gefährdet. Denn die Bedingungen der sozialen
Situation sind niemals wesentlich gleich; mithin läßt sich auch die
Reaktionsweise des reinsten psychischen Typus auf die Einwirkungen
und Beschränkungen der Sozietät nicht als eine ein für allemal kon-
stante fixieren.
Wäre diese Überlegung richtig, so entfielen Begriffe wie »ge-
borener Verbrecher« oder »Antisozialität« als etwas im psychi-
schen Wesen eines Typus Liegendes oder aus ihm zu Er-
schließendes.
Derartige Begriffe wären dann nicht solche psychologischer Be-
schreibung, sondern es wären Begriffe einer Bewertung. Sic dienten
nicht zur Klassifizierung bestimmter Arten von psychischer Struktur,
sondern vielmehr bestimmter, gleichartiger Verhaltungsweisen gegen-
über der Sozietät, die aber weder psychologisch gleichartig fundiert
noch motiviert zu sein brauchen und auf durchaus verschiedene
psychische Typen zurückgehen.
Wir meinen : ein und derselbe psychologisch-deskriptive Typus —
z. B. der Hysteriker, oder der Instable, oder der Epileptoide — könnte
sowohl ständig sozial als auch ständig antisozial sich verhalten, als
auch bald sozial, bald kriminell sein. Identische Motive können sozial
durchaus verschiedenwertige Handlungen hervorrufen; die gleiche
antisoziale Handlung kann die verschiedensten psychologischen
Grundlagen haben. Ordnen wir die Menschentypen nach ihrem
sozialen Verhalten, so ist das Grundmaß dieses Ordnens der Typus
der Tat; und zwar gemäß dem sozialen Wert dieses Tattyps. Die
,456 Zur Theorie und Logik psychopathologisoher Typen bildung usw.
Dinge liegen hierbei also prinzipiell ähnlich wie in der Mehrzahl der
strafrechtlichen Kodifikationen, die ihre Materie ebenfalls nach Tat-
begriffen einteilen; nicht nach Täterstrukturen. Diese Analogie gilt
nicht nur vom Begriffe des reo nato, sondern auch etwa vom Begriffe
der Gemeingefährlichkeit; sie gilt aber auch von solchen psychia-
trischen Begriffsbildungen, denen man die praktisch-soziale Pro-
venienz nicht so ohne weiteres anmerkt: der »psychopathischen« oder
» affektiven << usw. »Minderwertigkeit«, dem Begriffe des »Haltlosen <<,
der »Puellennatur« usw. Doch besteht natürlich ein großer, wenn
auch nur gradueller Unterschied zu den exakten Tatbegriffen der
Strafgesetzgebung: es wird hier kein Tattyp in abstracto heraus-
gearbeitet; auch wird keine Einzelhandlung an sich schon immer
zur Unterordnung des Täters unter diese Gruppenbildungen führen.
Es wird überhaupt nicht, wie in der Straf recht sprechung, eine logisch
exakte Subsumtion der einzelnen Handlung unter einen womöglich
definitorisch festgelegten Deliktbegriff vorgenommen. Sondern es
ist erforderlich eine statistische Anhäufung gleichartiger Delikte —
oder zum mindesten, bei nur einem Delikt, eine besondere Artung und
Schwere desselben — , um aus den einzelnen Taten einen Tattyp, aus
dem Tattyp eine Verhaltungsweise oder eine Reaktionsform, und
hieraus schließlich einen menschlichen Typus abzuleiten und fest-
zulegen. Daß dies unter Umständen gewagt ist, zeigt z. B. die Bil-
dung des Begriffs der Unverbesserlichkeit, wofern damit eine Gruppe
kriminal psychologisch zusammengehöriger Individuen gekenn-
zeichnet werden soll; in den Voraussetzungen dieser Begriffsbildung
läuft eine anfechtbare, psychologisch durchaus nicht einheitlich zu-
treffende Ansicht vom Strafzweck, nämlich über seine bessernde
Wirkung, unter.
Man könnte nun zwar fragen, was es denn schade, wenn unsere
psychopathologischen Typenbildungen, soweit sie die Kriminologie
angehen, nicht rein deskriptiv - psychologisch gewonnen werden,
sondern noch Wertmerkmale enthalten, die auf soziologischer Be-
trachtung beruhen.
Darauf wäre zu erwidern : es kommt auf die Aufgabe an, die man
sich stellt. Die Psychopathologie beschreibt Krankheitszustände
und Persönlichkeitstypen, welche als psychologische Einheiten, aus
dem Gesetz ihrer inneren Struktur, begriffen werden. Wie sich der
Einzelne in seiner Umwelt verhält, ist aus dem immanenten Gesetz
seines psychischen Typs verständlich, aber dem sozialen Wert nach
individuell zufällig, da die in seiner Umwelt liegenden Bedingungen
seines Tuns nicht von ihm abhängig sind. Typische Weisen sozialen
Verhaltens sind also nicht notwendig psychischen Strukturtypen
eindeutig zugeordnet. Die Kriminalsoziologie hingegen stellt Typen
sozialen — oder vielmehr antisozialen — Verhaltens auf. Die Norm
dieses Verhaltens hat im wesentlichen die negativen Merkmale der
strafgesetzlichen Bestimmungen; die Qualitäten der Abweichungs-
arten von dieser sozialen Norm entsprechen — natürlich nur ungefähr
Das soziale Moniont als Kritoriam psychischer Typik. 457
und mit den oben gemachten Einschränkungen — den im Strafgesetz
bestimmten einzelnen Delikttypen oder Gruppen derselben. Diese
Delikttypen sind psychologisch zufällig; sie erwachsen durchaus auf
der dogmatischen Hinnahme der Einteilung des geltenden Straf-
rechts, welches man seinerseits aus den politischen und ökonomischen
Zuständen der Gesellschaftsordnung herleiten, aber doch wahrhaftig
nicht psychopathoiogisch fundieren kann. Nun kommt die Kriminal-
psychologie, welche sich aufs innigste mit der Psychopathologie ver-
quickt, und will für ein bestimmtes Menschenmaterial, das den beiden
genannten Betrachtungsweisen unterliegen kann. Einheiten schaffen,
deren Merkmale aus beiden Gesichtspunkten in gleicher Weise ge-
wonnen werden. Ein solches Verfahren, welches doch, wie es schon
in seinem Namen liegt, einer wissenschaftlich-psychologischen Auf-
gabe angemchsen sein will, läuft Gefahr, daß über den kriminologisch -
sozialen Wertmerkmalen die deskriptiv- psychologischen Einheiten
verloren gehen können. Es wäre doch bloßer Zufall, wenn sich bei
den kriminalpsychologischen Kategorien die sozialen Werteinheiten
mit. den deskriptiven decken würden.
Um es generell auf eine — nicht ganz exakte, aber zum Verständ-
nis genügende — Formel zu bringen : die kriminologischen Typen ver-
halten sich zu den psychologischen wie Norm zu Naturgesetz. Die
kriminologischen Typen messen soziale Verhaltungsweisen an einer —
nur negativ bestimmten und weder psychologisch noch sozial ein-
lieitlichen — Norm. Die psychologische Typik ordnet auf Grund
beschreibender Beobachtung die seelischen Strukturen nach — nui-
unvollständig induktiv bestimmten — Einheiten, in denen sie
nicht weiter zurückführbare Gesetze seelischen Zusammenhanges
sieht. Die Frage ist nun die: Können, unter kriminalpsychologischem
Gesichtspunkt, unsere psychopathologischen Typenbegrenzungen
ausschließlich auf solcher beschreibenden Beobachtung aufgebaut
werden, oder gehen normativ-soziale Bestimmungsstücke notwendig
mit in sie ein; und welches ist die Sphäre der Mittelbegriffe, durch
deren Bildung jene normativ- soziologischen Einheiten sich den
deskriptiv- psychologischen Einheiten zuordnen lassen^)?
Man muß sich nur die Tragweite dieser Frage für die ganze ein-
*) Es ist einigermaßen erstaunlich, wie die Kriminalp-sycholopie an diesem
Problem, von dessen Beantwortung doch ihre wissenschaftliche Möglichkeit in
ziemlichem Grade abhängt, bisher vorbeigegangen ist. Man findet bei Ho m burger
(s. u.) und einmal bei Aschaffenburg (S. 8) eine klare Andeutung davon, daß
diese Forscher es überhaupt sehen; sonst aber hat es in der doch nicht kleinen
Literatur überhaupt keine Stelle ! Und auch Aschaffenburg spricht späterhin
immer wieder von den »kriminellen Neigungen <■ seiner Fälle, als ob diese Neigungen
etwas psychologisch Einheitliches wären. Das Problem wäre aber gerade, diese
Neigungen psychologisch so aufzuspalten, wie wir es mit den »antimoralischen«
Tendenzen oben versucht haben. Um gnmdsätzlichen Erörterungen aus dem
Wege zu gehen, beruft man sich gerne auf einen in jeder Weise unzulänglichen
Aufsatz Windelbands, der aber gerade die hier in Frage stehenden Dinge nur
an der äußersten Oberfläche streift. (Über Norm und Normalitäten. Asohaffen-
burgs Monatsschr. Bd. TU, 1.)
458 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
teilende Praxis der Kriminalpsychologie klar machen. Es könnte ja
der Begriff des geborenen Verbrechers, des unverbesserlichen Rück-
fallkriminellen sich halten lassen, nicht als psychologisch gewonnene
Deskription, sondern als Ausdruck sozialer Bewertung; nicht als
Gesetz für Psychisches, sondern als Norm, gemäß der soziales Ver-
halten beurteilt wird. Freilich schwankt sein Wertungssubstrat von
Milieu zu Milieu, und seine Anwendung auf die seelischen Eigen-
schaften des Einzelnen täte diesem, in dem Augenblick, wo uns sein
Lebenszusammenhang, seine Umwelt und seine Motive genügend
deutlich werden, wohl immer irgendwie uni'echt — in demselben
Sinne unrecht, in welchem von der Subsumtion eines jeden Einzel-
falles etwa unter eine strafrechtliche Tatnorm das tiefe Wort gilt :
summum jus summa injuria. Jedoch trotzdem angenommen, ein
solcher kriminologischer Begriff ließe sich halten: so tritt seine Un-
vereinbarkeit mit psychologischen Strukturbegriffen klar zutage, so-
bald ein Mensch, dessen Verhalten den Kriterien dieser Bewertung
in stärkstem Maße entsprach, in einem anderen Milieu, ohne sich
psychologisch in seinem Wesen oder in seinen Motiven
im geringsten zu ändern, dieser Bewertung in keiner
Weise mehr unterliegt.
Ergibt sich aber erst einmal die Unmöglichkeit der empirischen
Anwendung einer derartigen Bewertung, so entfällt damit auch der
Wertbegriff: da er zu praktischen Zwecken geschaffen ist, genügt die
praktische Unbrauchbarkeit, um ihn zu zerstören.
Es klafft hier also zwischen der Betrachtungsweise, deren sich
die Kriminologie bedienen muß, und derjenigen, welche der Psycho-
pathologie eigentümlich ist, eine tiefe Kluft. Und vergeblich muß
scheinbar der Versuch der Kriminalpsychologie bleiben, beide Be-
trachtungsweisen zu einer Einheit zu verbinden.
Und doch gibt es hier einen methodischen Ausweg. Freilich muß
man sich sehr klar über ihn sein und die Tragweite der durch ihn er-
möglichten kriminalpsychologischen Arbeit sehr genau übersehen:
sonst gerät man in jenes uferlose anekdotische Gerede, welches heute
einen Teil auch der guten >> kriminalpsychologischen« Literatur aus-
macht und das sich neben der exakten Kriminalstatistik eben so
wertlos ausnimmt wie die alten anthropologischen Konstruktionen,
die auch immer noch umherspuken.
Dieser Ausweg liegt in einer doppelten Erwägung. Einmal näm-
lich geht die Kriminalpsychologie zwar von empirischen und zufällig
abgegrenzten Tattypen aus; allein diese sind doch nicht weniger
menschliche Handlungen und als solche Vorwürfe für eine moti-
vierende Psychologie, als beliebige andere Handlungen oder Reiz-
reaktionen. Es ist a priori nicht abzuweisen, daß man die verschie-
denen seelischen Verursachungen und Motivationen für diese Tat-
typen sammeln und vergleichen kann. Und es ist zum mindesten
eine mögliche Fragestellung, zu untersuchen, wieweit die Psycho-
logie der Tat zugleich eine Psychologie des Täters ist. Da die Anzahl
Das soziale Afornent als Krittrium psychischer Typik. 459
der deskriptiv-psychologischen Typen — bei aller individuellen Man-
nigfaltigkeit der Menschen — doch immer eine begrenzte ist, so wäre
es zum mindesten ein wertvoller heuristischer Gesichtspunkt, Par-
allelen und Zuordnungen wenigstens zu versuchen, die einerseits
zwischen diesen psychologisch-typischen Einheiten, andererseits den
ihrem Vollzuge nach gleichartigen Delikten, oder den gleichartigen
Motivationen kriminellen Handelns, oder den zu Delikten führenden
objektiven Situationen bestehen. In diese Linie zielen auch die Ein-
teilungen der Kriminellen, welche Aschaffenburg ^) und die Inter-
nationale Kriminalistische Vereinigung ^) geben ; letztere erf ülkn
freilich insofern nicht gerade eine kriminalpsychologische Auf-
gabe, als sie zur Feststellung der Gefährdung der Rechtssicherheit
seitens ihrer einzelnen kriminellen Typen nicht beschreibende, sondern
normative Kriterien benutzen: nämlich die Bewertung der Fähigkeit,
sich einzuordnen, sich Gesetzen zu unterwerfen, sich auf Strafen hin
zu bessern — als ob diese »Fähigkeit« etwas psychologisch Einheit-
liches wäre.
Ein zweiter Weg könnte von der beschreibenden psychopatho-
logischen Typik ausgehen, indem er deren Besonderheiten am Ein-
fluß der sozialen Umwelt prüft; indem er also quasi das Milieu als
ein kompliziertes Reagens benützt, an welchem jeder psychopatho-
logische Typ einmal das Zusammenwirken seiner Sonderzüge beim
sozialen Verhalten demonstriert und zweitens zugleich seinen sozialen
Wert bemessen läßt.
Es ist aber nicht verbürgt, daß die Befolgung dieser beiden heu-
ristischen Leitlinien zu irgendwelchen generellen Feststellungen führt;
wenigstens nicht zu solchen, die von anderer Struktur und minder
zufälliger Geltung wären als die kriminalstatistischen, die dabei den
Vorzug größerer Exaktheit haben. Denn das Milieu, das wir als
Reagens für die Persönlichkeitsartung benützen, ist nichts Konstantes
und Homogenes, und um die Varianten des Einzelfalles und seine
Fehlerquellen auszugleichen, sind ja die statistischen Methoden er-
funden worden.
Ebenso auf der anderen Seite: die Verschiebungen von den Tat-
einheiten zu den Motiveinheiten, von diesen zu den Einheiten des
sozialen Verhaltens überhaupt und von diesen zu den Tätertypen
gehorchen keiner Regel. Es spricht also nichts dagegen, wenn die
Kriminalpsychologie versucht, diese beiden Wege zu gehen; aber es
ist höchst fragwürdig, ob sie dabei zu irgendeinem Ziele zu kommen
vermag.
Und wenn man sich gerade in die besten der hierher gehörigen
Werke der kriminalpsychologischen Literatur der letzten Jahre ver-
tieft, so wird einem diese Aussichtslosigkeit erschreckend deutlich.
Welch eine Fülle sorgsam zusammengetragenen Einzelmaterials
») a. a. O. S. 167.
2) MitteihinKcn derselben. Bd. VI. S. 582.
460 Zur Theorie und Logik psyohopathologischer Typenbildung usw.
ist etwa in den Arbeiten Moelis^), Baers^), von Grabes^), Grujli-
les*), Homburgers^), und vieler anderer Forscher angehäuft! Und
■wie wenig ist davon im eigentlichen Sinne kriminalpsychologisch
verwertbar! Entweder es handelt sich vorwiegend um die psychia-
trische Diagnostik oder forensische Begutachtung der einzelnen
Fälle und ihre äußerliche Zusammenordnung nach klinischen Gruppen,
wobei alle tieferen Zusammenhänge zwischen psychischer Artung und
sozialer Haltung nicht herausgearbeitet, sondern schon vorausgesetzt
werden oder an sich evident sind, je nach dem einzelnen Falle (Sie-
fert^), Wilmanns'^), Rüdin^) usw.). Oder es werden direkte
kriminalsoziale Gesetzbildungen auf psychologischer Basis intendiert .
Hierbei aber kommt es nur zu zahlenmäßigen Zusammenfassungen,
die bisweilen einen gekünstelten Charakter tragen, von Begriffen,
die gar keinen theoretischen oder gar psychologischen Unterbau
haben, hinter denen oftmals ein Prinzip wissenschaftlicher Induktion
vermißt wird, die vielmehr alles Problematische als gelöst vorweg-
nehmen. In allen diesen gewiß wertvollen großen Arbeiten ist das
Bleibende statistisch errechnet und macht etwas über Spielarten der
Milieuwirkung aus. Die psychologische Verknüpf theit der Persön-
lichkeitstypen mit ihrem Milieu wird in keine Regel gebracht, höch-
stens einmal an Einzelfällen, die in der Luft hängen, illustriert. Es
geht dann gern die Rede, man arbeite für die Praxis; und das trifft
auch z. B. auf Moelis oder Sander-Richters Werke voll zu; — ■
oder man wolle ja auch nur Material für eine künftige Forschung
sammeln. Aber eine wesentliche Anbahnung und Fundierung dieser
Forschung wird gar nicht erst versucht. Oder man behauptet, wie
Longard, daß eine Gruppe besonders gefährlicher Verbrecher aus
Anlage auch kriminalpsychologisch eine Einlieit bilde; und muß sich
gefallen lassen, daß Baer auf Grund einer ganz ebenso trefflicli beob-
achteten gleichartigen Gruppe jugendlicher Mörder diese ki-iminal-
psychologische Einheit leugnet. Oder man publiziert, wie von Grab e .
sein schönes Material, um dann die Frage, ob es eine deskriptive
kriminalpsychologische Einlieit der geborenen Puellennatur gäbe,
unentschieden zu lassen und nur vor dem nichtssagenden Degent-
rationsbegriff 9) der Psychopathologie eine Verbeugung zu machen.
^) Moeli, Üer irre Verbrecher. Berlin 1888.
2) Baer, Über jugendl. Mörder u. Totschläger. Groß' Archiv. 11. S. lOSff.
3) V. Grabe, Prostit., Kjiminal., Psychopath. Groß' Archiv. 48. S. 135 ff.
*) Grüble, Die Urs. der jugendl. Verwahrlosung und Kriminal. Bei'lin 1912.
5) Homburger, Lebensschicksale geisteskr. Strafgefangener. Berlin 1912.
«) Siefert, Über die Geistesstörungen der Strafhaft. Halle 1907.
') Wilmanns, Zur Psychopathol. des Landstreichers. Leipzig 1906.
*) Rüdin, Über d. klin. Formen d. Gefängnispsychose. Allgem. Zeitschr. f.
I^syoh. 18. S. 447 ff.
ä) Wir haben die Verwertung des Entartungs- und Degenerationsbegriffes
für die Kriminalpsychologie bisher mit guten Gründen vermieden. Ohne restlos
den ablehnenden Standpunkt Kauff manns (a. a. O. S. 23ff.) zu teilen, meinen
wir doch, daß es für psychologische Zwecke, wie schon Angiolclla (Aschaffenburgs
Das soziale Moment als Kritrcrium psychiacher TypiL. 461
Doch besteht die Möglichkeit, durch Einschiebung einea prinzi-
piellen psychologisclien Gesichtspunktes den beiden gekennzeichneten
Forschungsrichtungen einer möglichen Kriminalps\'cliologie wirk-
lichen Rückhalt zu geben. Dieser Gesichtspunkt läßt sich um-
schreiben als das Problem der Reaktivität.
Man kann sich nämlich fragen, wieweit denn überhaupt, nicht
bloß unter kriminalpsychologischem Gesichtspunkt, die deskriptiven
psychopathologischen Charaktere durch direkte psj'chische Merk-
male abgegrenzt sind; wieweit nicht soziale Kriterien zu ihrer Ab-
grenzung mitbenutzt werden. Bei der Stellung dieser Frage handelt
es sich um den Begriff der sozialen Kriterien nicht im Sinne einer
Normation, sondern in deskriptivem Sinne, als Merkmale sozialen
Verhaltens, deren Oberbegriff die Reaktion auf Reize über-
haupt ist. Die Voraussetzung psychopathologischer Forschung
bleibt bei dieser Fragestellung bestehen: daß jeder Typus eine de-
skriptive Einheit sein muß; die Frage aber ist. ob diese Einheit der
Beschreibung zugänglich ist, ohne daß man auf die soziale Verhaltens-
weise als Index der Reaktivität zurückzugreifen braucht.
Denkt man beispielhalber an den Typus des Rentenkampfhyste-
rikers, so ist klar, daß seine soziale Rolle und Einordnungsart, als
wesentlicher Ausdruck seiner Reaktivität, das direkt beherrschende
Kriterium seiner psychologischen Einheitlichkeit ist. Neben diesem
kommt das psychologisch unmittelbar erhältliche Material kaum in
Frage. So wie er abgegrenzt ist, müßten es nun auch die kriminal-
psychologischcn Typen im engeren Sinne sein!
In die organischen Psychosen, in die Dementia praecox und m
manche psychopathologischen Typen (z. B. die Zyklothj'men) geht
sicher kein soziales Merkmal mit ein. Ist das aber bei allen Typen so ?
Wie kann z. B. ein erethisch Imbeziller überhaupt einheitlich
beschrieben werden, ohne daß man den sozialen Maßstab seiner be-
sonderen Art von Außerdurchschnittlichkeit heranzieht ? Daß da-
hinter eine auch direkt greifliche psychologische Einlieit steht, das
>>fühlt<i man zwar, aber objektiv darstellen kann man sie nicht. Die
deskriptive Charakteristik auf Grund direkter psychologischer Kri-
terien mag eine Forderung der Psychopathologie bleiben. Ob sie
in jedem Falle erfüllbar ist. ist zweifelhaft. Aber für die Kriminal-
psychologie besteht sie nicht. Erl>lickt man im sozialen Verhalten
unter den einzelnen sozialen Handlungen auf Grund sorgsamer In-
tlividualpsychologie den Ausdruck der besonderen Reaktivität eines
psychischen Typus, so ist ein bestimmter psychologischer Gesichts-
punkt für die Krimi nalp.sychologic gewonnen.
Das soziale Verhalten fungiert dann nämlich in doppelter Be-
Monatsschrift. I. S. 207) ausgeführt hat, ledighch darauf ankommen dürft*", ob
er mit einem bestimmten psychologischen Sinn erfüllt ist oder nicht. Er
dient nun aber, wcnig.<'tens zurzeit, nicht als Erkenntnismittel, sondern als Ver-
sohleieningsmittel psychologischer Tatbestände, das immer da angezogen wird,
wo die psychologische Bearbeitung derselben versagt oder unzulänglich wird.
462 Zur Theorie und Logik psychopathologischer TypenbUdung usw.
deutung. Erstens ist es das normative Substrat der wertenden Kri-
minologie, deren Normgründe — wie oben ausgeführt — im gelten-
den Straf recht und im sozialen Ganzen liegen. Zweitens ist es der
deskriptiv zugängliche Ausdruck einer psychologischen Einheit, der
Reaktivität, die wir im Wege psychologischer Untersuchung auf
Wesens- und Artungsgrundlagen psychischer Typen, die ihrerseits
deskriptiv unterscheidbar sind, gesetzmäßig zurückbeziehen können.
Damit, und damit allein, ist die Brücke geschlagen zwischen den
soziologischen und den psychologischen Arbeitsweisen der Krimi-
nologie; damit erhält die Kriminalpsychologie ihr eigentliches Arbeits-
feld: die verschiedenen Weisen sozialen Verhaltens, soweit sie der
adäquate Ausdruck der Reaktivität psychologischer Einheiten sind.
Damit, daß wir den Reaktivitätsbegriff hier besonders herausheben,
vollziehen wir gewiß nichts Neues. Aber das ist auch nicht unsere
Absicht. Nicht um neue Fakten handelt es sich ja in diesen Me-
thodenfragen, sondern um wissenschaftliche Sicherung und Fun-
dierung der alten.
Und so vielfach über den Begriff der psychopathischen Reak-
tivität geschrieben worden ist, so ist doch für die Kriminalpsychologie
bisher fast nichts herausgekommen, wenn man von der Psychologie
der Haftpsychosen und einigen anderen mehr psychopathologischen
Einzelfragen absieht, die nur zufällig auch von kriminalpsycho-
logischem Belang sind. Unabhängig von solchen Spezialproblemen
hat Birnbaum^) ihn jüngst in eine logisch eindeutige Beziehung
zu den Begriffen der Konstitution und der seelischen Eigenart ge-
stellt; und Homburger^) hat ihn zuerst in klarer und einwandfreier
Weise für kriminalpsychologische Fragestellungen schlechthin auf-
genommen, allerdings nur in einem kleinen Teilgebiete seiner Arbeit.
Homburger definiert Reaktivität als Aktivität im Verhältnis
zu psychisch wirksamen Geschehnissen; er unterscheidet an ihr eine
qualitative Richtungskomponente und eine quantitative Stärke-
komponente; beide wirken in der Reaktion, der jeweiligen Einzel-
handlung, zusammen. Homburger erkennt klar, »daß die Re-
aktivität eines Individuums ein Ganzes ist, ein relativ
Abgeschlossenes, Einheitliches, somit auch ein relativ
Konstantes und Berechenbares«^). Sie erwächst aus dem
Verhältnis der im Entschluß jeweils zusammenwirkenden verstandes-
mäßigen und affektiven Faktoren. Entsprechend der Art, wie dieses
Verhältnis konstitutionell präformiert ist, hält die Richtung der
Reaktivität gewöhnlich eine »Hauptorientierungslinie« inne. Jedoch
kann jenes Verhältnis ein labiles sein — wobei wieder die Art der
Labilität auf psychologische Einheiten zurückführbar ist: — dann
ergibt sich eine bestimmte Abwegigkeitsbreite in der Richtung der
1) Birnbaum, Der Konstitutionsbegriff in der Psychiatrie. Zeitschr. f. d.
ges. Neur. u. Psych. 2. S. 520 ff.
2) a. a. O. S. 148ff.
3) a. a. 0. S. 149.
Das soziale Moment als Kriterium psychischer Typik. 463
Reaktivität. Die Stärke der Reaktivität ist ebenfalls das Ergebnis
mehrerer Umstände, deren einer in der auslösenden äußeren Ursache
des Reagierens liegt. Die anderen sind rein psychischer Art. Auch
der erstere ist natürlich bis zu einem hohen Grade von der seelischen
Artung des Menschen abhängig, auf den er trifft.
»Alle diese Faktoren sind quantitativ variabel und umschließen
in ihren graduellen Abstufungen eine unendliche Reihe (?) mannig-
faltiger Zusammenordnungen . . . Innerhalb einer weiten Exkursions-
breite stellen sie die Fähigkeiten und Möglichkeiten dar für eine ge-
ordnete und stetige Existenz ohne Kollision mit den bestehenden
Rechtsnormen. In ihren Auswirkungen treten sie, in beweglicher
Distanzierung (?) zu einem idealen Durchschnittstypus, zu mehr
oder weniger umschlossenen, mehr minder festgefügten Verbänden
zusammen, den Individualitäten und Cliarakteren. Ihr Verhalten
nennen wir .dann normwidrig, wenn sie den Anforderungen der Ein-
fügung in den sozialen Zusammenschluß und der Betätigung inner-
halb desselben widerstreben, sie verneinen, bzw. ihnen vorübergehend
oder dauernd nicht zu genügen vermögen^).«
Am letzten Satze ist interessant und bedeutsam, mit welcher
intuitiven Sicherheit der Autor das Wesentliche der kriminalpsycho-
logischen Typenbildung erfaßt hat: ihren Wert Charakter. Die Ver-
bände von »Individualitäten« und »Charakteren«, also die Typen-
bildungen, sind noch rein deskriptiv gewonnene psychologische Form-
gruppen der Reaktivität.
Unter dem Gesichtswinkel ihrer »Einfügung in den sozialen Zu-
sammenschluß« tritt sogleich der Normbegriff auf. Die deskriptiv
gewonnenen Reaktivitätstypen brauchen keine weitere Umformung
zu erfahren; sie bilden unmittelbar die Einheiten des Subsumtions-
materials unter diesem Normbegriff. Sie gehen direkt als Elemente
in die normative Bearbeitung der Kriminalpsychologie über. Hom-
burger vermeint zwar mit der Bewertung als normwidrig nichts
gerade Kriminalpsychologisches zu sagen; er denkt allgemeiner an
den Begriff des Pathologischen. Diese Behauptung ist irrig und
dürfte aus dem schon als fehlerhaft bezeichneten Aufsatz Winde 1 -
bands hergeleitet sein. Der Begriff des Pathologischen ist ein Norm-
begriff nur im Sinne einer immanenten Teleologie des psychischen
Geschehens. Der teleologische Gesichtspunkt aber kann und muß
sogar für jede vortheoretische Deskription ausgeschaltet werden.
Auch bei solch einer rein deski-iptiven Bearbeitung müssen die Kri-
terien des Pathologischen schon implizite vorhanden sein. Ihre
Unterstellung unter einen normativen Krankheitsbegriff entspringt
aus einer irrigen Ansicht über das Wesen der Wissenschaft von indi-
viduellem psychischen Geschehen. Das zeigt sich auch an Hom-
burgers Behauptung über den normalen Durchschnittstyp. Aber,
was hier allein wichtig ist: für die kriminalpsychologische Betrach-
1) Homburger, a. a. O. S. 154.
464 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
tungsweise gilt durchaus, was Homburger für die psychopatho-
logische schlechthin aufgestellt hat. In seinen zitierten Ausführungen
liegt der wahre Grund der Möglichkeit von Kriminalpsychologie;
hier liegen die Sicherheiten wie die Grenzen ihres wissenschaftlichen
Anspruchs.
Es ändert an dieser Sachlage nichts, wenn für eine große Reihe
von Typen das direkt deskriptive Fundament heute noch keineswegs
zureicht, sondern stets aus dem sozialen Verhalten ergänzt werden
muß; ja daß die Bildung einiger Typen — wie z. B. des moralischen
Schwachsinns und anderer — einzig und ausschließlich auf das letztere
basiert werden kann, weil direkte psychologische Kriterien für diese
Typen fehlen. Denn diese Frage der Erkennbarkeit ist keine prin-
zipielle Frage des Sachverhalts. In solchem Falle wird man das
Tatsachenfundament, wie wir es getan haben, aus dem beobachteten
sozialen Verhalten rückschließend konstruieren müssen. • Jedenfalls
bleibt es heuristisches Prinzip dieser Forschung, daß eine reale psycho-
logische Einheit da sein muß, wenn man die Berechtigung haben
soll, Typen zu bilden. Das Zusammenordnen nach dem zufälligen
äußeren Schicksal ist unpsychologisch, und nur wo die äußere Lebens-
führung der Ausdruck einer einheitlichen Reaktivität ist — mag diese
auch nicht direkt faßbar sein, z. B. beim moralischen Schwachsinn —
ist sie gestattet.
Wir wollen ferner an dieser Stelle nicht in eine Detailuntersuchung
darüber eintreten, ob Homburgers zwei Bestimmungsstücke der
Reaktivität psychologisch erschöpfend sind: die verstandesmäßigen
lind die affektiven Abläufe. Wir wollen nur generell sagen: Reak
tivität ist der Inbegriff der psychologischen Bedingungen
des Handelns, des Sich Verhaltens. Dies ist, wie wir schon an dem
besonderen Beispiel des moralischen Verhaltens erörtert haben, ab-
hängig von der Art, wie reflexionelles Zweckbewußtsein, reaktive
Affekte, Interessen, Triebe, gefühlsmäßige Reminiszenzen usw. den
Willen beeinflussen.
Neben den beiden Komponenten Homburgers muß also zum
mindesten noch der Wille in seiner besonderen Eigenart in Rechnung
gestellt werden (Beeinflußbarkeit, Willensschwäche usw.). Aber auf
die absoluten Verhältnisse der einzelnen Funktionen kommt es hier
nicht so sehr an: da auch Homburger betont, daß die Reaktivität
einen einheitlichen und abgeschlossenen Charakter habe, so handelt
es sich dabei um das Ergebnis der präformierten Beziehung zwischen
den Funktionen. Reaktivität ist die Resultante des Funk-
tionszusammenhanges, im Hinblick auf die Handlung als
psychischen Effekt.
Eine Reihe von Formen der Reaktivität hat man deskriptiv zu-
sammengestellt, und zwar nach ihrer Hauptrichtung oder »Haupt-
orientierungslinie« im Sinne von Homburger. »Man spricht in
diesem Sinne von konstitutioneller Verstimmung, von sanguinischer
und phantastischer Minderwertigkeit, pathologischen Schwindlern,
Das soziale Moment aJs Kriterium psychischer Typik. 465
Haltlosen, von hysterisch-exzentrischen, paranoiden und epilep-
toiden Typen.
Die Gruppencharakteristika besagen, daß solche Individuen vor-
wiegend in dieser Richtung eingestellt sind, ohne daß Ausschläge in
anderem Sinne ausgeschlossen wären. Wie es Psychopathen gibt,
welche affektbetonte Ereignisse nahezu stets und von Anfang an mit
depressiver Verstimmung beantworten, verfallen andere in unmutige,
zornige, selbst gewalttätige Erregung und schlagen dann vielleicht
später in depressivem Sinne um. Nun ist die -Lage aber gewöhnlich
derart, daß der affektive Charakter eines Ereignisses eine in gleicher
Richtung orientierte Persönlichkeit besonders affiziert, so daß zwischen
Ursache und Wirkung eine innere Übereinstimmung besteht, welche
nicht erst in komplizierten psychologischen Zwischenvorgängen zu
suchen ist, sondern ganz unmittelbar zutage tritt ^).<<
Die angegebenen Einteilungen sind zunächst solche von deskriptiv
unterscheidbaren Charakteren, wenn man will, von psychopathi-
schen Typen. Ein wesentliches Merkmal dieser Unterscheidung aber,
bei einigen das allein entscheidende Merkmal, bildet ihre verschiedene
Reaktivität. Diese ist das Ergebnis des jeweils verschiedenen In-
einandergreifens der psychischen Grundfunktionen. Letztere sind
an sich nicht überall direkt beobachtbar, sondern müssen zum Teil
rekonstruiert werden. Dies ist eine Aufgabe der Psychopathologie,
deren Lösung zum Teil noch in weiter Ferne steht. Aber das geht
uns an dieser Stelle nichts an. Direkt beobachtbar ist jedenfalls die
Reaktivität, spezifisch wie sie jeweils ist; und diese direkt beobacht-
bare spezifische Konstante liefert uns den oftmals entscheidenden
Anlialtpunkt für die Trennung psychopathologischcr Tjrpen von-
einander, auch da, wo wir die Möglichkeit exakter begriff-
licher Determinierung des Charakters aus seinen funk-
tionalen Grundlagen noch nicht besitzen. Das soziale Ver-
halten endlich ist ein Index für die Reaktivität, an dem sie auch
dann noch beobachtbar ist, wenn andere unmittelbarere, etwa ex-
perimentelle Reize versagen, weil sie qualitativ nicht speziell genug
abstufbar sind. Es ließe sich zwar die Möglichkeit denken,
daß es einer differcntiellen Psychologie gelänge, experimentelle
Reizvarianten von solcher Feinheit auszuarbeiten, daß durch sie
die einzelnen typischen Reaktionsformen ebenfalls nach allen
Richtungen hin unterschieden werden können. Aber tatsächlich
ist das noch nicht der Fall; und da steht uns das soziale Verhalten
als vielseitigste und komplexeste Ausdrucksart typischen mensch-
lichen Reagierens auch für unsere deskriptiven Zwecke allein zu
Gebote.
Dies soziale Verhalten nun läßt sich nach seinen verschiedenen
Weisen noch unter einen anderen Gesichtspunkt bringen: den der
kriminologisch-sozialen Norm. Und damit ist die Grundfrage, die
1) Homburger, a. a. O. S. 150.
Eronfeld, Psychiatrische Erkenntnis. 30
466 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
am Eingang dieses Kapitels gestellt wurde, hinreichend beantwortet:
inwiefern das soziale Moment zum Kriterium psychologischer Typik
zu werden vermag. Diese Frage war uns identisch mit der nach der
wissenschaftlichen Möglichkeit von Kriminalpsychologie. Was den
rein methodischen Gesichtspunkt anlangt, so liegen für den psycho-
logischen Teil dieser Frage nunmehr keine Schwierigkeiten mehr vor.
Es besteht eine Kontinuität von den kriminologisch abgeteilten
Formen sozialen Verhaltens bis zu ihrer Fundierung durch den zu-
gehörigen deskriptiven psychologischen Typus. Ob aber eine krimi-
nologisch-normativ ausgebildete Einheit sozialen Verhaltens auch
eine deskriptiv einheitliche Basis hat, das entscheidet sich danach,
wie weit sie der Index einer psychologisch typischen Reaktivitäts-
einheit ist. Und das ist direkt beobachtbar. Ist das soziale
Verhalten der Ausdruck einer solchen psychologisch ein-
heitlichen Reaktivität, so muß es als kriminalpsycholo-
gisches Ausgangsmaterial angesetzt werden, ohne einer
weiteren Zurückführung zu bedürfen. Ist es das nicht, so
muß es auf die verschiedenartigen Reaktivitätsgrundlagen zurück-
bezogen werden, denen es in gleicher Weise entsprechen könnte.
Das geschieht einmal durch die Analyse der jeweiligen Reaktions-
bedingungen, d. h. des Milieus, zweitens von der Seite der Indivi-
dualpsychologie her.
Daraus folgt z. B., daß der Begriff der kriminellen Neigung kri-
minalpsychologisch keine Stelle hat. Es folgt ferner z. B., daß
der Begriff des phantastischen Schwindlers eine kriminalpsycho-
logische Einheit bildet. Es folgt endlich, daß der Begriff des Affekt-
verbrechens, wenn er auch noch keine endgültig formulierte kriminal-
psychologische Einlieit ist, doch sicherlich in solche Einheiten auf-
spaltbar ist, je nach den Reaktivitätstypen, denen die kriminologischen
Arten des Affektdelikts adäquat sind. Möglicherweise bleibt hier ein
psychologisch nicht glatt subsumierbarer Rest. Und endlich, um auf
den Begriff des geborenen Verbrechers zurückzukommen, von
dem wir ja ausgegangen waren, so liegen die Verhältnisse hier so: er
ist ganz zweifellos keine kriminalpsychologische Einlieit, insofern wir
bei der oben durchgeführten psychologischen Analyse verschiedene
und verschiedenartige psychische Typen fanden, die zu dem gleichen
sozialen Verhalten führen konnten, aber nicht zu führen brauchten;
dennoch ist er als eine solche kriminalpsychologische Einheit brauch-
bar, wenn man ihn auf zwei dieser Gruppen zurückführt : den mora-
lischen Schwachsinn (ohne Gefühlsgrundlagen) und den erethisch
Imbezillen (ohne Hemmungsgrundlagen der Verbindlichkeit von
Zeitmoral).
Beide Typen sind zwar charakterologisch verschieden strukturiert;
aber der Effekt der verschiedenartigen Strukturen, soweit er sich in
der Reaktivität äußert, ist der gleiche.
Das soziale Moment als Kritoriura psychischer Typik. 467
Über den Begriff der Milieuabhängigkeit.
Nicht ganz so klar, wie der methodische Weg jetzt sein dürfte,
welcher vom sozialen Verhalten zum menschlichen Typus führt, ist
der andere, welcher vom sozialen Verhalten zu den Tattypen geht.
In den Tattypen steckt noch ungegliedert und unberücksiclitigt das
persönliche Moment von Täter und Motiv und das Milieumoment
von Situation und objektiver Bedingung. Im sozialen Verhalten
hingegen, wofern es auf die Einheiten gebracht ist, von denen bisher
die Rede war, und die für die Kriminalpsychologie erforderlich sind,
spielt das Milieu die Rolle einer praktisch zu vernachlässigenden
Konstanten. Und um die Einseitigkeit dieses Gesichtspunktes aus-
zuschalten und das Milieu in die ihm zukommende ätiologische Rolle
einzusetzen, ohne doch kriminalpsychologische Errungenschaften auf-
zugeben, ist es notwendig, die kriminalpsychologischen Einheiten
des Verhaltens in ihrer Beziehung zum Milieu schlechthin zu unter-
suchen. Wir führen sie unter dem vergleichenden und einheitlichen
Gesichtspunkt ihrer Milieuabhängigkeit zusammen. Es sei von
vornherein bemerkt, daß der Begriff der kriminalpsychologischen
Reaktivität und der Begriff der Milieuabhängigkeit einander nicht
entsprechen. Aber freilich steht die Art der Milieuabhängigkeit in
psychologischer Verknüpfung mit der Reaktivität. Mehrere ver-
schiedenartige Reaktionsformen können sich in bezug auf Art und
Grad der Milieuabhängigkeit gleich verhalten. In den Arten der
Milieuabhängigkeit haben wir den direkten kriminalätiolo-
gischen Faktor rein herausgearbeitet. Seine psychologischen wie
seine kriminalsozialen Anteile sind beide mittelbarer Art und in dem
Medium einer dritten, direkt ätiologischen Betrachtungsweise auf-
gegangen, die ihrerseits dabei aus rein deskriptivem Material ge-
wonnen ist. Von dieser Begriffsbildung, die in der gegenwärtigen
Kriminalistik noch nicht die ihr gebührende methodische Rolle
spielt, sondern meist als unwesentlicher Teil der Kriminalpsycho-
logie abgehandelt wird, soll im folgenden einiges Wenige gesagt
werden.
Der Vorteil, der durch die Anwendung des Begriffs der Milieu-
abhängigkeit in dem von uns gemeinten Sinne erzielt würde, bestünde
unseres Erachtens besonders darin, daß der Unklarheit ein Ende ge-
macht würde, die in dem bisherigen Begriffe der exogenen Ursache
liegt. Der Unterschied der exogenen von den endogenen ^lomenten
ist zwar theoretisch klar, bereitet aber in seiner Anwendung große
Schwierigkeiten. Die Tatsache, daß jemand in erhöhtem Maße durch
exogene Reize bestimmbar und beeinflußbar ist, ist ihrerseits doch
nicht exogen, sondern endogen präformiert. Hier liegt ätiologisch
eine kaum behebbare Bedenklichkeit für die sogenannten reaktiven
Psychosen und pathologischen Reaktionen. Denn auch wenn man
diese gemäß obiger Erwägung nunmehr durch vorwiegend endogene
Faktoren bedingt betrachten würde, so wäre wiederum der zeitlich
30»
468 Zur Theorie und Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
bestimmte Ausbruch der Psychose (in der Haft, nach einem Unfall),
ihr besonderer inhaltlicher Typus und ihr Verlauf jeweils ganz un-
erklärt. Man kann ja natürlich von Fall zu Fall abzuschätzen ver-
suchen, mit welchen Stärkegraden exogene und endogene Faktoren
miteinander oder besser ineinander wirken; und so geht man ja auch
meist vor. Aber hierbei kommt die gesetzmäßigeNotwendigkeit
und Einheit dieses Ineinanderwirkens nicht zum Ausdruck. Und
daher lassen sich auch keinerlei Gesetze über diese Wechselwirkung
aufstellen, v/as doch erstes Erfordernis einer Kriminologie wäre. Daß
ein reizbarer Mensch tatsächlich nur gereizt ist, wenn das Milieu ihn
reizt, und daß theoretisch ein Milieu denkbar wäre, in dem der reiz-
barste Mensch niemals gereizt wäre, dies ist trivial. Was aber folgt
daraus an gesetzmäßiger Beziehung zwischen exogenem und endo-
genem Faktor? Doch nur die trivialen und dabei nicht einmal ohne
weiteres vereinbaren Sätze ,daß das Milieu immer »schädlich« ist,
und daß jemand, der gereizt ist, wenn es ein anderer noch nicht wäre,
wohl besonders reizbar sein muß. So naiv dieses Beispiel eines Schluß-
verfahrens klingt, so muß man doch sagen: viel mehr hat man in
diesem Gebiet bisher nicht ausgerichtet. Und doch besteht eine
gewisse Möglichkeit hierzu. Einmal darin, daß, wie wir schon aus-
führlich dargestellt haben, die Reizbarkeit in diesem Beispiel ohne
alle Rücksicht auf die äußeren Anlässe, unter denen sie sich äußerte,
aus der Reaktivität in dem von uns definierten Sinn als aus ihrem
psychologischen Gesetz begriffen wird. Auf diese Weise würde er-
klärt, warum ein bestimmter psychischer Typus gerade gereizt
reagiert, nicht etwa traurig oder lachend oder phantastisch. Zweitens
aber muß ebenso gesetzlich begriffen werden, was für Faktoren nach
Qualität und Art eine Reaktion erzwingen. Und zwar nicht absolut :
denn da dürfte es überhaupt keinen einzigen Reiz geben, der nicht
psychisch irgendwie wirkte; und bei der Mannigfaltigkeit äußerer
Reize und psychischer Strukturen käme da überhaupt nichts Über-
sehbares oder gar Gesetzmäßiges heraus. Vielmehr gilt diese Frage
in einer mehrfach eingeengten Bedeutung : von den Reizen kommt
nur derjenige Komplex in Frage, der durch das soziale Zusammen-
leben in seinen gegenwärtigen ökonomischen, rechtlichen und gesell-
schaftlichen Formen umrissen wird; dieser allerdings vor jeder be-
stimmten Gliederung, welche dieKriminalstatistik an ihm vornehmen
muß. Hinzu kommt aber noch die besondere jeweilige Reaktivität
selber in ihrer psychologischen Bestimmtheit. Nur dann ist Aus-
sicht auf Gliederung und damit auf Gesetzmäßigkeit gegeben. Das
Problem der Milieuabhängigkeit kommt also auf die Frage hinaus,
wie die Reaktivitätsformen in einem als ungefähr gleichartig voraus-
gesetzten Milieu sich qualitativ und quantitativ aktualisieren; es
ist identisch mit der Frage der exogenen Bestimmbarkeit für die vor-
ausgesetzten Reaktivitätstypen, aber nicht der Bestimmbarkeit
schlechthin, sondern nur so weit sie das soziale Verhalten anlangt.
Diese Bestimmbarkeit hat nicht nur, wie es zuerst scheinen könnte,
Das soziale Moment als Kritorium psychischer Typik. 469
Grade — die etwa der Leichtigkeit entsprächen, mit der die einzelne
Reaktivitätsart sich realisiert; denn das würde ja nicht wesentlich
über den Reaktivitätsbegriff hinausführen; sondern diese Bestimm-
barkeit hat auch qualitativ verscliiedene Arten — denn einmal
erfordert jede Reaktivitätsform ilirer eigenen Qualität nach ver-
schiedene und andere Milieubedingungen, um wirksam zu werden.
Zweitens aber darf man nicht vergessen, daß der Zweck dieser ganzen
Erwägungen ein kriminologischer ist. Hiernach handelt es sich
nicht um jedes beliebige soziale Reagieren, sondern um ein solches,
das Verstöße gegen — freilich apsychologisch fundierte — Normen
enthält oder mittelbar nach sich zieht. Solche Verstöße sind nur
möglich, wenn vom Gesichtspunkte des Milieus aus ihr Gegenteil
ebenso möglich wäre, aber im realen Falle nicht eingetreten ist. Diese
erklärungsbedürftige Tatsache bedingt ja unsere Fragestellung. Es
muß dann also so sein, daß es im Wesen bestimmter Milieu -
Situationen liegt, qualitativ eigenartige Reaktivitäts-
formen zu qualitativ divergenten Reaktionen zu ver-
anlassen, -jf
Hieraus folgt: die Arten der Milieuabhäugigkeit ergeben
sich einmal aus den Arten der Reaktivität, welche nur
mit bestimmten Milieureizqualitäten adäquat reagieren:
zweitens aus den Arten der Milieureize, die zu einer anti-
sozialen, beziehungsweise normwidrigen Reaktion be-
sonderer Reaktivitätsqualitäten bedürfen. Diese beiden
Gesichtspunkte durchdringen sich in unserem Begriff der Milieu-
abhängigkeit. Man könnte prinzipiell daran denken, jeden dieser
beiden Gesichtspunkte rein für sich herauszuarbeiten. Aber damit
käme man zu Grenzbegriffen, die ihrerseits keine Realität haben :
vom Milieugesichtspunkte aus, unter Vernachlässigung seiner Be-
zogenheit auf Reaktivitätsformen, käme man zum Begriff von Milieu-
situationen, die unter allen Umständen antisoziale Reaktionen er-
zwingen, oder solchen, die solche unter keinen Umständen bedingen;
beides sind irreale Konstruktionen; und für das, was zwischen diesen
beiden Extremen liegt, fehlte jedes Kriterium der Gliederung. Genau
die gfeiclie Konstruktion ließe sich auch vom Gesichtspunkt der
Reaktivitätsform machen, führte jedoch bei Vernachlässigung der
Milieusituation ebenfalls zu fiktiven Gebilden: nämlich einem unter
allen Umständen und prinzipiell immer antisozialen Reagieren einer-
seits, zu seinem Gegenteil andererseits. Für das Dazwischenliegende
gibt es überliaupt keine Einteilung außerhalb des Milieugesichts-
punktes: denn Avgnn ein Reaktivitätstyp sieh >>bald« antisozial ver-
hält, >>bald<» nicht, so liegt bei identischem Typus die unterscheidende
Bedingung im Milieu. Weil derartige theoretische Gebilde fiktiv
sind, luid weil auch tatsächlich ihr Bildungsgesichtspunkt ein un-
natürlicher ist, darum gehen wir eben bei der Bestimmung der Milieu-
abhängigkeit von dem Gesichtspunkt der verschiedenen
Beziehungsqualitäten zwischen Reaktivität und Reak-
470 Zur Theorie ujid Logik psychopathologischer Typenbildung usw.
tionsform aus, die sich durch die Zwischenschaltung der Milieu-
bedingungen ergeben. Wir vermeiden aber hierbei die Schwierigkeit,
die exogenen Faktoren direkt neben die endogenen zu stellen, weil
uns durch diese Fragestellung das unlösbare Problem, welcher Be-
dingungsreihe gesetzmäßig der Vorrang zukommt, entsteht.
Diese logischen Bestimmungen ließen sich noch viel genauer und
in größerer Breite entwickeln; indessen glauben wir an dieser Stelle
darauf verzichten zu sollen. Uns liegt mehr daran, innerhalb des so
gewonnenen Begriffs der Milieuabhängigkeit noch eine qualitative
Unterscheidung vorzunehmen, die praktisch von unmittelbarerer
Wichtigkeit ist als die prinzipiellen Entwicklungen.
Man wird rein deskriptiv mehrere Arten von Milieuabhängigkeit
unterscheiden können, wenn man als deren äußeres Kennzeichen
vorwiegend das Verfallen in Antisozialität benützt. Bei der ersten
Art wird das Individuum — als eine passive, sozusagen amorphe,
plastische Masse — von jedem Milieu und Milieuzufall ständig und
bis auf die formalen Fundamente herab um- und neugebildet. Die
zweite Art der Milieuabhängigkeit erstreckt sich nicht auf die Gesamt-
heit psychischer Bildung, sondern nur auf bestimmte und begrenz-
bare Weisen seelischer Tätigkeit und sozialen Verhaltens. Und diese
sind auf Charakteranomalien und -Unstimmigkeiten zurückzuführen,
die zwar präformiert sind, aber latent und inhaltleer verbleilien
könnten, wenn nicht das Milieu sie zugleich aktualisierte und mit
jeweils besonderen Inlialten und Merkmalen versehen würde. Die
dementsprechenden besonderen Folgewirkungen sind also zwar reine
Milieuwirkungen, und sie sind auch je nach dem Milieu von einander
völlig verschieden: und dennoch eignet ihnen eine gemeinsame for-
male psychische Basis, deren Existenz vom Milieu unabhängig ist,
so fest verankert ihre Funktionsmöglichkeit an der Voraussetzung
des auslösenden Milieus ist. Diese besondere psychische Basis bleibt
auch trotz aller Milieuwirkungen unverändert bestehen. Bei einer
dritten Art von Milieuabhängigkeit ist die Möglichkeit gegeben, daß —
die psychische Basis sei sonst wie sie wolle — der Einfluß des Milieus
niemals ein so großer wird, daß nicht andere den Willen bestimmende
Faktoren stärker wären. Hiernach ist eine Konstanz des sozialen
Verhaltens gewährleistet, welche auch in einem sozial schädlichen
Milieu das Zustandekommen antisozialen Verhaltens verhindert. Und
diese Konstanz ist nicht ein Effekt äußerer Furcht, sondern der adä-
quate Ausdruck des psychischen Wesens dieser Menschen, soweit
dasselbe innerhalb der Sozietät reagiert.
Es gibt natürlich Übergänge zwischen diesen droi Gruppen. Aber
an sich sind sie durch bloße Beobachtung unterscheidbar. Daß sie
bestehen, liegt an den jeweiligen Besonderheiten der ihnen zugrunde
liegenden Reaktivitätsformen, speziell an der Art, wie sich diese im
sozialen Verhalten aktualisieren. Diese Arten der Milieuabhängigkeit
lassen sich also zwar nicht auf psychologische Einheiten, nämlich auf
solche der Reaktivität, zurückbeziehen; aber das Aktualitätsmoment
Das soziale Moment als Kriterium psychischer Typik. 471
der verschiedenen fundierenden Reaktivitätsformen ist für jede
Grupi)e im Effekt jeweils das gleiche.
Für die dritte Grui^pe ist dieser Nachweis am leichtesten zu führen.
Zu ihr gehört die Mehrzahl der sozial lebenden Menschen. Wie ver-
scliicdeu diese in ihrer seelischen Konstitution auch sein mögen,
immer sind sie vor einem Hineingleiten in antisoziales Verhalten durch
diese ihre Konstitution geschützt; wider ihre natürliche Resistenz
in dieser Beziehung vermag auch ein schädigendes Milieu nichts. Es
soll dabei gar nicht verkannt werden, daß tatsächlich die Mehrzahl
der Menschen nicht nur hierdurch, sondern zugleich auch durcli ihre
ökonomische Lage und ihre sonstige äußere Situation vor dem Rechts-
brechertum bewahrt bleibt; das hindert nicht, daß diese Resistenz —
auf so verschiedene psychologische Einlieiten sie zurückfülirbar ist —
als gemeinsamer Reaktivitätseffekt hinzukommt und ein besonderes
Merkmal bildet, während auch ein günstiges Milieu die Angehörigen
der beiden anderen Gruppen nicht vor Rechtsbruch zu bewahren
braucht. Natürlich gilt all dieses nicht absolut; diese Resistenz
gegenüber dem Milieu, soweit es zur Antisozialität führen könnte,
kann verschieden Grade haben, und Gelegenheits-, Not- und Affekt-
delikte treffen auch bei diesem Typus der Milieuabhängigkeit wohl
einmal zu. Aber vom Einzelfall aus gesehen, liat die Kriminalität
dieser Gruppe nichts mit dem Wesen der Charaktere zu tun, die ihr
angehören.
Ein wenig schwieriger liegen die Verhältnisse schon bei der erst-
genannten Gruppe von Milieuabhängigkeit. Ihre Einheit liegt in der
abnorm großen exogenen Bestimmbarkeit der Reaktivität, und zwar
in ihrer qualitativ allseitigen Bestimmbarkeit. Es ist keine ein-
heitliche >>Hauptorientierungslinie << der Reaktivität da, oder wemi
eine da ist, so sind doch die Milieumomente von stärkerer richtung-
bestimmender Kraft. Das kann auf verschiedenen Anlageanomalien
beruhen, mögen wir diese nun als Suggestibilität oder als Willens-
schwäche oder als gefühlmäßige Gleichgültigkeit und Stumpflieit oder
als torpiden Schwachsinn voneinander trennen. Die Form der Milieu-
abhängigkeit, die als gemeinsamer Effekt dieser verschiedenartigen
psychischen Strukturen und ihrer Verbindungen herauskommt, ist
die der Haltlosigkeit. Der Begriff des Haltlosen oder Instable ist
also kein im engeren Sinne psychopathologi scher, sondern ein auf
verschiedene psychopathologische Einlieiten zurückgehender Misch-
begriff, der erst dann möglich wird, wenn der Begriff der Milieu-
abhängigkeit als Einheit vorausgesetzt wird. Die Kriminalität dieses
Typus hat bei aller Vielseitigkeit auch das eine gemeinsame Merkmal,
welches aus der besonderen Ai't der Milieuabhängigkeit folgt. S'.e ist
reines Milieuprodukt. Zu den aktiven energischen Verbrechern ge-
hört dieser Typus niemals, oder doch nur innerhalb einer verbreche-
rischen Gemeinschaft, einer Bande, und auch da nie als Führer.
Am verwickeltsten liegen die Verhältnisse bei der zweiten Art von
Milieuabhängigkeit, die wir unterschieden haben. Bei ihr liegt eine
472 Zur Theorie und Logik psychopathobgischer Typenbildung usw.
elektive Abgestimmtheit von besonderen Milieusituatio-
nen mit besonderen einzelnen psychischen Zügen vor,
gleichviel ob diese für das Wesen des Typus, dem sie angehören, be-
langvoll sind oder nicht. Es ist klar, daß sich hier eine große Zahl
von graduellen Unterstufen dieser Milieuabhängigkeitsart ergeben
muß, je nach der Zahl und dem Charakter der Milieusituationen,
denen jene Reaktivitätszüge besonders entsprechen, und je nach der
Intensität dieser Züge und ihrem Vorwiegen in der Gresamtreaktivität.
Wenn man dies Wechselverhältnis nach seiner psychologischen Seite
hin verfolgt, so findet man auch hier keinerlei Einheit. Aber man
kann doch Gruppen von Zusammengehörigem umschreiben, die den
gleichen Aktualitätseffekt der Reaktivität herbeiführen. So werden
es, um bei primitiveren Funktionen zu beginnen, Triebanomalien be-
sonderer Art (z. B. sexuelle) sein, deren Wirksamkeit durch besondere
Reize der Umwelt geweckt und mit Inhalten versehen wird. Auch
allerlei andere dispositionelle Faktoren sind denkbar, deren Aktuali-
sierung an besondere Milieuzustände und Zufälle gebunden ist. Bei
komplizierteren psychischen Strukturen — und das ist das Häufigere
■ — kommen vor allem jene besonderen Anomalien der Funktionen
und Funktionszusammenhänge in Frage, deren Aufwendung das Ich
in der Umwelt bei irgendeiner besonderen Gelegenheit braucht, um
sich — und sei es nur vor dem eigenen Selbstgefühl — durchzusetzen.
Geltungsbewußtsein, Erfolgsfreude und auch ganz elementare Funk-
tionslust sind anfangs der Lohn, später das Motiv zur Weiterent-
wicklung dieser Züge; und die Umwelt und jene »besondere Gelegen-
heit« setzt Richtung und Besonderung jener Entwicklungen. Unter
sehr vielen anderen Gruppen gehören auch diejenigen hierher, deren
Kriminalität durch ein besonderes äußeres Erleben provoziert wird:
Michael Kohlhaas und Schillers »Verbrecher aus verlorener Ehre«.
Daß beim realen Einzelfall die geschilderte Wechselwirkung noch
komplizierter liegt, daß primitivere und verwickeitere Strukturen
sich verbinden, daß gegen ethische und andere Gegeneinflüsse des
Milieus abgewogen wird: dies alles mag für unsere generelle Um-
schreibung außer Anschlag bleiben. Der Art nach bildet jedenfalls
das Aktualitätsmoment all der hierher gehörigen verschiedenartigen
Reaktivitätstypen eine Einheit, die allerdings graduell abstufbar ist.
Hierher gehören die meisten Psychopathien ihrer Kriminalität nach,
insbesondere ein großer Teil der hysterischen und pseudologischen
Charaktere.
Damit wäre das Problem dieser Untersuchung, das Verhältnis
der psychopathologischen Typenbildung zu soziologisch-krimino-
logischen Gesichtspunkten, Normen und Merkmalsbildungen, soweit
geklärt, als dies eine grundsätzliche logische und theoretisch-imma-
nente Bearbeitung zu erreichen vermag. Auch auf diesem Gebiet
der Psychiatrie kann materiale Forschung nunmehr als gesichert
und abgegrenzt gelten.
Jakob Friedrich Fries und die psychiatrische
Forschung.
Fries hat sich über psychiatrische Fragen nur an einer einzigen
Stelle seines vielbändigen Lebenswerkes geäußert, nämlich im zweiten
Bande der psychischen Anthropologie^). Hier allerdings drängen
sich wichtige theoretische und ärztliche Fragestellungen eng anein-
ander. Will man — ohne sich auf die prinzipielle Bedeutung der
Friesschen Untersuchungen einzulassen — ein Urteil über die histo-
rische Einordnung seiner psychiatrischen Leistungen in die Ge-
schichte unserer Wissenschaft gewinnen, so ist es notwendig, sich
einige Daten zum Vergleich zu vergegenwärtigen. Da ist das Wich-
tigste: Esquirols großes Hauptwerk erschien erst 1838. Lediglich
seine Dissertation war in der damaligen Literatur von maßgebendem
Einfluß. In der deutschen Forschung aber herrschten Männer wie
Reil. Hoffbauer und Heinroth. Letzterer hatte auch auf viele
Einzelurteile von Fries starken Einfluß. Es war also zu jener Zeit
die. bekannte Kantische Forderung aus seiner Anthropologie, die
Psychiatrie tunlichst den Philosophen zuzuweisen, durch die Stel-
lungnahme der Ärzte selber in hohem Grade verwirklicht. Die soma-
tologische Opposition war zur Zeit, als Fries seine psychiatrischen
Ansichten niederschrieb, noch nicht hervorgetreten; das Hauptwerk
ihres geistigen Führers Jacobi erschien erst 1844. Soweit sie sich
in der damaligen Literatur bereits geltend machte, stand sie auf
denkerisch recht tiefer Stufe. Bezüghch des Wesens der Geistes-
störung herrschte die »philosophische« Erklärungstendenz: der Be-
griff der Geisteskrankheit wurde ethsch-religiös bestimmt.
In jener eigenartigen und dunklen Zeitepoche der Psychiatrie
äußerte nun der Nichtpsychiater Fries Gedanken, welche denen der
damaligen Fachleute weit vorauseilten; Gedanken, deren erstes Auf-
tauchen in der psychiatrischen Fachliteratur wir erst sehr viel später,
1855 bei Spiel mann und dann bei Grie singe r, wiederfinden. Füi*
diese Gedanken müssen wir verschollene Prioritätsansprüche Fries'
geltend machen. Wir erfüllen damit eine historische Pflicht, ohne
der gewaltigen Lcbensleistung insbesondere eines Griesiuger damit
den geringsten Abbruch tun zu wollen.
Die psychiatrischen Stellungnahmen von Fries sind in mancher
Hinsicht fast verblüffend. Fries Avidcrlegt und klärt die Lehren
1) Jena. 1. Aufl. 1820. 2. 1837.
474 Jakob Friedrich Fries und die psychiatrische Forschung.
Heinrotlis, des psychiatrischen Meisters der damaligen Zeit. Er
betont den rein symptomatologischen Charakter der psychischen
Krankheitsabgrenzungen. Er betont weiter die Notwendigkeit der
Annahme ihrer somatisch-ätiologischen Basis. In gewisser
Weise erkennt er bereits die Unterscheidung organischer und funk-
tionaler Greistesstörungen. Er versucht Unterscheidungen der psy-
chischen Symptome in ursprüngliche und abgeleitete, primäre und
sekundäre — freilich ohne diese Termini zu gebrauchen. Klar er-
kennt er die Sonderstellung der Psychopathien. Vor allem aber
strebt er bereits danach, von symptomatologischen zu nosologischen
Einheiten zu gelangen. Letzteres freilich ist ihm nicht gelungen;
überhaupt ist vieles von seinen Ausführungen im einzelnen falsch.
Wir wissen nichts darüber, ob Fries über ausreichende klinische
Erfahrungen verfügte. Sollte dies nicht der Fall gewesen sein, so
bleibt seine theoretische Intuition auf unserem Fachgebiet um so
erstaunlicher. Jene Irrtümer im einzelnen werden künftige Forscher-
generationen auch der unsrigen mit Leichtigkeit nachAveisen können.
Nicht auf sie kommt es an; sondern auf die prinzipielle Seite
des methodischen Eingestelltseins der Forschung. Und hier finden
wir bei Fries, 40 Jahre vor dem Wirken Griesingers, eine zwar
vielfach noch verschleierte, dennoch aber deutliche Anbahnung mo-
derner Fragestellung.
Wir wissen heute viel zu wenig mehr von der psychologischen
Systematik und sjanptomatologischen Theoretik jener »philosophi-
schen« Ära der Psychiatrie, in der Fries lebte. Wir beurteilen einen
Heinroth nur zu leicht ausschließlich nach seinen ethisch-theo-
logischen Grundauffassungen der Geisteskranklieiten, und nach deren
seltsamer dämonologischer Formulierung. Wir übersehen leicht
seine außerordentlichen Leistungen im einzelnen. Wir tun dies,
weil seine Grundauffassung uns Heutigen wie eine unverständliche
Abirrung des Geistes vorkommt. Daß dies aber so ist, liegt nicht
nur an diesen Grundauffassungen eines Heinroth; es liegt auch
darin, daß wir kaum mehr fähig sind, uns deren innere Gründe klar
ins Bewußtsein zu heben. Und daß wir dies nicht mehr können, ist
nur eine Folge unserer ausschließlich klinischen und konventiona-
listischen Einstellungen. Jene alten Psychiater aber wußten noch,
was wir kaum mehr fühlen: die ungeheure Metapher, welche genau
genommen in der Übertragung des medizinisch somatischen Krank-
heitsbegriffes auf Psychisches liegt. Diese Metapher können wir
uns aber an mehreren Merkmalen des Krankheitsbegriffs selber
demonstrieren .
Der Krankheitsbegriff der somatischen Medizin ist entweder der
pathogenetische, oder der klinisch nosologische. Beiden
Krankheitsbegriffen ist gemeinsam, daß das Verhältnis von Sym-
ptomen und fundierendem Organprozeß ein, wenigstens im Prinzip,
theoretisch einsichtiges ist. Die ausgebildete Theorie dieser Ein-
sicht in die Beziehung von Symptom und Krankheitsprozeß ist ja
Jakob Friedrich Fries und die psychiatrische Forschung. 475
gerade der pathogenetische Inbegriff, das >>innere Gesetz« der be-
treffenden Krankheit. Es kommt oftmals vor, daß dieses Gesetz
selber in seinen einzelnen Bestimmtheiten noch nicht bekannt ist,
daß wir aber gleichAvohl empirisciie Anhaltspunkte dafür haben, sein
Bestehen anzunehmen: dann sind die Merkmale des nosologischen
Krankheitsbegriffes gegeben.
In der Psychiatrie nun ist das Verhältnis des Symptoms zur
ätiologisch somatischen Basis grundsätzlich niemals ein einsichtiges.
Schon Spiel mann hat diese Wahrheit klar formuliert an die Spitze
seiner Diagnostik gestellt. Die Abhängigkeit bestimmter psychi-
scher Veränderungen von bestimmten körperlichen Veränderungen
ist zwar konstatierbar, aber nicht erklärlich. Der Krankheits-
begriff und die Krankheitseinlieit der Psychiatrie im Einzelfalle kann
daher niemals über die nosologisch ätiologischen Kriterien hinaus-
kommen; die pathogenetische Bearbeitung derselben ist restlos
nicht möglich. Auch was im Einzelfalle Symptom ist, und warum
ihm der symptomatische Charakter innewohnt, ist aus pathogene-
tischen Gründen nicht einsichtig.
Aber wir müssen noch weiter gehen: Selbst die nosologisch-
ätiologischen Fragestellungen sind für einen großen Teil des psj'-
chiatrischen Forschungsgebietes gar nicht anwendbar. Man denke
etwa an die abnormen Charaktere, die Neurosen und Psychopathien,
die Grenzzustände und die theoretischen Rätsel des Hysteriebegriffes.
Es gibt keine theoretische Brücke zwischen zwei Krankheitsbegriffen,
wie etwa >>Gicht« einerseits, »pathologischer Lügner« andererseits.
Der eine, Gicht, ist der logischen Struktur nach ein echter noso-
logischer Kranklieitsbegriff. Was aber ist der der pathologischen
Lüge für ein Kranklieitsbegriff? Und was von dieser gilt, gilt von
der Hysterie und den Psychopathien und so weiter. Wenn wir in
diesen Fällen von »Krankheit« reden, müßte uns die Metaphorie
dieser Redeweise viel deutlicher sein, als sie es tatsächlich ist.
Diese Psychopathien sind nun zunächst rein deskriptive Ord-
nungstypen. Das begriffliche Problem dessen, was an ihnen Krank-
heit ist, haftet an der Struktur dieser Typenbildung selber. Klar
ist, daß diese Typenbildung nicht bloß deskriptive Durchschnitts-
strukturen und Reaktionsweisen aufstellt; sie nimmt vielmelir für
sich in jedem Einzelfalle den Charakter einer gesetzmäßigen Einheit
in Anspruch. Nur der Grad der Ausbildung dieser Einheit an der
lebendigen Realität des Einzelfalles kann schwanken. Diese gesetz-
mäßige Einheit aber ist faktisch bei den meisten Typenbildungen
unserer Grenzzustände nicht deskriptiv gewonnen, nicht nach Er-
klärungsgesichtspunkten theoretischer Art orientiert; sondern sie
ist von Wertbestimmungen, von normativen Gesichtspunkten durch-
setzt. Dies ist logisch so, wenn wir es praktisch auch nicht gern
wahrhaben wollen und die Relativität unserer Wertungen nach allen
möglichen teleologischen und sozialen Zufallski-iterien voll begreifen.
Logisch bleibt darum doch bestehen, daß Begriffe wie Minderwertig-
476 Jakob Friedrich Fries und die psycliiatrische Forschung.
keit, Schwachsinn, Demenz, Psychopathie, ja selbst der Begriff des
Abnormen Ausdrucksformen eines Wertens sind. Es ist ein Zukunft -
problem unserer Forschung, diese normativen Gesichtspunkte durch
theoretische und deskriptive alhnählich zu ersetzen. Vererst bleiben
die Maßstäbe dieser Wertung fundiert in irgendeiner relativistischen
sozialen oder kriminologischen — oder auch in einer ad hoc erfundenen
anthropologisch -biologischen Teleologie. Täuschen wir uns doch
nicht darüber, daß unser Degenerationsbegriff selber im Grunde ein
Wertbegriff ist, der nur deshalb deskriptiv aussieht, weil er in der
somatischen Medizin eine beobachtbare und objektiv registrierbare
pathologisch-anatomische Analogie besitzt. Im Psychischen fehlt
ihm diese Basis.
Jene Metaphorie des logisch theoretischen Gehaltes der psychia-
trischen Krankheitskriterien besteht also tatsächlich; und wenn jene
alten psychiatrischen Denker den Krankheitsbegriff aus dem Körper-
lichen heraus an die frisch eroberte psychiatrische Materie heran-
trugen, so hatten sie jene Metaphorie klar erfaßt. Jene Metaphorie
ist der eigentliche und wahre Grund zu Kants Forderung, den Medi-
zinern die Beurteilung psychiatrischer Fälle zu entziehen und sie den
Philosophen vorzubehalten. Ebenso klar erkannten jene alten
Psychiater die Sonderstellung der Psychiatrie in bezug auf die ätio-
logische Fragestellung und das normative Moment psychiatrischer
Einheitsbildungen. Aus dieser Erkenntnis aber erwuchs der Zeit-
irrtum jener ganzen damaligen Forschungsrichtung: Beide Mo-
mente, das ätiologische und das normative, wurden für psychisches
Geschehen miteinander verbunden, dieses wurde durch jenes erklärt,
und zwar ethisch. Für diese Erklärung ergab die theoretisch ge-
forderte Willensbestimmtheit alles psychischen Geschehens, wie sie
die rationalisierende Psychologie des klassischen Idealismus hyposta-
sierte, den Ausschlag. So wurden Sünde und Schuld bei Reil, Laster
und gewucherte Leidenschaften in der Dissertation Esquirols und
bei Ideler, Auflehnung gegen den Naturzweck bei Hoffbauer,
Besessenheit vom Bösen bei Heinroth zu den Bestimmungsstücken
des Wesens geistiger Erkrankung. Logisch und theoretisch spielten
jene Bestimmungsstücke dieselbe Rolle, welche heute der Degene-
rationsbegriff spielt. Jene moralischen Konstruktionen wurden
also gleichsam durch eine biologische ersetzt. Nur unter diesem
Gesichtspunkte lassen sich die alten Psychiater überhaupt ver-
stehen.
Aus dieser Richtung konstruktiver Befangenheit ragte nun Fries
einsam heraus. Zur Grundauffassung eines Heinroth bemerkt er:
>>er hat, wie es leider bei uns so gewöhnlich geworden ist, sich meta-
physisch wieder einigen neoplatonischen Abstraktionen anvertraut
und dadurch die Glaubenslehre ... in die wissenschaftlichen Vor-
stellungsarten eingemengt. So fingiert er sich, daß der Geisteskranke
in die Gewalt eines bösen Geistes gegeben sei. Allein dies alther-
kömmliche Bild steht dem Arzte nicht wohl an. Böse Geister sind
Jakob Fiiedrich Fries und die psychiatrische Forschung. 477
Dinger, die man nicht sehen kann . . . und Nicßwurz, Brechweinstein
und Karlsbaderwasscr sind wunderliche Waffen gegen Geister.«
Trotz dieser kaustischen Kritik fährt Fries aber mit Recht fort:
»Doch ist es fast ungerecht, dieses Heinroth gegenüber auch nur
zu erwähnen, da die Ausführung der Lelire bei ihm von diesen Fehlern
ganz frei bleibt.«
Aber nicht bloß die zufällige Torheit der Konstruktion böser
Geister — die ganze »philosophische« Behandlung der psychiatrischen
Problemstellung wird von Fries verworfen. Gegen die Kantische
Forderung, daß die psychologischen Lehrer der philosophischen
Fakultät und nicht die Lehrer der medizinischen Fakultät als psy-
chiatrisclie Sachverständige fungieren sollten, sagt der Kantschüler:
»diese Meinung teile ich aber gar nicht mit ihm . . . Männer von
klarem Geiste, welche die Gelegenheit haben, vielfältig und ausdauernd
die Leiden und Sorgen der Menschen teilnehmend zu beobachten . . .
teilnehmende Ärzte, welche ihre Aufmerksamkeit vorzüglich auf
diese Seite gerichtet haben, werden hier am richtigsten zu urteilen
vermögen.« Und noch bedeutsamer sagt er an anderer Stelle: »Die
meisten Beobachter wollen Geisteskrankheit nur zu einem psychischen
Leiden machen, bei dem die organischen Fehler erst Folgen der Seelen-
störung sein sollen. Dies wird aus metaphysischen Voraussetzungen
so bestimmt, und ich fürchte, auch im Leben nach diesen gedeutet.
Ich getraue mich doch noch zu behaupten, daß jede wahre Geistes-
krankheit ein Unglück und nicht eine Verschuldung ist.«
Die Stellung des Psychologen in der psychiatrischen Forschung
grenzt er grundsätzlich folgendermaßen ab: »Der Psycholog kann
mit seinen Hifsmitteln nur die psychischen Krankheitssym-
ptome beschreiben und unterscheiden, aber das eigentliche Wesen,
die Einheit des ganzeh krankhaften Zustandes ist wohl
immer somatisch begründet und nur von ärztlicher Beurteilung.
. . . Die Krankheit selbst besteht im tiefsten Grunde doch in einem
körperlichen Übel, mit dessen Hebung sie allein gründlich geheilt
werden kann, während sie mit bloß psychischen Erleichterungsmitteln
eigentlich nur verdeckt wird, wenn von wahrer Geisteskrankheit und
nicht nur von ethischer Verwilderung oder Verkümmerung die Rede
ist.« Fries will mit den letzten Worten also die ethisch Verwilderten
und Verkümmerten von den wahren Psychosen abgrenzen; und zu
diesem Zweck stellt er folgende Alternative auf: Entweder »sie
sind . . , nicht geisteskrank. Es wäre also unrichtig, darum allein
(weil sie ethisch verwildert sind) ihre Zurechnunsgfähigkeit für auf-
gehoben zu erklären«. Oder »für dies Letztere muß doch noch etwas
Eigenes hinzukommen . . . ein unglückliches psychisches Ereignis,
welches organisch-körperlich begründet sein möchte«. Fries sucht
also auch bei den Psychopathen, sobald ihre Besonderheit wirklich
die Breite der charakterologischen Normalität überschreitet, dispo-
sitionelle, konstitutionelle körperliehe Faktoren.
Immer wieder betont er, der Philosoph, diese organische Basis
478 Jakob Friedrich Fries und die psychiatrische Forschung.
des Psychotischen, ohne aber hinsichtlich der Artung desselben der
empirischen Forschung konstruktiv vorzugreifen, wie dies, trotz
seiner Warnungen, lange nach ihm noch Jacobi und Flemming
in oft recht törichter Weise taten. Fries unterscheidet angeborene
und erworbene, heilbare und unheilbare, ununterbrochene
und periodische Geistestörungen, und hält sich mit dieser Unter-
scheidung wohl an Esquirol. Überall aber intendiert er bei seinen
Unterscheidungs versuchen klare nosologische Krankheitsformen. So
finden sich in seiner Darstellung neben vielem Falschen vereinzelte
überraschende Bemerkungen: »Es finden sich Krankheiten geistiger
Schwäche und Zerrüttung, zu denen die Anlage offenbar ererbt ist,
wiewohl sie nicht von der Kindheit an bestehen, sondern erst in
einem reiferen Alter ausbrechen.« Oder er spricht von unheilbaren
Demenzen, und nennt da als Beispiel »Blödsinn, der auf langandau-
ernde heftige Krampf krankheiten folgt« und »solchen, der die Folge
langanhaltender Trunksucht ist«. Von den periodischen Formen
sagt er unter anderem : »Der Arzt muß bei vielen Formen der Krank-
heit, deren Paroxismen nach langen Zwischenzeiten wiederkehren,
darin äußerst vorsichtig sein, daß er den Kranken nicht für zu früh
genesen halte.« Diese Ausführungen werden nicht nur um ihrer
Richtigkeit willen, sondern vor allem als Beweise dafür wieder-
gegeben, daß die grundsätzliche Fragestellung in all diesen Beispielen
durchaus auf nosologisch-klinische Einheiten gerichtet ist. Dies
ist im Jahre 1820 gewiß etwas Erstaunliches.
Fries läßt sich, dieser grundsätzlichen Einstellung entsprechend,
sogar auch auf ätiologische Gesichtspunkte ein. »Exaltation, De-
pression, Wahnsinn, Verrücktheit, Melancholie, Blödsinn . . . sollten
dies wirklich die Formen der Krankheit selbst und nicht nur ihrer
psychischen Symptome sein? Ich zweifle sehr. Es sind damit wohl
größtenteils nur psychische Symptome unterschieden. Eine rein
geistige Erkrankung der Vorstellungskräfte kann ich mir nicht denken.
Ich würde nur von psychischen Krankheiten sprechen, bei denen
uns das körperliche Leiden noch unbekannt geblieben ist, welches
ihnen zugrunde liegt.« Und ferner: »Mir scheint alles darauf an-
zukommen, daß das die Krankheit eigentlich konstituierende
Übel richtig von den veranlassenden Ursachen unterschieden
wird.« Letztere können körperlich oder psychisch sein; ersteres
aber, das konstituierende Moment, ist nichts anderes als jenes, welches
wir heute mit der Bezeichnung des endogenen Faktors, oder der
Disposition, meinen. Fries selber benutzt sogar schon den Ter-
minus Disposition in einer noch heute gültigen Weise: »Veranlas-
sungen, welche in einem Fall schnelles Eintreten der Geisteskrankheit
zur Folge hatten, gehen in anderen Fällen ohne Gefahr vorüber. Es
muß also zu solchen Veranlassungen erst noch eine ungünstige Dis-
position im Kranken hinzukommen, durch welche die Krankheit
selbst bestimmt wird, und diese wird zuletzt immer eine körperliche
sein. Als solche wird sie . . . ihren Sitz im Nervensystem haben,
Jakob Friedlich Fries und die psychiatrische Forschung. 479
und darum werden Avir die Krankheit selbst immer als in einem Haupt-
leiden der Nerventätigkeit begründet anzusehen haben.«
Den Begriff der Disposition finden wir freilich schon bei Kant
in der Anthropologie. Aber wie verzerrt ist er dort in seinen psychia-
trischen Anwendungen gegenüber diesen ganz modern anmutenden
Ausführungen von Fries. Jene Ausführungen erscheinen uns Heu-
tigen zwar als fast selbstverständliche Grundwahrheiten unserer
Disziplin. Man bedenke aber, was ich schon mehrfach betonte, daß
sie hier im Zeitalter der dämonologischen Spekulation über Geistes-
kranldieit, 40 Jahre vor Griesinger, in ihrer noch heute gültigen
Formulierung ausgesprochen wei-den. und zwar von einem Philo-
sophen! Es scheint mir dies ein in unserer Literatur ganz einzig-
artiges Faktum zu sein.
Was nun die »veranlassenden Ursachen«, oder wie wir heute
sagen würden, exogenen Momente anlangt, so nennt Fries hier
neben manchem Falschen »Verletzungen des Gehirns, Druck auf das
Gehirn, fehlerhafte Beschaffenheit desselben, Andrang des Blutes
nach dem Gehirn, fortdauernde schwächende Einwirkungen durch
langwierige Fieber, Blutungen, Krämpfe, Trunkenheit«. Ferner
findet sich bei Fries als exogenes Moment besonders genannt : »Meta-
stasen von anderen Krankheiten, besonders Hautkrankheiten, auf
das Gehirn. « Für diese merkwürdige Behauptung, welche Fries nicht
näher belegt, muß wohl in der zeitgenössischen medizinischen Lite-
ratur irgendeine Quelle bestanden haben. Es ist jedenfalls kaum
anzunehmen, daß damit eine Andeutung des Lues-Metalues-Problems
bei ihm schon vorweggenommen sei, welches erst später zu der großen
Entdeckung von Falret und Baillarger geführt hat.
Der Zweck dieser Darlegungen ist zu zeigen, wie sich überall in
Fries' psychiatrischen Darlegungen eine strenge Innehaltung des
nosologischen und ätiologischen Standpunktes geltend macht. Bei
ihr verbleibt Fries auch in der deskriptiven Einzeldarstellung der
geistigen Störungen. Bei dieser aber weiß er sehr genau, daß er be-
stimmte nosologische Bilder noch nicht zu geben vermag, sondern
nur Symptome und Symptomgruppierungen. Auch mit diesem Wissen
ist er seinem Zeitalter um eben die 40 Jahre voraus, welche bis zum
Auftreten Griesingers vergingen. »Wollen wir nun zur Unter-
scheidung bestimmter Krankheitsformen übergehen, so müssen wir
zuerst auf unsere Behauptung zurücksehen, daß jede nur psycho-
logische Beschreibung dieser Übel eigentlich zur psychischen
Semiotik der Krankheitslehre gehört, indem die geistigen Krank-
heitserscheinungen nicht das Ganze, nicht die Einheit der Krankheit
selbst sind, sondern nur Anzeigen des krankhaften Zustandes ge-
währen. Wir beschreiben zunächst nur psychische Symptome der
Krankheit und haben diese von dem Ganzen der einzelnen Krankheit
wohl zu unterscheiden. Es werden in dem krankiiafton Zustand eines
Menschen oft die verschiedenartigsten psychischen Symptome . . .
miteinander wechseln, aber die Krankheit selbst bleibt im letzten
480 Jakob Friedrich Fries und die psychiatrische Forschung.
Grunde dieselbe und für ihre Einheit werden wir nur körperliche
Bestimmungen zu geben vermögen. Im entgegengesetzten Fall
werden psychisch fast dieselben Erscheinungen der völligen Geist-
losigkeit bestehen und die Krankheit selbst wird doch m verschie-
denen Fällen sehr verschieden sein.« , • -p •
Die Ausführung dieser psychiatrischen Symptomatik bei iJiies
bietet nun des Eigenen nicht allzuviel. Es ist für den Ausbildungs-
stand der psychiatrischen Symptomatik vielleicht bezeichnend, daß
damals von Pinel bis Griesinger ein wesentlicher symptomato-
logischer Fortschritt sich eigentlich nicht anbahnte. Nur der eine
Unterschied besteht: daß was Griesinger und vor ihm Fries und
Spiel mann eben nur für Symptome hielten, war jenen anderen
Forschern mehr oder weniger unmittelbar die Krankheit selber.
Es wird daher an dieser Stelle auf die symptomatologischen Ein-
teilungen Fries nicht näher eingegangen. Eins jedoch an ihnen ist
neu- nämlich Fries' Versuch, die einzelnen Symptome durch psycho-
logische Abstraktionen auf primäre Wurzeln zurückzufuhren welche
ihrerseits mit psychologischen Mitteln nicht weiter reduzibel sind,
sondern als letzter, unmittelbarer Ausdruck der Störung selber, als
psychotische Primärsymptome, zu gelten haben. Dieser Reduktions-
versuch der Symptome bei Fries ist auch als ein Gesichtspunkt für
die moderne phänomenologische und deskriptive Symptomzerglie-
derung von hoher Bedeutung. Fries trennt drei symptomatologisch
verschiedene Gruppen von psychischen Veränderungen: Störungen
der sinnlichen Anregung, Störungen des unteren Gedankenlaufes und
Störungen des oberen Gedankenlaufes oder der willentlichen Aktivität.
Die Störungen der sinnlichen Anregung zu allem psychi-
schen Geschehen sind heute, genau so wie Fries es intendiert hat,
ein Gebiet besonderer phänomenologischer Forschungsemstellung : das
unmittelbare Erleben der Außenwelt sowie der inneren eigenen
Vorgänge, die Halluzinationen und verwandte Gebilde gehören hierher.
Die Störungen des unteren Gedankenlaufes würden wir heute
als die mnestisch-assoziativen bezeichnen. Unsere moderne
Psvchologie gerade auf psychiatrischem Gebiet war bis vor ganz
kurzem freilich nicht daran gewöhnt, die Friessche Trennung m
unteren und oberen psychischen Ablauf mitzumachen. Sie fundierte
alles geistige Geschehen rein assoziativ. Ob mit Recht oder mcht
das zu untersuchen kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Tatsache
ist jedenfalls, daß seit einigen Jahren nicht nur die Psychologen,
sondern auch schon einzelne namhafte psychiatrische Forscher m
der psychologischen Symptomatik neben und über die Assoziations-
psvchologie die Psychologie der aktmäßigen, intentionaien
psychischen Abläufe stellen. Und es ist einem Forscher wie Berze
hoch anzurechnen, daß er als erster die Priorität von Jakob Fned-
rich Fries in dieser Hinsicht offen anerkannt hat. I^i »emem Werk
»Die primäre Insaffizienz der psychischen Aktivität (1914)« ) sa t
er- »Jakob Friedrich Fries unterschied schon drei Stufen der Aus-
Jakob Friedrich Fries und die psychiatrische Forechung. 481
bildung des menschlichen Geistes: sinnliche Anregung, unterer Ge-
dankenlauf, oberer Gc dankenlauf. Zum gesunden Geistesleben ist
nach Fries erforderlich, daß die Selbstbeherrschung den unwillkür-
lichen Assoziationen (unterer Gedankenablauf) überlegen bleibt, da-
mit nicht Traum das vernünftige Urteil und niedere Begierde die
vernünftige Handlung verdränge.« Das Wesen und der Maßstab
der Geistesgestörtheit sei, »daß die Kraft des oberen Gedankenlaufes
gebrochen sei, oder, wie es bei anderer Gelegenheit heißt, daß die
Kraft der Selbstleitung der Gedanken geschwächt oder vernichtet
wird und daher der untere Gedankenlauf sich der Herrschaft des
oberen entzieht oder denselben ganz beherrscht. Wir deutschen
Psychiater haben es daher, nebenbei bemerkt, durchaus nicht nötig,
auf die Unterscheidung zwischen einem »psychisme superieur« und
einem »automatisme mental« als eine Entdeckung der »französischen
Autoren« hinzuweisen, wie dies seitens einzelner Psychiater in der
letzten Zeit geschehen ist. Was Fries als die »Kraft der Selbst-
leitung« bezeichnet, ist die psychische Aktivität; der »obere Gedan-
kenlauf« nach Fries ist unser »Gedankenablauf«; der »untere Ge-
dankenablauf«, die »unwillkürlichen Assoziationen« nach Fries sind
unsere »Assoziationsabläufe,«
So greift auch die moderne Forschung bereits wieder vereinzelt
auf Fries' psychiatrische Leistung zurück, und ist sich dabei teil-
weise auch schon seiner Priorität bewußt.
Nicht nur Berze, auch Meyerhof hat 2) diesen Schritt auf
Fries zurück in mannigfacher Hinsicht bereits getan. So einmal
in seiner Ausbildung der psychologischen Theorie psychotischer
Symptome, sodann aber auch in seiner generellen Enwicklung eines
psychologischen Kriteriums der Zurechnungsfähigkeit. Diese hat
Fries ebenfalls aus seiner Lehre vom oberen Gedankenlauf abge-
leitet, ähnlich wie Berze es schon dargestellt hat. Das Kiiterum
der Zurechnungsfähigkeit liegt in der Unterdrückung der Herrschaft
des oberen Gedankenlaufes.
An einzelnen Stellen der Friesschen Darstellung erscheint es
sogar zeitweise so, als habe Fries den Unterschied der organischen
und der funktionellen Psychosen bereits zum Ausdruck bringen
wollen. Fries trennt nämlich »körperliche Geisteskranklieiten, bei
denen die Veranlassung des geistigen Leidens im Körper sehr be-
stimmt erkannt wird«, und »wahre Geisteskranklieiten, in denen
nicht zu bestimmt eine körperliche Kranklieit als Ursache des geisti-
gen Leidens erkannt wird«, — obwohl sie, wie wir sahen, grundsätz-
lich von Fries vorausgesetzt wird. Indes ist diese Stelle etwas
vieldeutig, und wir wollen daher nicht mit Sicherheit behaupten,
daß Fries diesen Unterschied wirklich schon formuliert hat lehren
wollen.
1) S. 217 ff.
2) Beiträge zur psychologischen Theorie der Geistesstörungen. Göttingeu 1910.
Kronfeld, FBychiatriscbe Erkenntnis. 31
482 Jakob Friedrich Fries und die psychiatrische Forschung.
Aus dem Vorgetragenen geht wohl hervor, daß die Grundlagen
psychiatrischen Denkens, welche auch heute noch in unserem For-
schungsgebiet grundsätzlich nicht überholt sind, sich bei Jakob
Friedrich Fries als erstem Denker mit einer Deutlichkeit und Klar-
heit ausgesprochen finden, welche alle seine psychiatrischen Zeit-
genossen in keiner Weise besitzen. Und es erscheint als eine Pflicht
historischer Gerechtigkeit, diese bisher fast völlig unbekannte Tat-
sache der Vergessenheit zu entreißen und diesem großen deutschen
Denker auch in der Geschichte unserer Fachwissenschaft zu der ihm
gebührenden Stellung zu verhelfen.
Aber nicht nur diese historische Aufgabe stellt uns das psycho-
logisch-psychiatrische Werk von Fries. Darüber hinausgehend
haben alle Abschnitte des vorliegenden Buches, welches von den
Grundlagen der Psychiatrie als Wissenschaft handelt, an das denke-
rische Gesamtwerk Fries' als unseres philosophischen Führers an-
knüpfen müssen. Logik, Wissenschaftslehre, deskriptive und dyna-
mische Theorie des Psychotischen und die Methodologie der psycho-
logischen Induktionen, so wie sie im voranstehenden entwickelt
worden sind, fanden in dem philosophischen, erkenntniskritischen
und psychologischen Lehrgebäude von Jakob Friedrich Fries
ihr Fundament, ihre Ausgangspunkte, ihre Maßstäbe und ihre Be-
gründungen. Neben der historischen Rolle, welche Fries in der
Psychiatrie spielt, wird also die prinzipielle und systematische Be-
deutung seines Gedankenwerkes für den Fortschritt der Psychiatrie
zu wahrer Wissenschaft von unvergänglicher Bedeutung sein. Dafür
sollen die Blätter dieses Buches zeugen.
Namenregister.
Aall 163.
Abderhalden 95, 417.
Ach 1U5, 349, 350, 374.
Adler lül, 111. 188, 287.
Albrecht 141.
Allen 15.
Allers 94.
Alzheimer 92. 93.
Arigioleila 4H0.
Auton 433. 4.52.
Apeit 4H, 272, 388, 391.
Aristoteles 34,4/, 107,142,
167, 193, 227, 321, 339.
Arndt 98, 18 J.
Aschaö'enbure: 240, 253,
422, 433, 435, 436, 452,
457, 459.
Avenarius 25, 204.
Bach 94.
Bacon 258, 272, 388.
Baer 437, 4fiO.
Baillarger 398, 479.
Bain 149.
Baldwin 18.
Beattie 43.
Beneke 14, 37, 39, 41, 67,
103, 381. 385.
Bentham 441.
Bergmann 128. 142. 161,
226, 227, 375.
Bergson 111. 1.35, 154,
193, 203, 260, 261, 283,
336, 351. 360. 36t5.
Berkeley 204, 365.
Bernays 130.
Berze 139, 170. 171, 174.
249, 433, 443, 446. 447,
453. 454, 480, 481.
Bielschowsky 93.
Binswanger 408, 436.
Birnbaum 96, 97, 399, 462.
Biunde 352.
Bleuler 98, 99, 145, 161,
182, 1H8, 257, 2S9, 293,
294, 295. 298, 299. 300
301, 302, 401, 405,407,
415, 417, 438, 439, 440,
442, 446, 452.
Boltzmann 272.
Bonhöffer 96. 97.
Brentano 107, 108, 119,
128, 131, 132, 133, 13S,
146, 148, 150, 157, 158,
172, 174, 189, 205. 206,
208, 209, 270, 277, 319,
321, 339, 340, 341. 342,
344, 347, 367, 369. 370,
371. 372, 373, 377, 378,
379, 390. 395, 416.
Brodraann 93.
Bühler 104.
Burake 94.
Burke 448.
Claßen 141.
Clifford 352.
Cohen 19. 28.
Cohn, J. 111.
Comte 105. 326. 371.
Cornelius 109, 155, 331.
Crusius a3.
Darwin 352.
Delbrück 452, 453.
Demokrit 73.
Descartes 73.
Di!theyl04. 211,283.315,
316, 317, 318, 319, 329,
359.
Dittmar 238.
Dodire 104.
Driesch 140, 227, 228.
Drobisch 103.
Ebbinghaus 104.
V. Economo 93.
Einstein 129, 130, 131.
Emanuel 95.
Erdmann 104. .352.
E^qnirol 89. 396, 473, 476,
478.
Exner 90.
Falret 398, 479.
Fankhaus^-r 142.
Fechrier 171. 276,333,365.
Feuerbach 59.
Fichte 37, 39, 40, 41
12ü, 139.
Fischer, K. 28, 32.
Flechsig 93.
! Fleraming 116, 478.
I Forel 292.
I Förster 95.
Fortlagft 103.
Frege 29.
Freud 10^, in, 172,
188, 287, 289, 290.
293. 294. 295, 297,
299, 300, 383. 392,
416, 417.
Freundlich 129.
Fries 2. 1.3, 21, 28,
39, 42, 43, 44, 45,
47, 53, 54, 55, 61,
64, 65, 74. 77, 78,
86, 120, 123, 127,
131, 139, 158, 159,
266. 267, 329, 341,
389, 391, 473, 474,
476, 477, 478, 479,
481, 482.
Furtmüller 445.
. 81,
177.
291.
298.
414.
37.
46.
80.
128,
240,
387,
475.
480.
(iaupp 407.
Geiger 1 10, 283, 350, 353.
George 48.
Goethe 1, 72. 79.
Goliistein 419.
V. Grabe 460.
Gräfe 94.
(iregor 96.
Griesinger 89. 90. 99, 113,
IIH, 238, 239, 240,243.
264, 398. 405. 473. 474.
479, 480.
Groos 353.
Gruhle 401, 460.
Gudden 93.
Guyau 441.
Hamilton 77, 78. 148.
V. Hartmann 167. 171.178.
179, 180.
Hauptmann 93.
Hecker 90.
31*
484
Namenregister.
He^el 37, 41, 69, 64, 67,
72, 79, 86, 122, 311.
Heinroth 89, 154, 239, 258,
396, 426, 473, 474, 476,
477.
Held 93.
Hellpach 149, 170, 171,
173, 174, 175, 177, 242,
423,
Helmiioltz75,76,199,272.
Henry 131.
Herbart 70, 76, 103, 149,
152, 153, 154, 155, 156,
163, 333, 348, 352, 370,
397.
Herz,'M. 33.
Hirt 101, 174, 410, 411.
Hoche 401, 406.
Hoeffding 334.
Hoefler 341.
Hoffbauer 89, 239, 396,
473, 476.
Homburger 96, 467.
Hume 15, 44, 66, 67, 142,
204, 272, 334.
Husserl 29, 76, 101, 108,
1Ü9, 110, 111, 119, 124,
133, 138, 139, 146, 148,
150, 158, 174, 283, 294,
306, 311, 314, 319, 321,
325, 338, 339,340,341,
342, 343, 344, 346, 347,
348, 349, 350, 351, 360,
361, 362, 363, 369, 376,
377.
Jacobi 67, 78. 240, 473,
478.
Jahnel 93.
James 18, 25.
Jaspers 101, 115, 168,196,
224, 27H, 351, 359, 860,
381, 382, 383, 384, 394,
401, 409, 410, 411, 412,
416, 418, 419.
Ideler 476.
Joerger 96.
Isserlin 94, 240, 253, 299.
Jung 100, 188.
Justschenko 247.
Kafka 95.
Kahlbaum 90, 400.
Kauffmann 94, 453, 460.
Kant 2, 13, 14, 15, 17, 19,
20, 21, 23, 28, 30, 31,
32, 33, 31, 35, 36, 37,
38, 41, 42, 46, 64, 56,
66, 67, 69, 72, 73, 74,
76, 77, 78, 79, 80, 81,
82, 83, 84, 85, 120, 121,
122, 127, 128, 129, 131,
133, 136, 137, 139, 142,
14H, 148, 149, 159, 162,
167, 168, 173, 192, 204,
205. 207, 213, 221, 228,
232, 236, 244, 254, 258,
266, 267, 271, 272, 278,
301, 315, 326, 348, 371,
379, 381, 388, 476.
Kieser 239.
Kirchhofi' 196.
Kleist 94, 399.
Knauer 94.
Kraepelin 8, 89, 90, 91,
92, 93, 97, 98, 99, 240,
245, 400, 404, 405, 407,
408, 417, 418, 437.
Kretschmer 101.
Kroner 199, 20D.
Klüger 110.
Küipe 104, 105, 109, 119,
349, 371, 4C8.
Kurella 434, 435, 436.
Lange 96.
Leibniz 56, 67, 81, 171.
Lewandowsky 289, 294,
295.
Liepmann 9, 94, 433, 481.
Lindau 453.
Linne 157, 395, 408.
Lipps 19, 22, 26, 29, 30,
103, 105, 110, 152, 161,
163, 164, 165, 166, 167,
168, 169, 176, 177, 1T8,
2(6, 283, 306, 311, 318,
319, 320, 321, 3i^2, 323,
324, 326, 326, 327, 329,
331, 332, 341, 342, 3.50,
352, 353, 356, 367, 359,
373 384.
Locke 67,' 75, 139, 272,
317, 324, 334, 370.
Lombroso 425, 437, 438,
439 453.
Longärd 434, 437, 452,
453, 454, 460.
Lorenz 96.
Losskij 360.
Lotze 3. 103. 143, 148,
149, 291, 339, 340, 353.
Mach 13, 14, 16, 16, 17,
18, 19, 20, 21, 22, 23,
24, 25, 104, 119.
Magnan 399, 426.
Maimon 81.
Maibe 104, 349.
Marcus, E. 22, 23, 24.
Martius 96, 143.
Marty 108, 128, 150, 259,
279, 340, 341, 344, 345,
395.
Marx 47, 69, 60.
Mauihner 18.
Mayer 410, 437, 463, 464.
V. Meinong 22, 24, 86,
108, 111, 150, 155, 168,
283, 331, 337, 340,341,
344, 349.
Mendel 96.
Messer 104, 107, 109, 160,
339, 341, 362.
Meyerhof 120, 123, 152,
207, 371, 386, 403, 419,
481.
Meynert 90, 398.
Mill 67, 106, 142, 148,
272, 388, 441.
Mirbt 46.
Moebius 154, 156, 158.
Moeli 96, 460.
Monakow 182.
Morel 399, 425.
Munk 93.
Mühlestein 65.
Müller, G. E. 104, 107.
Müller, J. 76.
Münsterberg 111, 137, 203,
205, 283.
Nasse 240.
Natorp 22, 23, 29, 118,
119, 137, 138, 145,203,
205, 283, 342.
Nelson 7, 9, 13, 16, 19,
20, 21, 23, 24, 25, 27,
29, 30, 32, 35, 36, 37,
41, 42, 47, 49, 62, 53,
76, 109, 131, 156, 208,
232, 234, 235, 236, 266,
306, 361.
Neumann 98.
Newton 72, 129, 144, 388.
Nietzsche 445.
Nissl 92, 93.
Nonne 95.
Österreich 101, 110
Pasteur 119.
Pfänder 103, 283.
Pfahl 94
V. d. Pfordten 150.
Pilzecker 104.
Pinel 480.
Piaton 60, 73, 167, 363.
Poincare 26, 272.
Poppelreuter 381.
Namenregister.
485
Prandtl 103. 352.
3ö4, 355, 356.
Prichard 432.
353.
Kanke 93.
Ranschburg 163.
Reicbardt 95,
Eeid 43.
Reil 89, 239, 473, 476.
Reinhold 37. 38, 39, 41 42.
fieiss 97.
de Rerausat 20.
Renouvier 161.
Richter 437. 460.
Rickert 9. 22, 25, 26, 111,
119, 129, 168, 194, 195,
196, 197, 198, 199, 200,
201, 202, 203, 204, 205,
207, 208. 209,210,211,
212, 213, 214,215,216,
217, 218, 219, 220, 221,
222, 223, 225, 226, 260,
261, 283. 296, 303, 324,
336, 359.
Rieger 94, 260, 251, 252.
Romanes 352.
Rosenstein 289, 290, 291,
294, 298. 299, 301.
Rosental 418.
Roux 143.
Russell 146.
Rüdin 96, 460.
Sander 437, 460.
Scheler 103,110,221,283,
350, 352, 357, 358, 359,
360, 362, 384, 385, 410,
445.
Schelling 37, 41, 57, 64, 69,
81, 111, 122, 200. 308,
362.
Schilder 101.
Schiller 18, 25.
Schieiden 46.
Schlick 129.
Schlömilch 46.
Schmid 46, 123, 128, 135,
137, 139, 394, 397.
Schneider 1, 141.
Schopenhauer 72, 161.
Schröder 97, 407, 408,409.
Schulz 163.
Schule 90, 116.
Schumann 104.
Selz 204.
Semon 174, 180.
Shaftesbury 445.
Sielert 96. 4(0.
Sigwart 1 98.
Siramel 18, 25, 111. 194,
195, 260, 261, 283.
Smith, Ad. 441.
Sommer 94, 95, 435.
Spearman 110.
Specht 101, 410, 419.
Spencer 67.
Spielman 113, 114, 116,
405, 473. 475, 480.
Spielmeyer 93.
Spinoza 74. 75.
Stahl 58. 59. 60.
Stärcke 289, 292, 294, 299.
Stern 110, 353.
Störring 371.
Strauß 59.
Sträußler 93.
Stumpf 104, 108,119,146,
338, 348, 349.
Thomas von Aquin 107,
339.
Tomaszewbki 95.
Trendelenburg 32.
Urstein 98, 406.
Verworn 14-^,143, 161, 180.
Vischer. R. 103.
Vogt 93.
Volkelt 353.
Wähle 172.
Wassermann 95.
Watt 1(5.
Weber, E. 94.
Weber, M. 111, 223, 224,
225, 261, 283.
Wernicke 90. 94, 115, 189,
357, 39"^, 400.
W^estphal 90, 105, 114,
238, 2-10, 398.
de Wette 46.
WheweU 272, 388.
Wilmanns 96, 409, 460.
Wirth 104.
Windelband 66, 68, 69,
70, 71, 72, 73, 74. 75,
76. 77, 78, 79, SO, 81,
82, 83, 84, 85, 86, 119,
192, 199, 457, 463.
Witasek 108, 341, 354.
Wolfi- 56, 149.
Wori'inger 10^.
Wuiidt 75, 102, 103. 104,
106, 107, 110, 119, 137.
149, 153, 154, 155, 156.
204, 205, 206, 208. 319,
348, 350, 352, 370, 397
Ziehen 90, 104. 106. 109,
119, 339, 407, 408.
Druck von Breitkopf & Härtel ia Leipzig.
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